Das rechte Recht - Mehmet Gürcan Daimagüler - E-Book

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Mehmet Gürcan Daimagüler

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Beschreibung

Die Anwälte Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen vertreten regelmäßig Opfer von rechtsextremistischer Gewalt. Oft sind sie schockiert darüber, wie beharrlich deutsche Behörden die politische Motivation für solche Taten ausblenden.

In ihrem Buch arbeiten sie anhand von vielen exemplarischen Prozessen heraus, dass zwischen den Worten der Politik – „entschlossener Kampf gegen rechts“ – und dem Agieren von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten eine große Diskrepanz herrscht. Während das Bundesinnenministerium noch Ende 2020 verkündete, es gebe kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden, zeichnet diese Bilanz, von der Weimarer Republik bis heute, ein deutlich anderes, kritisches Bild von der deutschen Justiz.

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ZUMBUCH

Die Anwälte Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen vertreten regelmäßig Opfer von rechtsextremistischer Gewalt. Oft sind sie schockiert darüber, wie beharrlich deutsche Behörden die politische Motivation für solche Taten ausblenden.

In ihrem Buch arbeiten sie anhand von vielen exemplarischen Prozessen heraus, dass zwischen den Worten der Politik – „entschlossener Kampf gegen rechts“ – und dem Agieren von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten eine große Diskrepanz herrscht. Während das Bundesinnenministerium noch Ende 2020 verkündete, es gebe kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden, zeichnet diese Bilanz, von der Weimarer Republik bis heute, ein deutlich anderes, kritisches Bild von der deutschen Justiz.

ZUDENAUTOREN

Dr. Mehmet Daimagüler, 1968 in Siegen als Kind türkischer Arbeiter geboren, ist promovierter Rechtsanwalt, Kolumnist und Buchautor. Im NSU-Verfahren vertrat er die Opfer-Familien Özüdogru und Yasar.

Ernst Freiherr von Münchhausen, geboren 1966 in Detmold, Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte, ist Rechtsanwalt. Mit Mehmet Daimagüler vertrat er 2015 Nebenkläger im Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Mehmet Daimagüler

Ernst von Münchhausen

DASRECHTERECHT

Die deutsche Justiz und ihre Auseinandersetzung

mit alten und neuen Nazis

Blessing

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Mehmet Daimagüler und Ernst von Münchhausen

Copyright © 2021 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Redaktion: Dr. Peter Hammans

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25925-9V001

www.blessing-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Die Justiz der Weimarer Republik und ihr Umgang mit den rechtsextremen Demokratiefeinden

1. Einleitung

2. Prozess gegen die Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts 1919

3. Prozess gegen Anton Graf von Arco-Valley, den Mörder von Kurt Eisner, 1920

4. Prozesse nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, 1921

5. Hitler-Ludendorff-Prozess, 1924

6. Magdeburger Prozess wegen der Bezeichnung von Ebert als Landesverräter, 1924

7. Jorns-Prozess, 1929

8. Zusammenfassende Bemerkungen

Das Ende der Nazi-Herrschaft und die alliierte Bestrafung von NS-Verbrechern

1. Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

2. Die Nürnberger Folgeprozesse

Das Agieren der DDR-Justiz: Viel Propaganda und gelegentliche Gerechtigkeit

1. Ausgangssituation

2. Waldheimer Prozesse 1950

3. Der Prozess gegen Hans Globke 1963

4. Prozess gegen Dr. Horst Fischer 1965

Die Justiz der Bundesrepublik bis 1990: Zwischen massenhafter Strafvereitelung im Amt und gelegentlicher Bestrafung

1. Prolog: Strafvereitelung im Amt – Das Agieren der Bundesrepublik Deutschland zum Schutz von NS-Tätern

2. Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958

3. Erster Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963

4. Das Verfahren gegen den NS-Richter Hans-Joachim Rehse

Das wiedervereinigte Deutschland gegen alte Nazis

1. Das Verfahren gegen John Demjanjuk 2009–2011

2. Auschwitz-Prozesse – 2015/2016

3. Stutthof-Prozesse – 2018 bis heute

Das wiedervereinigte Deutschland gegen Neonazis

1. Der Brandanschlag von Mölln 1992/93

2. Der Brandanschlag von Solingen 1993/95

3. Der Brandanschlag von Lübeck 1996

4. Der Tod von Oury Jalloh 2005–2012

5. Das NSU-Verfahren 2013–2018 – Chronik einer verpassten Chance auf Rechtsfrieden

6. Der Mord an Luke Holland 2015/2016

7. Der Brandanschlag in Salzhemmendorf 2015/16

8. Der Brandanschlag von Altena 2015/16

9. Die »Old School Society« 2015–2017

10. Die Gruppe Freital 2017/18

11. Volksverhetzung und Nazi-Musik: Amtsgericht Memmingen und das Bayerische Oberste Landesgericht 2018

12. Der Mord an Walter Lübcke 2019–2021

13. Der Anschlag in Halle 2019–2021

Schlussbetrachtung

1. Das Versagen der Weimarer Justiz

2. Die alliierten Siegermächte und ihr Versuch, Gerechtigkeit zu bewirken

3. Die DDR und ihre Propaganda

4. Den Einheitsfeiern folgen die Pogrome: Deutschland nach 1990

Danksagung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Von politischer Justiz ist die Rede, wenn Gerichte für politische Zwecke in Anspruch genommen werden, sodass das Feld politischen Handelns ausgeweitet und abgesichert werden kann. Die Funktionsweise der politischen Justiz besteht darin, dass das politische Handeln von Gruppen und Individuen der gerichtlichen Prüfung unterworfen wird.1

Mit diesen wenigen Worten beschrieb Otto Kirchheimer, der berühmte deutsch-jüdische Staatsrechtler und Verfassungstheoretiker, 1937 vor den Nazis in die USA geflohen, in seinem bedeutendsten Werk Politische Justiz (1961) die Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken. Genauer: das Wesen eines sich an den Interessen der Machthaber orientierenden Justizapparats. Eine politische Justiz nach dieser Definition findet sich demnach in diktatorischen und autokratischen Staaten. Einer Demokratie muss eine politische Justiz wesensfremd sein. Eine Demokratie ohne Gewaltenteilung ist keine Demokratie. Aber so einfach ist es nicht.

Das Gegenteil einer politischen Justiz ist mitnichten eine unpolitische Justiz. Die schlichte Wahrheit ist: Jede Justiz ist politisch und damit auch die Justiz in einer Demokratie. Der scheinbare Widerspruch löst sich bei einem genaueren Blick auf die Justiz auf. In einer Diktatur zählt alleine der Wille des Machthabers. Sein Wort ist Gesetz. Richter sind nur scheinbar unabhängig.

Das politische Wesen einer demokratischen Justiz manifestiert sich anders. Richter sind unabhängig und alleine dem Gesetz unterworfen. Gesetze werden von frei gewählten Parlamenten beschlossen. Sie entstehen nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Gesetze sind in Worte geronnene gesellschaftliche Überzeugungen. Häufig spiegeln sie bloße Momentaufnahmen politischer Erregtheit und aktueller parteipolitischer Mehrheitsverhältnisse. Gesetze sind Politik. Bereits unter diesem Aspekt kann eine Justiz nicht unpolitisch sein.

Gesetze müssen angewendet werden. Gesetze müssen durchgesetzt werden. Zuständig dafür ist die Justiz. Wer und was ist die Justiz? In Deutschland verwenden wir den Begriff der Rechtspflege oft synonym. Zur Rechtspflege gehören die Gerichte. Aber auch Staatsanwaltschaften und die Justizverwaltung sind Teil der Justiz. Rechtsanwälte sind gemäß § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung »Organe der Rechtspflege«, allerdings mit dem wichtigen Zusatz unabhängig. In einem weiteren Sinne sind auch Polizeibehörden und Ordnungsämter Teil des Justizapparats. In jedem Teil und auf jeder Ebene des Justizapparats sind Menschen damit betraut, Gesetze anzuwenden.

Gesetze sind allerdings selten eindeutig. Sie bedürfen der Interpretation. Du sollst nicht töten, lautet das fünfte Gebot der Bibel. Das klingt eindeutig. Was aber ist, wenn ich in einer Notwehrsituation mein eigenes Leben oder das meines Kindes nur durch die Tötung des Angreifers retten kann? Was ist mit dem Soldaten inmitten einer Schlacht? Darf er den Befehl verweigern? Nichts ist eindeutig, schon gar nicht Gesetze, geschrieben von Menschen, ausgelegt von Menschen.

Wenn ein Richter ein zwangsläufig abstrakt verfasstes Gesetz auf einen konkreten Fall anwendet, dann legt er es aus. So zu tun, als geschähe dies in einem Akt maximaler Objektivität, ist geradezu lächerlich. Niemand ist objektiv. Mehr noch: Kein Mensch ist zur Objektivität fähig, sosehr er sich auch bemühen mag. Wir alle sind das Produkt von genetischer Disposition, von Erfahrungen, guten wie schlechten, unseres sozioökonomischen Hintergrunds und von vielem mehr. All dies prägt uns und macht uns zu dem, was wir sind. Teil unserer Identität ist auch unser Menschenbild und unser Blick auf Staat und Gesellschaft. Und vieles davon lässt sich als politische Überzeugung einordnen. All dies fließt in die Entscheidungen eines Richters, eines Staatsanwalts oder eines Polizisten ein.

Die Frauenärztin Kristina Hänel wurde wegen Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verurteilt. Sie hatte auf ihrer Homepage nicht nur darüber informiert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, sondern auch näher beschrieben, wie dies geschieht. Damit habe sie, so die Richter, den Tatbestand von § 219a des Strafgesetzbuches erfüllt, der die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbietet (als ob eine Frau aufgrund von Werbung abtreiben würde). Will irgendjemand ernsthaft behaupten, politische Grundüberzeugungen der Richter hätten keine Rolle bei der Entscheidung über Schuld und Unschuld Kristina Hänels gespielt?

Israelische Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass Richter nach der Mittagspause strenger urteilen als vor dieser Pause. Welchen Einfluss auf die Richterpersönlichkeit haben dann erst ein strenges, konservatives oder religiöses Elternhaus, wenn schon ein Mittagessen einen großen Unterschied im Hinblick auf das Ringen um ein gerechtes Urteil macht?

Das Private wird zwangsläufig zum Politischen, wenn der handelnde Akteur als Träger staatlicher Macht auftritt. Und zu einem echten Problem wird dies, wenn die Gesamtheit dieser Akteure nicht einfach nur einen Spiegel der Gesellschaft bildet. In der Richterschaft finden sich weit unterdurchschnittlich Arbeiterkinder, dafür aber weit überdurchschnittlich Söhne und Töchter von Juristen. Je höher man in den Hierarchien der Gerichte aufsteigt, umso weniger Frauen finden sich. Auch offen schwul oder lesbisch lebende Staatsanwälte oder Polizistinnen sind selten. Ebenso migrantische Beamtinnen und Beamte, vor allem in Führungspositionen.

Migranten sind Teil der Gesellschaft. Ihr Anteil beläuft sich auf etwa 20 Prozent. Laut einer Studie des Bundesinnenministeriums sind fast 15 Prozent der Bundesbeschäftigten migrantisch. Allerdings dürfte die tatsächliche Zahl deutlich niedriger sein. Denn Angehörige der Bundespolizei oder der Zollverwaltung wurden erst gar nicht in die Studie einbezogen. Gerade dort aber sind Migranten deutlich unterrepräsentiert.

Dazu gesellt sich eine weitere Anomalie, die dem Bild der Justiz als Spiegel der Gesellschaft nicht zu übersehende Kratzer verpasst. Wer entscheidet sich für eine Karriere in der Richterschaft, Staatsanwaltschaft oder bei der Polizei? Wer entscheidet sich bewusst dagegen? Menschen, die sich als »links« einordnen, entscheiden sich seltener für den Polizeidienst. Manche befürchten, in einem beruflichen »Law-and-Order-Umfeld« isoliert und chancenlos zu sein. Andere haben generell ein Problem damit, Träger hoheitlicher Macht zu sein. So oder so: Im Ergebnis führt dies zu einem politisch wenig diversen Justizapparat. Menschen, die sich selbst als eher konservativ oder rechts einstufen, finden den Staat generell und den Justizapparat speziell als Arbeitgeber attraktiver als der Durchschnitt der Gesellschaft.

Sicher, unsere Justiz ist keine politische Justiz im Sinne Otto Kirchheimers. Aber eine unpolitische Justiz ist sie auch nicht. Sie war es nie und kann es auch gar nicht sein. Dieser Befund gilt nicht nur für die bundesdeutsche Justiz, sondern auch für ihren Vorgänger in der Weimarer Republik. Auch diese Justiz agierte zwar im Rahmen einer Demokratie, war aber alles andere als unpolitisch.

2018 war ein Jahr des Gedenkens: 100 Jahre waren seit dem Ende des Ersten Weltkriegs vergangen. Vor 100 Jahren trat Kaiser Wilhelm II. den Weg ins Exil an. Erinnert wurde an den Anfang der ersten deutschen Demokratie. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es bei Hermann Hesse. Für diesen Anfang nach dem verlorenen Krieg galten Hesses Worte jedoch nur bedingt, denn der Geburt der Demokratie folgte die Geburt jener Kräfte, die nur wenige Jahre später ebendiese Demokratie zu Grabe tragen würden. Eine der vielen neuen Parteien war die DAP – die Deutsche Arbeiterpartei. Weniger als zwei Monate nach dem Ende der Monarchie gründete sie sich am 5. Januar 1919 im Münchener Fürstenfelder Hof. Als einer von vielen obskuren Vereinen wetterten die Gründer gegen das neue System, gegen die Novemberverbrecher, und hetzten gegen Juden, die nicht nur in diesen Kreisen im Zweifel immer an allem die Schuld trugen. Die meisten dieser Neugründungen sind lange vergessen, und auch die DAP wäre lange vergessen, hätten nicht Name und Führung gewechselt. Ein knappes Jahr nach der Gründung erfolgte am 24. Februar 1920 – dieses Mal im Hofbräuhaus (wo sonst, möchte man fragen) – die Bekanntgabe der Umbenennung in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP).

Am gleichen Abend wurde das Parteiprogramm vorgestellt, das aus 25 Punkten bestand. Die ersten drei Punkte verlangten eine Abkehr vom Versailler Vertrag, den Anschluss Österreichs und die Rückgabe der deutschen Kolonien und am Ende ein Großdeutschland. Die Punkte 4 bis 8 richteten sich gegen Juden. Diese wurden nicht religiös, sondern rassisch definiert. Das politische Ziel war eindeutig die Entrechtung und Vertreibung der Juden. Auch in den anderen Punkten fanden sich antisemitische Forderungen. So sollte etwa laut Punkt 20 Juden grundsätzlich jede Tätigkeit im Pressewesen untersagt werden.

Parlamentarismus und Demokratie wurden selbstredend strikt abgelehnt. Wie ein roter Faden zog sich die Idee einer zu schaffenden deutschen Volksgemeinschaft hindurch und damit einhergehend die Frage, wer und wer nicht Teil dieser Volksgemeinschaft sein könne. Den deutschen Juden müsse die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden, so das Ergebnis. Hier fand sich die ideologische Grundlage für die »Nürnberger Rassegesetze«, die fünfzehn Jahre später beschlossen wurden und einen wichtigen Meilenstein bildeten auf dem Weg zur völligen Entrechtung und schließlich Ermordung der Juden Europas.

Extremer Chauvinismus nach innen wie außen – so ließe sich das Programm der Rechtsextremen zusammenfassen. Sie lehnen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ab und zielen auf ein totalitäres staatliches System. Die Idee einer Gesellschaft, die nicht auf Gleichheit, sondern auf einem rassistisch definierten Ideal von Oben und Unten, Wert und Unwert fußt, soll mit allen Mitteln erreicht werden. Die Anwendung von Gewalt wird dabei nicht nur billigend in Kauf genommen. Vielmehr ist die Anwendung von Gewalt Teil des Programms. Der politische Mord als Folge dieser Ideologie wurde bereits seit dem Ende der Monarchie als Mittel der Politik eingesetzt. An einige dieser Mordopfer erinnern wir uns, so an Matthias Erzberger oder an Walther Rathenau. Die meisten aber sind lange vergessen. Erst recht gilt dies für Opfer, die nicht zu Tode kamen, die vielleicht »nur« verletzt wurden.

Wir haben uns die Frage gestellt, wie die Justiz in den knapp 100 Jahren, seitdem sich der Rechtsextremismus parteipolitisch organisiert hat, mit Taten umgegangen ist, die als Ausdruck dieser Ideologie gelten können. Hier geht es uns in erster Linie um das Verhalten der Strafjustiz, aber nicht ausschließlich.

Gegenstand unserer Untersuchung sind die Justiz in den Jahren der Weimarer Republik, die alliierte Strafjustiz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die Justizapparate der Bundesrepublik und der DDR bis 1990 und schließlich die Justiz des wiedervereinigten Deutschland und der jeweilige Umgang mit alten und neuen Nazis. Denn dem Untergang des »Tausendjährigen Reiches« folgte weder der ideologische noch der personelle Untergang. Der Rassismus der Nationalsozialisten, insbesondere der Antisemitismus, hat den 8. Mai 1945 überlebt und fordert bis heute Opfer. Viele der alten Nazis machten nach dem Krieg Karriere. Teilen des Staatsapparats, insbesondere dem Sicherheitsapparat, wurde deren politische DNA injiziert.

»Rassist« und »Nazi« werden leider oft synonym verwendet. Das ist ein Fehler. Jeder Nazi ist ein Rassist, aber nicht jeder Rassist ist ein Nazi. Diese Differenzierung ist wichtig. In Strafverfahren, in denen wir migrantische Opfer vertreten, stehen wir vor der Situation, dass die Verteidigung ihre der Tat beschuldigten Mandanten als ganz normale junge Männer präsentiert, die einmal etwas Dummes getan hätten. Mit Politik jedoch habe das nichts zu tun, sie seien ja keine Nazis. Nicht wenige Richter und Staatsanwälte lassen sich gerne auf dieses Spiel ein, manche aufgrund einer gewissen Faulheit – dieser ganze Hate-Crime-Kram ist so kompliziert und macht unnötig Arbeit –, wieder anderen geht es grundsätzlich gegen den Strich, sich nun mit Dingen wie Homophobie, Antisemitismus, Antiziganismus oder Sexismus beschäftigen zu müssen. Wieder andere zeigen in solchen Verfahren ein erstaunlich (oder keineswegs erstaunlich?) hohes Maß an Verständnis für Tat und Täter. Am Ende läuft es dann auf einfache Körperverletzung hinaus, und das ganze Verfahren ist gründlich entpolitisiert.

Nun hatte aber der Gesetzgeber in Reaktion auf den NSU-Skandal den Paragrafen 46 des Strafgesetzbuches eingefügt. In dieser Vorschrift geht es um die Strafzumessungskriterien. Mit der Änderung wurde eine rassistische Tatmotivation bei den Strafzumessungsgründen in den Katalog aufgenommen. Wenn aber der rassistische Aspekt einer Tat im Gerichtssaal oder – was in der Praxis quantitativ ein noch größeres Problem darstellt – bereits bei den polizeilichen bzw. staatsanwaltlichen Ermittlungen nicht gesehen und das Verfahren in der Folge eingestellt wird, dann kann Rassismus bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden. Rassismus ist keineswegs ein Thema des Nazi-Milieus, man findet ihn in allen politischen und gesellschaftlichen Schichten.

Die Autoren dieses Buches vertreten regelmäßig Opfer von Straftaten oder die Hinterbliebenen von Menschen, die ermordet wurden. Ebenso regelmäßig stoßen sie auf fehlerhaft geführte Ermittlungen. Zeugenaussagen werden nicht ernst genommen, Ermittlungsansätze werden nicht weiterverfolgt, und Hinweisen wird nicht nachgegangen. Immer wieder stoßen wir auf Fälle von Nazi-Straftaten, wo ganz offensichtliche Hinweise auf die politische Gesinnung und die politische Motivation der Tat durch die ermittelnde Polizei ignoriert. Ein Beispiel dafür ist der Fall Salzhemmendorf (Seite 397ff.). Die Angeklagten hatten eine Flüchtlingsunterkunft mit Brandsätzen angegriffen. In der Hauptverhandlung wurde einer der polizeilichen Ermittler von der Nebenklage nach Hinweisen auf die politische Gesinnung der Angeklagten befragt. Der Zeuge konnte dazu nicht viel sagen. Als er dann aber ganz konkret nach etwaigen Nazi-Tätowierungen gefragt wurde, änderte sich das. Ja freilich, bei einem der Angeklagten seien unter der Kleidung schon recht deutliche Tattoos festgestellt worden. Er habe auch Fotos anfertigen lassen. Wo diese denn jetzt seien, in der Akte seien sie jedenfalls nicht mehr zu finden. Auf diese Frage griff der Beamte in sein Jackett und präsentierte der erstaunten Öffentlichkeit eben diese Fotos. Warum diese Fotos nicht ordnungsgemäß zur Akte gereicht wurden, konnte oder wollte der Beamte nicht plausibel erklären. So bleibt der schale Nachgeschmack des Verdachts, dass der rassistische und neonazistische Tathintergrund durch polizeiliche Ermittler verschleiert werden sollte. Leider ist Salzhemmendorf nur ein Beispiel in einer ganzen Reihe von Vorgängen dieser Art.

Wir erheben nicht den Anspruch einer umfassenden Untersuchung der letzten hundert Jahre. Das wäre vermessen und würde den Rahmen dieses Werkes sprengen. Wir haben uns mit einigen bekannten und einigen weniger oder gänzlich unbekannten Fällen beschäftigt. In den älteren Verfahren erläutern wir zum besseren Verständnis zunächst den historischen Hintergrund, stellen dann die beteiligten Personen vor und schildern schließlich den Prozessablauf und das Urteil. Zum Abschluss bewerten wir das Urteil.

Ausführlichere, aber dennoch verständliche juristische Erläuterungen erlauben wir uns bei den Verfahren in der alten Bundesrepublik sowie bei den neueren Verfahren seit 1990 gegen alte und neue Nazis.

In einigen Verfahren aus der jüngeren Vergangenheit waren wir als Opfervertreter persönlich beteiligt, so beispielsweise beim »NSU-Verfahren« oder dem Verfahren gegen den »Buchhalter von Auschwitz«, Oskar Gröning. Selbstverständlich haben unsere Mandantinnen und Mandanten dem zugestimmt. Unserem Freund und Kollegen Onur Özata, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Berlin, sind wir zu besonderem Dank verpflichtet. Aus seiner Feder stammen die Berichte zu den letzten Prozessen gegen Angehörige von KZ-Wachmannschaften und zum Verfahren gegen den Attentäter von Halle. Stephan B. hatte im Oktober 2019 die Synagoge von Halle angegriffen, danach einen von einem türkischstämmigen Migranten betriebenen Imbiss überfallen und dort bzw. auf dem Weg dorthin zwei Menschen erschossen.

Uns ging es um mögliche Kontinuitäten im Handeln eines Justizapparates im Umgang mit alten und jungen Nazis. Es ging uns um die Frage, ob es Auffälligkeiten oder Fehler gibt, die andauern und aus denen wir heute lernen könnten.

Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt, nicht weil es zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu rechtsextremen oder rechtsterroristischen Morden gekommen wäre. Nein, solche Morde hat es in der Geschichte des ganzen Landes gegeben, auch wenn die meisten entweder nicht als solche anerkannt wurden oder schnell aus dem kollektiven Gedächtnis wieder verschwanden. Aber zum ersten Mal scheint es, als wüchse nach den Morden von Halle und Hanau, dem Mord an Dr. Walter Lübcke, dem Regierungspräsidenten von Kassel, und der Entdeckung von rechtsextremen Terrororganisationen, etwa der »Old School Society« oder der »Gruppe Freital«, sowie der Enttarnung von rechtsradikalen Chatgruppen bei Polizei und Bundeswehr auch in breiteren Bevölkerungskreisen die Einsicht, dass unsere Demokratie einer realen Bedrohung ausgesetzt ist. Natürlich ist unsere Sicherheit auch einer islamistischen oder einer linksextremen Bedrohung ausgesetzt. Aber der große Unterschied ist genau der: Islamisten oder Linksextreme können unsere Sicherheit bedrohen, aber nicht den Bestand unserer Demokratie. Rechtsextreme hingegen, von Politik und Justiz als Gefahr unterschätzt und geschont, haben Netzwerke im Staatsapparat aufgebaut und können eine Demokratie zerstören. Auch die Empirie spricht eine deutliche Sprache: Mit großem Abstand gehen die meisten politisch motivierten Gewalttaten auf das Konto von Rechtsextremisten.

Nach der Ermordung Walther Rathenaus durch Rechtsextremisten am 24. Juni 1922 fand die staatliche Trauerfeier im Reichstag statt. Reichskanzler Wirth hielt eine bewegende Rede. An deren Ende sagte er, nach rechts zeigend: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!« Seine Worte sind nicht »wieder« aktuell. Sie haben nie aufgehört, aktuell zu sein.

Ernst Freiherr von Münchhausen

Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler

Rechtsanwälte

Berlin/Bonn, im Frühjahr 2021

Die Justiz der Weimarer Republik und ihr Umgang mit den rechtsextremen Demokratiefeinden

1.  Einleitung

Die Zeit der Weimarer Republik war geprägt durch einen ständigen Kampf zwischen den politischen Lagern. Die radikalen Kräfte von rechts und links bekämpften sich gegenseitig, vor allem aber bekämpften sie die Republik und ihre Repräsentanten.

Dass dieser erste demokratische deutsche Staat unterging, war zu einem nicht unerheblichen Teil der ablehnenden Haltung der gesellschaftlichen, akademischen und wirtschaftlichen Eliten geschuldet. Die Justiz wurde aus dem Kaiserreich fast unverändert übernommen und blieb in ihrem Denken und Handeln zutiefst antidemokratisch. So gewährte sie u. a. straffälligen Nationalsozialisten häufig nicht nur eine juristische Privilegierung, sondern bot ihnen in öffentlichen Prozessen immer wieder eine Bühne, um ungestört Propaganda verbreiten und sich selbst in Szene setzen zu können.

In der Weimarer Republik war die Diskrepanz zwischen den demokratischen Kräften in der Regierung auf der einen und in monarchistischem oder sogar rechtem Gedankengut befangenen Richtern auf der anderen Seite besonders verheerend. Rechtsradikale Straftäter, die die Republik und ihre Repräsentanten bekämpften, wurden entweder gar nicht oder nur milde bestraft. In zahlreichen Fällen gereichte den Angeklagten ihre durch Mord und Gewalt manifestierte »Vaterlandsliebe« sogar zu ihrem eigenen Vorteil und wurde strafmildernd berücksichtigt.2 Die politische Ausrichtung vieler Juristen manifestierte sich schließlich darin, dass sie im Jahre 1928 die erste berufsbezogene nationalsozialistische Organisation gründeten: den »Bund Nationalsozialistischer Juristen« – damals im Wesentlichen noch mit Rechtsanwälten als Mitgliedern.

Der SPD-Abgeordnete Otto Wels, der später im Namen der SPD-Fraktion die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes bei der entsprechenden Reichstagsdebatte begründete, stellte bereits am 26. Juni 1922 nach der Ermordung Walther Rathenaus fest: »Die Justiz in unserem Lande ist ein Skandal, der zum Himmel schreit. […] Die in ihr betätigte Reaktion unterwühlt die Grundfesten der Republik.«

Die Problematik war jedoch bis zu einem gewissen Grade hausgemacht. Herrschte bei der Richterschaft eine seit Kaiserzeiten bestehende personelle Kontinuität, war dies auf politischer Ebene vollkommen anders. Durch den häufigen Wechsel an der Spitze des Justizministeriums (16 verschiedene Minister in einem Zeitraum von 14 Jahren) war ein konsequenter Umbau der Richterschaft unmöglich. Die fehlende Kontinuität an der Spitze des Ministeriums schwächte den Einfluss der politischen Führung, und die gut organisierte Richterschaft konnte gegenüber einem solch schwachen Ministerium selbstbewusst agieren.

Das Zitat von Otto Wels verdeutlicht aber auch, dass die Ausrichtung der Justiz schon zu damaliger Zeit als offenkundiges Problem wahrgenommen wurde. Ein Problem, dessen Lösung nicht in Angriff genommen und das schließlich einer der Gründe für die Destabilisierung der Weimarer Demokratie wurde. Bereits 1922 veröffentlichte der Mathematiker Emil Gumbel ein Buch unter dem Titel Vier Jahre politischer Mord, in dem er anhand von Beispielen die einseitige Rechtsprechung verdeutlichte. Es handelt sich um erschreckende Beispiele willkürlicher Erschießungen. Begründet in erster Linie durch vermeintliche Fluchtversuche oder Waffenbesitz. Die unschuldigen Opfer wurden regelmäßig auch noch ihres gesamten Hab und Guts beraubt, sogar Schuhe oder Stiefel wurden ihnen abgenommen. Eine Strafverfolgung fand entweder gar nicht statt, oder die Täter wurden freigesprochen bzw. zu geringen Haftstrafen verurteilt. Dies unter anderem deshalb, weil Zeugen – Kameraden der Angeklagten – die durch die Angeklagten vorgetragene Version der Tat bestätigten. Gumbels deprimierendes Fazit lautete: 354 rechtsextremen, justizbekannten Morden standen 22 linksextreme Morde gegenüber. Von den rechten Taten blieben 326 ungesühnt, von den linken gerade einmal vier. Die Gerichte verhängten bei linken Tätern zehn Todesurteile, in den übrigen Prozessen betrug die durchschnittliche Haftstrafe 15 Jahre pro Mord, rechte Täter kamen mit durchschnittlich vier Monaten Haft davon.3 Hinzu kam, dass auch die Strafverfolgungsbehörden – Polizei und Staatsanwaltschaft – linke Straftäter viel massiver verfolgten als rechte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass rechtsradikale Täter keinerlei Hemmungen bei der Verfolgung ihrer Ziele hatten.

2.  Prozess gegen die Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts 1919

2.1. Hintergrund

Mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden bereits am 15. Januar 1919 zwei der prominentesten Kommunisten und Gründungsmitglieder der KPD ermordet. Äußerer Anlass war die Niederschlagung des sogenannten Spartakusaufstands, mit dem kommunistische Revolutionäre die Errichtung einer Räterepublik erreichen wollten. Der Freikorpsführer Waldemar Pabst, der Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in der Mordnacht verhörte und später ihre Tötung veranlasste, hatte sie zuvor auf einer Kundgebung in Berlin sprechen hören. Dieses Erlebnis soll ihn nach eigener Aussage davon überzeugt haben, dass »beide außerordentlich gefährlich seien und man ihnen nichts Gleichwertiges entgegensetzen könne«. Aus diesem Grund habe er sich dazu entschlossen, »diese Personen unschädlich zu machen«.4 Mit Luxemburg und Liebknecht starben nicht nur die Anführer des Spartakusbundes und Gründungsmitglieder der KPD, sondern auch zwei Revolutionäre, die von sozialdemokratischer und rechtsnationaler Seite gleichermaßen gefürchtet waren.

Der sogenannte Spartakusaufstand fand lediglich in Berlin statt und dauerte vom 5. bis zum 12. Januar 1919. Die Anhänger des Spartakusbundes schlossen sich dabei einem laufenden Generalstreik an, den sie nicht geplant und zu dem sie auch nicht aufgerufen hatten. In Berlin hatte der Spartakusbund gerade einmal hundert Mitglieder, deutschlandweit waren es weniger als 3 000.5 Die Geschehnisse als Spartakusaufstand zu bezeichnen deckt sich mit der später verbreiteten Version, die Anführer des Spartakusbundes hätten die Ausschreitungen provoziert.6 Eine gezielte Verzerrung, die nicht zuletzt auch dazu dienen sollte, die Morde zu rechtfertigen.

Friedrich Ebert, vier Wochen später zum Reichspräsidenten gewählt, soll sich in einer Sondersitzung der Regierung betroffen über die Morde an seinen beiden ehemaligen politischen Mitstreitern gezeigt haben.7 Ob er selbst auch der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht zugestimmt hat, ist bis heute umstritten.8

Ohne konkreten Befehl eines Weisungsbefugten oder gar eines Gerichtsurteils ordnete Pabst nach den Vernehmungen die Erschießung von Luxemburg und Liebknecht an.

Tatsächlich wurde Rosa Luxemburg unter Leitung des Oberleutnants Kurt Vogel nach ihrer Vernehmung zunächst aus dem Eden-Hotel abtransportiert. Dabei versetzte ihr der zuvor entsprechend instruierte Soldat Otto Runge aus der Menge heraus mit seinem Gewehrkolben einen so starken Schlag auf den Kopf, dass sie das Bewusstsein verlor. Während der Fahrt wurde sie wohl von Hermann Souchon, einem Leutnant zur See, der kurz zuvor auf den davonfahrenden Transport-Wagen aufgesprungen war, mit einem gezielten Schuss in die Schläfe getötet.9 Dies wurde aber erst viele Jahre später durch eine Äußerung von Pabst bekannt (dazu weiter unten noch ausführlicher). Die am Transport beteiligten Soldaten hatten über die Identität des Todesschützen beharrlich geschwiegen. Nach ihrer Exekution wurde Luxemburg in den Berliner Landwehrkanal geworfen, wo sie erst Monate später gefunden wurde. Nach erfülltem Auftrag sollen sich die Soldaten mit den folgenden Worten im Eden-Hotel zurückgemeldet haben: »Die alte Sau schwimmt schon.«10

Kurz nach Luxemburg brachten die Gefolgsleute von Pabst auch Liebknecht gewaltsam aus dem Eden-Hotel. Im Berliner Tiergarten wurde er unter dem Vorwand einer Motorpanne zum Aussteigen bewegt und anschließend als vermeintlich Flüchtender von hinten erschossen. Mehrere Soldaten zielten dabei auf den Rücken des Davonlaufenden, den tödlichen Schuss soll nach übereinstimmenden Aussagen der Leutnant der Reserve Rudolf Liepmann abgegeben haben. Die Soldaten übergaben die als unbekannt deklarierte Leiche anschließend einer Berliner Polizeistation. Damit sollte vermutlich der Eindruck verstärkt werden, Liebknecht habe in der unübersichtlichen Revolutionsnacht des 15. Januars 1919 erschossen werden müssen, um seine Flucht zu verhindern.11 Später versprach ein Sprecher der Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD) vollständige Aufklärung und erklärte, dass eine kriegsgerichtliche Untersuchung eingeleitet worden sei, um festzustellen, »ob die beiden Führer der Begleitmannschaften von Dr. Liebknecht und Frau Rosa Luxemburg ihre dienstlichen Pflichten erfüllt haben«.

2.2. Das Verfahren vor dem Feldkriegsgericht

Der Prozess wurde am 8. Mai 1919 vor dem Feldkriegsgericht der GKSD eröffnet. Der Weg zur Zivilgerichtsbarkeit war nicht eröffnet, da die Angeklagten offiziell dem Militär angehörten. Anhaltenden Zweifeln, ob der an der Ermordung Rosa Luxemburgs beteiligte Soldat Otto Runge tatsächlich dem Militär angehörte, wurde nicht nachgegangen. Angeklagt wurden schließlich sieben Soldaten, die an der Ermordung beteiligt gewesen sein sollten. Wichtiger noch als die Frage, wer angeklagt wurde, ist aber die Frage, wer nicht angeklagt war: Waldemar Pabst, der den Befehl für die Morde gab, und Hermann Souchon, der mutmaßliche Mörder von Luxemburg. Sechs Tage später, am 14. Mai 1919, erging bereits das Urteil.

2.2.1. Die Prozessbeteiligten

a) Die Angeklagten

Die Freiheit, die politisch allerdings nicht ganz unabhängige Parteizeitung der USPD, beschrieb den Prozess in ihrer Ausgabe vom 8. Mai 1919 folgendermaßen: »Sie (die Angeklagten, Anm. der Autoren) werden nicht auf dem üblichen Weg zur Anklagebank gebracht, sondern durchschreiten vom Richterzimmer aus den Saal. Sie kommen lachend und strahlend daher, die Brust mit Orden geschmückt, und es hat eher den Anschein, als ob sie zu einem Hochzeitsfest schreiten und nicht zur Anklagebank, um sich dort wegen eines der schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu verantworten.«12

Wegen vorsätzlicher Tötung an Liebknecht waren die Soldaten Horst von Pflugk-Harttung, Ulrich Rittgen, Heinrich Stiege, Bruno Schulze und Rudolf Liepmann angeklagt. Im Zusammenhang mit der Ermordung von Rosa Luxemburg wurde dem Soldaten Runge vorgeworfen, diese durch seine Kolbenhiebe während ihres Abtransports aus dem Eden-Hotel schwer verletzt zu haben. Ihre Tötung wiederum wurde Oberleutnant Vogel zur Last gelegt.

b) Der Ankläger

Paul Jorns, später Reichsanwalt am Reichsgericht und dann Chefankläger am Volksgerichtshof, führte bereits die Voruntersuchungen betont nachlässig und vertrat als Kriegsgerichtsrat der GKSD die Anklage. Einzelheiten von Jorns Fehlverhalten in diesem Prozess wurden zehn Jahre später im Rahmen einer weiteren Verhandlung vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte im Detail bekannt.13 Dazu später mehr.

Hier bereits aber Folgendes: Vor diesem Gericht hatte Jorns eine Beleidigungsklage gegen den Redakteur einer Zeitung erhoben, der dessen Vergangenheit zur Sprache gebracht hatte. Das Schöffengericht stellte in seinem Urteil fest, dass Jorns bei der Untersuchungsführung

»1. Spuren, die zur Aufklärung dienen konnten, nicht aufgenommen hat … 2. Spuren, deren Wichtigkeit er erkannt hatte, nicht verfolgte … 3. Spuren verwischte, indem er das Gegenteil des Ermittelten in das Protokoll aufnahm … 4. Zustände duldete, die, wie bekannt war, geeignet waren, den Sachverhalt zu verdunkeln und das Ergebnis der Untersuchung zu gefährden.«

Dieses ungemein deutliche Urteil wurde allerdings später vom Reichsgericht aufgehoben. Unter anderem mit folgender denkwürdiger Begründung: »Ist einem Untersuchungsbeamten der Vorwurf gemacht worden, dass er den Beschuldigten absichtlich Vorschub geleistet habe, so genügt für den Wahrheitsbeweis nicht der Nachweis eines bewussten Vorschubleistens.«14

Die Anklage gegen die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg führte Jorns so, dass möglichst wenig aufgeklärt wurde. Auch zögerte er notwendige Verhaftungen so weit wie möglich hinaus. Der Angeklagte und schließlich auch der zu einer Haftstrafe verurteilte Soldat Runge legten gegenüber der Freiheit am 6. Januar 1920 eine Art Geständnis ab. Runge schilderte das Vorgehen von Jorns wie folgt: »Die Untersuchung ist eine Komödie gewesen. Ich sprach mit Kriegsgerichtsrat Jorns wiederholt privat, und er sagte mir: ›Nehmen Sie ruhig alles auf sich, vier Monate werden es nur, und Sie können sich dann immer an uns wenden, wenn Sie in Not sind.‹«

c) Die Richter

Das Verfahren wurde mehrheitlich von Richtern geführt, die derjenigen Division unterstellt waren, bei der Pabst als 1. Generalsstabsoffizier die rechte Hand des Kommandeurs war. Den Vorsitz des Gerichts übernahm Kriegsgerichtsrat Ehrhardt. Drei der vier beisitzenden Richter waren vom Korpsvertrauensrat der GKSD direkt gewählt worden: Kapitänleutnant Canaris, Offiziersstellvertreter Ernst und Kürassier Chimilewski. Vor allem Wilhelm Canaris spielte später während des Nationalsozialismus als Chef des militärischen Geheimdienstes eine außerordentlich wichtige Rolle. Er wurde später als Gegner der Nationalsozialisten verhaftet und im April 1945 im KZ Flossenbürg gemeinsam mit anderen prominenten Widerstandskämpfern standrechtlich zum Tod durch Erhängen verurteilt. Dieses Standgericht war in den 1950er-Jahren Gegenstand verschiedener Gerichtsverfahren und schließlich eines BGH-Urteils.15

Bereits vor Beginn der Verhandlung war Canaris mit dem Angeklagten Vogel freundschaftlich verbunden. Das freundschaftliche Verhältnis konnte er auch während dessen kurzer Untersuchungshaft pflegen, denn Jorns hatte ihm und Pabst eine Sprecherlaubnis erteilt. Die Initiative, ihn in dem Verfahren als Richter beizuordnen, ging auf Pabst persönlich zurück.16 Später half Canaris seinem Freund Vogel bei der Flucht aus dem Gefängnis und aus Deutschland. Canaris legte hierfür einen von Jorns ausgestellten Verschubbefehl vor und überreichte Vogel einen vom Kriegsministerium ausgestellten, gefälschten Pass. Dafür wurde Canaris zwar verhaftet, aber bereits nach einigen Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Der hierfür wiederum zuständige Staatsanwalt Hans-Günther von Dincklage17 stellte das Verfahren auf die Mitteilung hin ein, dass sich Canaris zu diesem Zeitpunkt bei seiner Verlobten befunden habe.

Infolge politischen Drucks seitens der KPD wurden dem Ermittlungsrichter wegen der bestehenden Verdunkelungsgefahr vier zivile, sozialistische Politiker beigeordnet: Hugo Struve und Hermann Wäger von der SPD sowie Oskar Rusch und Paul Wegmann von der USPD. Ihre Zusammenarbeit war allerdings von kurzer Dauer. Nach den Enthüllungen des auf Liebknecht und Luxemburg folgenden KPD-Vorsitzenden Jogiches um die Geschehnisse in der Mordnacht und die Verwicklungen der GKSD-Soldaten traten drei von ihnen aus Protest zurück.18 Schon damals sagten sie in Bezug auf das Verhalten von Ermittlungsrichter Jorns: »Wir lehnen es vor dem Proletariat der Welt ab, teilzunehmen an einem Gerichtsverfahren, das es ermöglicht, die Spuren der Tat zu verwischen und die Mörder den Armen der Gerechtigkeit zu entziehen.«19 Zum Prozessauftakt blieb nur Hermann Wäger als ziviler Beisitzer übrig.

2.2.2 Prozessverlauf

Das ganze Verfahren war von der Intention bestimmt, die Hintermänner der Morde im Dunkeln zu lassen und nicht zu belangen. Klar war auch, dass es zu einer raschen und milden Aburteilung kommen sollte. Die Angeklagten sagten zur Tötung von Liebknecht übereinstimmend aus, dieser sei bei einem Fluchtversuch erschossen worden, als der Wagen auf dem Weg in das Untersuchungsgefängnis Moabit wegen einer Motorpanne habe halten müssen. Sie, die Soldaten, hätten entsprechend ihrer Dienstpflicht gehandelt und den Flüchtenden erschossen. Der Angeklagte Liepmann gab insofern zu, den letztlich tödlichen Schuss abgegeben zu haben.

Bei dem Tatkomplex Rosa Luxemburg gestand der Angeklagte Vogel, den Befehl gegeben zu haben, Luxemburgs Leiche in den Landwehrkanal zu werfen. Er habe dabei selbst geholfen und könne sich noch an das unangenehme Gefühl erinnern, als er die schlaff herunterhängende Hand der Toten berührte.20 Wer im Auto den tödlichen Schuss abgegeben habe, wusste er laut eigener Aussage nicht mehr. Er gab aber zu, in früheren Vernehmungen über die Anzahl der am Abtransport von Luxemburg Beteiligten gelogen zu haben, um »jeden Verdacht von einer weiteren Person abzulenken«.21 Der mutmaßliche Todesschütze Hermann Souchon wurde nur als Zeuge in der Verhandlung zum Mord an Karl Liebknecht geladen und war deshalb bei den Verhandlungen zum Mord an Rosa Luxemburg nicht anwesend. So konnte er von anderen Zeugen nicht identifiziert werden; vermutlich war genau das von Jorns beabsichtigt. Nach dem Verfahren floh Souchon nach Finnland, wo er keine Strafverfolgung zu befürchten hatte.

Als zwei Jahre nach dem Urteil der Fahrer des Transportwagens in einem neuen Ermittlungsverfahren aussagte, dass neben Vogel und Runge auch Souchon dabei gewesen sei, wurde dieser erneut vorgeladen. Diesen Vorladungen kam er jedoch nicht nach. Erst 1935 kehrte er nach Deutschland zurück, nachdem Hitler persönlich den Mördern von Liebknecht und Luxemburg Amnestie gewährt hatte. In der breiten Öffentlichkeit wurde erst in den 1960er-Jahren durch journalistische Recherchen bekannt, dass wohl nicht Vogel, sondern Souchon den tödlichen Kopfschuss auf Rosa Luxemburg abgegeben hatte. Hermann Souchon ging juristisch gegen diese Behauptungen vor und erwirkte ein gerichtliches Verbot derartiger Behauptungen – das Gericht berief sich dabei in der Begründung auf die Ergebnisse des Feldkriegsgerichtsverfahrens aus dem Jahr 1919.

Jorns machte in seinem Schlussplädoyer gleich mit dem ersten Satz klar, was er von den Ermordeten hielt: »Als am 16. Januar die Tageszeitungen die Nachricht von dem gewaltsamen Tode des Dr. Karl Liebknecht und der Frau Rosa Luxemburg brachten, da hat wohl manch einer im Inneren gedacht und haben es vielleicht auch viele ausgesprochen: Gott sei Dank, dass wir von diesen Menschen endlich befreit sind!«22 Deutlicher kann man sein Verständnis der von den Angeklagten ausgeführten Morde kaum ausdrücken. Von Vertretern der Anklage erwartet man üblicherweise etwas anderes. Eine nüchterne, unvoreingenommene oder differenzierte Schlussrede war danach vonseiten der Anklage nicht mehr zu erwarten. Stattdessen ereiferte sich Jorns über die nach seinem Dafürhalten tendenziöse Berichterstattung über die Ermittlungen und das Verfahren, vor allem von der Roten Fahne und der Freiheit. Eigenes Fehlverhalten mochte er sich nicht vorwerfen lassen. Insbesondere habe sich das Gericht weder von politischen Gesichtspunkten noch von persönlichen Stimmungen leiten lassen. Am Ende forderte er gegen die vier Offiziere, die zugegeben hatten, auf Liebknecht geschossen zu haben, die Todesstrafe wegen vollendeten Mordes. Gegen Vogel beantragte er unter anderem wegen versuchten Mordes an Rosa Luxemburg fünf Jahre und einen Monat Zuchthaus. Er dürfte dabei sicher davon ausgegangen sein, dass sich diese geforderten Strafen niemals im Urteil widerspiegeln würden. Diese Erwartung wurde nicht enttäuscht.

2.2.3 Urteil

Am 14. Mai 1919 verkündete das Feldkriegsgericht sein Urteil.23 Am härtesten traf es Runge, vermutlich weil er nicht der hellste Kopf war und seine Schlagattacken beim Abtransport aus dem Eden-Hotel in der Öffentlichkeit nicht zum Plan von Pabst gehört hatten. Über ihn heißt es in der liberalen Frankfurter Zeitung vom 16. Mai 1919: »Dass aber der Hauptangeklagte Runge ein Halbidiot ist, stellt auch der ›Berliner Börsenkurier‹ fest.«24 In den Augen des Gerichts jedenfalls war es nicht mehr einwandfrei feststellbar, ob für Luxemburgs Tod die Kolbenschläge oder der Schuss gegen ihre Schläfe kausal war. Runge konnte damit aus Sicht des Gerichts nur eine versuchte Tötung nachgewiesen werden. Er wurde »wegen Wachvergehens im Felde, wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Missbrauch der Waffe« zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Der Angeklagte Vogel wurde wegen erschwerten Wachvergehens im Felde, Missbrauchs der Dienstgewalt und Beiseiteschaffung einer Leiche verurteilt. Vom Vorwurf des Mordes sprach ihn das Gericht hingegen frei. In der Urteilsbegründung heißt es, dass neben ihm auch »ein im Auto mitfahrender unbekannter Offizier – wahrscheinlich ein Marine-Offizier – in Betracht« kommt. Ein lückenloser Schuldbeweis für seinen Mord sei daher nicht zu führen. Strafmildernd wurde unter anderem die »allgemeine Erbitterung, die […] besonders bei den Regierungsgruppen gegen die erschossenen Führer der Spartakuspartei herrschte«, berücksichtigt. Das Strafmaß lautete zwei Jahre und vier Monate Gefängnis. Eine Freiheitsstrafe, die er niemals verbüßte.

Das Urteil gegen Leutnant Liepmann fiel ausgesprochen milde aus. Er gab im Prozess freimütig zu, Liebknecht von hinten erschossen zu haben. Dabei berichtete er auch darüber, wie zuvor eine Autopanne vorgetäuscht wurde, damit Liebknecht das Auto verließ, um ihn anschließend »auf der Flucht« zu töten. Vom heimtückischen Mord wurde er dennoch freigesprochen. Einen Stubenarrest von sechs Wochen wegen verschiedener Dienstvergehen fanden die Richter des Kriegsgerichts in seinem Fall für angemessen. Konkret wurde er der Anmaßung einer Befehlsbefugnis in Tateinheit mit Begünstigung für schuldig befunden.

Die Beweiswürdigung im Urteil des Feldkriegsgerichts zum Mord an Liebknecht war grotesk. Zwar gingen die Richter auf das mutmaßliche Tatgeschehen ein, ausreichend für eine Verurteilung wegen Mordes fanden sie die Beweislage aber nicht. Die Richter hielten es zwar für möglich, dass der Fluchtversuch Liebknechts von den Angeklagten nur vorgetäuscht worden war: »Der Vorgang könnte sich etwa so abgespielt haben, dass der Angeklagte Kapitänleutnant von Pflugk-Harttung beim Umdrehen nach dem Auto absichtlich den Arm Liebknechts losließ, zum Rufen stehenblieb und hinter dem weiter schreitenden Liebknecht dann einen Schuss in die Luft oder gegen dessen Körper abgab, worauf Liebknecht in natürlicher Angst und Erregung vorwärts oder seitwärts zu laufen begann und dann von den übrigen Angeklagten mit deren Pistolen erschossen wurde.« Diese Feststellungen dürften dem Geschehen in der Mordnacht in der Tat nahekommen. Jedenfalls deckten sie sich mit übereinstimmenden Zeugenaussagen und passten zu den nachträglichen Erklärungen des Tathergangs. Allerdings zog das Gericht daraus nicht die Konsequenz, die Angeklagten wegen Mordes zu verurteilen. Stattdessen kam es ohne nähere Begründung zu dem Ergebnis, dass der Nachweis eines gemeinschaftlichen Mordes nicht erbracht worden sei: »Denn die Panne des Wagens war tatsächlich echt. Die Angeklagten haben Liebknecht vor dem Hotel auch vor Misshandlungen tatsächlich zu schützen versucht.« Diese Deutung des Geschehens machte das Gericht zur Grundlage seines Urteils.

Alle anderen Angeklagten wurden freigesprochen. Wegen der Tötungen selbst wurde also außer Runge niemand zur Rechenschaft gezogen. Dass das Gericht nur einen niedrigen Dienstgrad, der offenbar nicht nur geistig zurückgeblieben war, sondern auch im Tötungsplan eine völlig unbedeutende Rolle gespielt hatte, wegen versuchter Tötung verurteilte, ist symptomatisch für ein Gerichtsverfahren, in dem weder der Tatbeitrag noch das Ausmaß der Schuld ausschlaggebend für das Urteil war. Es stellte den Schlusspunkt einer »traurigen Justizkomödie« dar.25

Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) bezeichnete die Ermordeten später als die Hauptschuldigen für die Gewaltausschreitungen im Januar 1919 und wies auf die Forderung Tausender hin, »ob denn niemand die Unruhestifter unschädlich mache«.26 Als Oberbefehlshaber der Truppen unterschrieb er außerdem das Urteil des Feldkriegsgerichts, obwohl die auch damals bereits offenkundige Rechtsbeugung bei vielen Sozialdemokraten auf scharfe Kritik gestoßen war.27 In seinem Buch Von Kiel bis Kapp rechtfertigte er die Genehmigung des Urteils folgendermaßen: »Nachdem die ersten Autoritäten der zivilen und Militär-Gerichtsbarkeit Gutachten erstattet hatten, dass bei einer Wiederholung der Beweisaufnahme eine härtere Strafe für keinen der Angeklagten zu erwarten wäre.«28 Ob er das wirklich geglaubt hat, ist fraglich. Zuvor soll er Pabst in einem Brief versprochen haben, dass es nicht zu einem erneuten Prozess kommen werde.29

Die Rechtsgutachten des Justizministeriums und des Reichsgerichts bestätigten später mit Ausnahme der Verurteilung von Vogel die Urteile.30 Nach der Machtergreifung der Nazis hatten die Verurteilten keine Repressalien mehr zu befürchten. Im Gegenteil: Runge und Vogel wurden großzügig entschädigt.

2.3. Bewertung und Rezeption

Runge, das schwächste Glied in der Kette, musste am Ende als Bauernopfer herhalten. Er wurde manipuliert und als Täter vorgeschoben. In der Ausgabe der Freiheit vom Tag des Urteilsspruchs zeigte man sich vom Ergebnis des Prozesses nicht überrascht. Es sei von Anfang an für alle klar gewesen, dass »ein Kriegsgericht, zusammengesetzt aus Kameraden und Gesinnungsgenossen der Angeklagten, niemals deren Schuld feststellen werde«.31 Auch das milde Urteil gegen Runge sei erklärlich, da er – »diese klägliche Abart eines Proletariers« – bei seinen Taten mit Zustimmung derjenigen handelte, die später über ihn urteilen sollten.

Nachdem Canaris dem Mitverurteilten Vogel zur Flucht verholfen hatte, war er dann auch der Einzige, der seine Strafe verbüßen musste. Das größte Versäumnis dieses Prozesses ist aber wohl darin zu sehen, dass die Hintermänner, genauer gesagt, Pabst, niemals, auch nicht in der Bundesrepublik, zur Rechenschaft gezogen wurden. Schließlich hatte er die Geschehnisse im Eden-Hotel zu verantworten und außerdem die Morde angeordnet, wie er später mehrfach zugab.

Historiker ordnen das Verfahren heute als »Justizposse« ein, »die als einer der großen Justizskandale unseres Jahrhunderts bezeichnet werden muss«,32 und als »einer der schamlosesten Lügenprozesse der deutschen Rechtsgeschichte«.33

Die schamlose Beugung des Rechts hörte mit dem Richterspruch allerdings nicht auf. Alle Versuche, das Urteil anzufechten, wurden verschleppt. Der Rechtsanwalt Paul Levi, Mitbegründer der KPD und von 1919 bis 1921 deren Vorsitzender, brachte die Langzeitfolgen des Urteils in seinem Plädoyer in dem bereits oben erwähnten Beleidigungsverfahren gegen Jorns auf den Punkt. Nun wisse man, »dass Morden noch lange nicht identisch ist mit Bestraftwerden«.34 Diese Wirkung des Urteils war insofern verheerend, als dass auf die hier verhandelten Morde gegen Kommunisten viele weitere folgten, und zwar schon ab März 1919, während der anschließenden Unruhen infolge des Generalstreiks im Ruhrgebiet.35

Auch in der Bundesrepublik erfolgte keine Rehabilitierung der Getöteten, geschweige denn eine strafrechtliche Verfolgung der Hintermänner, insbesondere des Drahtziehers Pabst. Und dies obwohl Pabst selbst freimütig zugab, die Ermordung angeordnet zu haben. Strafrechtliche Ermittlungen zog dieses Geständnis schon allein deshalb nicht nach sich, da die allgemeine Auffassung bestand, es habe sich um standrechtliche Erschießungen gehandelt, die als solche rechtmäßig gewesen seien. Offiziell bestätigt wurde diese Lesart durch ein Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. Februar 1962. Dort hieß es: »Pabst bestreitet nicht seine Verantwortung für die standrechtlichen Erschießungen, aber er versichert, es in höchster Not und in der Überzeugung getan zu haben, nur so den Bürgerkrieg beenden und Deutschland vor dem Kommunismus retten zu können … Denn Moskaus Plan, aus dem Chaos jener Jahre ganz Deutschland gleichsam als Strandgut dem roten Imperium einzuverleiben, scheiterte unter Mithilfe der damaligen Freikorps.«36

Die Deutsche Soldatenzeitung titelte daraufhin zugunsten der Freikorps: »Der späte Dank des Vaterlandes.«

Dass es sich auch formaljuristisch nicht um eine standrechtliche Erschießung handeln konnte, ergab sich jedoch bereits daraus, dass eine solche jedenfalls ein sogenanntes Ad-hoc-Verfahren vorausgesetzt hätte. Das Bulletin und die öffentliche Meinung über die Morde waren aufgrund der personellen Kontinuitäten in politischen Schlüsselpositionen indessen kaum erstaunlich. Nach eigenen Angaben orientierte sich die erste Bundesregierung beim Aufbau des Bundespresseamtes aufgrund von »Erfahrungen mit dem berüchtigten Reichspropagandaministerium des totalitären Nazi-Regimes« zwar »an Organisationsformen der Weimarer Republik«.37 Das verhinderte aber nicht, dass dem Presseamt zu diesem Zeitpunkt noch Felix von Eckardt vorstand. Dieser arbeitete in der Zeit des Nationalsozialismus an Propagandafilmen mit, bevor er nach dem Krieg zum Pressesprecher und wichtigen Berater unter Konrad Adenauer avancierte. Ein ehemaliger Zeitungskollege schreibt: »Felix von Eckardt ist immer auf der Seite der Gewinner. Im Krieg braucht er nicht Soldat werden, er ist Drehbuchschreiber bei UFA und kriegswichtig. Was er schreibt, gefällt dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels.«38 Für eine Karriere im Bundespresseamt zum damaligen Zeitpunkt war eine solche Biografie sicher kein Ausschlusskriterium, sondern wohl eher eine Empfehlung.

Pabst konnte seine Karriere auch im Nachkriegsdeutschland unbeirrt fortsetzen und machte als Waffenhändler ein Vermögen. Er starb 1970 in Düsseldorf, ohne jemals für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Sein Biograf Klaus Gietinger nennt ihn »eine Figur mit einer ungeheuerlichen Biografie, dessen Einfluss auf die Politik des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts bislang deutlich unterschätzt wurde«.39

3.  Prozess gegen Anton Graf von Arco-Valley, den Mörder von Kurt Eisner, 1920

3.1. Hintergrund

Am 21. Februar 1919 befand sich der erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner auf dem Weg zur konstituierenden Sitzung des Landtages. Er wollte dort wegen des katastrophalen Wahlergebnisses seiner Partei, der USPD, seinen Rücktritt bekannt geben. Auf dem Weg dorthin wurde er von einem Attentäter durch zwei Schüsse in den Hinterkopf aus nächster Nähe getötet.40 Ein politischer Mord, verübt am helllichten Tage auf offener Straße. Die Tat war ein Wendepunkt für die bis dahin friedliche Münchner Revolution; »dann begann die Zeit der Straßenschlachten und der politischen Morde, die Zeit eines Terrors, wie ihn so furchtbar keine andere Stadt erlebte, auch nicht Berlin«.41 Der Attentäter selbst wurde sofort überwältigt und von Kugeln der begleitenden Wachsoldaten schwer verletzt. Bereits eine Stunde nach Eisners Tod stürzte Alois Lindner – ein Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats – in den Saal des bayrischen Landtages und feuerte zwei Schüsse auf den politischen Widersacher Eisners ab, den sozialdemokratischen Innenminister Erhard Auer, den der Schütze fälschlicherweise hinter dem Attentat vermutete. Auer überlebte schwer verletzt. Beim anschließenden Tumult wurden ein Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei und ein unbeteiligter Besucher getötet.42

Eisner entstammte einer jüdischen Familie. 1917 in die USPD eingetreten, war er maßgeblich für die Organisation des Streiks der Münchener Munitionsarbeiter im Januar 1918 verantwortlich. Ziel waren die Beendigung des Krieges und eine Demokratisierung des Staates. Der Streik führte zu einer Streikwelle im gesamten Deutschen Reich und zu Eisners Verhaftung. Seit Oktober 1918 wieder auf freiem Fuß, rief Eisner am 8. November 1918 in München den heute noch gebräuchlichen Begriff Freistaat Bayern aus (frei war gleichbedeutend mit frei von einer Monarchie) und erklärte den König für abgesetzt. Damit war die mehr als 700 Jahre alte Monarchie Bayerns gestürzt. Eisner brachte so auch in Berlin den Stein ins Rollen, denn einen Tag später taten es ihm Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann nach. Die Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte wählte Eisner kurz darauf zum Ministerpräsidenten. Bei den Landtagswahlen Anfang 1919 erhielt die Partei Eisners, die USPD, jedoch nur 2,5 Prozent der Stimmen. Daraus zog er die Konsequenzen und wollte als Ministerpräsident zurücktreten.43 Seine Ermordung stieß in großen Teilen der Bevölkerung auf pures Entsetzen; zu seiner Beerdigung am 26. Februar fand ein Trauergeleit durch München statt, an dem etwa 100 000 Menschen teilnahmen.44

Attentäter war der 22-jährige Leutnant der Infanterie und Jurastudent Anton Graf Arco-Valley. Er hielt seine Motivation am Abend vor seiner Tat für die Nachwelt fest: »Eisner strebt nach der Anarchie, er ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht deutsch, er untergräbt jedes deutsche Gefühl, er ist ein Landesverräter. Das ganze Volk schreit nach Befreiung.«45 Sein Hass auf Eisner wurde von verschiedenen Gruppen befeuert: Für Nationalisten war Eisner eine Zielscheibe, weil er offen bekannte, dass Deutschland Schuld am Krieg trage. Er hatte außerdem – Eisner war Journalist und Autor – Auszüge bayerischer Dokumente zum Kriegsausbruch von 1914 veröffentlicht, die seine These untermauern sollten.46 Antisemiten wiederum reichte für ihren gegen Eisner gerichteten Hass allein schon seine jüdische Herkunft. Und Monarchisten legten ihm zur Last, die Abdankung des Königs erzwungen zu haben.

Zu all diesen Gruppen pflegte der Attentäter Graf Arco Kontakt: Er hatte insbesondere intensiven Kontakt zu Mitgliedern der antisemitischen, völkisch-nationalen Thule-Gesellschaft, einem politischen Geheimbund, dessen Ziel es war, mit allen Mitteln den von Eisner ausgerufenen Freien Volksstaat Bayern und die nachfolgende Münchner Räterepublik zu bekämpfen, da sie als Ausfluss einer »jüdischen Weltverschwörung« betrachtet wurde. Da Arcos Mutter als geborene Freiin von Oppenheim Jüdin war, konnte er selbst kein Mitglied werden, teilte aber die völkisch-nationalistische Gesinnung der Thule-Gesellschaft und hielt sich regelmäßig in ihrem Umfeld auf.47 Er war zudem Mitglied der katholischen Studentenverbindung Rhaetia, die einen bayerischen Separatismus vertrat und enge Beziehungen zum Haus Wittelsbach pflegte.

Der Ministerpräsident repräsentierte als jüdischer, republikanischer und sozialistischer Revolutionsführer all das, was Arco und sein Umfeld hassten. Bis heute ist allerdings umstritten, ob Graf Arco als Einzelgänger oder als Teil einer Verschwörung ehemaliger Offiziere gehandelt hat. Einige Stimmen behaupten, er sei bei einer Versammlung von Offizieren durch Los für diesen Mord bestimmt worden. Hinzu kam, dass er »ein schräger Vogel« gewesen sein soll,48 Ricarda Huch wiederum, als Zeitgenossin, beschrieb ihn als »wunderlich«.49 Aufklären lassen sich die wahren Hintergründe heute wohl nicht mehr.

3.2. Verfahren und Urteil

Der Prozess wurde am 14. Januar 1920 am Volksgericht München eröffnet, fast ein Jahr nach dem Attentat. Der späte Prozessbeginn lag daran, dass Arco selbst bei dem Attentat schwer verletzt worden war und lange Zeit für seine Genesung benötigte.

Bei den bayerischen sogenannten Volksgerichten handelte es sich um Sondergerichte, die noch von der Regierung Eisner eingeführt worden waren. Ihre Aufgabe war es, schwere Gewalttaten zügiger abzuurteilen. Die Besonderheit bestand darin, dass die Gerichte aus zwei Berufsrichtern und drei Laienrichtern bestanden (daher der Ausdruck Volksgericht). Eine Verurteilung konnte nur mit einer Mehrheit von vier Stimmen erfolgen. Für den Fall, dass keine Mehrheit zustande kam, wurden die Verfahren an die ordentliche Gerichtsbarkeit abgegeben. Die Verfahren wurden nur summarisch geführt, gegen die Urteile gab es kein Rechtsmittel, und sie waren sofort vollstreckbar. Alles in allem verstießen die Gerichte damit gegen die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung. Dennoch wurden sie sowohl von der bürgerlich-sozialdemokratischen Regierung Hoffmann als auch von der rechtskonservativen Regierung von Kahr nahtlos übernommen und erst 1924 aufgelöst. Das letzte vor einem Volksgericht geführte Verfahren war der Hitlerputsch von 1923.

Den Vorsitz in dem Verfahren hatte Richter Georg Neithardt inne. Dies war für Graf Arco ein großes Glück, denn Neithardt teilte seine Ablehnung der Demokratie ebenso wie seinen Hass gegen den Ermordeten. Neithardt sollte später auch das Urteil gegen Adolf Hitler nach dem gescheiterten Hitlerputsch fällen (mehr dazu folgt).

Nach zwei Verhandlungstagen wurde der Angeklagte am 20. Januar 1920 zum Tode verurteilt. Dieses Urteil sollte aber niemals vollstreckt werden. Denn in den Urteilsgründen heißt es unter anderem: »Von einer Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte konnte natürlich keine Rede sein, weil die Handlungsweise des jungen politisch unmündigen Mannes nicht niedriger Gesinnung, sondern der glühenden Liebe zu seinem Volke und Vaterland entsprang […] und Ausfluss der in weiten Volkskreisen herrschenden Empörung über Eisner war.«50 Genau auf diese Argumentationsform wurde einige Jahre in der Nazi-Rechtsprechung immer wieder zurückgegriffen, wenn politische Straftaten bis hin zu Morden mit berechtigtem »Volkszorn« oder gar einem »gesunden Volksempfinden« gerechtfertigt wurden.51

Arco fasste sich nach der Verlesung des Todesurteils ein Herz und bat die Richter, von unüberlegten Taten gegen seine Person abzusehen und stattdessen am nationalen Aufbau mitzuarbeiten. Bei den Zuhörern im Gerichtssaal brach daraufhin minutenlanger Beifall aus. Beim Verlassen des Volksgerichts wurde Arco von einer jubelnden Menschenmenge empfangen.52 Ob Arcos Bitte ein verzweifelter Hilferuf oder eine selbstbewusste Vorahnung war, ist ungeklärt, jedenfalls wurde sie erhört. Bereits einen Tag nach dem Todesurteil wurde seine Strafe in lebenslange Festungshaft umgewandelt. Dies stellte für Arco im Gegensatz zu der ebenfalls denkbaren Zuchthausstrafe die deutlich mildere Alternative dar, da diese nicht mit einer Arbeitspflicht verbunden war. Es handelte sich damit um eine Strafe ohne entehrende Folgen, bei welcher der Verurteilte die Möglichkeit hatte, eigenen Interessen nachzugehen und Besuch zu empfangen. Aus diesem Grund hieß die Festungshaft im Volksmund schlicht »Ehrenhaft«. Die Begnadigung wurde durch den bayerischen Justizminister Ernst Müller-Meiningen von der DDP unter anderem mit dem bezeichnenden Satz begründet: »Ich würde mich vor meinen Kindern schämen, einen Mann wie Arco ins Zuchthaus zu schicken.«53 Zu bedenken ist dabei, dass es sich bei der DDP um eine republikfreundliche liberale Partei handelte.

Die Festungshaft verbrachte Arco unter großen Freiheiten in Landsberg am Lech, der Haftanstalt, in der ab dem 1. April 1924 auch Hitler seine Haftstrafe verbüßte. Bereits am 13. April 1924 wurde Arco auf Bewährung entlassen. Im Jahr 1927 erfolgte dann seine endgültige Begnadigung im Rahmen einer Amnestie anlässlich des 80. Geburtstages von Reichspräsident Paul von Hindenburg. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Arco bereits am 13. März 1933 in Schutzhaft genommen, nachdem er verkündet hatte, ebenso gut wie Eisner könne er auch einen anderen erschießen. Trotz dieser Äußerung und obwohl er wegen seiner jüdischen Mutter Halbjude war, wurde er nicht weiter behelligt. Dies wohl auch deshalb nicht, weil er durch seinen Mord an Eisner in nationalen Kreisen als Held galt. Dass er dabei von Eisners Begleitern schwer verletzt wurde, machte sogar einen »Märtyrer« aus ihm. Am 29. Juni 1945 starb er im Alter von 48 Jahren bei einer Kollision mit einem entgegenkommenden Fahrzeug der amerikanischen Armee.54

3.3 Bewertung

Letztlich wurden durch das Urteil und die anschließende Begnadigung ein politischer Mord aus »Liebe zum Vaterland« gerechtfertigt und sogar noch das Fehlen niedriger Beweggründe festgestellt. Es spricht viel dafür, dass das Todesurteil und das explizite Herausstellen der »glühenden Vaterlandsliebe« zwischen Justizminister, Staatsanwaltschaft und Richter abgesprochen war.55 Auf Grundlage dieser richterlichen Feststellungen konnte dann auch die Begnadigung und die Umwandlung der Todesstrafe in eine Festungshaft erfolgen. Dass Arco ausdrücklich wegen seiner vaterländischen Gesinnung nicht die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt wurden, war erforderlich, damit er seine Strafe in der Festungshaft und nicht im deutlich härteren Zuchthausvollzug absitzen musste. Denn dort hätten ihm nicht nur die Pflicht zu harter körperlicher Arbeit, sondern auch weitaus restriktivere Haftbedingungen gedroht. Die Festungshaft galt, wie gesagt, als »Ehrenhaft« und war im Fall Arcos nur erklärlich, weil eine Begnadigung von Anfang an beabsichtigt war. Alles in allem war es nichts anderes als eine »abgekartete Justizkomödie«.56

Neithardts Versäumnisse als Richter behinderten seine Justizkarriere nicht im Geringsten. Er wurde als bewährter Richter weiter befördert und leitete ab dem 24. Februar 1924 sogar die Verfahren gegen die Beteiligten am Hitler-Ludendorff-Putsch, wieder zur vollen Zufriedenheit der angeklagten rechtsradikalen Straftäter.57

Dem Mitbegründer des revolutionären Arbeiterrates Alois Lindner, der direkt nach dem Eisner-Attentat in den Landtag gestürmt war und SPD-Innenminister Auer schwer verletzt hatte, erging es weniger gut. Er wurde zu 14 Jahren Zuchthaus (nicht Festungshaft) verurteilt. Als anlässlich des 80. Geburtstages von Reichspräsident von Hindenburg politische Straftäter begnadigt wurden, war er – im Gegensatz zu Graf Arco – nicht unter ihnen. Er wurde erst 1928 entlassen.

4.  Prozesse nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, 1921

4.1. Hintergrund

Deutschland verpflichtete sich im Versailler Vertrag, sein Heer auf 100 000 Mann zu reduzieren und die aus Freiwilligen bestehenden Freikorps aufzulösen. Dafür mussten ab dem Sommer 1919 zeitlich gestaffelt über 150 000 Mann entlassen werden. Ein Vorgang, mit dem zahlreiche Militärs nicht einverstanden waren und der für erhebliche Unruhe sorgte. Drahtzieher des Putsches war General Walther von Lüttwitz, Oberbefehlshaber des Reichswehrgruppenkommandos I (das wichtigste der lediglich vier Gruppenkommandos innerhalb der Armee). Er war bereits für die Niederschlagung des Spartakusaufstandes im Jahr 1919 verantwortlich gewesen. Auslöser des Putsches war Ende Februar 1920 eine Verfügung von Reichswehrminister Noske, der zufolge die Marinebrigade Ehrhardt mit einer Stärke von 6 000 Mann aufgelöst werden sollte.

Am 10. März sprach Lüttwitz bei Reichspräsident Ebert vor, der ihn in Anwesenheit von Noske empfing. Lüttwitz stellte mehrere ultimative Forderungen, darunter nicht nur die Rücknahme des Befehls zur Auflösung der Brigade Ehrhardt, sondern auch die sofortige Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen zum Reichstag, die Einsetzung von Fachministern und seine, Lüttwitz, Ernennung zum Oberbefehlshaber der Reichswehr. Ebert und Noske lehnten ab und setzten ihm eine Frist von 24 Stunden zum Rücktritt. Diese Aufforderung leistete Lüttwitz nicht Folge, sodass Noske ihn am 11. März »zur Disposition« stellte, was einer heutigen Frühpensionierung entspricht.

Reichswehrminister Noske fehlte es jedoch an Rückhalt in der Reichswehr, um sofort militärische Gegenmaßnahmen einzuleiten. Insbesondere hatte es der Chef des Truppenamtes, General Hans von Seeckt, abgelehnt, sich in Kampfhandlungen mit den Putschisten verwickeln zu lassen, weil er dadurch den Zusammenhalt seiner Verbände gefährdet sah. Er wird mit dem Ausspruch zitiert: »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr!«58 In der Folge musste die Reichsregierung unter Gustav Bauer die Flucht aus Berlin ergreifen und den Putschisten das Feld überlassen.

Als Reichskanzler ernannte Lüttwitz den rechtsextremen ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp. Dieser rief noch am gleichen Tag eine »neue Regierung der Ordnung, der Freiheit und der Tat« unter seiner Führung aus. Beide gehörten der Nationalen Vereinigung an, die im Oktober 1919 aus der Deutschen Vaterlandspartei hervorgegangen war. Ein weiteres Mitglied dieses republikfeindlichen Zusammenschlusses war Erich Ludendorff, der sich zwei Jahre später an einem erneuten Putschversuch mit Adolf Hitler beteiligen wird.59 Ziel dieses Sammelbeckens rechter Agitatoren war es, eine »Einheitsfront aller Nationalgesinnten« zu schaffen, wenngleich der dabei gewählte Kurs intern strittig war. Während sich der gemäßigtere Teil, zu dem General von Lüttwitz gehörte, vorstellen konnte, mit dem rechten Flügel der Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten, forderte Kapp einen echten Staatsstreich.60 Obwohl Kapp hierfür noch nicht bereit war, musste Lüttwitz wegen seiner erfolgten Absetzung losschlagen. Er rechnete zudem mit der Rückendeckung der frustrierten Truppenkommandeure.

Der schlecht vorbereitete und improvisierte Putsch scheiterte auf ganzer Linie. Bereits am 17. März trat Kapp zurück und flüchtete nach Schweden. Lüttwitz konnte kurze Zeit später davon überzeugt werden, den Putsch zu beenden. Den Putschisten fehlte die Unterstützung der Ministerialbürokratie und schließlich auch der Reichswehr. Außerdem folgten weite Teile der Bevölkerung einem von den sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern ausgerufenen Generalstreik der Gewerkschaften, der die öffentlichen Dienstleistungen zum großen Teil zum Erliegen brachte. Lüttwitz vermochte es zudem nicht, die gesamte norddeutsche Reichswehr hinter sich zu bringen, weil viele ihrer Generäle durch den Rechtsruck eine weitere Polarisierung und ein Erstarken der radikalen Linken befürchteten. Selbst Förderer der Nationalen Vereinigung aus der Industrie wandten sich von Lüttwitz ab, weil sie eine Rezession mit weitreichenden volkswirtschaftlichen Schäden befürchteten.61

Das durch den Putsch in Gang gesetzte Gewaltkarussell ließ sich durch seine Beendigung nicht mehr stoppen. Insbesondere im Ruhrgebiet bildete sich eine »Rote Armee«, die den Generalstreik zum Anlass nahm, um offen gegen die Republik zu revoltieren. Diese Revolte wurde von der Regierung brutal niedergeschlagen. In der Folgezeit kam es zu zahlreichen standrechtlichen Erschießungen und Gräueltaten. Nicht zuletzt, weil die sozialdemokratische Regierung über die Reichswehr hinaus auch gewaltbereite Freikorps einsetzte, die eben noch ihrerseits gegen die Republik revoltiert hatten. Feuer wurde mit Feuer bekämpft.62

4.2. Verfahren

Von den zahlreichen am Umsturzversuch Beteiligten wurden lediglich drei Personen angeklagt. Zum einen war dies der frühere Polizeipräsident Berlins (von 1909 bis 1916), Traugott von Jagow, der in Kapps »Regierung der Ordnung« als Innenminister agiert hatte. Als Polizeipräsident soll er seinerzeit die Anmeldung einer linken Demonstration mit der Bemerkung kommentiert haben: »Die Straße gehört dem Verkehr. Ich warne Neugierige.« Der Ausspruch wurde im Berlin der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zum geflügelten Wort. Daneben mussten sich der ehemalige Vorsitzende des Bundes der Landwirte und von Kapp als Landwirtschaftsminister vorgesehene Konrad von Wangenheim sowie Georg Wilhelm Schiele, der als Wirtschaftsminister auserkoren war, dem Gericht stellen.

Kapp selbst konnte sich zunächst mit einem gefälschten Pass nach Schweden absetzen. Nach dem Urteil gegen seinen Mitverschwörer von Jagow stellte er sich und wurde verhaftet. Er verstarb in der Haft noch vor dem Prozess an den Folgen einer Krebsoperation. Lüttwitz floh nach Ungarn und entzog sich dadurch einem Prozess. Seine Flucht hinderte ihn aber nicht daran, regelmäßig Reisen durch Deutschland zu unternehmen, Freunde zu besuchen und sich wegen seiner Tat bewundern zu lassen. Bei seiner Rückkehr im Jahr 1921 entging er gegen die Zahlung einer Kaution nicht nur einer Untersuchungshaft; er erstritt sich sogar seine Pension. Diese war ihm am Ende des Putsches von Eugen Schiffer, dem damaligen Reichsjustizminister, persönlich zugesichert worden.63 Ehrhardt und Ludendorff setzten sich nach Bayern ab. Die Marinebrigade Ehrhardt wurde im Anschluss an die Ereignisse sogar direkt gegen die linken Aufständischen im Ruhrgebiet eingesetzt.

Ein Grund für die geringe Zahl an Angeklagten war das Amnestiegesetz vom 4. August 1920, auch »Kapp-Amnestie« genannt.64