Manfred Weil - Sein oder Nichtsein - Mechthild Kalthoff - E-Book

Manfred Weil - Sein oder Nichtsein E-Book

Mechthild Kalthoff

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Beschreibung

Vom nationalsozialistischen Rassenwahn verfolgt, flieht der jugendliche Manfred Weil 1939 nach Belgien, wo er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen als feindlicher Ausländer nach Frankreich abgeschoben wird. Er entflieht der Todesfalle Konzentrationslager Gurs und taucht in Belgien unter, ehe er sich entschließt, als belgischer Fremdarbeiter getarnt, in der "Höhle des Löwen", in Deutschland, Zuflucht zu suchen. Dies ist eine Geschichte von Flucht, Lagern und Gestapo-Verhören, von Maskeraden, absurden Zufällen und glücklichen Fügungen, kurz: eine Geschichte vom Überleben! Das Buch erzählt die Über-Lebensgeschichte des Kunstmalers Manfred Weil (1920 - 2015), der nach dem Krieg weitere 70 Jahre lang als freischaffender Künstler lebte und arbeitete. Sein reichhaltiger Nachlass wird bis heute von seiner Familie ausgestellt und teilweise auch verkauft. Informationen dazu unter: www.manfred-weil.de

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Seitenzahl: 310

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Anna und Emil Weil

Zum Gedenken

Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft;

geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt;

geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal

in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles.

(Hamlet, 5. Aufzug, 2. Szene)

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Epilog

Erstes Kapitel

Sein Vater nahm es mit Humor. „Entweder, man wird genial, oder man wird völlig meschugge!“

Die Mutter hingegen war außer sich vor Empörung und konnte sich nicht beruhigen. Was war geschehen?

Sie hatte das Hausmädchen wie an jedem Nachmittag angewiesen, mit ihrem Sohn spazieren zu fahren, hatte ihm das frischgebügelte Matrosenhemdchen angezogen, ihn in den Kinderwagen gesetzt – ein Gefährt von gigantischen Ausmaßen – und beiden so lange hinterhergeschaut, bis der Wagen am Ende der Piusstraße links in die Venloerstraße abgebogen war.

Zwei Stunden später erfuhr sie dann von der Nachbarin das Ungeheuerliche. Diese hatte beobachtet, wie die Bedienstete mit dem kleinen Manfred in Richtung Grünflächen gefahren war, dort den Wagen unter einem Baum abgestellt und das Kind im Kinderwagen allein zurückgelassen hatte. Die Nachbarin hielt mit ihren Vermutungen nicht hinter dem Berg: Wahrscheinlich hatte das Mädchen sich mit ihrem Verehrer im Park getroffen und alle Vorsicht und Aufmerksamkeit außer Acht gelassen.

Das Kind saß nun mutterseelenallein in seinem Wagen, lachte quietschvergnügt in die Sonne und versuchte, sich mit aller Kraft an der Innenwand hochzuziehen. Mit einem Mal stand es in seinem Matrosenhemdchen krummbeinig wie ein Steuermann auf seinem Kutter und strahlte vor Freude, besonders, als der Wagen heftig nach rechts und nach links zu schaukeln begann. Die Nachbarin war zu spät zur Stelle und konnte nicht verhindern, dass der Kleine kopfüber in hohem Bogen aus seinem Kinderwagen fiel.

„Manfred ist aus dem Kinderwagen gefallen ... und mit dem Kopf aufgeschlagen!“

Die Mutter schäumte vor Wut, ging in das Zimmer des Mädchens, nahm den Koffer vom Kleiderschrank und schmiss hinein, was immer ihr an Kleidungsstücken und persönlichen Sachen in die Finger kam, schlug den Deckel zu und stellte das schon abgewetzte Gepäckstück vor die Wohnungstür. Diese Person sollte nie wieder auch nur einen Fuß ins Haus setzen, da kannte sie kein Pardon.

Sie hatte dem Mädchen ihren kleinen Manfred anvertraut, sie, die ansonsten so überaus vorsichtig und ängstlich ihren Erstgeborenen umsorgte, denn er war seit seiner Geburt ein sehr schwaches und kränkliches Kind, das besonderer Pflege bedurfte.

Seine Eltern erzählten oft, wie winzig er bei der Geburt gewesen war. Gerade mal 1.300 Gramm habe er gewogen, so klein, dass er in eine Zigarrenkiste gepasst hätte. Die Ärzte und Schwestern des Privatsanatoriums Dr. Samuel in Köln-Lindenthal hatten ihre Zweifel nicht verborgen, dass sie seine Chancen, die ersten Wochen überhaupt zu überleben, für denkbar schlecht hielten. Das Kind sei viel zu früh auf die Welt gekommen und sein Geburtsgewicht zu niedrig, so dass man davon ausgehen müsse, dass seine Organe nicht vollständig ausgereift und seine Konstitution insgesamt zu schwach sei. Jederzeit könne ihn eine Lungenentzündung oder Darmkrankheit befallen, gegen die der Frühgeborene nicht gerüstet sei.

Gegen den Rat der Ärzte nahmen seine Eltern ihn zu sich nach Hause, obschon auch sie sich keinen Illusionen hingaben. Es war ihr erstes Kind, sie wollten ihren Kleinen bei sich haben und ihn nicht Fremden überlassen, selbst wenn es nur für eine kurze Zeit wäre. In warme Wolldecken verpackt und die Wiege durch mit heißem Wasser gefüllte Steingutflaschen erwärmt, hegten sie die stille Hoffnung, ihn am Leben zu halten.

Erfahrungen in der Säuglingspflege hatte die Mutter allerdings nicht; sie war so ängstlich und behutsam, dass sie sich zunächst gar nicht traute, dieses Bündelchen Mensch überhaupt hochzuheben, geschweige denn zu baden. Eine Tante kam daher ins Haus, sie nahm beherzt den zerbrechlichen Körper auf den Arm, wusch und pflegte ihn und legte ihn dann wieder zurück in den Weidenkorb. Sie hatte selbst sechs Kinder und wusste, worauf es ankam.

„Wenn er nicht trinkt, musst du versuchen, ihm die Milch tröpfchenweise mit dem Teelöffel zu geben, immer wieder versuchen, ihn zu füttern, damit er genug Flüssigkeit bekommt, sonst trocknet er aus.“

An eine Beschneidung1 war gar nicht zu denken. Jede auch noch so kleine Gefährdung seiner Gesundheit wollten sie vermeiden und ließen ihn daher erst mit der Geburt ihres zweiten Sohnes Anatol beschneiden, fünfzehn Monate später.

Strenggläubig waren seine Eltern indes nicht. Der Vater nahm zwar seine Söhne regelmäßig mit in die Synagoge und legte Wert darauf, dass sie eine jüdische Schule besuchten und Hebräisch lernten, empfand sich aber als liberaler Jude und Weltbürger. Und die Mutter war ohnehin von Hause aus katholisch, jedoch religiös nicht sehr verankert, so dass sie zunächst sogar zum Judentum überzutreten beabsichtigt hatte. Der Rabbiner der jüdischen Gemeinde in der Roonstraße hatte dies angesichts ihres Alters und der vielfältigen Prüfungen, die sie hätte bestehen müssen, als nicht notwendig erklärt und ihnen zugesichert, die Kinder aus ihrer Ehe seien Juden und gehörten der jüdischen Gemeinschaft an.

Manfreds Großmutter hingegen trug den Scheitl2. Sie lebte in einem kleinen Ort im Badischen, nur wenige Kilometer nordöstlich von Breisach, wo der Vater geboren war. An die Besuche dort konnte Manfred sich später noch gut erinnern. Er vergaß nie, dass dort immer ein junges Gör hinter einem der Fenster gestanden und ihm und seinem Bruder die Zunge weit herausgestreckt hatte, als sie die Dorfstraße hinuntergingen. Jahre später sollte er es unter schrecklichen Umständen wiedersehen. Er erkannte sie zunächst nicht, wusste nicht, wer dieses hübsche junge Mädchen war, das da unter der Tür seiner Baracke stand und nach Manfred Weil fragte.

Sie war mit jenem Transport badischer Juden nach Gurs gekommen, den Gauleiter Wagner ins unbesetzte Frankreich hatte deportieren lassen. Manfred hatte sie jahrelang nicht gesehen, denn die Besuche bei der Großmutter in Eichstetten waren selten. Einmal war der Weg von Köln dorthin weit, und zum anderen gehörte der Vater nicht zu der Sorte Mensch, die enge verwandtschaftliche Bindungen pflegt, zumal er 1887 mit fünf oder sechs Jahren einem wohlhabenden Onkel aus Buffalo in Obhut gegeben worden und erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt war.

Die Großmutter hatte, gerade Witwe geworden, diese Entscheidung vermutlich in dem Glauben getroffen, ihrem Sohn eine glänzende Zukunft in Amerika zu ermöglichen. Der Vater jedoch beklagte sich, bei allem Verständnis, das er seiner Mutter entgegenbrachte, den heranwachsenden Söhnen gegenüber bitter über die Jahre in Amerika. Es war das Gemüt des Onkels, diese beklemmende Mischung aus Geiz, Lieblosigkeit und Ignoranz, die seine Jugend dort überschattet hatte.

Er selbst, Emil Weil, war ein liebevoller Vater. Er scheute sich nicht, mit Manfred auf dem Arm und einer Windel in der Manteltasche das Café Bauer in der Hohen Straße aufzusuchen und nötigenfalls die Hosen seines Kleinen vor Ort zu wechseln. Das Gespött der anderen störte ihn ebenso wenig wie die Späße, die die Verwandtschaft seiner Frau darüber machte.

Er war stolz auf seine Söhne, er bemühte sich um sie und verbrachte seine Zeit, wann immer er von einer Geschäftsreise zurückkam, bastelnd und bauend zwischen Baukästen und Zinnsoldaten, fertigte riesengroße Kaufhäuser und Burgen mit ihnen, las ihnen vor oder ging mit ihnen spazieren.

Manfred hörte ihm bewundernd zu, wenn er von Amerika, von seinen Reisen, wenn er überhaupt aus seinem abenteuerlichen Leben erzählte. Er war ein außerordentlich gebildeter Mann, polyglott und welterfahren. Als Kind schien es Manfred, als gäbe es nichts, was sein Vater nicht schon erlebt hätte, als gäbe es keinen Ort auf der Welt, wo der Vater noch nicht gewesen war.

In Amerika hatte er, der stickigen Atmosphäre im Hause des Onkels endlich entronnen, vorübergehend Jura studiert, ein Werk über englische Dialekte zu schreiben begonnen, zeitweilig bei einem Indianerstamm gelebt und dann bei einem Schmied gearbeitet, war Statist an der Metropolitan Opera gewesen und in einer Massenszene hinter Caruso hermarschiert, hatte in Brasilien mit Kaffee gehandelt und war jahrelang zur See gefahren. Auf einer dieser Reisen hatte er ein schweres Schiffsunglück überlebt, aber es war nicht diese Havarie, sondern eine Malariaerkrankung, die ihn noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland zurückbrachte. Im Hamburger Tropeninstitut riet man ihm aus Gesundheitsgründen davon ab, je in feuchte Klimazonen zurückzukehren, so dass er sich entschloss, fürs erste in der Hansestadt zu bleiben.

Die Kriegstrommeln im August 1914 und die allgemeine Mobilmachung durchkreuzten seine Pläne, und obwohl er einen großen Teil seines Lebens auf der anderen Seite des Erdballes zugebracht hatte, erfasste die kaiserliche Kriegsmaschinerie auch ihn, und er durchlebte die langen Schrecken der Schützengräben, wenn kiloschwerer Schlamm in den rutschenden Unterständen jede Bewegung unmöglich machte, während die von Todesfurcht erstarrten Gesichter der Soldaten den donnernden Granatenhagel erwarteten, immer das Schreien und Brüllen der Verwundeten gegenwärtig und die zerfetzten Leiber ihrer Kameraden vor Augen, die es in den wochenlangen Schlachten bereits erwischt hatte und deren sterbliche Überreste man in dem fortwährenden Feuerregen nicht hatte beerdigen können.

Unversehrt und mit hohen Orden dekoriert, kam er von den Schlachtfeldern Russlands und Frankreichs zurück und ließ sich – keiner der beiden Söhne wusste so recht warum – in Köln nieder.

Die Mutter hatte er in einem Café kennengelernt, vielleicht lag es an ihren schönen blonden Haaren, dass er auf sie aufmerksam wurde, sie sich näher kamen und schließlich heirateten. In jedem Fall kam Manfred, der Erstgeborene, viel zu früh auf die Welt und blieb ein schwaches und kränkliches Kind, das eingehender Fürsorge bedurfte.

Der Kinderarzt war beständiger Gast im Hause Weil, diagnostizierte einmal eine Lungenentzündung, später Mumps und Masern, drang auf die Einhaltung einer strengen Diät bei einer verschleppten Gelbsucht, schnitt die eitrigen Knoten einer Furunkulose auf und desinfizierte die blutenden Stellen. Ein anderes Mal behandelte er wochenlang eine schwere Verbrennung, an der die Mutter nicht ganz unschuldig war.

Sie hatte kochendes Wasser in den Badezuber geschüttet, wohl aber nicht darauf geachtet, dass der kleine Manfred – wie so oft – hinter ihr auf dem Fenstersims saß und sofort in das kochende Wasser sprang, als sie sich umdrehte, um kaltes zu holen. Mitsamt dem Bub fiel die Wanne zu Boden, und das kochend heiße Wasser ergoss sich über den hölzernen Fußboden.

Der Vater hatte ihr schwere Vorwürfe wegen dieser Unachtsamkeit gemacht, denn die Verbrennungen, die der Sohn davontrug, heilten lange nicht aus, entzündeten sich immer wieder aufs Neue und machten das Kind für Monate unbeweglich. Geduldig trug der Vater ihn nächtelang durch die Wohnung, wenn der Kleine vor Schmerzen nicht schlafen konnte, erzählte ihm Geschichten und versuchte ihn zu zerstreuen, wenn der Arzt sein ernstes Gesicht über die großflächigen Brandwunden an den Oberschenkeln beugte und diese mit einer braunen Lösung bepinselte.

Er war ein Meister seines Faches, dessen Auge geschult war und dessen Verstand schnell die Krankheitszeichen seiner Patienten zu deuten wusste.

„Ich rieche es schon”, sagte er neun Jahre später, als er an einem Montagmorgen gerufen wurde und kaum die Stube betreten hatte. „Ich rieche es schon“, und suchte in seinem schwarzen Arztkoffer nach einem Spatel.

„Der Junge hat Diphtherie, kein Zweifel, Diphtherie“, sagte er, noch ehe Manfred den Mund geöffnet und die Zunge herausgestreckt hatte. Der für die Halsbräune kennzeichnende süßliche Geruch und ein bräunlich verfärbter Rachenraum gaben ihm recht; es musste sofort gehandelt werden, um Schlimmeres zu verhüten.

So kam Manfred in die Lindenburg, wo strenge Schwestern schon bereit standen, um ihn eindringlich zu ermahnen, sich nicht zu bewegen, und – hier sei er in einer Krankenanstalt – tunlichst Ruhe zu bewahren, damit er wieder gesund werden könne. Was sie verlangten, für ihn war es unmöglich. Er musste sich bewegen, er konnte nicht ruhig liegenbleiben, geschweige denn den Mund halten.

Genauso schwer fiel es ihm, sich einfach unter die Decke zu legen, die Augen zu schließen und in den Schlaf hinüberzudämmern, ein Umstand, der ihn Zeit seines Lebens begleiten sollte. Er schlief nur, wenn der Körper seine Schlafschuld einforderte, wenn sich der Sendbote spät in der Nacht nicht mehr vertrösten ließ und er gezwungenermaßen wegsank aus Aktivität und Wachsein.

Am nächsten Morgen bewegten sich die weißen gestärkten Hauben im Rhythmus ihrer Köpfe, und der Ton wurde unerbittlich, wenn sie zum wiederholten Male den Finger und die Augenbrauen hoben, ihn schalten und zurechtwiesen und düster die schlimmen Folgen aufzeigten, die ein Nichtbefolgen ihrer Gebote habe: Das Herz und sogar die Nieren würden geschädigt und das Fieber würde wieder steigen, Diphtherie sei eine sehr, sehr schwere Krankheit.

Ihr Schimpfen und Schelten hatte keinen Sinn, die ganzen fünf Wochen hindurch konnte er das Geforderte nicht leisten, und so lag er einsam in einem weißen Bettgestell und wartete darauf, dass seine Eltern kamen, ihm hinter einer schmalen Glasscheibe zuwinkten und etwas zur Zerstreuung mitbrachten. Dass ausgerechnet in der Lindenburg seine lebenslange Liebe zu Shakespeare ihren Anfang nahm, ahnte er nicht, als er die von seinen Eltern geschenkten kleinen Zigarettenbildchen erstmals in den Händen hielt. Es waren Illustrationen von Aufführungen, jeweils eins pro Zigarettenpäckchen, die in einer Reihe von sechs Bildern ein berühmtes Theaterstück oder eine Oper darstellten. Er las die kurzen Erläuterungen, die unter einer der Zeichnungen standen, und war fasziniert: Hier ging es um einen dänischen Prinzen, dessen Vater vom Onkel ermordet wird. Der Prinz sinnt auf Rache und wird selbst unbeabsichtigt zum Mörder, eine verwickelte Geschichte mit tragischem Ausgang.

Von nun an sammelte er diese Bilder, tauschte doppelt erworbene mit anderen Kindern in regelrechten Umtauschzirkeln ein und hatte bald eine stattliche Zahl von Zeichnungen von Klassikern zusammen, die er erst Jahre später zu lesen begann.

********************

Regelmäßig am Donnerstagnachmittag lud die Mutter ihre Verwandtschaft zu Kaffee und Kuchen ein. Die Tische waren fein und reichlich gedeckt, und ihre Augen glänzten, wenn das Haus sich füllte und die Gäste um die große Tafel Platz nahmen. Sie war eine herzliche Gastgeberin und teilte gern mit vollen Händen aus, während sie sich angeregt in die bald lebhaften verwandtschaftlichen Auseinandersetzungen einmischte.

Der Vater hingegen mied weitestgehend die Familienrunde. Er setzte sich zwar kurz hinzu und sprach mit jedem ein nettes Wort, machte sich indessen bald mit angemessener Entschuldigung wieder auf. Inmitten dieser den praktischen Dingen des Lebens zugewandten Menschen fühlte er sich nicht heimisch und mochte sich auch nicht in ihre kleinbürgerlichen Zwistigkeiten einmischen.

Zudem war er viel beschäftigt, viel unterwegs und brachte in den guten Jahren viel Geld mit nach Hause. Wenngleich er ein erfolgreicher Geschäftsmann war, bedeutete ihm im Grunde das Geldverdienen nicht wirklich etwas. Er hatte Geld und gab es aus, ohne sich auch nur im mindesten Gedanken über die Zukunft zu machen, geschweige denn in irgendeiner Form Vorsorge zu treffen oder gar seinen Kindern das Pfennigzählen beizubringen. „Vielleicht habe ich euch nicht erzogen“, meinte er einmal nachdenklich im Hinblick auf seine häufige Abwesenheit, „vielleicht habe ich euch nicht erzogen, aber ich habe euch auch nicht verzogen.“ Schon als Kind empfand Manfred diese Einstellung als sehr weise. Die Mutter sah Anatol einiges nach und entschuldigte vielerlei. Bei Manfred war es umgekehrt, bei ihm ließ der Vater eher Nachsicht walten und drückte so manches Auge zu. Aber es gab Grenzen. Wenn sie zu weit gegangen waren, hatten sie zu Hause einen fürchterlichen Krach zu erwarten, der so bald nicht abebbte.

Einmal hatten er und Anatol wochenlang die Schule geschwänzt und waren stattdessen in den Gassen der Innenstadt herumgelaufen, hatten an der Uferpromenade den Schiffen auf dem Rhein hinterhergeschaut und sich so die Zeit vertrieben. Nach zwei Wochen bekamen die Eltern einen Brief vom Rektor, der anmahnte, dass die Söhne seit geraumer Zeit unentschuldigt fehlten.

Als sich beide an diesem Tag arglos beim Glockenschlag von Groß St. Martin durch die Altstadtgassen und entlang der Ringe auf den Weg machten, bei der Menschenschlange am Arbeitsamt in der Badstraße3 stehenblieben, um das stets wiederkehrende Schauspiel zu beobachten, wie ein Polizist einem Arbeitslosen die wöchentliche Unterstützung aus der Hand nahm und sie der wartenden, mit bangen Blicken dreinschauenden Ehefrau gab, immer unter großen Protesten des Mannes, der sich um Schnaps und Bier betrogen sah und dessen Schimpfen noch lange zu hören war, als Manfred und sein Bruder schon Richtung Rudolfplatz weiterliefen und sich beeilten, rechtzeitig zum Mittagstisch zu Hause zu sein, ahnten sie nicht, was ihnen bevorstand. Kaum hatten sie die neue Wohnung am Friesenplatz betreten, da schlug es dreizehn.

„Der Brief des Rektors“, der Vater hielt das blaue Kuvert in der Hand, „der Brief des Rektors ... sie waren nicht in der Schule gewesen ... ganze zwei Wochen ... nicht in der Schule gewesen ... wo waren sie gewesen ... nicht in der Schule gewesen“ ein Sturm der Entrüstung brach los, den Manfred Zeit seines Lebens nicht vergaß.

Sie hatten sich nichts Schlimmes dabei gedacht, hatten einfach die Nase gestrichen voll gehabt von der Schule und den Lehrern und sich eigenmächtig einige erholsame Ferientage eingeräumt, weg von dieser quälenden Langeweile und den tagtäglichen Schlägen. Zu Hause wurde Manfred nie geschlagen, dafür in der Schule umso mehr.

Es verging nahezu kein Tag, an dem er nicht die unbarmherzige Härte der schulmeisterlichen Hand oder des Rohrstockes zu spüren bekam, die bevorzugt ihn trafen, weil er vor lauter Langeweile dem Unterricht nicht folgte, lieber seine Späße trieb, unter der Bank zeichnete oder seinen Gedanken nachhing. Viel, ja nahezu alles hing von der Laune der Lehrer ab, ob es Prügel setzte, ob die harte Hand unberechenbar und strafend niedersauste oder ob die Unterrichtsstunden glimpflich verliefen. Sie waren keine Engel, und in gewisser Weise berührten ihn die Strafen, die er wegen Jux und Dollerei bekam, nicht sonderlich, die steckte er weg. Schwerer waren die Schläge zu verkraften, die er zu Unrecht und immer häufiger erhielt.

Er war schon einige Jahre auf der Schule, als der Konrektor ihn fürchterlich schlug, weil Manfred über einen seiner Witze gelacht hatte. Es war ein guter, ein sehr guter Witz mit überraschender Pointe, und Manfred amüsierte sich köstlich. Er lachte laut und aus vollem Halse, aber vielleicht hatte er zu laut und zu herzlich gelacht, vielleicht fühlte der Lehrer sich genasführt: Der Wind, seine Laune hatte sich gedreht, die Zeichen standen auf Sturm, und so hagelte es Schläge, so fürchterliche Schläge, dass der Lehrer selbst sich im Nachhinein bei Manfred entschuldigte und ihm ein Fünfzigpfennigstück als Entschädigung zusteckte. Und mit fünf Groschen konnte man schon einiges anfangen, das war für kindliche Augen ein recht stattlicher Betrag.

Der Unterricht interessierte ihn nicht. So sehr er es sich auch wünschte, es gab – mit einer Ausnahme vielleicht – keinen unter diesen humorlosen Lehrern, der seine Stunden auch nur halbwegs anregend gestaltete. Um ihn zu maßregeln, wurde er für Wochen in einen unteren Jahrgang versetzt, kam wieder in seine Klasse zurück, hatte von dem behandelten Stoff kaum etwas mitbekommen und erhielt für sein Nichtwissen schlechte Noten. Oft ging er nicht zum Sportunterricht, der dort praktizierte militärische Drill war ihm zu blöde, schwänzte später auch andere Unterrichtsstunden und las stattdessen lieber Shakespeare.

Dabei hatte seine Schullaufbahn durchaus hoffnungsfroh begonnen. Als er zusammen mit seinem Bruder am Einschulungstag im rot gestrickten Anzug und mit weißen Strümpfen auf der Schulbank saß und bedrückt auf den Ernst des Lebens wartete, der nun – wie man ihnen gesagt hatte – begönne, hörte er den Lehrer verkünden, ein jeder solle nun sein Schiefertäfelchen hervorholen und den KLEINENGERNEGROSS zeichnen. Manfred nahm seine Tafel aus dem Ranzen und machte sich an die Arbeit. Er bemerkte nicht, wie der Lehrer durch die Reihen ging und die Versuche seiner Schüler betrachtete. Schließlich hielt er an Manfreds Bank inne, nahm die Schiefertafel hoch, zeigte sie überall in der Klasse herum und meinte zu den anderen: „Sooo müsst ihr den KLEINENGERNEGROSS zeichnen.“

Es war ein großes Lob und für Manfred das erste Mal, dass ihm bewusst wurde, dass er etwas konnte, was andere nicht können, dass er eine Fähigkeit besaß, die andere nicht besitzen.

Manfred und sein Bruder gingen zusammen in die jüdische Schule in der Lützowstraße, diese war seit Anfang der dreißiger Jahre mit etwa 800 Kindern die größte jüdische Schule in Deutschland überhaupt, wobei viele der Kinder aus Familien kamen, die nach dem Ersten Weltkrieg aus Osteuropa eingewandert waren. Neben den üblichen Fächern lernten die Kinder Hebräisch, wurden in biblischer und jüdischer Geschichte und in Palästinakunde unterrichtet.

In einer dieser Stunden trat Dr. Braun, der als überzeugter Zionist eine Reise nach Palästina unternommen hatte, von der er seinen Schülern berichten wollte, vor die Klasse und zeigte stolz seine selbstaufgenommenen Fotografien aus Erez Israel. Dann reichte er sie ihnen und ermahnte sie streng – um Gottes Willen – pfleglich damit umzugehen, genau beobachtend, wie sie Stück für Stück in regelmäßigem Takt den Betrachter wechselten. Als Manfred nun an der Reihe war, gab er mit den Fotografien eine Postkarte vom Siebengebirge weiter, als sei sie ebenfalls Teil der wertvollen Sammlung. Seine Mitschüler kicherten zunächst, die belustigten Ausrufe wurden aber immer lauter, sie balgten sich um die Postkarte, und einer versuchte sie dem anderen aus der Hand zu nehmen. Inmitten dieses Tumultes wurde sie zerrissen.

Der Lehrer verlor gänzlich die Fassung, wurde blass und verlangte mit heiserer Stimme die übrigen Fotografien zurück. Er war der festen Annahme, der Schüler habe eines der Bilder zerstört, und noch bevor die üblichen erzieherischen Maßnahmen begannen, setzte er alles daran, seine übrigen Kleinodien vor der mutwilligen Zerstörung zu retten. Selbst als sich das Missverständnis aufgeklärt hatte, als ihm klargemacht werden konnte, dass es sich hierbei nur um einen Spaß gehandelt hatte, wollte der Lehrer sich nicht beruhigen und schimpfte und schlug auf den Verursacher ein.

Derartige oder ähnliche Vorfälle waren an der Tagesordnung. Manfred hatte ein feines Gespür für die Haltung der Lehrkräfte ihm gegenüber, er registrierte genau, dass die Lehrer andere Schüler – meist die aus wohlhabendem Elternhause – bevorzugten; diese wurden nie zur Rechenschaft gezogen, saßen immer in den vordersten Reihen und hatten es gut wie im Paradies.

Eines Morgens, nachdem das eindringliche Schrillen der Schulglocke verstummt war und Manfred die erste leidvolle Unterrichtsstunde erwartete, betrat der Lehrer die Klasse und verkündete frohgelaunt: „Kinder, heute machen wir einen Ausflug. Wir gehen in den Zoo; dort werden wir uns Kannibalen anschauen.“

Ein lautes Raunen ging durch die Reihen. Im Zoo, wo die Schüler für gewöhnlich exotische Tiere betrachteten, waren jetzt Menschen, Kannibalen, wie der Lehrer gesagt hatte, also Menschenfresser, ausgestellt? Keiner konnte sich so recht etwas darunter vorstellen. Saßen die Kannibalen um eine große Feuerstelle mit mächtigem Kessel darauf, in dem sie ihre Artgenossen zu Brei verrührten? Die Schüler stellten die absonderlichsten, von gedämpftem Lachen begleiteten Überlegungen an und konnten es kaum erwarten, den Tiergarten zu erreichen. Sie gingen in Zweierreihen zu dem abgetrennten Felsen mit Wassergraben, der üblicherweise von einem schwerfälligen, tapsenden Eisbären bewohnt war und an dessen Stelle nun zwölf leicht beschürzte Menschen hin- und hersprangen, laut lachten und in einer geheimnisvollen Sprache einander zuriefen und brüllten. Es war ein großes Getöse auf dem Felsen, ein Auf und Ab, ein Hin und Her.

Warf man vor ihren Augen eine Münze ins Wasser, sprangen sie pfeilgerade ins kühle Nass, tauchten blitzschnell nach dem Geldstück und hatten einen Heidenspaß, wenn sie mit ihrer Beute wieder auf dem Felsen standen. Der Lehrer hielt die Hände auf den Rücken und setzte ein selbstzufriedenes Lächeln auf, hatte er seinen Schülern doch einen lehrreichen Ausflug beschert. Hier im Zoo konnten sie nicht nur wilde Tiere bestaunen, sondern in einer einmaligen Gelegenheit auch das ungezügelte und wilde Gebaren von unzivilisierten Menschen studieren. Doch nach einer Stunde mahnte er zum Aufbruch, denn noch vor Schulschluss sollten seine Schüler eine Klassenarbeit zurückbekommen, die Manfred lieber nicht erhalten hätte.

Er erwartete nichts Gutes, als er sein Heft in den Händen hielt. Er sah die in roter Tinte geschriebenen Kürzel und Zeichen an den Rändern, Seite um Seite mehrten sich die vom Lehrer durchgestrichenen und angestrichenen Stellen, und am Ende prangte in gestochen scharfen Lettern die fällige, die erwartet schlechte Note.

Zu Hause schüttelte der Vater den Kopf. „Wie kann denn ein so kluger Vater solch dumme Söhne haben!“ Er kannte seinen Ältesten und hatte mit Freude sein überaus großes Interesse an Literatur, Musik und Malerei registriert. Der Junge verschlang geradezu die Bücher, die er im Antiquariat für wenig Geld erwarb. Er kannte ganze Stücke auswendig, mit denen er später während seiner Lehrzeit in der Handwerkerschule der jüdischen Gemeinde in der Utrechterstraße seine Kollegen aufzuheitern pflegte, indem er seitenlange Zitate aus Shakespeares Hamlet rezitierte, mit der nötigen dramatischen Gebärde einen alten Schal schwungvoll um den Hals, den Kopf nach hinten und die bedeutungsschweren Worte „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“ in den Raum warf. Regelmäßig nahm der Vater ihn mit zu Konzerten und Theateraufführungen, aber legte – wohlwissend, dass der Eindruck sich nicht unmittelbar, sondern erst viel später entfaltet – ebenfalls viel Wert darauf, mit ihm die Museen der Stadt zu besuchen, selbst wenn seinem Sohn die Atmosphäre zu bedrückend andächtig war, es ihm schwerfiel, durch die langen Hallen zu schreiten.

Unterdessen ging die Qual in der Schule weiter. Er lernte „Die Glocke“ auswendig, schwänzte nun auch andere Unterrichtsstunden und hatte im Zeichnen immer eine Eins.

********************

Die 1929 nach dem Schwarzen Freitag in New York einsetzende Weltwirtschaftskrise erreichte Deutschland zwar verspätet, dafür aber umso heftiger und brachte die auf Anleihen finanzierten Goldenen Zwanziger Jahre jäh zum Ende. Vom dem allgemeinen Niedergang war auch Manfreds Familie betroffen. Der Umzug in die Vorstadt nach Köln-Riehl Anfang der dreißiger Jahre war nur der Beginn des allmählichen wirtschaftlichen Ruins.

Sie wohnten dort in der Hamborner Straße inmitten einer kleinen Arbeitersiedlung, die Mitte der zwanziger Jahre von einer Wohnungsbaugenossenschaft für finanzschwache Familien gebaut worden und als die „rote Siedlung“ bekannt war. Die architektonische Gestaltung der Anlage war überaus schlicht, wenngleich den bedürftigen Familien ein bescheidener Komfort in den kleinen, aber hellen und mit einem Gemeinschaftsbad versehenen Wohnungen geboten wurde.

Es waren dreistöckige, von Rasenflächen umrandete Häuser mit Sprossenfenstern, engen Treppen und ebenerdigen Hauseingängen. Die an den Straßenkreuzungen auf das Mauerwerk aufgesetzten Arkaden lockerten die schlichte Bauweise auf. Hier befanden sich die Läden für das Lebensnotwendige, obwohl sich selbst das viele der Bewohner nicht mehr leisten konnten. Arbeitslose standen immer in Trauben um die Geschäfte herum, und Manfred hörte sie über die Braunhemden, über die faschistische Brut in der Mozartstraße schimpfen.

Dort hatte die SA ein Parteihaus, dort versammelten sich die Nationalsozialisten an den Samstagnachmittagen, um prügelnd und randalierend in die roten Siedlungen und Stadtteile zu ziehen. Nicht selten waren Manfred und sein Bruder Zeugen der blutigen Straßenschlachten zwischen der SA und den Kommunisten, in die sie manchmal unweigerlich mitten hineingerieten und dann alle Mühe hatten, den Schlägen zu entkommen. Diese Schlachten waren die ersten politischen Schulungen, die er erhielt, und auch die nachhaltigsten.

Als es wieder einmal hieß, da sei ein junger Kommunist in der Mauenheimer Siedlung von der SA zu Tode geprügelt worden4, rannte Manfred mit den anderen Jungen zum Tatort. Sie bahnten sich einen Weg durch die aufgeregte Menge und standen zu Tode erschrocken vor einer tiefroten Blutlache.

Er bewunderte diese Kerle, die sich kraftstrotzend für Gleichheit und Gerechtigkeit schlugen, die sich nicht einschüchtern ließen. Aber auch das hatte er gesehen: Einen Tag nach der Machtergreifung Hitlers kam ein Nachbar aus dem Haus gegenüber, das braune Hemd bis an den Hals fest zugeknöpft und den breiten Gürtel enggeschnallt. Den Blick starr geradeaus, knallte er die Hacken zusammen und hob den rechten Arm.

Trotz der Geldnot waren es herrliche Jahre, die er als Kind dort verbrachte. Nahe der Siedlung war eine Kiesgrube, und gleich hinter der Amsterdamerstraße gab es nichts als Kuhweiden und Kornfelder. Nicht selten rannten die Bauern mit einem Stock hinter ihnen her, wenn sie wieder einmal in den Weizenfeldern gespielt oder Zuckerrüben geklaut hatten. Einmal hätte es ihn beinahe erwischt, der wütende Bauer war ihm dicht auf den Fersen und schwang unentwegt seinen Knüppel, der ihn jedoch nur einmal an der Fußsohle traf und ansonsten ins Leere ging.

In der Kiesgrube hatten sie ihre Ruhe; dort versuchten sie, Kaulquappen zu fangen, schwammen und balgten sich im trüben Wasser, und am Rand der Gruben stellten sie mit den Kindern aus der Nachbarschaft die Schlachten nach, die sie auf der Amsterdamerstraße gesehen hatten. Und hier lernten sie ihr waschechtes Kölsch.

„Mam ..., schmieß mer en Bröck5 eraff“, hallte es abends durch die engen Straßen, wenn es schon dämmerte und Manfred und sein Bruder mit den anderen Jungens, allesamt verdreckt in durchlöcherten und geflickten Hosen, noch in ihr Spiel vertieft waren.

Für alle Kinder der Siedlung spielte sich das Leben auf der Straße ab. Wie alle gingen Manfred und Anatol zu den Karnevalszügen, sangen die Karnevalslieder, holten sich im November die Steckrüben vom Feld, höhlten sie aus, steckten eine Kerze hinein und liefen mit den anderen zum Martinszug, warteten mit offenen Händen an den Hauseingängen, bis sie Bonbons und Nüsse bekamen und schütteten abends stolz den Inhalt ihrer Beutel auf dem Küchentisch aus.

1 Entfernung der Vorhaut des männlichen Gliedes, Zeichen des Bundes Gottes mit Israel. Die Beschneidung muss bei einem jüdischen Jungen, außer im Falle körperlicher Schwäche, am 8. Tag nach seiner Geburt vollzogen werden.

2 jiddische Bezeichnung für Perücke. Im strenggläubigen Judentum ist es Sitte, dass sich die verheiratete Frau ihr Haar abschneidet und stattdessen eine Perücke trägt.

3 die heutige Schaevenstraße.

4 in der Nacht zum 11.7.1932.

5 Butterbrot

Zweites Kapitel

Hurra, mer weede jez de Jüdde los,

die janze koschere Band,

trick nohm gelobte Land,

mer laache uns für Freud noch halv kapott,

de Itzig un de Sahra

die trecke fott.

Die Bierkutscher und Laufburschen pfiffen die Melodie vor sich hin und die Stubenmädchen in ihren frischgebügelten Schürzen sangen den Karnevalsschlager, wenn sie die feinen Messingschilder an den Eingängen der Hotels und Restaurants blank wienerten, auf denen zu lesen stand: „Für Juden verboten“, „Juden unerwünscht“, „Nur für Arier“.

Es deet sich alles freue,

mer sin jez bahl so wig,

mer weede jez in Deutschland

de Jüdde endlich quitt.

Den „Palästinawagen“ auf dem Kölner Karneval 1934 hatte Manfred selbst gesehen, ebenso die Müllwagen der städtischen Reinigungsbetriebe ein Jahr zuvor, auf denen am Vorabend des am 1.4.1933 von der neuen Regierung ausgerufenen Boykottes jüdischer Geschäfte Richter und Rechtsanwälte vom Gerichtsgebäude am Reichenspergerplatz durch die Straßen der Innenstadt gefahren wurden, malträtiert von lärmender SA, die sie zum Polizeipräsidium brachte.

Wo ein Trog ist, da kommen auch die Schweine: Die Straßen füllten sich, Menschen strömten schnell herbei, um sich das Schauspiel anzuschauen, sie klatschten, riefen und gingen den Wagen hinterher. Manfred war an jenem und am Tag darauf mit seinem Vater in der Stadt unterwegs gewesen. Er betrachtete aufmerksam das Schauspiel und las die schreienden Aufschriften auf den Plakaten: „Feldzug gegen die Juden“, „Kauft nicht beim Juden“, „Juda verrecke“. Vor den jüdischen Geschäften in der Innenstadt war die SA in Paradeschritt auf Posten gegangen, beschmierte die Schaufenster und drangsalierte breitbeinig die Ladenbesitzer, während die Gaffer auf den Bürgersteigen stehen blieben und nicht selten klatschend ihr Wohlwollen kundtaten.

„Die Zionisten – das ist das Richtige für euch“, die Stimme des Vaters klang tonlos, seine Augen verfolgten das Geschehen auf der anderen Straßenseite, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ.

In Köln wird jüdischen Sportlern die Benutzung der städtischen Spiel- und Sportplätze verboten.

(Verordnung der Stadtverwaltung Köln, März 1933)6

Was die politische Entwicklung betraf, war sein Vater hellsichtig, er sah deutlich die Konsequenzen, die sich mit dem Einzug der Nationalsozialisten in die Regierungsämter abzeichneten, und wollte sich nicht damit beruhigen, dass der Terror des Frühjahrs 1933 nur momentane Auswüchse darstelle, die man über sich ergehen lassen müsse, wie ein Gewitter, das vorbeizieht. Wenn er unterwegs war, häuften sich bereits seit Jahren abfällige Bemerkungen, schnelle verächtliche Ausrufe im Vorübergehen, auf der Straße und in den Geschäften.

„Do wes doch nidd zum Jüdd jonn!“ Der dickleibige Hundebesitzer zog heftig an der Leine, als der Vierbeiner Manfreds Vater gefolgt war und keine Anstalten machte, zu seinem Besitzer zurückzukehren. „Du wirst doch wohl nicht zu einem Juden gehen“, brüllte er über die Straße und gab dem Hund einen Tritt.

Sein Vater wusste, und die Ereignisse rund um den „Tag des Boykottes“ bestärkten ihn nur umso eindringlicher:

In einem Land, in einer Stadt, wo angesehene Staatsanwälte und Richter auf einem Müllwagen unter dem Johlen der Menge durch die Straßen der Stadt gekarrt werden, da konnte schon bald, sehr bald, ein Leben als Jude unmöglich sein.

Jüdische Firmen (deren Inhaber jüdischer Abstammung sind) sind in Zukunft weder zur Abgabe von Angeboten heranzuziehen noch bei Erteilung von Aufträgen usw. zu berücksichtigen.

(Verordnung der Stadtverwaltung Köln vom 27.3.1933)7

Auch in der Firma, in der er als Prokurist arbeitete und die noch unter den Folgen der Wirtschaftskrise litt, häuften sich antisemitische Provokationen. Trotz des klaren Blickes, mit dem er die politische Entwicklung betrachtete, war der Vater hart getroffen, als der Geschäftsführer Drohbriefe erhielt, in denen es hieß, dass das Geschäft boykottiert werde, wenn weiterhin ein Jude eine leitende Stellung innehabe. Derlei Schreiben häuften sich, der Ton wurde schärfer, jedes zweite Wort war „Boykott“ und „Ruin“. Nicht selten fand der Vater auch ein braunes Kampfblatt auf seinem Schreibtisch mit eindeutigen, teilweise schon vollzogenen Botschaften, wie „Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau“.

Emil Weil resignierte schließlich, gab die Stellung auf und arbeitete sodann als Mitteilhaber in einer Glasschleiferei. Es war ein kleiner, aber solider Betrieb, der in den Jahren 1933/34 langsam wieder Boden unter die Füße bekam. Er war für die kaufmännische Seite des Geschäftes zuständig und wurde von den Arbeitern – es waren zum größten Teil die Söhne seines Kompagnons – geschätzt.

Arzneimittel, deren Hersteller Juden sind, sind nur zu verordnen, wenn andere gleichwertige Präparate nicht vorhanden sind.

(Verordnung des Kölner Oberbürgermeisters vom 17.5.1933)8

Umso schwerer traf es ihn, als die gemeinsame wirtschaftliche Betätigung mit Nichtariern von Staats wegen untersagt wurde und er auch diesen Betrieb verlassen musste. Hatte sie Anfang der dreißiger Jahre die Weltwirtschaftskrise in finanzielle Nöte gebracht, waren es nun die Nationalsozialisten, die sie an den Rand des Abgrunds drängten und zu einem Leben in bitterster Armut zwangen. Sie hatten keine Rücklagen, und der Vater konnte nur gelegentlich etwas Geld verdienen, was aber für den Unterhalt der Familie nicht ausreichte. Wenigstens bekamen die Söhne im jüdischen Kinderhort in der Lindenstraße, auf der Rückseite der Schule, täglich eine von der jüdischen Gemeinde für Kinder aus bedürftigen Familien finanzierte warme Mahlzeit und nachmittags belegte Brote, so dass sie zumindest satt waren, wenn es auch sonst an allem mangelte.

„Die Zionisten – das ist das Richtige für euch, da geht ihr hin!“ Mit der Machtergreifung Hitlers hatte sein Vater die Initiative ergriffen und seine Söhne dazu gedrängt, sich in einem zionistischen Jugendbund zu organisieren. Obwohl er selbst kein Zionist war, sollten sie in einer die jüdische Ehre und Würde betonenden Jugendgruppe vor den Anfeindungen gefeit sein.

Sie wohnten noch in Köln-Riehl, als Manfred sich zum ersten Mal auf Rollschuhen in seiner neuen Uniform des „HaSchomer Hazair“, eines jungen Wächters, auf den langen Weg machte über die Amsterdamer Straße, am jetzigen Adolf-Hitler-Platz9 vorbei und die Ringe entlang über den Neumarkt bis zum Mauritiussteinweg, wo sich das Haus der Jugendorganisationen befand.

Noch wenige Jahre zuvor waren die zionistischen Jugendorganisationen eine kleine und oft belächelte Randerscheinung im jüdischen Leben gewesen. Man hatte ihre Hinwendung zu jüdischen Werten und zur jüdischen Gemeinschaft ebenso belächelt wie ihre Abkehr von der als eng und unzeitgemäß empfundenen bürgerlichen Welt der Eltern und ihr Vorhaben, nach Palästina – also in die Wüste, wie man im jüdischen Bürgertum kopfschüttelnd kommentierte – auszuwandern.

Nun jedoch gab ihnen die äußere Bedrohung durch die Nationalsozialisten recht. Die Erziehung in der Gruppe und die Teilnahme an Zeltlagern in der freien Natur mit Liederabenden am Lagerfeuer boten nicht allein eine erfreuliche Abwechslung im immer trüber werdenden Alltag, sondern stärkten auch das Selbstbewusstsein und bereiteten auf ein Leben und Arbeiten unter Gleichgesinnten vor, denn letztlich galt die Vorbereitung für die „Alijah“10 nach „Erez Israel“ als oberstes Ziel.

Im Mauritiussteinweg fanden regelmäßig Gemeinschaftsabende und politische Schulungen statt. Hierhin kamen Schaul Weinberg und Esther Katznelson aus dem „Kibbuz Haarzi“11, die braungebrannt und mit klingender Stimme von dem Leben in der Gemeinschaft, von harter Aufbauarbeit und von gefährlichen Scharmützeln mit den Arabern berichteten. Jede Stecknadel hätte man fallen hören können, gebannt waren unzählige Augenpaare auf die Erzähler gerichtet und die Zuhörer in ihren Vorstellungen versunken: gleißende Hitze, sandiger, karger Boden neben blühenden Landschaften, Holzhütten und Zelte zu kleinen Dörfern angeordnet, in denen der Zionist als Gleicher unter Gleichen lebte.

In den Schlichim (Gesandten) aus Erez Israel, die als Führer des Hechaluz nach Deutschland gekommen waren, lernten die Juden Deutschlands den Typus des neuen palästinensischen Arbeitsmenschen kennen und tiefer das Wesen unserer Renaissance-Bewegung verstehen.

(Bericht der Zionistischen Vereinigung für Deutschland an den XXV. Delegiertentag, Berlin, Februar 1936)12

Die Abgesandten der Gemeinschaftssiedlungen wurden bewundert, und ihr Wort hatte Gewicht, verkörperten sie doch einen von täglichen Drangsalierungen und leidvollen Demütigungen freien jüdischen Menschen. Wo sie herkamen, gab es keine Schmierereien an den Schaufenstern der noch verbliebenen jüdischen Geschäfte und keine offenkundigen Drohungen in den Gazetten, ganz zu schweigen von der so reichen Erfahrung an persönlichen Demütigungen und Kränkungen.

Selbst auf dem Schulweg wurden sie manchmal von jugendlichen Horden angegriffen und unter den anfeuernden Rufen der vorbeikommenden Erwachsenen „Gebt’s den Juden“ verprügelt. So nahmen sie Umwege in Kauf, änderten regelmäßig ihren Weg in die Lützowstraße, machten sich morgens früher als nötig auf den Weg oder blieben nach dem Unterricht noch in den Schulräumen, bis die Luft rein war.