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Männer sind schwach, ängstlich, arm, reich stark, dick, dünn, gewalttätig, von Gewalt betroffen, friedlich, fürsorglich, queer, trans, cis, schwul, be*hindert, BIPoC und noch so vieles mehr. Gleichzeitig sind Männer oft verantwortlich für massive und gewalttätige Einschränkungen von allen sowie selbst eingeschränkt: im Wahrnehmen und Ausleben von Gefühlen, im Führen von intimen Beziehungen, in der Kreativität und im gemeinsamen liebevollen Miteinander. Der Unterschied zwischen der Vielfalt von Männern und den Konsequenzen ihres Verhaltens ist eng verbunden mit der Art und Weise, wie Männlichkeit gelebt wird. Diese ist erlernt und vom (Ver)Lernen handelt dieses Buch. Die Frage ist, wie Männlichkeit(en) aussehen können, die liebevoller, friedlicher und vielfältiger sind? Dazu braucht es eine kritische und vor allem praktische Auseinandersetzung mit Sexismus, Gewalt, Sexualität, Sensibilität und Vielfalt. Die Selbstreflexionsschritte im Buch sind sowohl für die Selbstfindung und -entfaltung hilfreich als auch für die Übernahme der Verantwortung für die eigenen Gefühle, Gedanken und Handlungen. Die Selbstreflexion ist nicht nur Selbstzweck, sondern es werden Wege gezeigt, wie der Männlichkeit auch im Umfeld begegnet werden kann. Das ist ein wichtiger Beitrag für eine friedlichere und vielfältigere Welt.
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Seitenzahl: 254
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dr. Daniel Holtermann ist Soziologe, Autor, Bildungsreferent und Coach. Themenschwerpunkte sind u.a. geschlechterreflektierte Pädagogik, kritische Männlichkeit, Gewaltprävention und fürsorgliche Männlichkeiten in der Pädagogik, Theorie und Praxis. Daniel beschäftigt seit Jahren mit der kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeiten und gibt seine Erfahrungen in Fortbildungen für diverse Zielgruppen und Veröffentlichungen weiter. Dabei geht es nicht nur um das kritische Hinterfragen, sondern darum, praktische Handlungsmöglichkeiten und Utopien zu entwickeln. Daniel Holtermann ist Mitherausgeber des Buches: Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern – Kritische Reflexionen von Männlichkeiten.
http://www.danielholtermann.de
Alexander Hahne (M.A. Medientechnik) ist Referent für Sexuelle Gesundheit mit dem Schwerpunkt trans und nicht-binäre Menschen, Sexualpädagoge (gsp), Sexological Bodyworker (ISB), Systemischer Sexualtherapeut (igst), Tänzer, trans und pleasure Aktivist. Mit seiner Arbeit leistet er für Erwachsene einen praxisbezogenen Beitrag zum Erleben des eigenen Körpers, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität sowie der Möglichkeit Zugänge zum lustvollen Potenzial freizulegen und auszuprobieren. Die körperpraktische sexuelle Bildung mit Erwachsenen steht dabei im Vordergrund. Ihm ist es eine Herzensangelegenheit sexuelle Lernprozesse zu begleiten und Räume zum Erleben zu öffnen und halten. Sich Zeit nehmen zum Spüren.
http://www.alexanderhahne.com und
https://www.instagram.com/alexander_hahne/
Daniel Holtermann, Alexander Hahne
Männlichkeit (ver)lernen
Anleitung zur Selbstverantwortung
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Daniel Holtermann, Alexander Hahne:
Männlichkeit (ver)lernen
1. Auflage, November 2024
eBook UNRAST Verlag, Dezember 2024
ISBN 978-3-95405-208-0
© UNRAST Verlag, Münster 2024
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Kapitel eins | Von Männern und Männlichkeit(en) – Eine Hinführung
Warum sich mit Männlichkeit auseinandersetzen?
Was ist Männlichkeit?
Wie weiter mit Männlichkeit?
Zielgruppe des Buches
Zur Entstehungsgeschichte des Buches
Aufbau des Buches
Männlichkeit ist veränderbar
Kapitel zwei | Selbstverantwortliches Lernen
Voraussetzungen zum Lernen
Selbstwahrnehmung
Lernzonenmodell
Widerstände beim Lernen
Kapitel drei | Männlichkeit
Übersicht
Was ist Männlichkeit?
Wie wird Männlichkeit (ver)lernt?
Reflexionsübungen zu Männlichkeit(en)
Privilegienreflexion
Kapitel vier | Geschlecht und vielfältige Männlichkeit(en)
Kurze Einführung zur geschlechtlichen Vielfalt
Alte und neue Männlichkeit(en)
Männlichkeit(en) in Männergruppen
Männer und ihr Verhältnis zum eigenen Körper
Männlichkeit(en) und der Windschatten emotionaler Nahbarkeit
Kapitel fünf | Sensibilität wagen
Männlichkeit und Emotionen
Externalisierung
Ursprünge der Externalisierung
Vier Wahrnehmungsebenen
Praktische Übungen
Ressorcenquellen
Selbstwertschätzung
Kapitel sechs | Beziehungen auf Augenhöhe
Bilder vom Gegenüber
Kommunikation
Beziehungen
Fürsorgearbeit
Körperkontakt
Aushandeln von Grenzen bei unterschiedlichen Meinungen
Das Ende von (Liebes-)Beziehungen?
Kapitel sieben | Wie lebst du Sexualität?
Was ist Sexualität eigentlich?
Die gesellschaftliche Prägung von Sexualität
Dein Bezug zu deinen Genitalien
Von der Selbstentdeckung zum Erleben und Teilen
Sexualität und Verantwortungsübernahme
Sexualität und Pannen
Sexualität und Männlichkeit
Kapitel acht | Gewalt, Betroffenheit und Verantwortung
Gewaltformen
Zum Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt
Verantwortungsübernahme
Wenn Männer von Gewalt betroffen sind
Hilfemöglichkeiten (eine Auswahl):
Kapitel neun | Wirken im Umfeld
Andere Beziehungen leben
Vom Privilegierten zum Verbündeten
Praktische Interventionen
Wirken für die Natur
Einsatz für übergeordnete Projekte
Kapitel zehn | Männlichkeit(en) und dein Weg dahin
Warum Utopien?
Utopische Männlichkeit(en) entwerfen
Individuelle Auseinandersetzung
In Gruppen mit Männlichkeit arbeiten
Abschließende Worte
Danksagung
Glossar
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Widmung
Für alle, die ihre Vielfalt leben, noch was vorhaben und die Welt zu einem liebevolleren Ort machen.
»Wir müssen die Neugierde auf Vielfalt immer erst kultivieren, weil wir erst lernen müssen, wie man sich einmal nicht schnellstmöglich orientiert, sondern langsam fühlt und denkt.«
Bettina Stangneth 2020: Sexkultur
Männer sind schwach, ängstlich, arm, reich stark, dick, dünn, gewalttätig, von Gewalt betroffen, friedlich, fürsorglich → queer[1], → cis, → trans, schwul, be*hindert[2], → BIPoC und noch so vieles mehr. Gleichzeitig sind Männer auch verantwortlich für massive und gewalttätige Einschränkungen von allen: Jeden dritten Tag geschieht in Deutschland ein → Femizid. Das heißt, eine Frau wird aufgrund ihres Geschlechtes umgebracht. Mindestens 143.000 Frauen haben 2021 Partnerschaftsgewalt erlebt und Betroffene bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind zu 92,4 % Frauen. 94,7 % der queeren Jugendlichen in Bayern haben Diskriminierung erlebt.[3]
Gewalt geht in den meisten Fällen von Männern aus und gleichzeitig sind sie ebenso eingeschränkt: im Wahrnehmen und Leben von Gefühlen, im Führen von intimen Beziehungen, in der Kreativität und positivem Miteinander. Selbst- und fremdschädigendes Verhalten gehören zum Alltag und führen u.a. zu einer 2022 mit 78,3 Jahren vier Jahren geringeren Lebenserwartung im Vergleich zu Frauen.[4] Der Unterschied zwischen der Vielfalt von Männern und den Konsequenzen ihres Verhaltens ist eng verbunden mit der Art und Weise, wie Männlichkeit gelebt wird. Diese ist aber erlernt und damit auch veränderbar. Davon handelt dieses Buch.
Männlichkeit, Weiblichkeit und queer sind soziale Geschlechter, die »im Sprechen und Handeln zugeschrieben [werden]« (Giese 2022:38). Männlichkeit ist keine biologische Tatsache, sondern bündelt Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen. Sie ist nicht das, was Männer sind (bspw. körperliche Merkmale oder Kleidung etc.), sondern Männlichkeit beschreibt die Verhaltensweisen, die erlernt werden. Nicht jeder Mann lebt diese Verhaltensweisen, aber viele erkennen sie an und richten sich nach diesen – mit den oben beschriebenen Konsequenzen.
Wir lernen bereits früh, was sich für Männer, Frauen oder queere Menschen gehört bzw. nicht gehört. Das geschieht durch die Reaktionen von Menschen auf unser Verhalten, aber auch durch Erziehungsberechtigte, Medien etc. Wenn die Verhaltensweisen einmal erlernt wurden, sind sie meistens eine Selbstverständlichkeit und werden nicht mehr hinterfragt. Männlichkeit oder Weiblichkeit spiegelt nicht die Vielfalt der Menschen wider, sondern eine enge ›Form‹ von wenigen Eigenschaften. Das kann dazu führen, dass sich Menschen mit dieser Form identifizieren anstatt mit der inneren Vielfalt. Dieser engen Form von Männlichkeit können nach David/Brannon (1976) vier Verhaltensweisen zugeordnet werden:
Sei nicht weiblich: Ablehnung, Abgrenzung und Abwertung von allem, was als weiblich, anders oder schwach gilt.
Sei eine große Nummer: Prahlen mit Erfolg, Macht und materiellem Reichtum.
Sei hart: Keine Emotionen zeigen und so tun, als ob du alles könntest und unverwundbar wärst.
Sei der Boss: Ausstrahlung von Aggressivität, Risiko- und Wettbewerbsfreude sowie Durchsetzungsfähigkeit.
Aus diesen Verhaltensweisen lassen sich für Männlichkeit zwei grundlegenden Prinzipien ableiten: Erstens, die Dominanz von Männlichkeiten untereinander. Diejenigen Männlichkeiten, die der gesellschaftlich akzeptiertesten Männlichkeit am nächsten stehen (z.B. die, die stark, → cis, weiß, souverän und aggressiv sind) stehen über denen, die dem weniger entsprechen (z.B. die, die sensibel, empathisch, liebevoll oder schwul sind). Raewyn Connell (2011) nennt die gesellschaftlich akzeptierteste Form der Männlichkeit → »hegemoniale Männlichkeit«.[5] Zweitens die Unterordnung von Frauen und anderen Geschlechtern unter Männlichkeit. Die Abwertung von Menschen aufgrund des Geschlechts wird als (cis) Sexismus bezeichnet. Darin zeigt sich, wie menschenfeindlich und einengend Männlichkeit in dieser Form ist. In der Konkurrenz untereinander und zu anderen dreht sich Männlichkeit stets um sich selbst. Daraus resultierende negative Konsequenzen für die Personen, die diese Männlichkeit leben oder von dieser betroffen sind, spielen keine Rolle oder werden nicht wahrgenommen.
Bei Männlichkeit geht es nicht darum, wer du bist, sondern inwieweit du die geschlechtlichen Verhaltensmuster erfüllst oder nicht. Je besser du diese erfüllst, desto mehr wirst du von der Gesellschaft und den anderen anerkannt. Wenn Männlichkeit als ein Set von Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen verstanden wird, ist sie dabei nicht an das körperliche Geschlecht gebunden. Sie kann z.B. auch von nicht-binären, queeren Menschen und Frauen gelebt werden.
Eigentlich gibt es viele Formen von Männlichkeit, also Männlichkeiten. Doch wir leben in einer Gesellschaft, die größtenteils von der einen Männlichkeit strukturiert und geprägt ist. Konkurrenz und Wettbewerb sind die zentralen Bausteine unserer Gesellschaften. Allem, was als männlich gilt, wird mehr Wert zugeschrieben als dem, was als weiblich oder queer gilt. Diese Art der männlichen Herrschaft wird → Patriarchat genannt. Ein einfaches Beispiel dafür sind die bekannten großen internationalen Ereignisse wie die Olympischen Spiele, Fußballmeisterschaften oder der Eurovision Song Contest. Alle basieren auf dem Prinzip Konkurrenz, am Ende gewinnt eine Person oder Gruppe. Es geht vordergründig nicht darum, etwas gemeinsam zu erreichen, zu erbauen oder zu kreieren, sondern um das Gewinnen von Einzelnen. Gleichzeitig verlieren alle anderen. Im Hintergrund des Geschehens müssen eine Menge Menschen zusammenarbeiten, um diese Veranstaltungen zu organisieren und durchzuführen. Diese stehen aber nicht im Vordergrund und werden selten bis gar nicht erwähnt. Das Prinzip der Konkurrenz ist zentral im Kapitalismus. Es geht darum, in kürzester Zeit den größten Gewinn zu erwirtschaften und im Zuge dessen werden alle andere zu Konkurrent*innen. Folgen der schonungslosen Konkurrenz und des Durchsetzungswillens sind z.B. Eskalationsspiralen in Konflikten, die zu Kriegen führen, oder die Ausbeutung der Natur als ›natürliche‹ Ressource.
»Wenn wir an den bestehenden traditionellen Bildern von Männlichkeit festhalten, werden wir uns selbst nicht gerecht, unserer Vielseitigkeit, unserer Diversität, unserer Komplexität und unserer Veränderbarkeit. […] Während die Welt sich unvermeidlich weiterentwickelt, stehen Männer still oder greifen sogar auf Vergangenes zurück. Das kann nicht gut gehen […].« (Van Tricht 2019:134)
Im Umgang mit Männlichkeit braucht es neben Utopien konkrete Wege, die zur Veränderung und Verbesserung führen. Selbstbewusste für sich selbst eintretende Frauen waren für die Emanzipationsbewegung von weiblichen Geschlechterstereotypen wichtige Leitlinien/Vorbilder. Eine Auseinandersetzung mit den ein- und beschränkenden männlichen Geschlechterstereotypen gibt es immer wieder in Ansätzen, sie haben sich aber nur an wenigen Stellen etablieren können. Langsam tauchen vielfältige Bilder von Männlichkeit auf, z.B. queere Männer, die alternative Männlichkeit leben. Trotzdem hat die ›alte hegemoniale‹ Männlichkeit weiterhin Bestand und vielfältige Männlichkeiten werden abgewertet oder bekämpft. Dies geschieht vor allem durch jene Männer, die Männlichkeit selbst leben.
Braucht es überhaupt das Bild von einer Männlichkeit? Nein, denn diese vermeintliche Eindeutigkeit ist genau das Problem. Viele Bilder von Männlichkeiten sind nötig, die in sich auch widersprüchlich sein können. Genau wie es Menschen auch sind. Bestandteil von Männlichkeiten im Plural wären unter anderem die kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Patriarchat sowie Fürsorglichkeit, Gleichberechtigung, Vielfalt und Sensibilität. In diesem Buch wird zwischen ›Männlichkeit und Männlichkeiten‹ sowie ›Männlichkeit(en)‹ unterschieden. ›Männlichkeit und Männlichkeiten‹ stehen für die einengende und gewalttätige hegemoniale Männlichkeit. Männlichkeit(en) mit ›en‹ in Klammern hingegen basiert nicht auf → Hegemonie, Konkurrenz und Dominanz. Sie beschreiben ein Leben von Männlichkeit(en), dass die individuelle Vielfalt nicht einschränkt, sondern diese bei sich selbst und anderen anerkennt. Sie schließen nicht nur cis und trans mit ein, sondern Vielfalt an sich. Auch die vielfältigen Männlichkeit(en) können gewalttätig oder abwertend sein, aber im Unterschied zu Männlichkeit sind das nicht grundlegende und unhinterfragte Verhaltensweisen. Männlichkeit(en) setzen sich bewusst und kritisch mit Männlichkeit auseinander. Wenn im weiteren Verlauf des Buches von Männern gesprochen wird, meinen wir nicht Männer an sich, sondern die hegemoniale Männlichkeit, die Männer sich angeeignet haben, ohne sie zu reflektieren. Um das auch sprachlich deutlich zu machen, nutzen wir die kursive Schreibart ›Männer‹ bzw. ›Mann‹. Wenn ›Männer‹ nicht kursiv genutzt wird, sind alle Menschen gemeint, die männlich leben. Mit dem Begriff Männlichkeit(en) soll der Prozesscharakter der Auseinandersetzung mit Männlichkeit und dem Leben von Männlichkeit(en) deutlich gemacht werden. Dieser Reflexionsprozess sollte selbstverantwortlich sein und andere Menschen sowie die Gesellschaft berücksichtigen. Ziel ist die Selbstverantwortungsübernahme für das Leben von Männlichkeit(en). Denn manche Männer haben leider die Erwartung, dass sie von (zumeist professionellen) Außenstehenden Hinweise und Erklärungen bekommen, wie sie sich mit sich selbst auseinanderzusetzen haben und wer sie sein sollen. Viele denken auch, dass ein Nachdenken über Männlichkeit bereits ausreicht. Tatsächlich benötigt eine Auseinandersetzung mit Männlichkeit jedoch vor allem eine sehr persönliche und oft langandauernde Auseinandersetzung mit den eigenen ›männlichen‹ Verhaltens- und Denkmustern. Diese wurden zumeist über Jahrzehnte erlernt und sind oft in die Selbstverständlichkeit übergegangen: »Das habe ich immer schon so gemacht«, »Das war ja immer so« oder »Männer und Jugendliche sind halt so« sind in diesem Zusammenhang typische Aussprüche. Selbstverantwortung heißt, sich mit diesen Mustern auseinanderzusetzen und nicht das Gelernte automatisch zu reproduzieren, sondern sich bewusst zu entscheiden, ob und wie die eigenen Männlichkeit(en) gelebt werden wollen. Damit gibt es nicht das eine Bild von Männlichkeit, sondern die vielen, die nicht weiter das Patriarchat stützen. Denn sie sind sich der Konsequenzen von Männlichkeit auf ihr Umfeld bewusst und suchen aktiv nach anderen Möglichkeiten. Eine kleine Gedankenreise kann verdeutlichen, was es heißen würde, wenn sich Männlichkeit zu Männlichkeit(en) entwickeln würde: Wie wäre es, wenn wir in einer Welt leben würden, in der alle Männer sich um 5 bis 10 % liebevoller, freundlicher und sensibler verhalten würden? In der sie Verantwortung für sich und andere übernehmen und eigene vielfältige Ausdrucksweisen ihrer Männlichkeit(en) finden. Was wäre an dieser Welt anders? Wie würde sich das anfühlen, in so einer Welt zu leben? Damit die beschriebene Utopie Wirklichkeit werden kann, haben wir zur Auseinandersetzung mit Männlichkeit(en) die Form eines Selbstreflexionsbuches gewählt.
Männlichkeit(en) sollten von allen in unterschiedlichster Art und Weise gelebt werden können und Geschlecht keinen Einfluss mehr auf die Lebenschancen haben. Derzeit ist es noch so, dass Männer mit der Geburt → Privilegien bekommen. Wie wäre es, wenn wir alle unabhängig von Geschlecht gleich wären und keine*r Privilegien hätte? Dazu müsste die Ungleichheit durch die Privilegienverteilung aufhören. Wie das funktionieren kann, ist ein Teil unseres Buches zu selbstverantwortlichen Männlichkeit(en). Neben dem stehen praktische Selbsterfahrungsübungen im Fokus. Das Buch bietet Ideen und Methoden, wie die Auseinandersetzung mit Männlichkeit aussehen kann. Dazu werden praxisnah theoretische Grundlagen der geschlechtlichen Sozialisation erläutert, um anschließend die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst zu üben.
Dieses Buch ist vor allem für cis und trans Männer gedacht. Also Männer, die bei der Geburt nicht als männlich eingeordnet wurden (trans Männer), aber auch solche, die bei der Geburt als männlich eingeordnet wurden (cis Männer). Ebenso ist das Buch für alle interessant, die sich mit Männlichkeit auseinandersetzen wollen: Das könnte z.B. ein junger Mensch sein, der als cis Junge aufgewachsen ist, jetzt nicht-binär lebt und sich mit der erlernten Männlichkeit auseinandersetzen will. Aber auch ein trans Mann, der gerne seine (schwule) Männlichkeit(en) leben möchte, findet im Buch Ansätze. Mit Hilfe dieses Buches können sich auch cis und trans Frauen mit Männlichkeit auseinandersetzen. Es gäbe noch sehr viele → intersektionale Perspektiven mehr, z.B. Männer mit Migrationsgeschichte und/oder mit Be*hinderung, die eine Berücksichtigung verdient hätten. Der Fokus des Buches liegt aber vor allem auf der Auseinandersetzung mit Männlichkeit(en) und sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.
Es gibt mittlerweile zahlreiche Ansätze, die sich mit dem Thema Männlichkeit beschäftigen. Es mangelt jedoch, wie uns durch unsere persönlichen Erfahrungen wie auch unsere Fortbildungen bewusst geworden ist, an praktischen Ideen und Utopien. Die kritische Männlichkeitsforschung ist zwar durchaus hilfreich, wenn es um die kritischen Aspekte der Männlichkeit geht, aber es gibt leider nur wenige Ideen, wohin sich Männlichkeit positiv entwickeln könnte. Cis Männer müssen sich ändern, aber wenn sie nur ihre Männlichkeit kritisch reflektieren, reicht das nicht aus. Was kommt nach der Auseinandersetzung bzw. welche Richtung hat sie? Die Beschäftigung mit sich selbst ist wichtig, sollte aber nicht nur Selbstzweck sein, sondern eben auch eine Wirkung auf das Umfeld haben. Folglich müssen cis Männer auch eine Zielrichtung bzw. Utopie entwickeln.
Für trans Männer, die Männlichkeit(en) leben, stellt sich die Situation anders dar. Da wären trans männliche Rollenvorbilder hilfreich. Ein Grund für die Transition von trans Männern ist die Wegentwicklung oder Ablehnung der eigenen Weiblichkeit. Wenn trans Männer nach der → Transition für ihre Männlichkeit(en) abgewertet werden, bleibt die geschlechtliche Abwertungsspirale bestehen, auch wenn es eine Hinwendung zu Männlichkeit(en) gegeben hat. Schwule Männer werden von der Gesellschaft und den meisten heterosexuellen Männer ausgegrenzt und müssen sich einen positiven Bezug zu ihrer Männlichkeit(en) erarbeiten.[6] Schwule trans Männer stehen vor beiden Herausforderungen. An den Beispielen zeigt sich, dass es Männer gibt, die Männlichkeit abschaffen wollen, und andere, die gerne Männlichkeit(en) leben wollen. Um der Komplexität der Anfragen zu Männlichkeit(en) gerecht zu werden, liegt unser Fokus auf jenen Mechanismen von Männlichkeit, die Hegemonie, Dominanz und Gewalt erzeugen. Im Idealfall sollten Menschen Männlichkeit(en) leben können, die auf Vielfalt und Gleichberechtigung beruhen. Das bedarf zuvor aber einer Auseinandersetzung mit Männlichkeit und Patriarchat.
Die Rückmeldungen zum Sammelband Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern – Kritische Reflexionen von Männlichkeiten haben uns gezeigt, dass es neben den Erfahrungsberichten praktische Herangehensweisen braucht. Entsprechend bieten wir eine Handlungsanleitung für den individuellen Auseinandersetzungsprozess.
Das Buch hat zehn Kapitel. Im zweiten Kapitel wird selbstverantwortliches Lernen eingeführt. Es geht darum, wie du ein Gespür für deinen eigenen Lernstil entwickelt kannst und wann es überhaupt möglich ist zu lernen und wann nicht. Die Funktionsweise von Männlichkeit ist Inhalt des dritten Kapitels. Dazu werden die Theorien der hegemonialen Männlichkeit, die ernsten Spiele des Wettbewerbs und die Externalisierung beschrieben. Außerdem wird der Begriff der Männlichkeit(en) noch einmal genauer erläutert. Deine eigene Biografie und deine männlichen Privilegien sind Teile dieser Reflexionsübungen. Im vierten Kapitel sind Männlichkeit(en) und geschlechtliche und sexuelle Vielfalt Thema. Dort werden die vier Geschlechtsdimensionen biologisches, soziales, psychischen Geschlecht und sexuelle und romantische Orientierung erläutert. Das Einlassen auf Sensibilität und damit auf Fühlen und Wahrnehmen ist Thema des fünften Kapitels.
Gleichberechtigte Beziehungen werden im sechsten Kapitel beschrieben, inklusive Verhandlungsmethoden und Verteilung von Fürsorgearbeit. Anschließend folgt das siebte Kapitel zum Thema ›Wie lebst du Sexualität‹. In welcher Rolle und Verantwortung siehst du dich selbst und dein erotisches Gegenüber? Themen sind Masturbation, der Bezug zur eigenen Lust und konsensuelle Sexualität.[7] Das achte Kapitel fokussiert Gewalt. Dazu werden verschiedene Gewaltformen definiert, die Verantwortungsübernahme bei Gewaltausübung in den Fokus genommen sowie die Betroffenheit von Gewalt thematisiert. Im neunten Kapitel beleuchten wir die Möglichkeiten, die du mit deinem Wirken auf dein Umfeld hast. Erläutert werden sowohl das Konzept der Verbündetenschaft als auch Handlungsmöglichkeiten bei übergriffigem Verhalten in deinem Umfeld. Das zehnte Kapitel ist deiner Utopie von Männlichkeit(en) und dem Weg dahin gewidmet. Das Buch schließt mit einem Glossar der wichtigsten Begriffe sowie dem Literaturverzeichnis.
Das heißt, jede Person kann im Rahmen der eigenen Möglichkeiten versuchen, Männlichkeit nicht mehr zu leben bzw. Männlichkeit(en) zu leben. Dies sollte in einer Art und Weise geschehen, die nicht auf Dominanz und Abwertung beruht, sondern auf Gleichberechtigung, Achtung von Vielfalt und Fürsorge für sich und andere. Wir können die Umstände um uns herum kaum beeinflussen oder kontrollieren, aber wir können uns entscheiden, wie wir auf sie reagieren und was wir aus ihnen machen (vgl. Choudhury 2017:13). Das bedeutet für dich, Selbstverantwortung für deine Handlungen, deine Haltungen, deine Gedanken und Gefühle zu übernehmen.
Jeder Mensch, der die Selbstverantwortung lebt, kann ein Teil der Veränderung in Richtung einer gleichberechtigteren Welt ohne Diskriminierung sein.
Wir freuen uns, wenn du dich auf das Buch einlässt und den kommenden Lernprozessen und den damit verbundenen Irritationen mit Neugierde begegnest. Wenn du magst, lass dich irritieren.
Wir wünschen dir viel Spaß beim Entdecken, Verlernen und Neulernen.
Daniel Holtermann und Alexander Hahne
Flensburg und Hamburg, Herbst 2024
Doppe, Blu/Holtermann, Daniel (2021): Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern – Kritische Reflexionen von Männlichkeiten. 2. Aufl. Münster: Unrast Verlag
Giese, Linus (2022): unlearn gender, In: Jaspers, Lisa/Ryland, Naomi/Horch Silvie: Unlearn Patriachy. Berlin Ullstein Buchverlage
Bola, JJ (2020): Sei kein Mann – Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist. München: hanserblau Verlag
Van Tricht, Jens (2019): Warum Feminismus gut für Männer ist. Berlin: Ch. Links Verlag
Bevor inhaltlich der Fokus auf das Thema ›Männlichkeit (ver)lernen‹ gelegt wird, ist ein Exkurs zum Lernen an sich vonnöten.
Im Leben lernen wir die ganze Zeit: Kochen, lesen, schreiben, gehen, sprechen – das haben wir alles irgendwann einmal gelernt. Und zumeist ist das unbewusst geschehen.
Ein wichtiger Bestandteil des (Ver)Lernens und (Neu)Lernens ist daher die Irritation von Bekanntem. Diesen Irritationen sollte man mit Neugierde begegnen und sich nicht von Frustration oder Wut ablenken lassen. Denn letztlich geht es ja darum, die Selbstverantwortung für den eigenen (Lern-)Prozess und die Emotionen, die darin auftauchen, zu übernehmen. Insbesondere wenn zu Männlichkeit(en) gelernt wird, ist es wichtig, sich diesen Prozess bewusst zu machen. Selbstverantwortliches Lernen heißt aber auch, die Verantwortung dafür zu übernehmen, in welchem Rahmen das Lernen stattfindet, welche Richtung es einschlägt und welches Ziel es hat. Voraussetzungen für das Lernen sind also erstens die Klärung der Motivation, zweitens die Anerkennung des Ist-Zustandes, drittens die Formulierung von Zielvorstellungen und viertens ein positives Lernklima. Um diese einzelnen Faktoren auf unsere Thematik anzuwenden, haben wir einige Reflexionsfragen für dich zusammengestellt:
Motivation
: Warum willst du dich eigentlich mit Männlichkeit(en) auseinandersetzen? Was ist deine Motivation: Hast du einen Leidensdruck, weil du die Auswirkungen von Männlichkeit auf andere und dich siehst? Ist es dir nicht möglich, deine Vielfalt zu leben? Was könntest du mehr an Positivem durch deine Veränderung in die Welt bringen? Denkst du, dass du dich verändern musst, um anderen zu gefallen? Für wen oder was lernst du?
Ist-Zustand
: Wie lebst du deine Männlichkeit(en) gerade? Was schätzt du an deiner Lebensweise von Männlichkeit(en), was siehst du kritisch? Was ist für dich in der Auseinandersetzung herausfordernd und was macht dir dabei Angst? Was fällt dir leicht?
Wünsche
: In welche Richtung möchtest du deine Männlichkeit(en) entwickeln, welche Anteile möchtest du stärken, welche schwächen und mit welchen bist du bereits zufrieden? Welche männliche Lebensweise möchtest du leben? Oder möchtest du gar keine Männlichkeit mehr leben? Das zehnte Kapitel widmet sich noch einmal genauer dem Thema Utopie.
Lernklima
: Lernst du alleine oder lieber mit anderen in einer Gruppe? Brauchst du eher Konfrontation zum Lernen oder erschreckt dich das zu stark? Was ist dein Tempo und wie viel Zeit brauchst du zum Verarbeiten von Neuem? Wann lernst du viel, wann kannst du nicht lernen? Wie gehst du mit den Widerständen um? Von wem möchtest du lernen, von wem nicht? Was ist für dich eine gute Lernumgebung?
Für die Beschäftigung mit Männlichkeit(en) ist die Selbstwahrnehmung zentral, denn über Männlichkeit wird die Sensibilität verlernt. Entsprechend ist es wichtig, diese wieder zu erlernen und zu verfeinern. Die Selbstwahrnehmung z.B. deines Körpers, deiner Emotionen, deiner Gedanken und deines Verhaltens. Die Selbstwahrnehmung kann auch mit Achtsamkeit dir selbst gegenüber beschrieben werden:
»Achtsamkeit bedeutet erstens eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist zweitens auf den jeweils gegenwärtigen Moment gerichtet, auf den Fluss des Erlebens, der sich ständig in seinem Lauf verändert. Achtsamkeit ist drittens charakterisiert durch eine Akzeptanz des Erlebens, ohne zu urteilen, zu kritisieren oder etwas anders haben zu wollen. Viertens: Ein ›Innerer Beobachter‹ wird kultiviert, der durch teilnehmendes Beobachten Abstand zu Beobachteten schafft und es ermöglicht, aus Identifikationen herauszutreten und so eigenständiger zu handeln.« (Luthmann 2018: 404)
Im Verlaufe des Buches werden wir immer wieder anregen, in die Selbstwahrnehmung zu gehen. Um das zu üben, ist im Folgenden eine Selbstwahrnehmungsübung beschrieben. Diese kannst du immer wiederholen, bevor oder nachdem du im Buch gelesen hast.
Selbstwahrnehmungsübung
Für die Übung brauchst du einen ruhigen Ort und einen Stift und Zettel/Notizbuch. Die Übung dauert ca. 10 Minuten.
Wenn es für dich stimmig ist, kannst du später die Augen schließen, um nicht visuell abgelenkt zu sein. Beginne damit, deine Aufmerksamkeit von außen auf dich und deinen Körper zu richten:
In welcher Position/Körperhaltung befindest du dich gerade?Sitzt du, liegst du oder stehst du?Welche deiner Körperteile berühren den Boden?Nimm dir 3 Minuten Zeit, dir deine Position/Körperhaltung zu verdeutlichen und in dich hineinzuspüren. Dabei gibt es kein richtig und falsch, beobachte einfach nur das, was gerade subjektiv in dir vorgeht.
Was nimmst du jetzt gerade in deinem Körper wahr?Wo bist du angespannt, wo bist du entspannt?Was fühlt sich gut an, was nicht?Beobachte deine Atmung. Was bewegt sich alles in deinem Körper, wenn du atmest?Beende deine Selbstbeobachtung und richte deinen Fokus wieder auf das Außen, öffne in Ruhe deine Augen. Nimm dir Notizbuch und Stift und schreibe deine Erkenntnisse auf.
Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie entspannt/präsent/müde fühlst du dich gerade?Woran machst du das fest? (Atmung, Stimme/Sprechen, Spannung im Körper?)Was müsste sich ändern, damit diese(s) Gefühl(e) um einen Punkt auf der Skala steigen oder sinken würde(n)? Kannst du eine dieser Änderungen bereits jetzt umsetzen?Falls du die Übung wiederholen willst, kannst du z.B. auch tanzen oder eine andere körperliche Bewegung machen, anstatt zu sitzen. Alternativ zum Aufschreiben deiner Erkenntnisse könntest du auch malen oder eine andere Ausdrucksform finden, die für dich geeignet ist.
Der Selbstwahrnehmung solltest du mehrmals am Tag deine Aufmerksamkeit schenken. Sie ist wie ein Training, bei dem es gilt, immer wieder zu schauen, was du gerade spürst und was dich beschäftigt. Das steht natürlich in Widerspruch zu dem, was normalerweise in unserer Gesellschaft gefordert wird: Leistung und Produktivität.
»Sich achtsam der eigenen Wahrnehmung und Selbstbeobachtung zuzuwenden, braucht Zeit, Muße und freundliche Disziplin. Wer aus dem Hamsterrad von automatischer Aktivität und Reaktion heraustreten will, benötigt Freiräume. […] geschehen lassen können, dass Phasen von Aktivität und Pausen einander bedingen, fällt heute vielen von uns schwer. Wir denken, wir wären leistungsfähiger und damit sozial akzeptierter, wenn wir unsere vitalen Bedürfnisse zurückstellen, unsere Kräfte ausbeuten und über unsere Grenzen gehen.« (Rytz 2010:32)
Für einen verantwortlichen Umgang mit deinem Lernen ist die Selbstwahrnehmung äußerst hilfreich. Sie lässt dich einschätzen, ob du gerade noch aufnahmefähig bist oder bereits überfordert. Für die Bestimmung deines aktuellen Standpunktes innerhalb des Lernprozesses kann man das Lernzonenmodell[8] anwenden. Das Modell unterscheidet zwischen drei Zonen: Komfortzone, Lernzone und Überforderungszone In den drei Zonen, die im Folgenden beschrieben werden, ist Lernen unterschiedlich gut möglich. Wenn du dir bewusst bist, in welcher der Zonen du dich gerade befindest, kannst du agieren und für deine bestmögliche Lernumgebung sorgen. Auch ein Wechsel zwischen den Zonen ist möglich. Du kannst dich aus der Komfortzone heraus in die Lernzone bewegen und wieder zurück. Du kannst aber die Überforderungszone in Richtung Komfortzone verlassen – oder die umgekehrte Richtung einschlagen.
Komfortzone
Wenn du in der Komfortzone bist, ist das Leben bequem und routiniert für dich. Es herrscht oftmals ein Gefühl des Zuhause-Seins. Die meisten Abläufe sind bekannt und du bist in der Regel entspannt. Du erwartest keine großen Überraschungen und in dieser Zone passiert auch tatsächlich nicht allzu viel. Hier ist eher Auftanken, Verarbeiten und Erholen angesagt. Der Nachteil ist, dass in dieser Zone kaum Lernprozesse stattfinden, da vieles schon bekannt ist. Die persönliche Entwicklung stagniert.
Dass du dich in deiner Komfortzone aufhältst, merkst du wahrscheinlich daran, dass vieles den gewohnten Gang geht und nichts Anstrengung erfordert oder deiner Aufmerksamkeit bedarf.
Lernzone
Du gerätst in die Lernzone, wenn du dich in ein dir fremdes Umfeld begibst, das kann z.B. eine Reise sein, eine Fort- oder Ausbildung, eine neue Beziehung u.v.m. In dieser Zone ist vieles neu und du bist im positiven Sinne irritiert. Deine Handlungsmuster funktionieren nicht mehr und beim Lernen geht es über das Bekannte hinaus. Das, was hier passiert, ist unbekanntes Terrain, Räume, die Neues bieten. Doch obwohl vieles unbekannt und manchmal auch irritierend ist, kannst du noch auf gewohnte Verarbeitungsstrategien zurückgreifen. Daher ist es in dieser Zone möglich, viel zu lernen, und die Wahrscheinlichkeit auch recht hoch, dass ein gutes Lernklima herrscht. Du bist bei dir und kannst dich mit den Eindrücken beschäftigen, auseinandersetzen und mit ihnen umgehen. Du hast dich aus der Komfortzone herausbewegt, bist aber noch nicht in der Überforderungszone. Deine Ressourcen reichen aus, um die anstehenden Lernprozesse anzugehen.
Dass du in der Lernzone bist, merkst du wahrscheinlich daran, dass du die neuen Eindrücke und Impulse gut verarbeiten kannst. Du bist vielleicht irritiert, aber du hast die Kapazitäten und die Motivation, um damit umzugehen. Du kannst aber auch jederzeit beschließen, wieder in die Komfortzone zurückzugehen.
Überforderungszone
In dieser Zone ist es kaum noch möglich zu lernen. Du bist mit den Eindrücken, die auf dich einprasseln, überfordert, es ist einfach zu viel. Vielleicht bist du gerade überreizt oder getriggert, vielleicht hast du schlecht oder gar nicht geschlafen oder bist sehr hungrig, vielleicht wirst du gerade aber auch permanent kritisiert oder deine Person generell infrage gestellt, vielleicht befindest du dich in einer Trauerphase oder deine Existenz ist in irgendeiner Art und Weise bedroht – jedenfalls bist du überfordert und es ist dir kaum noch möglich zu lernen.
Du merkst, dass du in dieser Zone bist, weil es dir nicht gut geht. Du bist überfordert, es ist zu laut oder zu dumpf, du weißt nicht mehr, wo deine Mitte ist, und bist weniger oder nicht mehr körperlich präsent.
Abbildung 1: Lernzonenmodell
Reflexionsübung zum Lernzonenmodell:
Um zu wissen, wie du gut von der einen Lernzone in die andere kommen kannst, haben wir dir einige Reflexionsfragen zusammengestellt. Am besten wäre es, wenn du dir einen Stift holst und deine Erkenntnisse für dich notierst:
Überlege dir Beispielsituationen, die für dich die drei Zonen repräsentieren. Wie fühlst du dich jeweils in den drei Zonen? Wie ist es, in der Komfortzone zu sein? Wie ist es, in der Lernzone zu sein? Wie fühlt es sich an, in der Überforderungszone zu sein? An welchen Symptomen kannst du diese Gefühle bei dir festmachen?Was kannst du tun, um aus der Überforderungszone wieder in die Lern- oder Komfortzone zu kommen? Welche Möglichkeiten fallen dir ein und sind diese realistisch? Überlege dir fünf verschiedene Methoden, mit denen du für dich zu sorgen kannst. Die Methoden sollten möglichst leicht und schnell anwendbar sein (z.B. auf den Atem achten oder ähnliches).Was kannst du tun, um aus der Komfortzone herauszukommen? Wie kannst du dich selbst überraschen und offen für Neues sein und über das Gewohnte hinausgehen? Wie sieht dein Experimentierraum aus? Willst du überhaupt lernen? Woher weißt du, dass du offen für Lernen bist? Wie kannst du deinen eigenen Lernprozess unterstützen? Wie gehst du mit Irritationen um? Wie kannst du dich bei dem Versuch, mit deiner Unsicherheit umzugehen, unterstützen? Erinnere dich immer daran: Auch der Versuch ist wertvoll und wichtig.Grundlage für das Lernen ist die Akzeptanz für dich. Dazu gehört, Verantwortung für dich zu übernehmen, aber auch Wertschätzung für das, was beim Lernprozess womöglich an die Oberfläche kommt. Je näher du einer Grenze kommst, desto größer kann die Angst werden. Oft setzen dann gewohnte Abwehrmechanismen ein und du versuchst, der Angst aus dem Weg zu gehen, zum Beispiel indem du wütend wirst, lachst oder intellektualisierst. Stelle dir daher ehrlich die Fragen: Kannst du dich auf den Lernprozess und die Widerstände und Emotionen, die auftauchen, einlassen? Mit welchen Verhaltensmustern lenkst du dich ab? Wie kannst du dein Selbstvertrauen stärken, um mit Unsicherheit produktiv umgehen zu können?Beim Verlernen, Neu-Lernen oder Erlernen von Männlichkeit(en) können verschiedene Widerstände auftauchen. Geschlecht ist ein zentrales Identifikationsmerkmal für viele Menschen und die Verhaltensweisen, die mit der Zuteilung zu einem Geschlecht vermittelt und gelernt werden, sind für die allermeisten selbstverständlich. Wenn diese Ordnung hinterfragt wird – von dir selbst oder anderen – führt das oft zu Widerständen. Denn ein gängiges, der Männlichkeit zugeschriebenes Merkmal ist ja die Souveränität, die per (Selbst-)Definition gerade nicht hinterfragt werden darf. Konkrete Beispiel dafür gibt es zu genüge, wir wollen zur Veranschaulichung hier nur kurz auf den Komplex Beziehungsarbeit verweisen:[9]Männer