Man muss das Kind im Dorf lassen - Monika Gruber - E-Book
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Monika Gruber

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Beschreibung

Das bayerische Landleben ist wie gemacht für eine Komikerin, die ihren Mitmenschen gern genau aufs Maul und noch lieber ins Herz schaut. Monika Gruber berichtet von den großen und kleinen Missgeschicken ihrer Jugend, von Bosheiten, ländlichen Eigenarten und von teils seltsam anmutenden dörflichen Gepflogenheiten, die ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Es treten wortkarge Bauern, fahrende Händler und sämtliche Beteiligten eines intakten Gemeindelebens auf; man erfährt von Dorfhochzeiten und Hofschleichern, von einer freien, unbeschwerten Kindheit und einem Gemeindeleben, das Männer und Frauen ab und an noch räumlich trennt, bei dem aber alle trotzdem an Leid und Freud der Anderen Anteil nehmen. Denn Heimat ist mehr als nur der Ort, an dem man aufgewachsen ist.

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Für meine Familie

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

12. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96656-6

© 2014 Piper Verlag GmbH, München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Tibor Bozi

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Einleitung

Ich wollte nie ein Buch schreiben. Ich hatte immer Angst davor, dass alle Leute denken: »Oh Gott, jetzt schreibt sie auch noch! Reicht es nicht, dass man die Gruber ständig in Bild und Ton vor der Nase hat, sie einem beim Anzapfen auf der Wiesn oder bei der Eröffnung einer Boutique für Swarovski-Hundehalsbänder entgegengrinst, muss es jetzt auch noch ihre Lebensgeschichte in gebundener Form sein?«

Sie müssen mir glauben: Ich wollte Ihnen wenigstens ein friedliches Refugium in der Buchhandlung Ihres Vertrauens lassen und Sie nicht mit meinem von einem Hardcover heruntergrinsenden Konterfei belästigen. Ich habe es versucht – und bin doch gescheitert. Und wer ist schuld? Unser Bildungssystem. Ha! Wie so oft! Aber nicht etwa das von allen verhasste G8 (ich bin ja noch ein langsamer G9-Trottel, der für alles mindestens ein Jahr länger gebraucht hat, auch fürs Abitur), sondern etwas konkreter das Gymnasium Erding, mein Heimatgymnasium also.

Das heißt, die Hauptschuld trifft eigentlich den Leiter der dortigen Bibliothek, Olaf Eberhard, denn er kam auf die grandiose Idee, anlässlich des 75-jährigen Schuljubiläums ein paar ehemalige Schüler zu bitten, einen kurzen Beitrag zur Festschrift zu verfassen. Leichtfertig – wie immer – sagte ich natürlich zu, ohne mir auch nur im Geringsten Gedanken zu machen, über was ich eigentlich zu schreiben gedenke, denn obwohl ich eine recht gute Schülerin war, gehörte der Besuch der Unterrichts weiß Gott (und meine Mama) nicht zu den Top Five meiner Lieblingsbeschäftigungen. Dazu müssen Sie wissen, ich hatte eigentlich nur zwei Lieblingsbeschäftigungen, nämlich Fernsehen und Lesen, aber selbst wenn mir keine weiteren drei einfielen, gehörte die Schule ganz bestimmt nicht unter die ersten fünf! Also, was tat ich? Genau das, was ich immer tue, wenn etwas von mir verlangt wird, von dem ich noch nicht so genau weiß, wie ich es anpacken soll: Ich stellte mich tot! Tagelang antwortete ich nicht auf Telefonate, E-Mails und Briefe, vermied jegliche Lebenszeichen, bis irgendwann – das Schuljubiläum war in bedrohliche Nähe gerückt – ein notrufähnlicher Anruf von Herrn Eberhard kam: »Leben tust aber schon noch?«

Na klar lebte ich! Was aber noch nicht hieß, dass ich auch nur den Schimmer einer Ahnung hatte, worüber ich schreiben könnte: meine Vorliebe für die saftigen Nussecken am Pausenstand unseres Hausmeisters, die ich besonders liebte, weil sie eine außergewöhnlich dicke Schokoglasur hatten? Zu profan. Meine damalige Panik vor dem berüchtigten Ausfragen an der Tafel und dem damit verbundenen Sprechen vor der ganzen Klasse? Ha, das glaubt mir doch kein Schwein! Die Tatsache, dass ich heute noch ab und zu aufwache und denke: »Hilfe, ich habe meine Lateinvokabeln nicht gelernt! Und warum war ich wieder mal zu faul zum Klavierüben?« Zu langweilig. Meine langjährige Schwärmerei für meinen Mitschüler Florian Nickisch? Zu peinlich. Für mich. Und die Familie von Florian Nickisch, weil ich ja noch auf dem Abiturfoto aussah, wie die blasse, kurzsichtige Anwärterin auf den Titel »Erdings erste Strickkönigin im Bereich Kratzpullover aus Mohair und Angora«!

Nein, nein, nein, ein anderes Thema musste her. Aber an was erinnerte ich mich wirklich noch ganz genau? Den Geruch der Aula, klar: diese eigene Mischung aus Desinfektionsmitteln, jahrzehntelangem Pubertätshormondunst, Zitronentee aus dem Automaten und Salami-Semmeln. Manche Lehrer, natürlich! Allen voran Herr Hilburger, aber dazu später mehr. Und natürlich: Der allererste Schultag am Gymnasium! Diese Mischung aus Nervosität, Angst vor den neuen Mitschülern, den Lehrern, dem Unterrichtsstoff und dem Gefühl, dass ich völlig unpassend gekleidet war, in einem schwarz-roten Dirndl mit blauer Schürze, weißen Kniestrümpfen mit einem orange und grasgrünen Schweinslederschulranzen auf dem angstschweißnassen Rücken. So wurde ich von meinen Eltern, genauer gesagt von meinem Vater, in das Schulgebäude geschickt. Allein. Er setzte mich nur ab, kam aber nicht mit hinein, da er noch sein Stallgewand anhatte und seine Arbeit nur kurz unterbrochen hatte, um mich von Tittenkofen nach Erding zu fahren.

Und dieses Gefühl werde ich nicht vergessen: Vorfreude und Angst gepaart mit der Einsicht, dass ich in den wichtigsten Situationen des Lebens immer allein sein würde. Also fing ich an zu schreiben. Die Vorgabe war laut Herrn Eberhard: »Eine Din-A-4-Seit’n reicht.« Ich schrieb und schrieb und war plötzlich bei acht Seiten! Puh, viel zu lang. Also kürzte ich auf vier Seiten herunter. Mehr ging nicht, ohne die Geschichte zu ruinieren. Ich rief Herrn Eberhard an und sagte: »Jetzt san’s vier Seiten, aber ich kann nix dafür. Lests es halt durch und kürzt selber, wo Ihr meints!«

Eine halbe Stunde später rief er mich zurück und meinte nur: »Des lass’ ma so. Den Kollegen gefällt’s.«

Und am selben Tag fing ich an, weitere Erinnerungen an meine Kindheit, meine Familie, an frühere Dorfbewohner und kleine Anekdoten, an die ich mich noch erinnern konnte, aufzuschreiben. Eben Erinnerungen an meine furchtbar schöne, durch und durch bäuerlich geprägte Kindheit auf dem Land. Für mich. Und vielleicht noch für meine Familie. Eventuell Freunde. Und später für meine Nichten und Neffen, falls man dann noch liest. Aber vielleicht mietet man sich dann ja kleine, chinesische Austauschschüler, die einem das Buch vorlesen und als Gegenleistung bayerische Vokabeln gelehrt werden wie zum Beispiel: »Do waars oiwei a so.« Oder: »Do daad a mia fei aa stinga!« Der Unterschied zum Chinesischen ist gar nicht so gravierend, wenn man schnell spricht.

Ich weiß natürlich nicht, ob das Buch Ihnen als quasi völlig Unbeteiligtem gefallen wird. Ich weiß nur, es hat sich alles so zugetragen, auch wenn ich manchmal den ein oder anderen Namen verfremdet oder das eine oder andere Detail weggelassen oder entschärft habe, um niemanden zu brüskieren oder gar zu verletzen. Denn so ein persönliches Buch sollte doch den meisten, die sich darin wiederfinden – meinen Eltern, meinen Brüdern, unseren Nachbarn wie der Königseder Rosa und der Blumoser Liesi, den restlichen Tittenkofenern, Verwandten, Bekannten und allen darin Erwähnten – eine Freude machen, denn es ist weitgehend als Hommage und als Zeichen meiner Wertschätzung gedacht. Und auch als kleines Loblied an dörflichen und nachbarschaftlichen Zusammenhalt und an Werte wie Freundschaft, Aufrichtigkeit und Anstand. Hoffentlich geraten sie nicht ganz in Vergessenheit. Amen.

Heimat

Heimat ist für mich ein bissl Landschaft, viel Geruch und wenig Gred. Heimat ist natürlich noch viel, viel mehr, aber wenn ich das, was ich persönlich damit verbinde, in einem Satz zusammenfassen müsste, dann würden diese Schlagwörter übrig bleiben: ein bissl Landschaft, viel Geruch, beziehungsweise Gerüche, und wenig gesprochene Worte.

Die Landschaft ist natürlich schon ein ganz wesentlicher Teil des Heimatgefühls, aber wenn man vom Bauernhof stammt, dann schaut man sich nicht ständig die Landschaft an. Der Regisseur Franz Xaver Bogner hat einmal zu mir gesagt: »Der Bauer schaut sich die Landschaft um ihn herum nicht an, der Bauer ist die Landschaft.«

Wenn man in der Stadt aufgewachsen ist, dann ist es verständlich, dass man sich gern im Grünen aufhält, die Natur bewundert. Dass man sonntags an den Tegernsee fährt oder nach Garmisch, eine kleine Bergwanderung unternimmt und schließlich, irgendwo vor einer Hütte sitzend, auf die bayerischen Berge schaut und zwischen zwei Brocken saurem Presssack vor sich hin seufzt: »Mei, is’ scho schee, unser Bayern, gell.«

Aber als wir Kinder klein waren, ist mein Vater mit uns selten ins Grüne gefahren, weil: Wozu soll man sich in den wenigen Stunden zwischen Mittagessen und dem Zeitpunkt, wenn man wieder zur Stallarbeit daheim sein muss, ausgerechnet das anschauen, was man sechs Tage die Woche sowieso vor der Nase hat. Deshalb fuhr mein Vater mit uns regelmäßig in die Stadt oder vielmehr durch die Stadt. Nach der Nachspeise – sonntags gab es nämlich immer eine Ananas-Quark- oder eine Schwarzwälder-Kirsch-Creme – hat er uns drei Kinder und die Mama in seinen distelgrünen 190er Mercedes Einspritzer geschlichtet und uns kreuz und quer durch München geschaukelt, ohne auch nur einmal anzuhalten. Und wir Kinder starrten mit offenen Mündern auf die Sehenwürdigkeiten dieser großen, großen Stadt mit den vielen, vielen Menschen, die alle Fahrrad fuhren. Bei uns auf dem Land fuhren nur alte Weiber mit Kopftüchern und Kinder mit dem Radl. Die Erwachsenen waren entweder mit landwirtschaftlichen Gefährten oder mit dem Auto unterwegs. Auf ein Dorffest oder in den Biergarten, da fuhr man schon mal mit dem Radl hin, allein schon deshalb, weil man damals noch betrunken wieder heimfahren durfte, ohne gleich auf einen schweren geistigen Defekt untersucht und für den Rest seines Lebens schikaniert zu werden.

Manchmal machten wir auch sonntags eine kleine Runde mit unseren Fahrrädern über die Felder, weil der Babba schauen wollte, »wie die Gerstn steht und ob in die Zuckerrüben ned an Haufen Disteln drin san«. Aber vormittags, in die Kirche, die nur zwei Kilometer entfernt war, da fuhr man mit dem Auto, schließlich wollte man weder die frisch geföhnte Frisur noch das schöne Feiertagsgewand ramponieren.

In München dagegen fuhr anscheinend jeder mit dem Fahrrad. Zumindest am Sonntag. Die Autofahrer stammten allesamt aus dem Umland wie wir. Hauptsächlich sah man folgende Autonummern, für die wir Kinder uns die passenden Ausschreibungen ausdachten: FFB (Fünf Flaschen Bier), DAH (Die Amsel hustet), GAP (Ganz arme Penner), EBE (Ein bisserl Einbahnstraße). Mein Vater schuckelte die Leopoldstraße hinunter, vorbei an Eisdielen, Cafés und Bars mit coolen Namen in Richtung Siegestor und Universität, über die er fast ein wenig feierlich sagte: »Da gehen nur die ganz Gscheiden hin, die Gstudierten!« Sowohl das mächtige Gebäude mit dem gewaltigen Brunnen davor als auch die Tatsache, dass es in München unfassbar viele »gscheide Leut’« geben musste, imponierten uns mächtig. Dann weiter in die Brienner Straße mit dem Nymphenburger-Porzellan-Geschäft (»Kinder, da wenns ihr an Teller zammhauts, der kost’ so viel wie unser Bulldog!«), mit ihren feinen Läden und Kunstgalerien in Richtung Königsplatz, wo der Babba nur meinte: »Des hat alles der Hitler gebaut.« Aha. Bei uns auf dem Hof baute immer alles der Käsmaier Erich aus Thalheim, aber der hatte eh schon so viel Arbeit, und München war auch ganz schön weit weg, sodass die Münchner eben andere Baufirmen hatten, zum Beispiel diese Firma Hitler.

Wenn wir auf der Donnersberger Brücke waren, fuhr er immer ein bisschen langsamer, damit wir sehen konnten, wie die Züge in den Hauptbahnhof ein- und ausfuhren: »Kinder, schauts die langen Züge an!« Und wir taten, wie uns befohlen, denn es konnte nicht mehr lange dauern, und unsere Geduld würde vielleicht mit einem Eis belohnt werden.

Wenn wir die Maximilianstraße mit ihren Luxusgeschäften fast im Schritttempo entlangkrochen (und dabei ständig von den Taxlern angehupt wurden, wovon sich mein Vater überhaupt nicht aus der Ruhe bringen ließ), damit wir besser in die Schaufenster der edlen Geschäfte schauen konnten, dann meinte der Babba nur: »Des is’ nur was für die ganz Noblen, so wie die Oper vorn. Des is’ nur was für feine Leut’.« Damit war klar: Das war alles nichts für uns, aber anschauen durfte man die prachtvollen, beleuchteten Auslagen und die luxuriösen Autos, die vor dem Hotel Vier Jahreszeiten parkten, auch wenn man nicht zu den feinen Leuten gehörte.

Während also die Stadtbevölkerung am Wochenende aufs Land fuhr, um Seen, Berge und Almhütten zu bestaunen, brachen wir Kinder beim Anblick der Münchner Großmarkthalle und des Schlachthofes in begeisterte »Ahs« und »Uihs« aus, bevor wir dann schlussendlich vor der Heimfahrt in irgendeinem Gasthof einkehrten. Bevor wir über die Schwelle des Wirtshauses traten, stellte die Mama kurz sicher, dass sie sich mit uns nicht würde blamieren müssen: »Gell, und ihr seids brav und sagts schön Grüß Gott, bitte und danke, weil sonst bleibts das nächste Mal daheim!« Da diese Ausflüge eher selten waren und wir Kinder uns die Chance auf Würschtl mit Pommes und danach ein Eis nicht verbauen wollten, hockten wir brav und schweigsam auf unserem Hosenboden, und wenn wir die Mama etwas fragen wollten, dann flüsterten wir ihr das ins Ohr.

Einmal schüttete mein Bruder Seppi aus Versehen sein Limo über die Tischdecke und war darüber so bestürzt, dass er sofort zu weinen anfing und erst durch die tröstenden Worte unserer Mama zu beruhigen war. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass Kinder, die sich so schlecht benehmen, erst aus dem Lokal geworfen und anschließend zur Adoption freigegeben würden.

Viele Jahre später, als ich immer am Sonntagmittag beim Alten Wirt in Goldach kellnerte und junge Mütter mit ihren Monsterkinderwägen den Kücheneingang blockierten und stolz schweigend ihren Ablegern dabei zuschauten, wie diese sich gegenseitig am Tisch mit Spätzle bewarfen oder zwischen den Tischen Fangen spielten, dachte ich oft daran zurück, wie die Leute früher ihre Kinder erzogen hatten. Ich habe einmal in einem meiner Programme gesagt, dass ich nach solchen Kellnertagen heimfuhr und eine ganze Schachtel Antibabypillen auf einen Sitz auffraß. Das war natürlich eine gnadenlose Übertreibung um eines billigen Lachers willen, aber unsere Eltern hätten eben auch nie zugelassen, dass wir Kinder uns so aufführten. Und dazu mussten sie nicht einmal die Stimme heben, es genügte schon, wenn meine Mutter lediglich die linke Augenbraue leicht hob, dann wussten wir genau: »Au weh, jetzt heißt’s brav sein!«

Außerdem mussten wir allein deshalb schon still sein, weil sich meine Eltern in der knapp bemessenen Freizeit, die sie hatten, unterhalten wollten. Miteinander. Nicht mit uns. Uns störte das aber nicht weiter, denn wir waren mit dem Festessen beschäftigt, das es daheim nie gab: Pommes, die wir mit den Fingern essen durften, weil es dann leichter war, den glibberigen Ketchup so zu balancieren, dass er im Mund und nicht auf dem Feiertagsgewand oder der Tischdecke landete.

Und wenn wir dann nach der Brotzeit aus München hinausfuhren, durch die flache, spärlich bewaldete Landschaft des Erdinger Moos, und uns schließlich dem Ortsschild von Tittenkofen näherten, von wo aus man bereits die hügeligen Ausläufer des Holzlandes erkennen konnte, dann stellte sich immer unmittelbar – spätestens, wenn wir bei uns durch die Hofeinfahrt fuhren – das wohlige Gefühl des Heimkommens ein. Und fast jedes Mal, wenn meine Mama in der Garage aus dem Auto stieg, sagte sie seufzend: »Mei, auf d’Nacht is’ ma einfach froh, wenn ma wieder heimkommt!« Vier Stunden waren ja auch ein ziemlich langer Ausflug.

Aber tatsächlich verbinde ich den Begriff Heimat in erster Linie mit Gerüchen, den Gerüchen meiner Kindheit: dem Duft von fast trockenem Heu, das in der flirrend heißen Sommerluft gewendet wird, von herbstlichen Maisfeldern, die gerade abgedroschen werden … irgendwie leicht grasig-säuerlich, aber auch satt und sonnengereift. Und dazu die letzten Herbststrahlen einer späten Nachmittagssonne, die nicht mehr so recht Kraft hat und bald der stechend kühlen Novemberluft und dem über Wochen undurchdringlichen Nebel des Erdinger Moos weichen wird. Der ganz spezielle Geruch unseres Hausflurs daheim (der »Flez«) erinnert mich sofort an die Spiele unserer Kindheit, als mein Bruder seine dreckigen Spielzeugtraktoren mit Anhänger voller Maiskolben, Sämaschinen und überhaupt sein ganzes Glump in unserer Flez vor dem angekündigten Regen in Sicherheit brachte, sodass man sich trotz der stattlichen Größe unseres Hausflurs kaum noch umdrehen konnte, ohne über einen Pflug oder ein halb mit Regenwasser gefülltes Odelfassl zu stolpern.

Der Geruch in der Küche meiner Mutter, der ganz eigen war und vor allem appetitanregend. Dieser Duft lässt einen sofort hungrig werden, wenn man von der Flez aus in die Küche kommt, denn die Luft duftet immer so, als sei sie mit einem Hauch von Butterschmalz und Puderzucker und einer leichten Bratensoßennote versetzt.

Der Geruch von Wäsche, die auf der Leine an der frischen Luft getrocknet worden ist. Dieser Geruch ist mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Vor allem, wenn die Mama vergessen hat, dass der Babba auf dem Feld nebenan Gülle gefahren hat, sodass die ganze Wäsche nach Odel roch und in der Schule wieder keiner neben mir sitzen wollte … ah, ich sage es Ihnen: unvergleichlich!

Und dass Heimat wenig Gred bedeutet, heißt nicht, dass es wenig Klatsch und Tratsch gibt. Um Gottes willen: Klatsch hält die Gesellschaft zusammen wie die Mehlschwitze die Soße in einer Betriebskantine. Der Bayer redet ja in der Regel eher wenig – Barbara Schöneberger, mein Vater und ich sind die großen Ausnahmen –, aber mit diesem wenigen ist alles gesagt.

In einer meiner Münchner Lieblingsgaststätten, Beim Sedlmayr, habe ich einmal folgende Szene beobachtet: Ein junger Kerl Anfang dreißig, Typ Investment-Hedgefonds-Wealth-Manager-Banker im gut geschnittenen Anzug mit dunkler Krawatte und mit Sonnenbrille im Haar, kommt lässig in das Lokal gewackelt. Seine Lässigkeit verfliegt allerdings sogleich, als er sich umsieht und feststellt, dass im ganzen Lokal nur noch ein Stuhl frei ist: an einem Tisch, an dem sechs waschechte Münchner Mannsbilder (also kein Trachtenanzug) im Alter von Ende sechzig bis Mitte siebzig hocken. Die gut gelaunten Herren benehmen sich so, wie man sich an einem Ort benimmt, der einem sehr vertraut ist: eben mit einer natürlichen Entspanntheit. Man ist so ungefähr beim zweiten Weizen, bevor man sich später eine kleine Portion Tellerfleisch oder saure Kalbsnieren zu Gemüte führen wird. Es wird gelacht, geflachst und ein bissl mit der Bedienung geschäkert. Als die Geltube auf zwei Beinen an den Tisch tritt, wird es auf einen Schlag ruhig. Nicht, weil man dem Typen sofort ansieht, dass es sich hierbei um eine im München häufig auftretende ganz besondere Art der Gattung »VIP«, also »Very Impertinent Preißndepp« handelt, sondern weil er einen der gröbsten Kardinalfehler begeht, den man in einem Münchner Wirtshaus machen kann: Er nähert sich einem bereits besetzten Tisch und fällt gleich mit der Frage »Ist hier noch frei?«, also quasi mit der Tür ins Haus, ohne das Gespräch mit einem »Grüß Gott« oder zumindest mit einem »Guten Tag« (weil Preiß) in friedliches Gewässer zu lenken. Da die Herren lediglich mit einem kaum als Worte zu deutenden Brummen antworten, setzt sich der Schnösel schließlich und beginnt sofort seine Handykollektion in eine für ihn logische Position zu bringen, während er mit der freien Hand nach der Bedienung schnippt und durch das ganze Lokal »Fräulein!« plärrt. Zweiter Kardinalfehler. Keine Bedienung – und sei sie noch so jungfräulich – möchte von irgendeinem Gast »Fräulein« genannt werden. Wenn man schon meint, nicht warten zu können, bis die Servicekraft von selbst an den Tisch kommt, dann macht man sie höchstens mit einem »Entschuldigung« oder »Entschuldigung bitte, (derfad i was bstell’n)?« auf sich aufmerksam.

Aber wer schon einmal Gast im Sedlmayr war, der weiß, dass man sich um die Servicedamen dort keine Sorgen machen muss: Sie sind allesamt in der Lage, jedem Gast Paroli zu bieten … ob es sich nun um einen besoffenen Randalierer handelt, einen alten Gschaftlhuber oder halt einen jungen Preiß. Die Bedienung, die sofort erkannte, dass sie da ein ganz besonders wichtiges Gscheidhaferl (Besserwisser) vor sich hat, lässt ihn extra lange warten, bevor sie an den Tisch kommt und fragt: »Was’n kriagn ma denn, der Herr?«

Der schon leicht ungeduldige, weil wahrscheinlich unter Zeitdruck stehende Businessman schießt wie ein Maschinengewehr seine Bestellung ab: »Einen kleinen Schweinebraten und ein kleines Radler, aber mit alkoholfreiem Bier und zuckerfreiem Sprite!«

Au weh. Dritter Kardinalfehler: ein kleines Radler mit alkoholfreiem Bier und zuckerfreiem Zitronenlimo, da gibt es vonseiten der Münchner Mannsbilder nur ein kurzes Augenbrauenzucken, vereinzelt Geschmunzel, während die Bedienung im Abgehen zurückblafft: »Alkoholfreies Radler hamma ned, weil mir ’s Bier aus der Flaschen ausschenken, und da müssat ja ich den Rest von der Halbe saufen, und ich muss ja noch fahren, gell. Und ein zuckerfreies Gracherl hamma aa ned, weil des is ja a bayerische Wirtschaft und kein Müttergenesungswerk.« Im Gang zur Bonkasse plärrt sie dem grinsenden Schankkellner zu: »A kleins Radler für Herrn Doktor.« Und in die Küche ruft sie laut: »Und an Seniorenschweinsbrat’n.«

Der Schnösel ist kurz geplättet, vermutlich weil er einen Teil der Antwort rein sprachlich nicht verstanden hat. Dafür hatten es alle anderen Gäste im Lokal mitbekommen. Kurze Zeit später bringt ihm die Bedienung ein kleines Radler und eine kleine Portion Schweinsbraten. Die Mahlzeit ist recht übersichtlich und daher gleich verzehrt, und sie schmeckt ihm offensichtlich auch gut. Zufrieden wirft der Schnösel die Serviette auf den Teller, ruft: »Fräulein, zahlen!« und fängt an, seine Geldbörse nach der passenden Kreditkarte abzusuchen. Als er die Golden Amex mit einem leisen Schnalzer auf die Tischplatte gleiten lässt – natürlich nicht, ohne zu schauen, ob jeder am Tisch das Objekt kaufsüchtiger Begierde auch erspäht hatte –, meint die Bedienung wiederum recht laut: »Karten nehmen wir keine, nur Bares ist Wahres. Neunachtzig wären’s dann!«

Das ist des Guten zu viel. Der Hedgefonds-Mensch holt kurz Luft und beginnt sich aufzuplustern wie eine von Mamas Puten, die man mit lauten Pfeifgeräuschen geärgert hat: »Also, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Auf der ganzen Welt zahle ich mit meinem guten Namen, nur in Bayern lebt man offensichtlich trotz Laptop und Lederhos’n noch hinter dem Mond! Das ist ja wohl eine Unverschämtheit, einen Gast so zu brüskieren. Sie sollten lernen, etwas mehr mit der Zeit zu gehen, sonst bleibt Ihnen irgendwann einmal die Kundschaft weg!« Während er der Bedienung einen Zehner hinwirft, so wie man sonst einem Hund seinen Knochen zuwirft, blickt er, um Zustimmung heischend, in die Runde der schweigsamen Herren, die ihn nur anschauen. Kein Wort wird gesprochen. Unter weiterem Gezeter und Gefluche verlässt er schließlich das Lokal. Die Münchner Herren an dem Tisch schauen sich nur kopfschüttelnd an, und ein Herr mit einer sehr sonoren dunklen Stimme brummt unter seinem Schnauzbart hervor: »Der ander!«

Sonst nichts. Nur: »Der ander!« In diesen beiden Worten steckt alle Verachtung und Geringschätzung, die man für so ein Gewächs aufbringen sollte. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber der Bayer braucht eben oft nicht viele Worte, um die Situation auf den Punkt zu bringen.

Einmal, als ich weinend von unserem Erdinger Wald-und-Wiesen-Friseur heimkam, weil er mir eine astreine Ich-bin-das-bayerische-Double-von-Mireille-Matthieu-Frisur verpasst hatte, meinte mein Babba nur: »Wein’ ned, wachst ja wieder!« Ich muss nicht extra dazusagen, dass ich diesen Satz in meiner Jugend nicht nur einmal gehört habe.

Wenn wir uns als Kinder wehgetan hatten, weil es uns mit dem Radl wieder mal gescheit zerlegt hatte oder weil wir von irgendeinem Baum, Heustock oder Schuppendach gefallen waren, klatschte unsere Mama immer Wund- und Heilsalbe und ein großes Pflaster auf die Stelle und meinte dazu: »Bis d’ heiratst, vergehts scho wieder!«

Auch bei der Kindererziehung vermeidet der Bayer lange Vorträge und beschränkt sich auf kurze Kommandos:

»Wenn man was gschenkt kriegt, sagt ma danke!«

»In der Öffentlichkeit tut ma ned Nasenbohren!«

»Wenn Erwachsene reden, dann san die Kinder staad (still)!«

»In einem Geschäft darf ma nix anlangen. Das Eis wird draußen gegessen!«

»Sag schön Grüß Gott!« Diesen Satz habe ich so oft gehört, dass mir das Grüßen in Fleisch und Blut überging und ich irgendwann anfing, prophylaktisch einfach jeden zu grüßen. Auch in München, wenn wir einmal im Jahr zum Viktualienmarkt fuhren. Irgendwann meinte eine fremde alte Dame mal zu mir, die offensichtlich merkte, dass ich vom Land war: »Mädi, mir sind in der Stadt, da braucht man nicht jeden zu grüßen.«

Auch bei Autofahrten gab es klare Anweisungen: »Im Auto wird ned gegessen!«

Und bei längeren Autofahrten hieß es immer: »Kinder, wenns ihr spucken müssts, dann sagts es!«

Es gab eigentlich nie längere Autofahrten in meiner Kindheit – bis auf die seltenen Ausflüge nach München, und jedes Vierteljahr besuchte meine Mutter mit unserer Tante Anneliese ihre dritte Schwester, also unsere Tante Ottilie. Tante Ottil, wie wir sie nannten, lebte mit dem Onkel Ludwig in einem kleinen Dorf in der Nähe von Wasserburg, reine Fahrtzeit von uns aus circa eine Stunde und fünfzehn Minuten. Eine Weltreise also. Und es wurde dabei regelmäßig einem von uns Kindern schlecht. Also entweder einem meiner Brüder oder mir. Oder halt einem meiner zwei Cousins oder meiner Cousine. Die fuhren alle mit. Damals konnte man nämlich noch sechs Kinder auf die Rückbank pferchen, ohne dafür ins Gefängnis zu wandern.

Nachdem es nachmittags schon Kaffee und reichlich Kuchen gegeben hatte, gab es noch eine kräftige Brotzeit, bevor wir uns auf den Heimweg machten. Und wer beim Budapester Fleischsalat am kräftigsten zugelangt hatte, der hatte ganz schlechte Karten, es heil bis nach Tittenkofen zu schaffen. Deshalb ermahnten uns entweder meine Mama oder die Tante Anneliese – je nachdem, wer fuhr – beim Losfahren: »Gell, Kinder, wenns speim müssts, sagts es.« Nur diesen einen Satz. Es wurden nicht etwa Vorkehrungen getroffen, um das drohende, unvermeidbare Unheil etwas abzufedern, denn man hätte ja zum Beispiel die Rücksitze gleich mit einem alten Leintuch abdecken oder uns Plastiktüten (»Speibsackerl«) in die Hand drücken können. Man hätte uns leere Rama-Schüsselchen als mögliche Auffangbehälter geben können, so wie es die Eltern meiner Freundin Gabi machten, wenn sie in ihrem kleinen Simca mit drei Kindern von Hallbergmoos nach Spanien aufbrachen. Aber Tante Anneliese und meine Mutter dachten wohl, dass man mit Gottvertrauen und genügend Rei-Schaum im Gepäck nicht schon vorher in unnötige Hysterie ausbrechen müsse. Eine klare Ansage müsste genügen: »Wenns speim müssts, dann sagts es!« Das tat derjenige, der dran war, auch immer brav. Exakt eine halbe Sekunde, bevor sich ein Strahl von Fleisch- und Eiersalat, gemischt mit Butterkekskuchen, in den Fond des Wagens und meist auch auf die anderen Kinder ergoss. Mein Cousin Thomas schaffte es einmal genau in der letzten Kurve vor unserer Hofeinfahrt, uns seine Salamibrote noch einmal zur Besichtigung zur Verfügung zu stellen. Aber solch eine Sauerei brachte pragmatische, krisenerprobte bayerische Mütter wie die Mama oder Tante Anneliese nie ins Wanken, sondern sie meinten einfach nur cool: »Das nächste Mal sagst es eher, gell!« Ein Satz, der bestimmt in Bayern im Zusammenhang mit dem Thema natürliche Empfängnisverhütung schon oft zur Anwendung gekommen ist.

Auch bei Liebeserklärungen liebt der Bayer die Knappheit. Ich habe mal vor vielen Jahren einem gestandenen Bayern eine wortreiche, (aus meiner Sicht) romantische Liebeserklärung gemacht, worauf dieser Kerl mich ganz lässig anschaute – ohne auch nur eine Miene zu verziehen – und meinte: »A so glei, ha?« (Übersetzung: »Du hegst wirklich solch dramatische Gefühle für mich? Da bin jetzt aber einigermaßen überrascht und durchaus angetan, und ich möchte dir hiermit feierlich mitteilen: ›Ja, ich liebe dich auch!‹«)

In ganz jungen Jahren hat mir mal in unserer Erdinger In-Disco, dem Pascha, ein junger Mann, den ich schon seit Längerem unter Beobachtung hatte, selbstbewusst sein Interesse mit den dürren Worten bekundet: »Also, i daad scho mögen!« Angesichts von so viel charmantem Wortwitz und rotziger Poesie habe ich auf der Stelle die Flucht ergriffen und mir die nächsten drei Stunden auf der Tanzfläche den Frust von der Seele gezappelt.

Wenn der Bayer irgendetwas völlig Außergewöhnliches, Unglaubliches erfährt, wird er seine ganze Emotionspalette zusammenkratzen und mit großen Augen ausrufen: »Geh!« oder »Ha?!« oder »Spinnst!« oder auch »Sachen gibt’s!«

Gefühlsbekundungen im Allgemeinen sind dem Bayern eben eher peinlich, und er wird in der Regel immer versuchen, das Thema schnell abzuhaken, um sich Interessanterem zuzuwenden, wie zum Beispiel dem (Lokal-)Fußball, dem Wetter oder den völlig überzogenen Getränkepreisen in Münchner Lokalen. Fragt man einen Bayern, wie es ihm geht, kommen meist folgende Antworten: »Guad.«(Bedeutet: »Gut.«)

»Es geht.« (Bedeutet: »Irgendwas ist ja immer.«)

»Passt scho.« Oder wahlweise nur: »Passt.«(Bedeutet: »Worüber soll ich anfangen, mich zu beklagen, Bandscheibe, Ehe oder Finanzen?«)

»Muass ja.«(Bedeutet: »Es geht mir beschissen, aber ich werde den Teufel tun und dir die ganzen furchtbaren Details auf die Nase zu binden, weil ich sonst wahrscheinlich zu weinen anfangen und drei Tage nicht mehr aufhören würde.«)

Erwischt man einen sehr gesprächigen Tag, dann wird er nach »Guad« noch fröhlich hinzufügen: »Schlechte Leut’ geht’s immer guad!«

Der Ausdruck »Passt scho« wird vom Bayern übrigens in fast allen Bereichen des Lebens angewendet, weil dadurch detailliertere Erläuterungen abgeblockt werden und den Beteiligten oft viel Unangenehmes, gerade in Beziehungen, erspart bleibt. Fragen, auf die ein männlicher Bayer seiner Freundin, Gattin oder Lebenskurzzeitabschnittsgefährten häufig mit »Passt scho« antworten wird, sind unter anderem:

»Hasi, wie gefällt dir mein neues Kleid/meine neue Frisur/meine neue Nase?«

»Schatzi, liebst du mich auch?«

»Schneckerle, möchtest du von meinem Tofu-Schnitzel probieren?«

»Stinkerle, du sollst nicht so viel Augustiner trinken, möchtest du nicht doch lieber einen Hugo?«

»Schnuffi, möchtest du nicht doch in den Geburtsvorbereitungskurs mitgehen?«

»Schnacki, willst du nicht doch mit der Susi, der Tini, der Isi und mir zum David-Garrett-Konzert mitgehen?«

»Spatzerl, du bist ganz sicher, dass dir beim Formel-1-Rennen in Monte Carlo mit dem Tschako, dem Stevie und dem Fatso nicht langweilig wird ohne mich?«

Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen.

Diese Reduktion der Sprache auf das Wesentliche ist das, was ich oft vermisse, wenn ich längere Zeit von daheim weg war. Noch heute, wenn ich aus dem Urlaub zurückkomme und bei meinen Eltern vorbeischaue, gibt es keinen großen Bahnhof à la: »Endlich bist wieder da! Schön! Hast an guten Flug ghabt? Bist müd? Magst was essen? Erzähl, wie war’s? Was hast alles gseng? Was hast erlebt? Wen hast kennengelernt? Wie war das Hotel? Das Essen? Der Strand? Das Land? Erzähl halt was, oder muss man dir alles aus der Nase ziehen?!?« Ich habe mir von Freunden, die zwar allesamt Bayern, aber nicht auf dem Land aufgewachsen sind, erzählen lassen, dass sich manche Eltern bei der Rückkehr ihrer Kinder aus einem einwöchigen Mallorca-Urlaub so aufführen.

Ich war irgendwann drei Wochen in Amerika, und als ich nach insgesamt vier Wochen Absenz – ohne zwischendurch angerufen zu haben – bei meinen Eltern in die Küche kam, meinte meine Mutter leise lächelnd: »So, bist aa wieder da?« Und da war ich angekommen. Daheim.

Strawanzen

Da ich das erste von drei Geschwistern war – ich habe noch zwei jüngere Brüder – und ich erst im Alter von vier Jahren in den Kindergarten kam, waren lange Zeit meine einzigen Bezugspersonen meine Eltern und meine Oma väterlicherseits mitsamt dem Großonkel Miche, die beide bei uns auf dem Hof lebten. Aus diesem Grund war mir anscheinend bereits als Zweijährige oft ziemlich langweilig, denn ich bin fast täglich stundenweise »Gassi gegangen«, wie meine Mutter es auszudrücken pflegte. Meine bevorzugte Anlaufstation waren unsere Nachbarn, die Familie Königseder, die in einem kleinen Spitzhäusl auf der anderen Seite der Straße lebten. Es gab keine anderen direkten Nachbarn außer der Familie Franz, die nicht nur neben den Königseders wohnten, sondern auch noch verwandt mit ihnen waren (die beiden Frauen, Mari Franz und Rosa Königseder, waren Schwestern). Sie hatten aber nur einen viel älteren Sohn, den Fredi. Außerdem hatte die wunderbar großherzige und großzügige Rosa Königseder drei Kinder, die immer mit mir spielten, auch wenn sie ein gutes Stück älter waren als ich: Roswitha, die Älteste, dann den zwei Jahre jüngeren Seppi und meinen absoluten Liebling der Familie, das Nesthäkchen Konrad, der von allen nur liebevoll »Koni« genannt wurde. Deshalb nannte ich die Rosa auch nie Rosa, sondern von klein auf immer nur Koni-Mama, weil sie ja die Mama vom Koni war, logisch.

Natürlich gab es auch einen Vater Königseder, aber der Ludwig redete nur wenig, weil er sich ausruhen musste, er stand nämlich jeden Tag sehr früh auf, um seiner Frau beim Zeitungsaustragen zu helfen, und dann fuhr er in die Erdinger Stiftungsbrauerei, wo er als Bierfahrer arbeitete. Und zu der damaligen Zeit war es noch üblich, dass die Bierfahrer in den Wirtschaften, zu denen sie das Bier lieferten, eine Brotzeit einnahmen oder einfach nur eine sogenannte Stehhalbe. Und wenn man auf einer Tour mehrere gastfreundliche Wirte hintereinander hatte, da konnten bis zum Feierabend schon ein paar Halbe zusammenkommen. Das heißt, wenn Ludwig Königseder nach einem langen Tag nach Hause kam, dann setzte er sich – wenn das Wetter es zuließ – meist in Unterhemd und Hose auf die kleine Bank an der Nordseite des Hauses, um sich zu entspannen oder – wie meine Mutter immer sagte – »ein bissl auszudampfln«, während er den zwei Familienschildkröten beim Fressen zuschaute.

Denn Königseders hatten vor dem Haus ein kleines selbst gezimmertes Freigehege aus Holz für ihre beiden Haustiere. Wir Kinder hatten selber ja nur Katzen als Haustiere, deshalb übten die Schildkröten mit ihren Zeitlupenbewegungen und ihrem steinharten glänzenden Panzer immer eine besondere Faszination auf uns auf. Jedes Mal, wenn wir sie besuchen gingen, baten wir unsere Mutter um ein paar Salatblätter, um dabei zuzuschauen, wie die Schildkröten langsam ihren schuppigen, runzligen Minidinosaurierkopf aus dem Panzer schoben, sich in Richtung des Blattes hievten und ihre Kieferleisten in die Blätter schlugen. Manchmal nahmen wir sie auch aus dem Gehege heraus, wir wurden allerdings immer von Rosa gewarnt, dass wir sie nicht aus den Augen lassen dürften, denn – so langsam sie auch zu sein schienen – wenn man ein paar Minuten nicht Obacht gab, dann konnte es passieren, dass die Schildkröte unter den Sträuchern verschwand, und durch ihre gute farbliche Tarnung konnte sich die Sucherei dann etwas hinziehen. Denn ihren Namen zu rufen bringt ja bei einer Schildkröte eher weniger.

Als ich noch sehr klein war, hat meine Mutter mir die Schildkröten beim Spaziergehen einmal gezeigt, und da die Rosa Königseder einem immer ein Stück Schokolade oder ein »Gutti« (Bonbon) schenkte, beschloss ich im Alter von zwei Jahren, nicht erst auf eine Einladung ins Haus der Königseders zu warten, sondern meine Besuche selber zu planen, was nichts anderes bedeutet, als dass ich fast täglich von zu Hause abgehauen bin, obwohl meine Oma eigentlich hätte auf mich aufpassen sollen.

Meine Mutter beschrieb mein »Ich-hau-jetzt-mal-ganz-heimlich-still-und-leise-von-daheim-ab-Ritual« so: Sobald ich mich auch nur einen Moment unbeobachtet fühlte, ließ ich mein Spielzeug fallen, krabbelte die Terrasse herunter, lief um den Kuhstall herum (es gab zwar eine Absperrung mit Seilen, die für die Kühe gedacht war, weil sie damals noch jeden Tag auf die Weide durften, aber ich war ja so klein, dass ich problemlos darunter durchgeschlüpft bin) und setzte mich in unsere Wiese gegenüber dem Königseder’schen Haus. Und dann hieß es einfach nur: warten. Denn irgendwann kam Rosa schon aus der Haustür, um entweder nach den Schildkröten, dem Kirschbaum oder ihrem Mann zu sehen oder Holz aus dem kleinen Schuppen neben der Garage zu holen, und dann sah sie mich und rief immer denselben Satz in ihrem weichen egerländisch gefärbten Bayerisch: »Ja, Mounigga (sie sprach meinen Namen immer wie »Mounigga« aus), geh weida, geh eina!«

Das war mein Stichwort. Ich rannte über die Straße – natürlich nicht, ohne nach rechts und links zu schauen, das hatte mir meine Mutter eingebläut – vorbei am Königseder Luggi, der mich mit einem sanften Gegrummel begrüßte, vorbei an den Schildkröten, drei Stufen rauf bis zur Haustür, und schwupps, schon war ich drin, in diesem kleinen Häuschen, wo der Kühlschrank im Flur stand, weil in der Küche kein Platz war und wo das Bad so klein war, dass ich mich immer wunderte, wie fünf Menschen sich täglich darin fertig für den Tag (oder die Nacht) machen konnten. Vor meiner Geburt lebten sogar noch Rosas Eltern mit im Haus, aber wie das auch nur ansatzweise möglich gewesen sein konnte, war mir ein absolutes Rätsel, denn alle in der Familie, auch die Rosa, waren ziemlich groß gewachsen. Aber nach dem Krieg war man halt froh, dass man überhaupt ein Dach über dem Kopf hatte, und dazu noch eines, das das eigene war. Welch ein Luxus! Da musste man halt ein wenig zusammenrücken, denn Platz ist schließlich in der kleinsten Hütte. Und das Besondere war nicht nur das Haus an sich: Gleich rechts, wenn man hineinging, war die separate Toilette, dahinter das winzige grüne Bad mit der elektrischen Wäscheschleuder, die immer einen Höllenlärm machte, gegenüber davon war das Elternschlafzimmer, und geradeaus ging man in die Küche, diese gemütliche Küche, die aussah wie ein größeres Puppenhaus: links neben der Tür war die Spüle und daneben der Holzofen, der vor allem im Winter heimelig vor sich hinbullerte. Geradeaus an der Wand ein bequemes Sofa und darüber das Radio, das eigentlich immer lief, daneben das Fenster, das in den Gemüsegarten ging, mit den orange geblümten Vorhängen, rechts hinter der Tür die circa zwei Meter lange, weiße Anrichte mit den Prilblumen und gegenüber die Eckbank und der Tisch mit seiner hellblauen Resopaloberfläche, der immer blitzsauber war und der eine Schublade hatte, in die die Rosa ihr Haushaltsbuch legte. Jede noch so kleine Ausgabe, jeder Einkauf wurden von ihr mit einem gespitzten Bleistift in dem Buch notiert, damit sie jederzeit einen Überblick über ihre Einnahmen und Ausgaben hatte und die Familie so nie über ihre Verhältnisse lebte. Wenn Rosa Königseder damals schon Kurse an der Volkshochschule gegeben oder ein Buch mit dem Titel »Wie ernähre ich mit wenig Geld eine große Familie« geschrieben hätte, dann wäre Peter Zwegat heute arbeitslos …

Im Eck war ein kleiner Herrgottswinkel mit einem Holzkreuz und den Bildern der verstorbenen Eltern und Schwiegereltern, bei denen immer frische Wiesenblumen standen. Und wenn man gerade in die Küche hineinspazierte, konnte man links durch die Tür in ein ebenfalls sehr kleines Wohnzimmer gehen, das mit einem kleinen Ölofen, einer dick gepolsterten Couch und einem großen Ohrensessel ausgestattet war, über dem ein kleines Holzkästchen hing, in dem die Rosa ihre Medikamente aufbewahrte. Rosa half bei einigen Bauern – auch bei meinen Eltern – bei der Feldarbeit mit, und ich habe oft gesehen, dass sie sich ihre Beine mit großen Bandagen umwickeln musste, weil sie Schmerzen hatte, aber für ständige Arztbesuche hatte sie einfach keine Zeit.

In der Ecke hatte sie eine riesige Persil-Tonne stehen, die bis zum Rand mit Bauklötzen gefüllt war, und eine PUMA-Schuhschachtel mit Matchbox-Autos. Selbst als ihre Kinder schon lange nicht mehr mit den Autos spielten, standen die Tonne und die Schachtel immer noch da, denn meine Brüder übernahmen später die Angewohnheit von mir, der Rosa ungefragt mehrmals die Woche einen Besuch abzustatten, wenn auch nicht ganz so häufig wie ich. Denn das Beste war: Bei der Rosa durfte man immer alles, nie hat sie uns nur einmal geschimpft oder ist laut geworden, selbst wenn wir mal aus Versehen etwas kaputt gemacht oder wir unser Limo verschüttet haben.

Außerdem roch es in ihrer Küche so wunderbar nach dem herrlichen Kirschstreuselkuchen, den sie immer machte. Der beste Kirschstreuselkuchen, den man sich überhaupt vorstellen kann: saftig, mit knusprigen, buttrigen Streuseln und Puderzucker obendrauf, und der Boden bestand aus lockerem Mürbteig, der nicht zu süß war. Nie wieder in meinem Leben habe ich besseren Kirschstreuselkuchen gegessen als bei der Rosa Königseder. Noch heute, wenn ich zu ihr sage: »Jetzt kimm i dann fei amal wieda, gell!« Dann antwortet sie: »Dann mach’ i wieder den Streuselkuacha, denst so gern mogst, gell, Mounigga!«

Bei Rosa entdeckte ich auch meine Liebe zum Spinat. Bei Rosa gab es oft Spinat, den sie selber in einem kleinen Gärtchen vor dem Küchenfenster anbaute. Meist mit Spiegeleiern oder Kartoffeln, aber ich habe ihn am liebsten pur gegessen. Neben Koni auf der Eckbank sitzend, meinen Arm hatte ich auf seinem Arm aufgestützt, saßen wir nebeneinander, und während er erzählte, mit was für einem Traktor er heut wieder bei meinem Vater fahren durfte, hab ich ihn jedes Mal voller Bewunderung angeschaut. Und er erzählte und lachte, und ich lachte und rutschte auf der Bank herum, während ich Spinat in mich hineinschaufelte – und plötzlich saß ich neben der Bank auf dem Boden, den vollen Spinatlöffel noch in der Hand. Ich hatte mich erst total erschrocken, die anderen ebenso, weil sie dachten, ich hätte mir wehgetan, aber als sie merkten, dass dem nicht so war, brach das Gelächter los. Ein Bild, das ich heute noch ganz deutlich vor mir sehe: Koni half mir wieder auf den Platz zurück, und ich habe weitergelöffelt und ihn weiter angehimmelt, bis meine Mutter irgendwann in der Küche stand: Sie wusste ja, wo sie mich im Zweifel finden konnte. Nur manchmal war es ihr – glaube ich – etwas peinlich, dass ich mich ständig bei anderen durchfraß, deshalb sagte sie manchmal: »Unser Zigeunerkind is’ halt immer auf der Achs’, die kann ned daheim bleiben!«

Aber auch der Koni und sein Bruder, der Sepp, waren viel bei uns. Nachmittags um zwei hörte man – bei uns stand die Haustür tagsüber offen – das Plumpsen von zwei Fahrrädern vor der Terrasse, was bedeutete, dass Koni und Sepp gleich nach dem Mittagessen und noch vor dem Erledigen der Hausaufgaben schauen wollten, wer heute mit welchem Traktor und Anhänger oder sonstigem Gerät fahren durfte. Und obwohl mein Vater versuchte, beide Buben gleich zu bedenken, kam es ab und zu Reibereien zwischen den beiden, die erst bei der Brotzeit in einem vorläufigen Waffenstillstand endeten. Mit vollem Mund stritt es sich auch ein bisschen schwer. Mein Vater kam kaum dazu, selber zu essen, weil er damit beschäftigt war, daumendicke Brotkeile abzuschneiden und diese ordentlich mit Kochsalami, Leberkäs oder Aufschnittwurst und mit saftigen, selbst eingelegten Gewürzgurken zu belegen. Als die zwei in die Pubertät kamen, brauchten wir zur Brotzeit einen ganzen Drei-Pfund-Laib Brot. Aber die beiden waren unermüdlich: Wenn sie sich nicht gerade darum stritten, wer mit was und vor allem ganz allein fahren durfte, dann wurde ich mit meinen zwei Jahren hin- und hergezogen »wie ein Katzl«, wie meine Mutter sagte. Oder wir fuhren alle zusammen sonntags ins Waldbad nach Taufkirchen oder machten einen Ausflug, wo wir am späten Nachmittag in eine Wirtschaft einkehrten und Würschtl mit Pommes bekamen und danach noch ein gemischtes Eis: drei Kugeln mit Sahne. Das waren immer die besten Tage, alles war unbeschwert und sorgenfrei, und der Sommer schien endlos zu sein. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen und nochmals einen solchen Sonntag erleben.

Aber wir wurden älter, und der Koni kam auch nicht mehr ganz so oft zu uns, denn er hatte eine Lehre als Automechaniker begonnen, außerdem hatte er jetzt eine Freundin und – was keinem in unserem kleinen Ort verborgen geblieben war – ein Schlagzeug. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkam, wurde die Anlage aufgedreht, und er begann zu Van Halen oder Slayer auf das gute Stück einzudreschen. Ich fand, er machte sich ganz gut als »Phil Collins von Tittenkofen«, der Rest der Dorfgemeinschaft hätte mir – bis auf meine Brüder vielleicht – nicht zugestimmt. Kopfschüttelnd fuhren manche mit dem Radl am Königseder’schen Anwesen vorbei, wahrscheinlich, weil sie sich wunderten, dass das Häuschen unter dem Gehämmere und Gedresche vom »narrischen Königsederbuam« nicht auseinanderbrach.

Im Sommer bekam der Koni oft Besuch von seinen Spezln, und sie saßen dann in der Einfahrt auf einer Bierbank und begutachteten ihre Mopeds und später ihre Autos. Der Koni hatte sich ein ganz ausgefallenes Gefährt hergerichtet: einen tiefer gelegten Opel Manta in Schwarz, bei dem die Kühlerhaube und die Seitentüren mit gelben und roten Flammen bemalt waren, in dem ich aber nie mitgefahren bin, weil ja die Freundin vom Koni immer mitfuhr. Ich hatte sie zwar nie gesehen, aber sie war anscheinend Krankenschwester und lebte in München, und der Koni besuchte sie jede Woche. Ich erinnere mich noch, dass ich ein bisschen eifersüchtig war, denn schließlich war es ja mein Koni, und ich kannte ihn schon vor dieser Schwesterntussi.

Ab und zu schlich ich mich abends zum Haus der Familie Franz, deren Garten direkt an den Garten der Königseders angrenzte, und durch die Hecke konnte ich den Koni und den Sepp mit ihren Freunden beobachten. Das meiste ihrer Gespräche über Mopeds und Autos und natürlich über Mädels habe ich nicht verstanden, aber ich fand sie alle damals furchtbar cool: den Glück Franze, die Daschinger-Brüder und wie sie alle hießen.

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