Man wird nicht als Mann geboren - Daisy Letourneur - E-Book

Man wird nicht als Mann geboren E-Book

Daisy Letourneur

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Beschreibung

Mit viel Humor und Verve stellt Daisy Letourneur das Patriarchat an den Pranger. Sie seziert traditionelle und neue Männlichkeit(en) und hinterfragt pointiert und fundiert sowohl die Konstruktion als auch die Dekonstruktion von Männlichkeiten. Es geht um Geschlechterrollen, Väterrechte, Homosexualität, um antifeministische und um profeministische Männer. Zahlreiche witzige Zeichnungen und persönliche Anekdoten ergänzen die Ausführungen. Die Autorin verbindet eine erhellende Analyse von Männlichkeit in der zeitgenössischen Gesellschaft mit dem Appell, feministische Kämpfe zu unterstützen – durch Zurückhaltung anstelle von neuerlicher Selbstprofilierung im Sinne einer ›kritischen Männlichkeit‹. »Ein Glanzstück!« – livres Hebdo »Äußerst gelungenes (und urkomisches) Buch.« – Les Inrockuptibles »Humor und Analyse liegen in dem Buch oft nahe beieinander.« – Ramona Westhoff, Deutschlandfunk

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EPUB
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Seitenzahl: 257

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Daisy Letourneur ist eine lesbische trans Frau und feministische Aktivistin. Sie ist Mitglied des Kollektivs »Toutes des Femmes« und Autorin des erfolgreichen Blogs »La Mecxpliqueuse« (»Die Mansplainerin«), in dem sie sich seit 2017 kritisch mit Männlichkeiten auseinandersetzt. Im Jahr 2022 erschien ihr erstes Buch bei Éditions La Découverte

Florian Kranz studierte Mehrsprachige Kommunikation in Köln sowie Literaturübersetzen in Düsseldorf. 2021 war er Stipendiat des deutsch-französischen Georges-Arthur-Goldschmidt-Programms und übersetzt inzwischen hauptberuflich Literatur aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen.

Daisy Letourneur

Man wird nicht als Mann geboren

Kleine feministische Abhandlung über Männlichkeiten aus dem Französischen übersetzt von Florian Kranz

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Daisy Letourneur:

Man wird nicht als Mann geboren

1. Auflage, April 2023

Titel der Originalausgabe:

On ne naît pas mec. Petit traité féministe sur les masculinités

© Éditions La Découverte, Paris 2022

eBook UNRAST Verlag, Juni 2023

ISBN 978-3-95405-157-1

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Einleitung

Erster Teil. Die männliche Natur

1. Was ist ein richtiger Mann (und was ein falscher)?

Wie Geschlecht hergestellt wird

Das Gender geht dem Sex voraus

Der richtige Mann

Warum von »Männlichkeiten« im Plural die Rede ist

2. Woran erkennt man einen Mann auf der Straße?

Stehen wie ein Mann

Sitzen wie ein Mann

Sich (nicht) rasieren wie ein Mann

Gehen wie ein Mann

Ein Mann lächelt nicht

Ein Mann weint nicht

Ein Mann begibt sich in Gefahr

Den Planeten zerstören wie ein Mann

Mehr Geld verdienen wie ein richtiger Mann

3. Darwins Schuld?

Warum haben Frauen eigentlich Brüste (und Männer nicht)?

Über die Entstehung des »Mannes«

Die Testo-Hypothese

Die Obsession mit den Unterschieden

Zweiter Teil. Was man über Männer sagt

4. Warum sind Männer unreif?

Was genau bedeutet eigentlich »Reife«?

5. Das Herz der Männer

Leidende Männer

Gefühle haben ein Geschlecht und eine sexuelle Orientierung

Der Preis der männlichen Herrschaft?

6. »Neue Väter«?

Wer sind die neuen Väter?

Und was ist mit den Väterrechten?

Die Autoritätsperson

Wer hat hier Ödipus gesagt?

Wo sind die Väter?

Dritter Teil. Männer unter sich

7. Warum sind Männer lieber unter Männern?

Männer unter sich, aber nicht zu sehr

Wie lässt sich männliche Homosozialität bekämpfen?

8. »Macht mich das jetzt schwul?«

Was hindert Männer daran, schwul zu sein?

Schwul, aber nicht tuntig

Queere Menschen sind doch Weiberkram

Homofeindlichkeit konstruiert uns alle im tiefsten Innern

9. Männer, diese Helden

Der Selbstbewusstseinszwang

Die Hochstapelei des Hochstaplerinnen-Syndroms

Die Unsicherheit der Herrschenden

10. Wer sind die antifeministischen Männer?

Überblick über Maskulinisten aller Art

Mitgefühl mit Jungfrauen

Märtyrer für die Sache

Maskulinisten, die sich nicht als solche bezeichnen

Männer haben zu Recht Angst

Vierter Teil. Mit den Frauen

11. Verführen oder belästigen?

Nette Kerle

Männer, die Frauen belästigen

Fundamentale Ungleichheit

12. Männer sind aktiv, Frauen sind passiv

Wie wichtig es ist, jede Arbeitszeit zu messen

Änderungen kommen nicht von jetzt auf gleich

Wer genau nimmt eigentlich wen?

Heterosex ist eine Arbeit wie jede andere

13. Wer ist verantwortlich für männliche Gewalt?

Männer wissen genau, was Konsens ist

Was heißt eigentlich Femizid?

Warum sind Männer gewalttätig?

Jenseits der körperlichen Gewalt

14. Sind dekonstruierte Männer die Zukunft des Feminismus?

Welcher Feminismus passt zu Männern?

Das Aufkommen des »dekonstruierten« Mannes

Müssen wir Männer hassen?

Der Platz der Männer im Feminismus

Fazit

Anmerkungen

Danksagung

Dieses Buch hätte ich wahrscheinlich nicht ohne Céline Extenso fertiggestellt, eine fantastische feministische und anti-ableistische Aktivistin, die den Text gegengelesen, unterstützt, bereichert, hinterfragt und inspiriert hat. Ich streichle dir über die Wange! Danke auch an Magda, Madeleine und alle Frauen, die mich in meinen Jahren des Mansplainings in irgendeiner Form unterstützt haben. Meiner Schwester und meinem Schwager danke ich dafür, dass sie mir einen Rückzugsort zum Schreiben zur Verfügung gestellt haben.

Vielen Dank an Pauline Huret-Liouville, dank der ich meine Stimme gefunden habe. An Espace Santé Trans und all diejenigen, die ich dort kennenlernen durfte. An Victoire Tuaillon, dank der mein Blog Bekanntheit erlangt hat.

Und auch wenn sie an diesem Buch nicht direkt mitgewirkt hat, danke ich meiner Gang, dem Kollektiv Toutes Des Femmes.

Einleitung

Warum eigentlich noch über Männer sprechen? Wenn alles so geregelt ist, als wäre der Mann der Standardmensch und die Frau nur eine Abweichung, sollte man doch meinen, dass sowieso schon zu viel über sie gesprochen wird. Schaut man allerdings genauer hin, wird deutlich, dass eher vom Mann gesprochen wird und nicht so sehr von Männern. Wir sprechen meist von Individuen und selten von der Gesamtheit der Männer; eher über Männer, die die Welt verändern, als über Männer, die Penisbilder im Internet verschicken; eher über Minister als über Vergewaltiger (außer natürlich, ein Mann ist beides zugleich).

Da Männer stets alle Blicke und Worte auf sich ziehen, gilt ihre Sichtweise als die selbstverständliche, und nicht etwa als einzelne Meinung unter vielen. Aus diesem Grund wird sie auch nur selten infrage gestellt. Der weiße, heterosexuelle cis Mann ist nicht »markiert«. Wenn eine Lesbe die Stimme erhebt, sieht sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie könne nur für sich sprechen und sei wahrscheinlich sowieso eine Männerhasserin. Macht ein rassifizierter Mann den Mund auf, gilt er schnell als Sprachrohr einer ganzen Community, ob er das nun will oder nicht. So läuft das, wenn man markiert ist, wenn man der*die »Andere« ist.

In Das andere Geschlecht zeigt Simone de Beauvoir, wie Frauen zu diesem »Anderen« gemacht und als Abweichung einer zwangsläufig männlichen Norm definiert wurden.[1] Aber was passiert, wenn man Männer als Untergruppe mit besonderen Merkmalen, Eigenheiten und internen Regulationsmechanismen auffasst? Den ersten Anstoß zur Untersuchung von Männlichkeit gab das Anliegen, die Sicht auf die Dinge umzudrehen, die Lampe auf diejenigen zu richten, die das Verhör bisher geführt haben.

Über Männer schreibe ich seit Anfang 2017 in einem Blog, der damals noch Le Mecxpliqueur hieß – der Mansplainer. Dieses Projekt entstand aus einer mehrjährigen Beschäftigung mit dem Feminismus. Ich habe lange darüber nachgedacht, wo ich als Mann in dieser Bewegung meinen Platz habe. Denn ja, damals habe ich als Mann gelebt. Und offenbar habe ich genau den Moment erwischt, in dem sich mehr und mehr Menschen für diese Frage interessierten. Ich wurde zu Podcasts, Radioshows und einer Fernsehdoku eingeladen … und das nur, weil ich ein feministischer Mann war. Offensichtlich besteht nach solchen Männern eine sehr hohe Nachfrage. Doch mein Unbehagen wuchs stetig. Je intensiver ich mich mit feministischer Theorie auseinandersetzte, je mehr man mich für mein (zugegebenermaßen mageres) Engagement beweihräucherte, desto mehr fühlte ich mich fehl am Platz. Mein Schreibprojekt war also auch eine Art Selbstbefragung, mit deren Hilfe ich meinen Wunsch, als Frau leben zu wollen, begreifen konnte.

Den Namen des Blogs änderte ich zu La Mecxpliqueuse (die Mansplainerin) – die französische Übersetzung eines Neologismus der Essayistin Rebecca Solnit. In ihrem Text Wenn Männer mir die Welt erklären[2] entlarvte sie die Neigung von Männern, Frauen etwas zu erklären, das sie bereits wissen. Eine Fachfrau, die jahrelang zu einem Thema geforscht und Konferenzen dazu abgehalten hat, wird irgendwann unvermeidlich auf einen Mann treffen, der meint, sich damit besser auszukennen, auch wenn er noch keine fünf Minuten darüber nachgedacht hat. Dieses männliche Verhalten, Frauen Dinge zu erklären, die sie schon wissen, bezeichnen Feminist*innen in Anlehnung an Solnit als Mansplaining, gebildet aus den Worten man und explaining. Indem ich mich als »mecxpliqueuse« bezeichnete, wollte ich die Vorstellungen vertauschen und die Männer als etwas begreifen, das man erklären muss.

Thema dieses Buches ist nicht mein Privatleben, aber da ich die männliche Position untersuchen möchte, sollte ich wohl meinen Standpunkt darlegen. Ich behaupte nicht, dass ich vor meiner Transition eine typisch männliche Lebenserfahrung gemacht habe – als ob es da nur eine einzige gäbe – oder dass ich als trans[3] Frau heute einen Rundumblick auf Geschlechterfragen habe. Ich bin eine weiße, lesbische trans Frau und mein Standpunkt ist nicht neutraler als irgendein anderer.

Dieses Buch ist ein wenig eigenartig, weil es als Blog begonnen hat und weil ich eben bin, wer ich bin: keine große Theoretikerin, keine Forscherin, sondern ein Tausendsassa mit Erfahrung im Bereich Journalismus und Kommunikation und einem Abschluss von der Eliteuniversität namens Arbeitslosigkeit. In diesem Buch möchte ich versuchen, die Ergebnisse feministischer Wissenschaftler*innen, die viel ernstzunehmender sind als ich, verständlich und zugänglich zu machen, persönliche Anekdoten aus meinem Leben erzählen, einige meiner seltsamen Ideen präsentieren und außerdem, weil der Verleger es mir nicht verboten hat, witzige Cartoons zeigen. Ich werde auf Statistiken, Theorien, Geschichten, Illustrationen und Pointen zurückgreifen, damit ihr einen neuen Blick auf eure Väter, Brüder, Freunde und Ex-Freunde werft – und vielleicht auch auf euch selbst.

Dennoch ist dieses Buch keine Gebrauchsanweisung zur persönlichen Weiterentwicklung. Hier werdet ihr keine Ansätze für ein besseres Ausleben eurer Männlichkeit finden, ebenso wenig wie Ratschläge für die Veränderung der Männer in eurem Umfeld. Wenn euch die Lektüre in eurem Alltag inspiriert, dann freut mich das, aber ich halte nicht den Schlüssel zur Verbesserung eures Lebens in der Hand. Ich glaube nicht, dass ich eine besonders gute Quelle für Moralpredigten und lieb gemeinte Ratschläge bin, und ich glaube auch nicht, dass persönliche Weiterentwicklung der richtige Weg für einen kollektiven Kampf ist. Ich werde nicht dafür sorgen, dass ihr euch im Patriarchat wohler fühlt. Wir haben Besseres verdient als kleine, individuelle Blasen, in denen es sich gerade so aushalten lässt.

Für die männlichen Leser wird sich die Lektüre dieses Textes wahrscheinlich unangenehm anfühlen. Ich verfasse schließlich kein Buch über Männer, damit sie sich gebauchpinselt fühlen. Hätte ich ein Buch über die Bourgeoisie geschrieben, hätte ich darin ebenfalls niemanden mit Samthandschuhen angefasst, auch die wohlhabenden Frauen nicht. Und hätte ich über cis Personen geschrieben, dann hätten sich sowieso 99 Prozent von euch auf den Schlips getreten gefühlt.

Vor einigen Jahren hat bei einer öffentlichen Veranstaltung jemand über meinen Blog gesagt: »Wenn ich nicht wüsste, dass der Autor ein Mann ist, würde ich denken, dass da eine hysterische Lesbe schreibt.« Eine eindeutig frauen- und lesbenfeindliche Aussage, die mich allerdings mit Stolz erfüllt hat. Damals hatte ich mein Coming-out zwar noch nicht gehabt, ich wusste aber bereits, dass ich genau diese hysterische Lesbe werden wollte. Indem ich das Team gewechselt habe, habe ich einen entscheidenden Vorteil verloren: Männer hören mir nicht mehr so bereitwillig zu. Nun befinde ich mich wirklich in der denkbar schlechtesten Position, um von Männern ernst genommen zu werden. Die Sichtbarkeit meines Blogs führte damals dazu, dass mich Maskulinisten online als »Schwuchtel« oder »lila Pudel« bezeichneten. Ich erinnere mich vor allem an einen, der in einem Video verkündete, ich würde zu jenen gehören, die sich »am Strand auf den Bauch legen«.[4] Wirklich messerscharf analysiert.

Wenn du ein Mann bist und dich das, was auf den folgenden Seiten geschrieben steht, verärgert, dann reg dich bitte nicht sofort auf, sondern bedenke: Ich schreibe das alles nicht, weil ich dir persönlich etwas Böses will (also, zumindest ist das sehr unwahrscheinlich). Versteh das hier bitte nicht als Einschätzung deines persönlichen moralischen Werts. In diesem Buch werde ich über Dynamiken schreiben, die sich auf einer kollektiven Ebene abspielen und weit über dich kleines Individuum hinausgehen. Das möchte ich gleich klarstellen, damit du offen und wohlwollend an die Lektüre herantrittst. Frag dich, welche meiner Schilderungen auf dich zutreffen und wie du dich dazu positionieren kannst. Nicht vergessen: Über seine Männlichkeit zu sprechen heißt nicht, dass man seine gesamte Existenz infrage stellen muss. Du bist nicht nur ein Mann; dein Wesen, deine Erfahrungen und deine Wünsche werden nicht zur Gänze von Männlichkeit bestimmt. Zumindest hoffe ich das für dich. Trotz allem wird dieses Buch nicht von deiner Leidenschaft fürs Briefmarkensammeln handeln und auch nicht davon, dass du schon einmal einer älteren Dame über die Straße geholfen hast.

Erster Teil.Die männliche Natur

Zuallererst sollten wir uns über die Grundlagen einig werden: Wovon sprechen wir, wenn wir von einem Mann sprechen? Ist das eine rein biologische Frage? Schließlich gibt es doch natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern, oder? Gleich als Vorwarnung: In diesem ersten Stück werde ich einige Theorieschnipsel heranziehen, ich versuche aber, sie so leicht verdaulich wie möglich zu machen. Wir schauen in die Philosophie, die Soziologie und die Biologie und gehen hoffentlich etwas klüger ins Bett. Das sollte den Sapiosexuellen unter euch doch gefallen!

1. Was ist ein richtiger Mann (und was ein falscher)?

Warum sollte ich meine Zeit damit verschwenden, das Wort »Mann« zu definieren? Schließlich kennt doch jede*r von uns Männer, wir alle machen täglich Erfahrungen mit ihnen. Jeden Tag begegnen wir Menschen und stecken sie im Kopf entweder in die Schublade »Mann« oder in die Schublade »Frau«, ohne weiter darüber nachzudenken. Diesen Prozess nennt man Vergeschlechtlichung. Und gerade in dieser Gedankenlosigkeit verstecken sich lauter Vorstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Dinge, über die wir nicht nachdenken, weil sie in der Regel bereits für uns gedacht wurden.

Die erste Definition des Mannes, der wir begegnen, ist die biologische. Ein Mann hat ein Y-Chromosom, eine Frau hingegen nicht. Ein Mann hat einen Penis, mehr Testosteron, Bartwuchs, größere Muskeln und ein schwereres Skelett. Betrachtet man das Ganze etwas weiter gefasst, lassen sich insgesamt fünf Aspekte der Geschlechtsidentität voneinander unterscheiden, fünf »Geschlechter«, die sich jeweils auf eine andere Facette beziehen:

1. Das chromosomale Geschlecht, das berühmte XX oder XY. Dabei handelt es sich allerdings um eine Vereinfachung, denn tatsächlich gibt es Frauen mit XY- oder XXY-Chromosomensatz, Männer mit XX-Chromosomen und so weiter, die so geboren werden und das manchmal erst im Erwachsenenalter (oder nie) herausfinden.

2. Das hormonelle Geschlecht. Bei jedem Menschen werden Testosteron und Östrogen gebildet, aber im Schnitt haben Männer mehr Testosteron und Frauen mehr Östrogen. Die Formulierung »im Schnitt« wähle ich bewusst, denn in Wirklichkeit überschneiden sich die Verteilungskurven.

3. Das anatomische Geschlecht, also das, was ein Mensch zwischen den Beinen hat. Und auch das scheint manchmal eindeutiger, als es in Wirklichkeit ist.

4. Das soziale Geschlecht, die Gesamtheit an unterschiedlichen Rollen und Positionen, die »Männern« und »Frauen« in einer gegebenen Gesellschaft jeweils zugeteilt werden.

5. Das psychologische Geschlecht, mit dem man sich identifiziert.

All das mag vielleicht ziemlich kompliziert wirken, aber meiner bescheidenen Meinung nach ist das noch viel zu einfach. So misst man den Genitalien recht willkürlich eine große Bedeutsamkeit für die Definition des anatomischen Geschlechts zu. Aber warum sollten wir uns darauf beschränken? Was ist zum Beispiel mit den Händen? Schließlich bezeichnen wir manche Hände eher als männlich (wenn sie groß, behaart etc. sind) und manche eher als weiblich (wenn sie zart, schmal etc. sind), und das obwohl manche Frauen nach dieser Vorstellung männliche Hände haben und manche Männer weibliche. Als ich noch ein Kind war, hat meine Schwester mir gesagt, ich hätte weibliche Wimpern, also vergeschlechtlichen wir offenbar bestimmte Körperhaare. Und was ist mit der Stimme? Wir könnten der Liste noch einige »Geschlechter« hinzufügen: Handgeschlecht, Stimmgeschlecht, Feld-Wald-und-Wiesengeschlecht …

Wie Geschlecht hergestellt wird

Jedes Modell, in dem Geschlecht auf die Biologie beschränkt wird, bestätigt sehr schnell sexistische Klischees und Vorurteile über Männer und Frauen. Wenn man aber auf der Straße einer Person begegnet und sie vergeschlechtlicht, testet man schließlich nicht ihre DNA, um die An- oder Abwesenheit eines Y-Chromosoms zu prüfen, und schaut auch nicht in ihre Hose. Vielleicht hat diese Person einen Bart, aber manche Männer sind dank ihres Fünf-Klingen-Rasierers mit Gleitbeschichtung aus Aloe Vera total glattrasiert, während manche Frauen »Hirsutismus«, also eine Gesichtsbehaarung haben, die auf das Polyzystische Ovarialsyndrom, auf ihre Gene oder schlicht und ergreifend auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass wir Menschen vom Affen abstammen. Kurz: Biologisches Geschlecht ist eine unglaublich komplexe Angelegenheit und sobald wir uns den Details widmen, stellt sich das Modell der Zweigeschlechtlichkeit als Hindernis für eine fundierte wissenschaftliche und medizinische Auseinandersetzung mit Geschlecht heraus.

Tatsächlich stützen wir uns, wenn wir einen Menschen vergeschlechtlichen, meist auf das soziale Geschlecht. Das soziale Geschlecht drücken wir durch all die Dinge aus, die wir anders machen, je nachdem, ob wir ein Mann oder eine Frau sind. In unserer Gesellschaft gehören dazu zum Beispiel das Tragen von Hosen oder Kleidern mit diesem oder jenem Schnitt, das Überkreuzen der Beine und das »Manspreading«[5], das Tragen von rosa Kleidung und Blumenmustern oder von unifarbenen Stoffen. Wir Frauen müssen den Männern auf der Straße aus dem Weg gehen, Männer können hingegen darauf zählen, dass alle anderen Platz machen. Wir senden Tausende mehr oder weniger subtile Signale aus, die andere Menschen als typisch männlich oder weiblich interpretieren. Und schon die kleinste Abweichung von der Norm reicht aus, um anderen Unbehagen zu bereiten. Fragt irgendeinen langhaarigen Mann und er wird euch bestätigen, dass er schon einige Male mit »Frau« angesprochen wurde, von einer Person, die sich wahrscheinlich sofort verbessert hat, sobald sie ein oder zwei Signale erkannt hat, die ihrem ersten Eindruck widersprachen: einen kleinen Kinnbart, eine Krawatte oder eine empörte Miene, weil man ihn für eine schwache Frau gehalten hat.

Trans Personen haben ein besonders ausgeprägtes Gespür für die Mechanismen der Vergeschlechtlichung, denn ihr Leben gestaltet sich unendlich viel leichter, wenn andere Menschen sie nicht misgendern, und mit der Zeit lernen sie, sich entsprechend zu verhalten. Wir trans Frauen wissen genau, dass man uns eher mit »Frau« anspricht, wenn wir große Ohrringe tragen und nicht zu wenig, aber auch nicht zu aufdringlich geschminkt sind (in letzterem Fall könnte man uns für eine Drag Queen halten). Trans Männer müssen ihrerseits lernen, weniger freundlich, höflich und zurückhaltend zu sein, damit sie von anderen als Männer wahrgenommen werden.

Ein anschauliches Beispiel für die Relevanz des sozialen Geschlechts und seine Loslösung vom biologischen Geschlecht beim Prozess der Vergeschlechtlichung ist das Geschlecht von Robotern. Woher wissen wir alle, dass der Roboter WALL-E aus dem Pixar-Film ein Junge und EVE ein Mädchen ist? Bei meiner Arbeit für ein Unternehmen, das humanoide Roboter herstellt, habe ich gelernt, dass sich die Designer*innen und Ingenieur*innen Mühe geben, ihre Kreationen nicht zu vergeschlechtlichen. Der kleine Roboter NAO hatte eine »neutrale« Kinderstimme, bewusst so programmiert, dass sie nicht eindeutig als männlich oder weiblich zu erkennen war. Mit großem Interesse beobachtete ich, dass die Leute NAO in 90 Prozent der Fälle für einen Jungen hielten. Zu der kleinen Minderheit derer, die NAO für ein Mädchen hielten, zählten ausschließlich Frauen. Entwickler*innen von Spracherkennungssoftware bei Apple, Google oder Amazon haben weniger Skrupel und statten ihre Kreationen gleich standardmäßig mit weiblichen Stimmen aus. Offenbar lieferten Verbrauchertests das Ergebnis, dass es sich für alle Menschen natürlicher anfühlt, einer Frau Befehle zu erteilen. Zumindest das wissen wir jetzt also.

Dieses »soziale Geschlecht« bezeichnet man auch als Gender. Ihr müsst dieses Wort nur erwähnen und schon erlebt ihr als Individuum einen äußerst lebhaften Abend und als Nation zahlreiche reaktionäre Demonstrationen. Trotzdem besagt die »Gender-Theorie« nicht mehr, als dass es zwischen Männern und Frauen Unterschiede gibt, die nicht allein biologischer oder göttlicher Natur sind. Dass das Y-Chromosom kein Krawatten-Gen enthält. Bricht man es auf diese grundlegende Tatsache herunter, lässt sich Gender nur schwer leugnen.

Also, was macht aus einem Mann einen Mann? Seine Handlungen, aber auch die Handlungen seiner Mitmenschen. So erklärt es die*der Philosoph*in[6] Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter.[7] Butler versteht Geschlecht als »performativ« – eine Formulierung, die vielleicht mehr Missverständnisse erzeugt als beseitigt hat (Klarheit ist leider wirklich nicht Judiths Stärke). Beim Wort performativ denkt man nämlich erst einmal an eine künstlerische »Performance«. Deshalb wurde Judiths Verständnis von Gender verzerrt, als hätte sie*er behauptet, das Leben sei nur ein großes Theater von Drag Queens und Drag Kings, in dem jede*r von uns durch das entsprechende Kostüm die Rolle einer Frau oder eines Mannes spielt. Tatsächlich steckt darin aber ein Funken Wahrheit: Wir alle haben verinnerlicht, was ein Mann oder eine Frau machen »muss«, und das beeinflusst unser Dasein, vom kleinsten Detail unserer Körperhaltung bis hin zu unseren individuellen Lebens- und Karrierewegen.

Diesen vergeschlechtlichten Szenarien kann man ganz genau folgen oder sich ihnen gänzlich entgegenstellen, aber man kann nicht einfach so tun, als gäbe es sie nicht, schließlich sind sie uns schon von klein auf tief eingeschrieben. Unser Gender wird nicht nur durch unsere Handlungen bestimmt, sondern auch durch die unserer Mitmenschen. Angefangen beim Arzt, der uns bei einer Ultraschalluntersuchung oder bei der Geburt zwischen die Beine geschaut und uns (jedenfalls in den meisten Fällen) für den Rest unseres Lebens zur Frau oder zum Mann erklärt hat. Danach kommen unsere Verwandten, unsere Freund*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen und Kolleg*innen – die ganze Welt macht uns zum Mann oder zur Frau. Wir vergeschlechtlichen sowohl uns selbst als auch einander.

Was bedeutet das konkret? Wenn du dich »wie ein Mann« verhältst und auch so aussiehst, dass alle dich als Mann erkennen und so behandeln – also dir gewisse Privilegien und Erwartungen entgegenbringen –, bedeutet das, mit Judith Butler gesprochen, unabhängig von deinem Chromosomensatz, dass du ein Mann bist. Und wenn mir ein betrunkener Mann nachts auf der Straße etwas zuruft und mich »Schätzchen« nennt, sodass ich, nur für den Fall, meinen Schlüsselbund wie einen Schlagring zwischen die Finger klemme, dann bedeutet das, dass ich eine Frau bin.

Das Gender geht dem Sex voraus

Wenn wir noch einmal auf diesen grundlegenden Akt der medizinischen Zuweisung zum Geschlecht M oder F zurückblicken, stoßen wir auf die wahre Natur von Gender. Denn öfter, als man denkt, kommen Kinder intergeschlechtlich zur Welt, sodass eine Ärztin nicht ohne Weiteres mit einem Blick auf die Genitalien bestimmen kann, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Und was passiert daraufhin viel zu oft? Die Medizin greift ein, meist durch Operationen und Behandlungen, die schmerzhaft, körperlich behindernd oder traumatisch sein können und sich häufig über mehrere Jahre hinziehen. Das passiert nicht etwa, damit das Kind vor eventuellen gesundheitlichen Problemen geschützt ist, sondern damit es genau in eine vorgefertigte Schublade passt. Es folgen schwerwiegende Hormonbehandlungen, operative Eingriffe in die Klitoris, wenn sie als zu groß erachtet wird (zu groß wofür?), oder schmerzhafte Vergrößerungen von Vaginas bei Kindern unter zehn Jahren, damit sie später einmal von einem Penis penetriert werden können. Denn auch diese Vorstellung prägt das allgemeine Verständnis von Gender: Wer penetriert, wer wird penetriert? Kaum praktizieren zwei »Männer« oder zwei »Frauen« penetrativen Sex, schon sind alle völlig verwirrt.

Auch in der Welt des Sports werden Körper nach den Genderregeln zurechtgebogen. Vor nicht allzu langer Zeit wurde die Läuferin Caster Semenya, Olympiasiegerin im 800-Meter-Lauf, die sich wegen ihrer erhöhten Androgenproduktion einer Überprüfung ihres Geschlechts unterziehen musste, von Sportverbänden wegen ihres als »zu hoch« erachteten Testosteronspiegels vor eine Entscheidung gestellt, die ihre Karriere zerstört hat: Entweder könne sie mit den Männern laufen oder sich einer medikamentösen Behandlung unterziehen, die ihren Testosteronspiegel auf ein »akzeptables« Niveau senkt. Und das, obwohl bis heute keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber vorliegt, dass Testosteron die sportliche Leistung erheblich verbessert. Gleichzeitig wird der Schwimmer Michael Phelps bewundert, denn sein Körper bildet unterdurchschnittlich viel Laktat, wodurch er stundenlang ohne Ermüdungserscheinungen trainieren kann. Ein Glück für ihn, dass nie jemand willkürlich entschieden hat, Laktat zu vergeschlechtlichen.

Einen Körper »außerhalb der Norm« zu haben ist praktisch eine Bedingung für den Profisport, aber offenbar gibt es einige Normen, deren Überschreitung weniger vertretbar ist. Einige dieser Fälle zeigen außerdem, wie Gender und Race miteinander verwoben sind: Aufgrund rassistischer Stereotype wird die Weiblichkeit Schwarzer Frauen wie Caster Semenya oder Serena Williams eher infrage gestellt als jene weißer Sportlerinnen. Das Weiblichkeitsideal westlicher Gesellschaften beruht auf dem Bild der weißen Frau.

Außerdem zeigen diese gegensätzlichen Fälle, dass das Gender, also das soziale Geschlecht, dem Sex, also dem biologischen Geschlecht, vorausgeht. Die Kategorien »Mann« und »Frau« werden nicht ausgehend von Genitalien oder Hormonen definiert, sondern andersherum: In unseren Gesellschaften muss sich das biologische Geschlecht nach den strengen Grenzen des sozialen Geschlechts richten. Die Einteilung der Gesellschaft in zwei Geschlechtsklassen erzeugt erst die Kategorien »Mann« und »Frau« und schreibt den unterschiedlichsten Körpermerkmalen Bedeutung zu, damit diese Klassifizierung überhaupt möglich ist. Zu dieser radikalen Schlussfolgerung sind Feminist*innen wie Christine Delphy schon vor langer Zeit gekommen, doch bisher ist sie noch nicht bis zur Allgemeinheit durchgedrungen.

Der richtige Mann

Bevor ihr mir aufs Wort glaubt, lest lieber bei den Menschen nach, deren Gedanken ich hier zitiere und ganz grob wiedergebe. Zumindest eines solltet ihr aber aus alldem mitnehmen: Gender ist etwas, das wir machen, das bestätigt, geprüft und wiederholt wird, jeden Tag und unser Leben lang. Für Männer bedeutet das, dass sie sehr viel Zeit darauf verwenden müssen, ihre Männlichkeit unter Beweis und andere Männer auf die Probe zu stellen. Da das Männlichkeitszertifikat nur eine kurze Gültigkeit hat, muss man es regelmäßig erneuern und die eigene Mannhaftigkeit wieder und wieder untermauern.

Dazu können harmlose kleine Dinge dienen. Zum Beispiel kann man einander jeden Tag fünfzehnmal mit »Hey Mann!« begrüßen. Oder vielleicht kann man mit seiner Kleidung eine farbenfrohe Palette von Grau bis Beige zur Schau stellen. Auf keinen Fall darf man weibliche Cocktails trinken, denn ja, sogar ganz ohne Chromosomen haben auch Getränke ein Geschlecht: Ein Cosmopolitan ist weiblich, eine Maß dunkles Bier ist männlich. Wenn man dazu aufgefordert wird, einen weiteren Shot zu trinken, lässt sich Männlichkeit auch durch automatische Einwilligung beweisen. Oder durch einen ausgeprägten Konkurrenzdrang. Oder durch die Bewunderung für jemanden, der »Eier in der Hose« hat. Mit alldem lässt sich beweisen, dass man ein Mann ist – und im besten Fall ein richtiger.

Der richtige Mann ist ein nebulöses Konzept, aber wir alle wissen, wovon die Rede ist: vom Alphamann, vom Macho, vom attraktiven, schwanzgesteuerten, erfolgreichen, maskulinen harten Kerl. Wie ein namhafter französischer Maskulinist es einst ausdrückte: »Ich habe einen zwanzig Zentimeter langen Schwanz, eine geile Frau und ein Ingenieursgehalt« – eine Großspurigkeit, die die Ambitionen dieses maskulinistischen Unternehmers gut zusammenfasst, der Marine Le Pens rechtsradikale Partei verlassen hat, um angehenden richtigen Männern Fortbildungen anzudrehen.

Denn die Existenz von richtigen Männern impliziert die Existenz von anderen Männern. Als »falsche« Männer würde man diese nicht unbedingt bezeichnen, aber eben auch nicht als richtige Männer … Vielleicht sind sie zu klein, zu dick, zu unsportlich oder hatten noch nie eine Freundin. Oder sie gehören zu einer niedrigen sozialen Schicht und werden dadurch entmännlicht. Vielleicht arbeiten sie in einem zu weiblichen oder zu wenig wertgeschätzten Beruf, zum Beispiel als Krankenpfleger oder Müllwerker. Oder sie haben eine Behinderung und werden daher von anderen als weniger sexuell fähig oder weniger maskulin wahrgenommen. Doch der absolute Anti-Mann ist, fast schon per Definition, der schwule Mann.

Ein schwuler Mann tut alles, was ein Mann nicht tun darf. Indem er seine Zuneigung und sein sexuelles Begehren gegenüber anderen Männern äußert, begibt er sich in die schamhafteste Position überhaupt, die dem richtigen Mann vollkommen widerspricht: Er feminisiert sich. Aus diesem Grund stellen homofeindliche Klischees schwule Männer meist als Tunten dar, die beim Sex passiv sind (»wie so ein Weib halt«), als Kinder mit Barbies spielen und als Erwachsene Poppers konsumieren und im Darkroom mehrere Sexualpartner haben. Diese absolut legitimen Arten der Lebensführung werden aber vor allem deshalb als negativ angesehen, weil sie die Hetero-Lebensweise infrage stellen (darauf werden wir noch einmal zurückkommen).

Warum von »Männlichkeiten« im Plural die Rede ist

Tatsächlich gibt es nicht nur eine Vorstellung von Männlichkeit, nicht nur eine monolithische Norm, sondern jede*r von uns verhandelt jeden Tag sein*ihr Verhältnis zur Männlichkeit neu, auch Frauen, die durchaus maskulin sein können (ebenso wie Männer feminin sein können). Die Soziologin und Männlichkeitsforscherin Raewyn Connell hat entsprechend ein Modell mit vier größeren Kategorien entwickelt:

1. Hegemoniale Männlichkeit bezeichnet die Gesamtheit der Praktiken, die die dominante Stellung der Männer in einer gegebenen Gesellschaft sicherstellen. Dazu zählt zum Beispiel, in Frankreich immer Männer zum Präsidenten zu wählen oder Witze über den Platz der Frau zu reißen (»in der Küche« – Bravo! Was für ein origineller und überaus witziger Komiker du doch bist).

2. Komplizenhafte Männlichkeit bezeichnet die Praktiken von Männern, die den Standards der hegemonialen Männlichkeit nicht entsprechen, aber trotzdem von deren Institutionen und Privilegien profitieren. Zu nennen wären hier die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen sowie die Tatsache, dass erst Mama kocht und sich dann die Ehefrau um die Kinder kümmert. In diese Kategorie fallen die meisten Männer.

3. Untergeordnete Männlichkeit wird von der hegemonialen Männlichkeit dominiert. Ihre Rechte werden nicht anerkannt, schon allein ihre Existenz ist ein Schreckgespenst. In diese Kategorie fallen vor allem schwule und trans Männer.

4. Marginalisierte Männlichkeit ist schließlich jene Männlichkeit, die hegemonial sein könnte, wenn sie nicht aufgrund nicht-geschlechtlicher Aspekte wie Race oder Klasse davon ausgeschlossen wäre. Hegemonie lässt sich eben schwer durchsetzen, wenn man Müllwerker ist.

Jeder Mann kann, je nach Kontext und Zeitpunkt, an einer dieser Formen von Männlichkeit teilhaben. Aber Männer sind in dieser Hinsicht nicht alle gleichberechtigt. Es handelt sich bei diesem Modell nicht um ein Büfett, an dem man sich frei bedienen kann, sondern eher um eine Gesamtheit von Positionen, die man einnehmen darf oder nicht. Wenn du ein weißer, reicher, heterosexueller und gesunder Mann bist, wird es dir leichter fallen, hegemoniale Männlichkeit zu praktizieren. Dann kannst du sogar entscheiden, dass ein Man Bun (ein Dutt bei Männern) für einen richtigen Mann akzeptabel ist, und die Welt wird dir zustimmen, weil du mächtig bist.

Bist du allerdings Schwarz, dann gehst du immer, wenn du zum Beispiel durch Sport deine Männlichkeit beweisen willst, das Risiko ein, mit rassistischen Stereotypen konfrontiert zu werden. Bist du jüdisch oder asiatisch, dann musst du dir umso mehr Mühe geben, um zu beweisen, dass auch du maskulin sein kannst. Sitzt du im Rollstuhl, dann nehmen dich andere schlicht und ergreifend nicht als sexuelles Wesen wahr.

Die Sache wird noch etwas komplizierter, wenn man bedenkt, dass auch Frauen in dynamischen Verhältnissen zu diesen Männlichkeiten stehen. Manche können sich dafür entscheiden, sich im Streben nach Hegemonie mit den Männern zu verbünden, zum Beispiel indem sie sich Sexualpartner suchen, die der dominanten Vorstellung weitestgehend entsprechen, oder indem sie ihre Partner dazu antreiben, noch stärker nach diesem Ideal zu streben. Aus feministischer Sicht ist das zu bedauern. Aber man muss sich auch klarmachen, dass nicht alle Frauen in der Heterosexualität gleich positioniert sind und manchen gewisse Möglichkeiten der persönlichen Emanzipation zum Beispiel aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht zur Verfügung stehen. Daher ist das Streben nach der relativen Sicherheit an der Seite eines »erfolgreichen« Mannes an sich keine so abwegige Überlegung. Genau darauf bauen dann auch die Männer bei ihrer Suche nach einer Ehepartnerin.