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Mehmet Gürcan Daimagüler

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Beschreibung

In Deutschlands Gefängnissen sitzen Mörder und Terroristen. Aber bei Weitem nicht nur – ebenso Schwarzfahrer, Steuersünder und ganz normale Bürger, die einmal eine falsche Entscheidung getroffen haben und dafür mit ihrer Freiheit bezahlen.

Die renommierten Rechtsanwälte Daimagüler und von Münchhausen prüfen in ihrem Buch den Strafvollzug in Deutschland auf Herz und Nieren. Warum strafen wir, und wie? Warum ist der Weg in den Knast in Bayern kürzer als in Bremen, und warum sollte man sich sein Urteil lieber nach der Mittagspause als kurz vor Dienstschluss abholen? In welchem Zustand sind Deutschlands Vollzugsanstalten und welche Geschichte steckt in ihren Mauern? Wie sieht der Alltag eines Häftlings aus – und warum geht uns alle die Frage an, wie wir unsere „niedrigsten Bürger“ behandeln?

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Zum Buch

In Deutschlands Gefängnissen sitzen Mörder und Terroristen. Aber bei Weitem nicht nur – ebenso Schwarzfahrer, Steuersünder und ganz normale Bürger, die einmal eine falsche Entscheidung getroffen haben und dafür mit ihrer Freiheit bezahlen.

Die renommierten Rechtsanwälte Daimagüler und von Münchhausen prüfen in ihrem Buch den Strafvollzug in Deutschland auf Herz und Nieren. Warum strafen wir, und wie? Warum ist der Weg in den Knast in Bayern kürzer als in Bremen, und warum sollte man sich sein Urteil lieber nach der Mittagspause als kurz vor Dienstschluss abholen? In welchem Zustand sind Deutschlands Vollzugsanstalten und welche Geschichte steckt in ihren Mauern? Wie sieht der Alltag eines Häftlings aus – und warum geht uns alle die Frage an, wie wir unsere »niedrigsten Bürger« behandeln?

Zu den Autoren

Mehmet Gürcan Daimagüler, 1968 in Siegen als Kind türkischer Arbeiter geboren, ist promovierter Rechtsanwalt, Kolumnist und Buchautor. Im NSU-Verfahren vertrat er die Opfer-Familien Özüdogru und Yasar.

Ernst Freiherr von Münchhausen, geboren 1966 in Detmold, Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte, ist Rechtsanwalt. Mit Mehmet Daimagüler vertrat er 2015 Nebenkläger im Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Mehmet Daimagüler

Ernst von Münchhausen

MANGEL

HAFT

Hinter den Mauern

deutscher Gefängnisse

Blessing

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Copyright © 2019 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Umschlagabbildung: Gerhard Westrich/laif

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-21972-7V001

www.blessing-verlag.de

»Es heißt, dass man eine Nation erst dann wirklich kennt,

wenn man in ihren Gefängnissen gewesen ist.

Eine Nation sollte nicht danach beurteilt werden, wie sie ihre

höchsten Bürger behandelt, sondern ihre niedrigsten.«

Nelson Mandela

INHALT

Vorwort

Einleitung

Quer durch Deutschland – meine Reise im Gefängnisbus

JVA Bautzen – Das gelbe Elend

JVA Bielefeld – Wodka am Wochenende

JVA Bruchsal – Rekorde im Café Achteck

JVA Bützow – Früher unbeliebt, heute unbeliebt

JVA Celle – Leben im französischen Schloss

JVA Frankfurt I – Weltraumtechnik und White-Collar-Kriminelle

JVA Halle I – Deutsche Geschichte im Roten Ochsen

JVA Geldern – Irgendwo im Nirgendwo

JVA Hahnöfersand – Hamburgs Alcatraz

JA Hameln – Hameln Beach, der Strand ohne Sand

JVA Heidering – Raus aus der Steinzeit, rein in den Designerknast

JVA München Stadelheim

JSA Regis-Breitingen  –  Der Folterknast

JVA Tegel – Planet Tegel mit Bambulen & Massenschlägereien

JVA Waldheim – Die Mutter aller Gefängnisse

Gefängnis-Mythen auf dem Prüfstand

Knastwörterbuch

VORWORT

Wie eine Gesellschaft tickt, wie menschlich oder mitfühlend sie ist, erkennt man nicht im Umgang der Mitte mit der Mitte, sondern an ihrem Umgang mit den Ausgestoßenen. Die Beschreibung der Haftanstalten in diesem Buch bietet nicht nur einen Blick auf den Alltag der Insassen. Wichtiger noch gestattet sie einen klaren Blick nicht auf das, was wir gern laut unserem Selbstverständnis wären, sondern auf das, was wir sind.

In diesem Werk finden Sie Beschreibungen von und Berichte aus deutschen Gefängnissen. Was sind das für Institutionen, was sagen die Gefangenen zu »ihrem« Knast? Wie ist das Essen, wie sehen die Zellen aus? Welche Besonderheiten bietet jeder Knast? Daneben klassifizieren wir »10 Gefängnismythen« als wahr oder falsch. Zum Beispiel den Mythos, dass die Zeit in der Untersuchungshaft »angenehmer« als der reguläre Strafvollzug sei.

Mit der U-Haft beschäftigt sich auch der Reisebericht eines Untersuchungshäftlings, der sich von einem Tag auf den anderen hinter Gittern wiederfand und in diesem Buch beschreibt, wie er von einer Haftanstalt quer durch Deutschland »verschubt« wurde.

Außerdem überprüfen wir gängige Gefängnismythen auf ihren Wahrheitsgehalt hin.

Zu guter Letzt haben wir noch ein kleines Knast-Wörterbuch für Sie. Dabei handelt es sich um Übersetzungen von Begriffen und Redewendungen aus dem Gefängnisalltag.

Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler   Ernst Freiherr von Münchhausen

Rechtsanwälte

Bonn/Berlin, November 2019

EINLEITUNG

1  Warum strafen?

Mord und Totschlag haben Konjunktur. Verbrechen lohnen sich und generieren Profite in Millionenhöhe. Jedenfalls für manche Medienunternehmen. Wir beobachten eine paradox-gegenläufige Entwicklung: Die Verbrechen werden seltener, die Berichte über sie aber häufiger und intensiver. Kaum eine überregionale Zeitung und Zeitschrift verzichtet auf eine eigene Crime-Rubrik. Der Durst der Leserschaft nach Berichten über menschliche Abgründe wird bedient, mal mehr, mal weniger sensationsheischend, aber selten nüchtern. Zu beobachten ist zudem ein anschwellender Chor jener, die »Klartext« reden, die ein »Ende der Geduld« verkünden oder fordern, die vor »No-Go-Areas« warnen, kurz gesagt: die Schluss machen wollen mit der »Kuscheljustiz«. Hier artikuliert sich eine Stimme, die eine Abkehr von den strafrechtlichen Reformen der Siebzigerjahre verlangt. Jenen Reformen, die den Fokus weg von der Strafe als Vergeltung für begangene Verbrechen hin zur Prävention und Resozialisierung des Verurteilten vollzogen. Diese sollen ganz oder teilweise rückgängig gemacht werden. »Der Sozialromantiker kümmert sich liebevoll um den, der das Nasenbein gebrochen hat«, schreibt der Jugendrichter Andreas Müller in seinem Buch Schluss mit der Sozialromantik. Ein Jugendrichter zieht Bilanz1. Er bekommt viel Zustimmung, wenn er härtere Strafen fordert. Warum ist eine solche Forderung in Zeiten rückläufiger Straftaten sinnvoll? – diese Frage wird selten gestellt und noch seltener beantwortet. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, wann jemals in der Geschichte der Menschheit härtere Strafen zu einem Rückgang von Straftaten geführt hätten.

»Langweilig« ist nicht zwangsläufig das Gegenteil von »sensationsheischend«. Den Beweis liefern die Berichte des Bundesamtes für Statistik Jahr um Jahr, besonders wenn es um Straftaten geht. Hier werden in blutdruckschonender Weise spannende Einblicke in das deutsche Innenleben geboten.

Im Jahr 2016 verurteilten deutsche Gerichte 737 873 Personen rechtskräftig wegen eines strafrechtlichen Verbrechens oder Vergehens mit rückläufiger Tendenz. Im Vorjahr gab es noch 0,2% mehr Verurteilungen. Die allermeisten Verurteilungen sahen Geldstrafen vor, bei 107 381 stand jedoch eine Freiheitsstrafe im Urteil. Das bedeutet aber nicht, dass alle oder auch nur die meisten der Verurteilten tatsächlich ins Gefängnis müssen. Bei 72 % der Heranwachsenden und 69 % der Erwachsenen wurden die Haftstrafen zur Bewährung ausgesetzt, so das Statistische Bundesamt. Im Jahr 2017 saßen circa 64 000 Menschen in deutschen Gefängnissen. 94 % waren Männer und nur 6 % Frauen. Das entspricht etwa 0,06 % der Gesamtbevölkerung. Das ist im internationalen Vergleich ein relativ geringer Wert. In den USA zum Beispiel befinden sich fast 2,3 Millionen Menschen hinter Gittern. Das sind circa 0,75 % der Gesamtbevölkerung oder 0,9 % aller erwachsenen US-Amerikaner. Anders ausgedrückt: In den USA leben in etwa viermal so viele Menschen wie in Deutschland, aber 40-mal (!) so viele fristen ihr Leben hinter Gittern. Warum ist das so? Wenn in einer Diktatur oder einem autoritären Staat wie China Menschen in übergroßer Zahl eingesperrt werden, liegt der Grund auf der Hand. Aber nun sind die USA wie auch Deutschland eine Demokratie. Man sollte meinen, dass Demokratien bei allen Unterschieden das gleiche oder zumindest ein ähnliches Menschenbild zugrunde liegt. In Deutschland gilt zum Beispiel, dass auch wegen schwerster Straftaten wie Mord verurteilte Menschen grundsätzlich Anspruch darauf haben, irgendwann wieder ein Leben in Freiheit zu führen. Deswegen bedeutet eine Verurteilung zu lebenslanger Haft in Deutschland eben nicht, dass der Verurteilte bis zum Tag seines Todes keinen Moment in Freiheit mehr erleben wird. Die Regelentlassung erfolgt nach 15 Jahren. Längere Haftstrafen, auch das kommt vor, sind Ausnahmen von dieser Regel und bedürfen besonderer Begründung. Alles andere widerspricht unserem in Artikel 1 Grundgesetz postulierten Verständnis von der Würde des Menschen.

Anders in den USA: Dort können Richter schon bei der Urteilsverkündung jede Strafaussetzung zur Bewährung ausschließen. In einzelnen Staaten der USA gelten »Three Strikes Laws«. Diese wurden 1994 während der Präsidentschaft von Bill Clinton bundesstaatlich zugelassen. Dies bedeutet, dass ein Angeklagter, der bereits zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, beim dritten Mal ungeachtet des Tatvorwurfs zu extremen Strafen verurteilt werden darf. Den Bundesstaaten räumte Clinton dabei einen Spielraum ein, ob und wie sie Three Strikes Laws implementieren. Im Bundesstaat Maryland beispielsweise werden Angeklagte mit drei Vorstrafen beim vierten Mal, sofern es sich dabei um eine Gewalttat handelt, automatisch zu lebenslanger Haft ohne jede Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ein 20-jähriger Angeklagter, der dreimal wegen Ladendiebstahls verurteilt worden ist und dann wegen Körperverletzung vor dem Richter steht, kommt nie wieder auf freien Fuß. Er stirbt als alter Mann hinter Gittern. Von der Möglichkeit der Todesstrafe in den USA einmal ganz zu schweigen. Solche Strafvorstellungen sind im Deutschland unserer Tage mit der Werteordnung unserer Verfassung unvereinbar.

Niemand sollte aber überheblich die Nase über die Zustände in den USA rümpfen. Es gibt nicht wenige, die lieber heute als morgen amerikanische Zustände in Deutschland einführen würden. Vor allem aber herrschten hierzulande vor gar nicht langer Zeit wesentlich schlimmere Zustände als in den fernen USA. Im östlichen Teil Deutschlands wurde zudem die Todesstrafe erst kurz vor dem Kollaps der DDR Ende 1987 abgeschafft. 227 Mal wurde diese »Strafe« (im Grunde waren es staatliche Mordaufträge) in 40 Jahren DDR verhängt, und in mehr als zwei Dritteln der Fälle auch durch Enthauptung oder durch einen Schuss in den Hinterkopf – den sogenannten unerwarteten Nahschuss – vollstreckt. In der demokratischen Weimarer Republik wurde ebenfalls die Todesstrafe verhängt – 1141 Mal – und auch vollstreckt, ganze 184 Mal. Drakonische Strafen sind weiß Gott kein Privileg diktatorischer Systeme. Nicht nur der einzelne Mensch wird durch die Umstände seiner Gesellschaft sozialisiert. Auch die Gesellschaft selbst wird sozialisiert: Wenn im Wilden Westen einem einsamen Cowboy das Pferd gestohlen wurde, bedeutete dies für den Cowboy oft das Todesurteil. Deswegen hat man Pferdediebe sicherheitshalber aufgehängt. Diese Vorstellungen von Law and Order finden sich dann auch in den USA des 21. Jahrhunderts, wo jeder Politiker jeder Partei in jedem Wahlkampf seinen Wählern verspricht, tough on crime zu sein.

Noch einmal: Auch in Deutschland waren – und sind! – Konzepte wie die »Three-Strikes«-Gesetze nicht unbekannt. Im deutschen Strafrecht finden sich solche Überlegungen unter dem Stichwort »Gewohnheitsverbrecher«. Schon gleich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung fanden sich solche Ideen in Gesetzen wieder. Im November 1933 wurde das Strafgesetzbuch im nationalsozialistischen Sinne mit dem neuen § 20a erweitert. Dort hieß es:

Absatz 1

Hat jemand, der schon zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, durch eine neue vorsätzliche Tat eine Freiheitsstrafe verwirkt und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, dass er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so ist, soweit die neue Tat nicht mit schwererer Strafe bedroht ist, auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren und, wenn die neue Tat auch ohne diese Strafschärfung ein Verbrechen wäre, auf Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen.

Absatz 2 

Hat jemand mindestens drei vorsätzliche Taten begangen und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, dass er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so kann das Gericht bei jeder abzuurteilenden Einzeltat die Strafe ebenso verschärfen, auch wenn die übrigen im Absatz 1 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Wie viele andere Nazi-Gesetze auch, blieb diese Gesetzesverschärfung auch nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Erst die Reformen von 1969 und 1973 führten zu einer Änderung. 

Aber auch nach diesen Reformen blieb die Idee hinter der Gesetzesverschärfung von 1933 bestehen. In § 48 StGB, der noch bis zum 1. Mai 1986 galt, wurde nun normiert:

Begeht jemand, der schon mindestens zweimal wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens zu Strafe verurteilt worden ist und wegen einer oder mehrerer dieser Taten für die Zeit von mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe verbüßt hat, eine mit Freiheitsstrafe bedrohte vorsätzliche Straftat, und ist ihm im Hinblick auf Art und Umstände der Straftat vorzuwerfen, dass er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen, so ist die Mindeststrafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten, wenn die Tat nicht ohnehin mit höherer Strafe bedroht ist. Das Höchstmaß der angedrohten Freiheitsstrafe bleibt unberührt.

Die Sprache hatte sich verändert, aber die Idee blieb die gleiche: Manche Menschen sind geborene Verbrecher und man muss sie nur hart genug bestrafen, damit sie gebessert und gesellschaftskompatibel werden.

Man sollte sich also hüten, vorschnell die Nase über Strafvorstellungen an anderen Orten zu anderen Zeiten zu rümpfen. Die Kritik an Rechtskonstruktionen wie der Typisierung von Menschen als »Gewohnheitsverbrecher« ist richtig. Die Vorstellung aber, wir seien vor solchen Ideen sicher oder zivilisatorisch weiter als andere, ist nur bedingt richtig. 

Was bestraft wird, ob bestraft wird und wie bestraft wird – es sind letztlich politische Entscheidungen, die ihrerseits Ergebnis eines mehr oder minder stattgefundenen gesellschaftlichen Diskurses sind. Wieso bestrafen die Saudis den Ehebruch und wir nicht, oder genauer gesagt, nicht mehr? In der Bundesrepublik war der Ehebruch bis 1969 strafbewehrt. Warum kann in den USA ein 13-jähriges Kind wegen Mordes hinter Gittern landen, in Deutschland aber nicht? Und warum können in manchen Demokratien Häftlinge über Jahre und Jahrzehnte hinweg in Einzelhaft gehalten werden, aber nicht in Deutschland? Weil wir ein bestimmtes Menschenbild entwickelt haben und fortlaufend entwickeln, unterstützt durch kriminologische Untersuchungen, die bestimmte Aspekte menschlichen Handelns nicht mehr als juristisches Unrecht bewerten oder die eine Bestrafung als nicht sinnvoll einstufen. Zwei erwachsene Männer, die einvernehmlich Sex hatten, liefen hierzulande noch in den Sechzigerjahren Gefahr, gesellschaftlich stigmatisiert hinter Gittern zu enden. Nur einige wenige Jahrzehnte später dürfen schwule Männer heiraten, Außenminister oder Regierende Bürgermeister werden.

Der gesellschaftliche Diskurs führt aber nicht zwangsläufig zu einer Entkriminalisierung. Es geht auch andersrum. Bis vor Kurzem durften deutsche Männer ungestraft Frauen vergewaltigen. Sie mussten bloß mit der vergewaltigten Frau verheiratet sein und waren damit aus dem Schneider. Der Durchschnittsmann der Fünfzigerjahre wäre empört gewesen über die Vorstellung einer Bestrafung, »bloß« weil er von seinem »Recht« auf ehelichen Sex – notfalls auch unter Gewaltanwendung – Gebrauch machen würde. Das manifestierte sich auch in der Rechtsprechung. So heißt es in einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1966:

Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.

Noch in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde als Argument gegen die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe vorgebracht, man müsse den »Staat aus dem ehelichen Schlafzimmer heraushalten«. Ähnlich argumentiert wurde gegen eine Strafbarkeit der Misshandlung durch die Eltern eines Kindes. Der Staat dürfe sich nicht in die Erziehung zwischen Eltern und Kindern einmischen. Es dauerte Jahrzehnte bevor sich die Einsicht durchsetzte, dass weder Schlafzimmer noch Kinderzimmer rechtsfreie Räume sind, und dass sich der Staat zum Komplizen gewalttätiger Ehemänner, Vätern und auch Müttern macht, wenn er untätig dem Leid von Ehefrauen und Kindern zusieht.

Wir schmunzeln über historische Gerichtsprotokolle des Mittelalters oder der frühen Neuzeit, in denen von Strafverfahren gegen Tiere berichtet wird. Da ist ein Schwein angeklagt, das den Bauern gebissen hatte, oder der Ochse, der die Bäuerin getreten hatte. Wir halten es für total gaga, wenn Tiere zum Tode verurteilt und gehängt werden. Tiere sind doch gar nicht einsichtsfähig, die können doch gar nicht schuldfähig sein. Wie konnten die bloß! Wir denken, das ist finstere Vergangenheit, aber es ist bloß 15 oder 20 Generationen her – und was sind schon 15 oder 20 Generationen? –, dass gaga ganz »normal« war. Vielleicht werden die Menschen des Jahres 2250 schmunzeln oder entsetzt sein, wenn sie auf die Strafjustiz unserer Tage zurückblicken: Was, damals wurden Menschen vor Gericht gestellt und bestraft wegen irgendeines Verhaltens, das als besonders sozialinkompatibel galt? Wie konnten die bloß! Es weiß doch jeder, dass das menschliche Verhalten kein Ausdruck freien Willens ist, sondern das Ergebnis von biochemischen Algorithmen im Gehirn, auf die der Mensch keinen Einfluss hat! Ohne freien Willen keine Schuld, ist doch logisch, oder?

Heute finden wir es barbarisch, einen Menschen aufs Rad zu flechten – sprich ihm jeden Knochen im Leib zu brechen – oder ihn zu vierteilen. Vielleicht wird die Zukunft ähnlich hart über uns urteilen: Es ist doch barbarisch, Menschen, die gar nicht anders konnten, über Jahre und Jahrzehnte hinweg in kleine Räume zu sperren.

Im Mittelalter hat man einen Menschen in den »Schuldturm« gesperrt, wenn er seine Schulden nicht bezahlen konnte. Heute schmunzeln wir zu Recht darüber. Was soll das bringen? Hinter Gittern kann er doch erst recht niemals jenes Geld verdienen, das er seinen Gläubigern schuldet. Bis zum Jahr 1861 gab es in Teilstaaten des späteren Deutschen Reiches Schuldgefängnisse. Allerdings verbüßten diese zahlungsunfähigen bzw. -unwilligen Schuldner keine »Strafen«, sondern fungierten zivilrechtlich als »Pfand« – ein begrifflicher Unterschied, der den Betroffenen nur ein kleiner Trost gewesen sein dürfte. Das Jahr 1861 ist nicht so furchtbar lange her. Vor allem aber: Es ist nicht so, dass der Gedanke hinter dem Schuldturm (»Du bezahlst deine Schulden nicht, also kommst du hinter Gitter!«) vollends aus unserem Strafrecht verschwunden wäre, vor allem dann nicht, wenn der Einzelne dem Staat oder den Sozialversicherungsanstalten Geld schuldet. § 370 Abgabenordnung normiert den Tatbestand der Steuerhinterziehung, § 266a StGB regelt den Fall der Nichtabführung von Sozialabgaben durch den Arbeitgeber. Man zahlt nicht, man landet hinter Gittern und plötzlich ist das ferne Mittelalter ganz nah.  

Wieso strafen wir? Weil wir es wollen und weil wir es können. Die Begründungen ändern sich oder variieren über die Zeit in ihrer Gewichtigkeit. Die juristischen Begrifflichkeiten klingen wissenschaftlich. Da ist die Spezialprävention – gemeint ist das gute alte »Das wird ihm eine Lehre sein«. Da wird mit der Generalprävention argumentiert. Mao Tse-tung wird der Spruch nachgesagt »Erschieße einen, erziehe hundert«, der in vier Worten ausdrückt, wofür Juristen Dutzende Doktorarbeiten und Hunderte selbstverständlich immer hochgelehrter Aufsätze benötigen.

Wir wollen Vergeltung üben, Rache nehmen und nennen es euphemistisch »Strafe als Ausdruck des Sühnegedankens«. Hier beruft sich der Staat oft auf das Opfer der Straftat, das Anspruch auf eine Bestrafung des Täters habe. Die Verurteilung des Angeklagten soll Gerechtigkeit schaffen. Überhaupt wird gerne und oft die Gerechtigkeit bemüht. Die blinde Justitia mit der Waagschale in den Händen. Die sprichwörtlichen Hallen der Gerechtigkeit. Das gerechte Urteil, auf das so viele hoffen und von dem so wenige zu berichten wissen: Alles Folklore. Wie soll ein Gerechtigkeit schaffendes Urteil, insbesondere im Strafrecht, aussehen? Was soll daran »gerecht« sein, wenn eine Tat begangen und ein Angeklagter zu welcher Strafe auch immer verurteilt wurde? Durch das Urteil wird das Geschehene nicht ungeschehen. Das Opfer bleibt Opfer. Ist der Mörder des Ehemannes verurteilt worden, bleibt die Witwe verurteilt zu einem Leben in Trauer. Daran kann kein Urteil etwas ändern, egal wie hart, egal wie milde.

Das Urteil wird oft als Höhepunkt eines Strafprozesses beschrieben. Wurde der Gerechtigkeit Genüge getan? Mag das Urteil auch wichtig sein, entscheidend ist doch der Weg zum Urteil. Was ist geschehen zwischen der Verlesung der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft und der Verlesung des Urteiltenors durch das Gericht? Was müsste in dieser Zeit geschehen? Was ist der eigentliche Sinn und Zweck des Strafverfahrens? Ein Strafverfahren ist kein Automat, wo man oben eine Münze einwirft und unten ein Urteil ausgedruckt herauskommt. Das Strafverfahren ist kein in sich geschlossenes Ökosystem von Juristen für Juristen. Es existiert nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Ein Justizbetrieb von der Justiz für die Justiz wäre nichts anderes als paragrafenreitende Selbstbefriedigung. Ein Strafverfahren zielt zwar darauf ab, zu einem Urteil zu führen. Auf diesem Wege soll das materielle Strafrecht durchgesetzt werden. Dennoch ist paradoxerweise das Urteil nicht das eigentliche Ziel eines Prozesses. Das Urteil ist, wie im Übrigen das ganze Verfahren, lediglich ein Mittel zum Zweck. Ein Strafverfahren darf sich nicht auf die bloße technokratische Umsetzung des staatlichen Strafanspruchs beschränken. Eine solche Reduzierung eines Strafprozesses negiert und ignoriert die Bedeutung des Prozesses für die Gesellschaft insgesamt und die wichtige soziale Funktion, die eine Aufklärung des Geschehenen für die Rechtsgemeinschaft hat: Sinn und Zweck des Strafprozesses ist die Schaffung von Rechtsfrieden.

Es geht also um das Strafverfahren nicht als Selbstzweck, sondern bezogen auf seine funktionale Bedeutung für den gesellschaftlichen Frieden. Gemeint ist mit dem Begriff des Rechtsfriedens aber nicht ein empirischer Zustand, etwa in dem Sinne, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Verfahren in einem demokratischen Sinne als befriedigend empfindet. Gemeint ist vielmehr ein normatives Ideal: Das materielle Strafrecht soll durch das Streben nach der Wahrheit und das Bemühen um Aufklärung verwirklicht werden. Entscheidend ist also nicht das Strafurteil, sondern das Streben des Staatesnach der Wahrheit.

Bei alledem müsste das Opfer der angeklagten Tat eine wichtige Rolle spielen. Es müsste mehr sein als ein Zaungast der Justizmaschinerie. Gerade dieses Bild ist jedoch immer wieder zu beobachten. Es fängt damit an, dass der Verletzte einer Straftat keinen Anspruch auf Akteneinsicht hat. Diesen Anspruch hat nur sein Anwalt. Was ist aber, wenn der Verletzte nicht das Geld für einen Anwalt hat? Woher soll ein gepeinigter Obdachloser das Geld für einen Anwalt nehmen? Wie muss sich das Opfer fühlen, wenn das Ermittlungsverfahren eingestellt wird, ohne dass ein Strafverfahren stattgefunden hätte, ohne dass er wüsste, auf welchen Gründen die Einstellung beruhte? Im Jahr 2013 wurden 2,1 Millionen Tatverdächtige ermittelt, aber »nur« 754 000 verurteilt. Der Rest der Verfahren wurde – wenn nicht ein Freispruch erfolgte – eingestellt. Die Gründe für die Einstellung können sehr unterschiedlich und die Einstellung kann aus gutem Grund erfolgt sein, beispielsweise wenn der Tatverdächtige ein strafunmündiges Kind ist. Für das Opfer ohne Anwalt ist all dies nicht nachvollziehbar, es weiß es einfach nicht. In vielen Fällen wird es noch nicht einmal über die Verfahrenseinstellung informiert. So bleibt es zurück mit einem Gefühl der Verbitterung. Quelle dieser Verbitterung ist sicher die ungesühnt gebliebene Tat, aber auch das berechtigte Gefühl, von der Justizmaschinerie mit Ignoranz behandelt worden zu sein. Läuft es einmal anders – und wir kennen als langjährige Nebenklageanwälte viele Verfahren dieser Art – und das Opfer wird mit Respekt als eigenständiger Verfahrensbeteiligter behandelt, spielt für sie oder ihn am Ende des Strafverfahrens die Strafhöhe zwar sicher neben der Reue des Täters eine große Rolle, das Strafverfahren selbst hat aber bereits den Rechtsfrieden wiederhergestellt. Das Urteil muss dann vielleicht nicht mehr so hart ausfallen. Ein solch idealtypisches Strafverfahren mit starken Opferrechten ist weiß Gott nicht der Regelfall. Es ist nicht der Regelfall, weil es Geld kostet. Weil es oft von der Polizei, den Staatsanwaltschaften und Gerichten als störend und zeitraubend empfunden wird. So wirken harte Strafen zuweilen wie kostengünstige Ersatzhandlungen des Staates. Die Begründung für die Strafe – der Anspruch des Opfers auf Sühne – wird dem nicht gerecht.

Deswegen sollten alle Begründungen dafür, warum wir strafen, kritisch hinterfragt werden.

Wir nennen – zu Recht – die Todesstrafe unmenschlich. Zugleich finden wir es aber ganz menschlich, einen Mitmenschen aus seiner vertrauten Umgebung zu reißen, ihn von seinen Kindern, seiner Frau und seinen Eltern zu trennen, ihn über viele Jahre in einen kleinen Raum zu sperren, ihm die Entscheidung über jeden einzelnen Aspekt seines Lebens von der Kleidung bis zum Gang aufs Klo zu entreißen. Wir lesen mit Entsetzen Orwells 1984 über den inhumanen Überwachungsstaat und finden es zugleich ganz normal, dass ein solcher oder gar schlimmerer Überwachungsstaat – Orwells Wilson durfte zumindest aufs Klo, wann er wollte – bittere Realität ist. Das »Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung« sagt in § 196 unter der Überschrift »Einschränkung von Grundrechten« ganz lapidar: »Durch dieses Gesetz werden die Grundrechte aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 (körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person) und Artikel 10 Abs. 1 (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) des Grundgesetzes eingeschränkt.« Im Gefängnisalltag bedeutet es, dass der Bürger (ja, auch der Häftling bleibt Bürger) keinerlei Privatsphäre mehr besitzt, dass nicht nur seine Zelle jederzeit durchsucht werden kann, sondern auch sein Körper inklusive aller Körperöffnungen, dass seine Telefonate und seine Briefe von Dritten mitgehört beziehungsweise gelesen werden können, dass er einer Erlaubnis bedarf – die auch verweigert werden kann und regelmäßig auch verweigert wird –, wenn er seiner verstorbenen Mutter das letzte Geleit geben will. Alles dies kann oft seine Berechtigung haben – und das ist auch oft der Fall. Man kann aber von einer demokratischen Gesellschaft erwarten, dass sie sich Gedanken über diese Zustände macht.

Wir akzeptieren diese Realität nicht nur, vielen Menschen ist das alles sogar noch zu milde. Hier kommen sie, die Parolen von der Kuscheljustiz, die empörten Berichte über Wellness-Gefängnisse mit Fitnessclub und Schwimmbad. Deutlich erkennbar ist dabei die Korrelation zwischen der Vehemenz der Parolen und der Nichtbetroffenheit durch die Strafjustiz. »Betroffen« beschränkt sich dabei nicht auf aktuelle oder ehemalige Insassen. Betroffen sind auch die Ehepartner, die ohne den Ehemann und in vielen Fällen auch ohne den Ernährer dastehen. Betroffen sind die Kinder, die ihre Väter nur nach Genehmigung der Gefängnisleitung umarmen dürfen. Betroffen sind die Eltern, die ohne das Kind leben und auch sterben. Das erwachsene Kind bleibt ja Kind. Betroffen sind aber auch Tausende von Männern und Frauen, die als schlecht bis medioker bezahlte und als »Schließer« geschmähte Justizangestellte das umsetzen müssen, was Gesellschaft und Politik als strafwürdig einstufen.

Jene Menschen, die über »Wellness-Gefängnisse« schwadronieren, haben meistens noch nie ein Gefängnis auch nur aus der Nähe gesehen.

Niemand sollte der Illusion unterliegen, dass nur der Andere betroffen sein könnte. Man ist schneller als gedacht selbst Betroffener, und zwar in der unmittelbarsten Art und Weise: als Beschuldigter, als Angeklagter, als Verurteilter, als Insasse im Strafvollzug. In den Gefängnissen wimmelt es von Otto-Normal-Straftätern. Der brave Bürger, der es mit der Steuer nicht so genau genommen hat. Der brave Bürger, dem die Hand nach dem fünften Bier und einem schlechten Tag im Büro gar zu hart ausgerutscht ist. Oder der brave Bürger im Straßenverkehr, der sich nicht an die Regeln gehalten hat, weshalb plötzlich ein Fahrradfahrer tot am Boden liegt. Jede fünfte Verurteilung hat ihren Ursprung im Straßenverkehr. 40 % der Verurteilungen erfolgten wegen Diebstahl, Unterschlagung, Betrug oder anderen Vermögensdelikten, und viele dieser Delikte wurden eben nicht von »hauptberuflich« tätigen Kriminellen, sondern von Menschen wie Ihnen und uns begangen. Kennen Sie den § 265a StGB? Hier wird unter anderem das Erschleichen von Beförderungsleistungen, vulgo Schwarzfahren, unter Strafe gestellt. Jedes Jahr werden um die 8 000 Menschen auf dieser Grundlage verurteilt und 1 000 landen am Ende im Gefängnis. Dass Schwarzfahrer zu einer Haftstrafe verurteilt werden, kommt nicht furchtbar oft vor. Die Regel sind Geldstrafen. Wenn sie jedoch die Geldstrafe nicht bezahlen können, müssen sie ins Gefängnis und eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Dies deutet darauf hin, dass es sich nicht um Menschen mit fragwürdigen Moral- und Sittenvorstellungen handelt, sondern um Menschen, deren Vergehen Armut ist. Unter dem Strich versucht der Staat, das Vermögen der Verkehrsunternehmen zu Lasten der Allgemeinheit zu schützen. Er lastet der Allgemeinheit die immensen Kosten der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung auf. Man schätzt die Kosten pro Gefangenem konservativ mit 100,00 Euro am Tag, und dabei sind nicht die Kosten für die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte inbegriffen.

Wir hinterfragen auch offensichtliche Widersprüche in der Strafpraxis und ihrer Ziele nicht, gerade wenn es um Haftstrafen geht. Das Ziel einer Haftstrafe ist die Resozialisierung. In § 2 Absatz 1 des Strafvollzugsgesetzes heißt es: »Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel).« Wie aber soll ein Mensch zu einem sozialeren Menschen geformt werden, wenn ihn der Staat als Erstes seiner sozialen Umgebung, seiner Familie, seinen Freunden, seinen Arbeitskollegen entreißt? Wie soll ein Mensch sozialer werden, wenn er auf Jahre hinweg gezwungen ist, inmitten anderer Verurteilter zu leben? Wie soll er soziales Verhalten erlernen, wenn er seiner Freiheit beraubt, einer hundertprozentigen Fremdbestimmung unterworfen wird? Der Strafrechtler Eberhard Schmidt nannte die Haftanstalten des 19. Jahrhunderts in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts »steingewordene Riesenirrtümer«.2

Ein immer wieder vorgebrachtes Argument für Freiheitsstrafen bleibt der Schutz der Allgemeinheit. Was genau bedeutet dies? Es geht darum, auf Grundlage der Vergangenheit eine Prognose für die Zukunft zu treffen. Der Verurteilte hat eine Straftat begangen, ist rechtskräftig verurteilt worden und sitzt nun seine Strafe ab. Irgendwann ist diese Strafe verbüßt. Hinter Gittern war er keine Gefahr für die Allgemeinheit. Schon hier schwingt ja die Unterstellung mit, dass er in Freiheit erneut Rechtsgüter anderer Menschen verletzt hätte. Dies ist gerade bei Ersttätern eine nicht überzeugende Begründung für die Strafhaft. Bei Wiederholungstätern – und die gibt es – kann das ganz anders aussehen. Wurde ein Mann bereits ein halbes Dutzend Mal wegen schwerer und schwerster Sexualstraftaten verurteilt und steht erneut vor Gericht, dann gibt es gute Gründe dafür, bei der Abwägung zwischen seinem Freiheitsrecht und dem Anspruch der Allgemeinheit auf Sicherheit dem Letzteren den Ausschlag zu geben und Sicherungsverwahrung anzuordnen. Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe, sondern eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung, wie es im Gesetz heißt. Die Allgemeinheit soll vor gefährlichen Straftätern geschützt werden. Hier geht es also nicht um Repression, sondern um Prävention. Dies ist ein wichtiger Unterschied. Hier sitzt ein Mensch nicht eine Strafe für vergangenes Unrecht ab. Vielmehr erbringt er – so seltsam es auch klingen mag – ein Sonderopfer für die Allgemeinheit. Lange Zeit wurden Sicherheitsverwahrte im Gefängnisalltag wie ganz normale Häftlinge behandelt. So belegten sie die gleichen Zellen, hatten die gleichen Besuchsregeln und für sie galten die gleichen Urlaubsregeln und andere Hafterleichterungen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht 2004 als verfassungswidrig eingestuft. Vielmehr müssten sich deutliche – positive – Unterschiede zwischen einem »normalen« Häftling und einem Sicherungsverwahrten im Gefängnisalltag zeigen.

Strafen sollen »gerecht« sein. Sie sollen tat- und schuldangemessen sein. In der Realität gleicht es aber oft einer Lotterie, welche Rechnung dem Angeklagten von Richtern ausgestellt wird. Welcher Richter für welches Verfahren zuständig ist, entscheidet sich nach dem gerichtlichen Geschäftsverteilungsplan. Und da kann man Glück oder Pech haben: Manche Richter sind für Milde bekannt, andere für Härte. Entscheidend ist auch, in welchem Bundesland und in welchem Gerichtsbezirk man landet. Der Wissenschaftler Volker Grundies vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht hat dies untersucht und kommt zu Ergebnissen, die für den Laien sehr, für Strafverteidiger jedoch gar nicht mal überraschend sind. Ob man ins Gefängnis geht oder mit Bewährung davonkommt, hängt stark davon ab, vor welchem Gericht die Tat angeklagt ist. In Bayern ist der Weg in den Knast kürzer als in Bremen. Richter vom Typ »Gnadenlos« finden sich in München deutlich öfter als im beschaulichen Freiburg. An der Kieler Förde haben Angeklagte bessere Karten als am Deutschen Eck in Koblenz. Gründe für diese Ungleichheit gibt es viele. Ein Grund ist: Das haben wir hier schon immer so gehalten. Junge Richter schauen es sich ab von den alten. Wo schon immer Strenge angesagt war, vererbt sich das. Warum allerdings irgendwo schon immer streng oder milde verurteilt wurde, hat viele Gründe. Karrieregedanken, Konformismus im Richterkolleg und auch Landespolitik spielen da eine wichtige Rolle.

Auch die Psychologie kommt hier – wenig überraschend – zum Tragen. Eine Studie aus Israel hat im Jahr 2011 herausgefunden, dass Richter im Laufe des Tages nicht nur müder, sondern auch strenger werden. Angeklagte, die früh am Tag vor dem Richter stehen, kommen milder davon als Angeklagte, die später auf der Anklagebank Platz nehmen. Glück haben auch Angeklagte, die direkt nach einer Pause an der Reihe sind. Auch hier urteilen Richter tendenziell milder. Müde Richter urteilen strenger und lehnen öfter Bewährungsstrafen ab. Richter sind halt auch nur Menschen.

Und schließlich kann die Höhe einer Strafe auch davon abhängen, wie gut oder schlecht ein Angeklagter von seinem Rechtsanwalt vertreten wird. Nicht jeder Anwalt ist gleich gut. Auch Anwälte sind Menschen. Ein Anwalt, der mehr Geld bekommt, ist oft engagierter als ein Anwalt, der nach den gesetzlichen Gebühren arbeitet.

2  Hinter Gittern

Der Freiheitsentzug soll den Strafgefangenen resozialisieren. Ob dies gelingt, hängt nicht ausschließlich, aber auch von den baulichen Zuständen der jeweiligen Haftanstalt ab.3 Die Architektur bestimmt die Art und Weise des Zusammenlebens der Häftlinge. Hier geht es nicht nur um die Frage, wie viel Platz dem Strafgefangenen zur Verfügung steht. Es geht – um nur einige Aspekte zu nennen – darum, ob Rückzugsräume vorhanden sind, wie der Lärmpegel ist, wie die Zellen ausgestattet sind und wie die Sanitäranlagen beschaffen sind. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, auch im Knast. Wir wissen heute, dass das Wohlbefinden alter Menschen in Seniorenheimen, oder die Lernfähigkeit von Schülern, auch sehr stark von der jeweiligen Umgebung abhängt, von der Farbe der Wände bis zu Tageslichthelligkeit in Räumen oder Gängen. Jetzt kann man argumentieren, dass auf das Wohlbefinden von Häftlingen, die ja schließlich eine Straftat begangen haben und nun bestraft werden sollen, keine große Rücksicht genommen werden müsste. Gerade dies ist aber ein Trugschluss: Wir haben ein gesetzliches Vollzugsziel – die Resozialisierung. Dieses Ziel wird aber konterkariert, wenn man Menschen dauerhaft einer Stresssituation aussetzt, ohne die Möglichkeit des Rückzugs und ohne jede Privatsphäre. In Stresssituationen neigen Menschen unter anderem zur Aggression, und insbesondere bei verurteilten Gewalttätern soll ja gerade die wirkliche oder unterstellte Neigung zu aggressivem Verhalten abgestellt werden.

Wie unsere Haftanstalten aussehen, wie sie ausgestattet sind, wie die Insassen behandelt werden, geht deshalb uns alle an: Aus (fast) allen Strafgefangenen werden wieder Bürger in Freiheit. Ihre Erfahrungen aus dem Knast werden sie geformt haben und sie werden diese Erfahrungen später in Freiheit leben.4

Festzuhalten ist bereits an dieser Stelle: Zwischen dem, was Haftanstalten leisten sollen