Marathon in den Tod - Engelbert Gottschalk - E-Book

Marathon in den Tod E-Book

Engelbert Gottschalk

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Beschreibung

Der Speditionsunternehmer Noel Kaminski reist mit einer Gruppe von Langstreckenläufern in den Kaukasus, um sich durch Höhentraining auf den Marathon in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, vorzubereiten. Am zweiten Übungstag wird einer der Läufer überfallen und ermordet. Sein Torso wird vor einem kaukasischen Wehrturm im höchst gelegenen Dorf Europas aufgefunden. Kurz darauf wird Noels Ehefrau bei einer Wanderung im Hochgebirge von einem Bären angefallen. Zwei Morde an den Teammitgliedern folgen. Noel nimmt eigene Ermittlungen auf, wodurch er ins Visier einer Mafia-Organisation gerät, die eine Blutspur durch Osteuropa zieht. Verfolgt von einem Auftragskiller läuft er tagelang mit seinem Freund ums Leben und flieht aus dem Kaukasus. In einem Flüchtlingsboot überqueren sie das Schwarze Meer. Doch die Schergen der Mafia sind ihren auf der Spur. Im Donaudelta überfallen sie den Freund und massakrieren ihn. Noel entkommt und irrt mit Bussen, Pferdewagen sowie einen seiner Trucks durch Osteuropa. Es gelingt ihm, sich bis nach Deutschland durchzuschlagen. Zu Hause erwartet ihn ein Inferno: Ein Feuerwerk aus Haas, Rachsucht, Machtgier und Eifersucht brennt ab. Am Ende der Geschichte wird deutlich, welche Werte im Leben zählen.

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Engelbert Gottschalk,1963 in Moers geboren, wuchs in Krefeld auf. Nach dem Abitur führte ihn das Studium in die Römerstadt Trier und nach Frankfurt a. M., wo er sich mit Fragen der Stadtentwicklung sowie der Raum- und Regionalplanung auseinandersetzte. Heute wohnt und arbeitet er gemeinsam mit seiner Ehefrau in Düsseldorf. Zahlreiche Reisen führten ihn u. a. nach Osteuropa, wo er die Locations für den vorliegenden Roman vorfand. Er kennt alle in der Erzählung beschriebenen Orte aus eigener Anschauung. Seine Erzählung "Die Friedhofswärterin" ist im November 2018 im Rahmen der Anthologie "Versteckt liegende Friedhöfe und ihre Geheimnisse" bei Shadodex, Verlag der Schatten, erschienen. Ein Monat später kam die Geschichte "Liebe 2.0" in der Anthologie "Vollkommenheit" beim Hybrid Verlag auf den Markt. Weitere Veröffentlichungen u. a. im Kurzgeschichtenband von Elke Bockamp (Op de Dam) sowie die Story zweier pubertierender Jugendlicher bei Kindle ("Angst"). Im November 2019 wurde die Anthologie "Zartbitter, Geschichten von Nachtschwärmern, Traumtänzern und Pechvögeln" bei BoD veröffentlicht, im April 2020 die Fantasy-Novelle "Der Apfel des Todes". Die letzte Veröffentlichung "Hartbitter, Geschichten von Phantasten, Vorkämpfern und Glückssuchern" datiert von November 2020.

Inhaltsverzeichnis

Hexenkessel

Startvorbereitungen

Startschuss

Versorgungsstation

Hypoxietraining

Disharmonie

Überforderung

Atemnot

Unfairness

Verdrängung

Außenseiter

Lockdown

Anflug von Panik

Ernüchterung

Durchhänger

Mentales Training

Ultralauf

Selbstzweifel

Verfolgerfeld

Konkurrenten

Siegerehrung

Adrenalinschub

Rekonvaleszenz

Brechreize

Auf der Zielgeraden

Entscheidung

Zusammenbruch

After Run

Comeback

Hexenkessel

Der Dieselmotor geriet ins Stocken, die Kraft, die ihn 310.000 Kilometer weit getragen hatte, versiegte.

Das Ächzen der Zylinderköpfe trieb den Männern im Cockpit

Schweißperlen auf die Stirn.

Ein Schlag – nichts rührte sich, Räder, Kurbelwellen und Lichtmaschinen verweigerten den Dienst. Nur der Gesang der Zikaden bewies, dass das Leben pulsierte, sich die Erde auf gewohnter Umlaufbahn um die eigene Achse drehte.

Die Trucker im Brummi schauten sich mit zusammengepressten Lippen an.

»Ausgerechnet jetzt! Warum hast du vor der Fahrt den Ölstand nicht kontrolliert«, fragte Eberhard und donnerte die rechte Faust aufs Lenkrad.

»Blödmann! Es liegt nicht am Öl. Ich habe es vor einer Woche in Deutschland gewechselt und gestern die Füllmenge überprüft«, entgegnete Manfred. »Du hast doch auch den Schlag gehört! Die Maschine ist hinüber. Es ist ein altes Schätzchen.«

Im Laderaum des Lastkraftwagens schrien Menschen, jemand hämmerte mit Schuhen an die Wand zur Fahrkabine.

»Ruhe auf den billigen Plätzen! Es geht gleich weiter«, rief Manfred und schaute den Kollegen mit einem Blick an, in dem sich Zweifel mit Hilflosigkeit mischten.

Eberhard betätigte den Hebel zur Öffnung der Motorhaube und sprang auf den Waldweg.

Die Erde dampfte, es war warm und feucht, am Wegesrand spross das Grün.

Mit herunterhängenden Armen und dem Zeitlupengang ähnelte der

Trucker einem Maurer, der den ganzen Tag Steine schleppte.

Eberhart öffnete die Haube – ein Gewirr von Schläuchen, Kabeln und Apparaturen sprang ihm ins Auge.

Es zischte wie bei einem Lavastrom, der den Saum des Meeres erreichte.

»Oh nein, auch das noch!«

Der Geruch nach verschmortem Gummi und Metall überlagerte den Duft von Gras.

Die Schreie aus dem Laderaum nahmen an Lautstärke zu, Frauen jammerten, Kinder weinten.

»Beeil dich! Sie versuchen, die Tür einzutreten.«

»Kein Wunder. Hinten herrscht eine Bullenhitze. Die armen Teufel halten nicht mehr lange durch«, bellte Eberhard, stülpte Handschuhe über und überprüfte die Bauteile der Maschine.

»Mach dir nicht in die Hose! Die Kanaken sind hart im Nehmen.«

Eberharts Gesichtsausdruck verriet, dass er den Worten des Beifahrers keinen Glauben schenkte.

»Setz dich hinters Lenkrad und lass den Motor an. Aber bitte im Leerlauf!«

Manfred folgte der Anweisung und betätigte den Starthebel.

Es schepperte, knarrte und stank, aber der Diesel sprang selbst nach dem fünften Versuch nicht an.

»Das ist ein gottverdammter Kolbenfresser! Mit diesem Schrotthaufen kommen wir keinen Meter weiter. Wir benötigen einen Austauschmotor.«

»Kein Problem, in der Puszta liegen solche Dinger am Straßenrand rum.«

Eberhard wischte sich den Schweiß von der Stirn und stammelte: »Was… wird nun… aus den… Menschen?«

Im Laderaum brach Panik aus. Jemand aus der Gruppe der Eingeschlossenen beherrschte die deutsche Sprache.

Eberhart stampfte mit den Füßen und wandte dem Truck den Rücken zu.

Manfred kroch aus der Fahrkabine und sagte: »Ich telefoniere mit dem Betrieb«, sagte Manfred. »Der Chef weiß aus Erfahrung, was in solchen Situationen das Beste ist.«

Der Beifahrer zog sein Smartphone aus der Hosentasche, gab eine Kurzwahl ein und wartete, bis sich der gewünschte Gesprächspartner meldete.

Mit wenigen Worten schilderte Manfred ihm die Situation vor Ort.

Eberhard presste die Fingerkuppen beider Hände gegeneinander, bis sich die Nägel in die Haut bohrten.

»Aber wir… können doch nicht…«, stammelte Manfred.

Die Stimme des Teilnehmers am anderen Ende der Leitung klang rau und abgehackt. Sogar Eberhard nahm sie wahr, obwohl er einen Meter hinter dem Telefonisten stand.

»Aber es sind über 40 Personen! Seit Tagen haben sie nichts gegessen oder getrunken. Außerdem…«

Erneut erteilte der Adressat Anweisungen, diesmal aber so leise, dass Eberhard keinen Ton wahrnahm.

»Also gut, du bist der Boss! Es ist deine Entscheidung, die du zu verantworten hast. Wir führen nur deinen Wunsch aus«, fauchte Manfred und warf sein Handy auf die Sitzbank.

»Was hat der Chef gesagt? Ich ertrage die Schreie nicht.«

»Schraub die Nummernschilder ab, nimm die Papiere an dich und schmeiß die verdammten Autoschlüssel weg. Wir lassen den Schrotthaufen hier stehen!«

»Wie bitte? Die krepieren doch!«

»Unsinn! Glaub ich nicht. Wir sind in der Nähe des Nationalparks. Die Gegend wimmelt vor Touristen. Das Gebrülle ist meilenweit zu hören. Jemand holt die Kanaken raus, meint der Chef.«

Manfred kippte eine Wasserflasche über ein Tuch, mit dem er das Cockpit säuberte.

»Was bezweckst du damit?«

»Nicht jeder Idiot soll über unsere Fingerabdrücke stolpern.«

Eberhard stierte auf den Transporter. Die Wehklagen brannten in seiner Seele, erinnerten ihn daran, welches Risiko er mit dem Transport auf sich genommen hatte.

Am Himmel dröhnte ein Flugzeug, der Boden bebte unter den Hufen von Wildpferden, die über das Grasland galoppierten.

»Es wäre fair, den Laderaum zu öffnen. Dann hätten die Menschen eine Chance, sich nach Deutschland durchzuschlagen.«

»Dummkopf, die Kerle lynchen uns! Außerdem bringen sie den Grenzschutz auf unsere Spur. Du machst jetzt genau das, was ich dir sage.«

»Halt den Mund! Du hast mir gar nichts zu befehlen!«

»Doch! Außerhalb des Cockpits bin ich der Boss. Wir verpissen uns, stellen uns an die Fernstraße und trampen ins nächste Dorf. Es sind höchsten 20 Kilometer.«

»Was willst du dort?«

»Wir genießen in der Gaststätte ein Zigeunerschnitzel oder einen Kesselgulasch und lassen uns bis zum Abwinken volllaufen. Am nächsten Morgen reisen wir mit der Bahn nach Deutschland.«

Eberhard bezweifelte, ob ihm an diesem Abend der Sinn nach kulinarischen Genüssen stand.

Trotz Bedenken dackelte er hinter Manfred her, erleichtert, dem defekten Zwanzigtonner mit der lebenden Fracht den Rücken zuzukehren. Endlich hatte er seine Ruhe. Die Planung der Transporte lag nicht in seinem Zuständigkeitsbereich, dafür lehnte er jede Verantwortung ab. Er tröstete sich mit dem Gedanken, nicht aus Armut oder politischen Gründen über die Grenzen aller Herren Länder zu fliehen, solche Todesmärsche kämen für deutsche Staatsbürger nicht in Betracht.

Der Tracker ahnte nicht, dass es eine Ausnahme gab und der Flüchtling sogar zu seinem Bekanntenkreis gehörte.

Auf der Landstraße rauschten die Fahrzeuge im Zehnminutentakt an den Anhaltern vorbei.

Nach einer Wartezeit von 30 Minuten hielt ein Van am Seitenrand an, der sie, gegen geringes Entgelt, in die nächste Kleinstadt beförderte.

Niemand bemerkte etwas von dem Drama, das sich auf dem Parkplatz am Rande der Puszta abspielte.

Die Sonne hing tief über der Ebene, kämpfte mit dem Wolkengebirge, welches sich im Osten zusammenballte.

Für den Beginn der dritten Oktoberwoche war es zu heiß.

150 km weiter westlich, am Plattensee, flanierten Urlauber an der Seepromenade und genossen den Untergang der Sonne, die hinter den Wipfeln der Bäume versank.

Am nächsten Morgen, in den Frühstücksräumen der Bettenburgen, zeugten klappernde Teller, schäumende Kaffeemaschinen und duftende Eierspeisen von dem Wohlstand, der diesen Teil der Welt beglückte.

Für die Flüchtlinge dagegen hatte der Planet aufgehört, sich zu drehen.

Im Frachtraum des Brummis herrschte himmlische Ruhe.

Startvorbereitungen

Hinter der Biegung der Straße erschrak Noel Kaminski über die Fenster seines Reihenendhauses, dessen Leuchten ihm ein Fragezeichen auf die Stirn malte.

Merkwürdig, dachte er, denn gewöhnlich begab sich seine Frau, die an einem irreversiblen Lungenemphysem litt, vor 22.00 Uhr ins Bett.

Der 54-jährige Transportunternehmer beschleunigte seine Schritte.

Vor dem Eingang des Hauses rutschte er über die Hinterlassenschaften eines Hundes aus.

Pfui Teufel! Sicher wieder die Nachbarin. Die ist sich zu fein, um Hundescheiße einzusammeln.

Noel benötigte zehn Minuten, um den Kot an seinen Lederstiefeln abzustreifen.

Beim Eintritt ins Haus, wo in jedem Zimmer Licht brannte, strömte ihm ein Vanilleduft mit einem Hauch von Jasmin entgegen, das glatte Gegenteil des Gestanks unter seinen Sohlen.

Eine kehlige Stimme erklang: »Hallo! Entschuldigung, dass es so spät geworden ist. Ich habe deiner Frau Reise-Knigge für euer Laufabenteuer in Tiflis mit auf den Weg gegeben.«

Marissa Bakradze, eine Georgierin, die seit Jahren im Reihenhaus nebenan residierte, hockte neben seiner Ehefrau Eleftheria am Esstisch, auf dem eine halb leere Flasche Likör Zeugnis ablegte vom feuchtfröhlichen Beisammensein der Freundinnen.

»Hast du vergessen, wie spät es ist? Morgen früh geht es um Punkt 6.00 Uhr los, Liebling.«

Noel stemmte beide Hände in die Hüften.

Eleftheria hob den Blick, schaute ihn mit ihrem Zahnpastalächeln an und erwiderte: »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin es gewohnt, im Flieger zu schlafen.«

»Wirklich? Ich befürchte, der Trip überfordert deine Kräfte. Wir reisen nicht zum Vergnügen nach Georgien. Höhenklima und Verpflegung sind für Menschen vom Niederrhein gewöhnungsbedürftig.«

Anstatt zu antworten, verdrehte seine Frau die Augen und nippte am Likörglas.

»Unsinn!«, rief Marissa mit einer Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete. »In Georgien trifft man auf eine europäische Hochkultur, die mit Landschaften aufwartet, die woanders nicht zu finden sind. Der Kaukasus ist für die Gesundheit deiner Frau und für deinen Verstand förderlich.«

Blöde Kuh! Muss die zu allem, was ich sage, ihren Senf dazu geben.

Die Jelly Nails mit den lila Farbklecksen waren so lang, dass die Endvierzigerin sie bestimmt auch als Waffe einsetzen konnte. Trotz des grell geschminkten Gesichts lag ihre Haut in Falten - eine Wasserstoffblondine mit tief liegenden Augen, deren Ringe Zeugnis ablegten von der Lebenskerze, die von beiden Seiten brannte. Ihr gegenüber wirkte seine Frau wie eine Schönheitskönigin, obwohl Marissa elf Monate jünger war. Noels Gattin trug einen ungewöhnlichen Vornamen, die weibliche Form von Eleftherios, ein Heiliger im griechisch-orthodoxen Glauben.

»Meine Freundin spricht mir aus der Seele«, flötete sie, ebenfalls Liebhaberin von Nagel-Trends und Parfumdüften aus Frankreich. Noel fragte nie nach Preisen, las ihr jeden Wunsch von den Lippen ab.

»Der Arzt hat mir die Reise ausdrücklich erlaubt. Außerdem benötigt ihr jemanden, der euch anfeuert. Du strotzt auch nicht gerade vor Gesundheit«, führte Eleftheria weiter aus.

Diese Bemerkung saß.

Noel trat einen Schritt zurück und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Der Chef des nach seinem Familiennamen benannten Duisburger Speditionsunternehmens hatte einen Herzinfarkt hinter sich und stand unter ärztlicher Kontrolle. Vor fünf Jahren hatte er mit dem Ausdauersport begonnen und sich dabei allmählich gesteigert. Inzwischen war er passionierter Marathonläufer, leitete den Lauftreff eines Sportvereins und nahm an Wettkämpfen teil. Alles war im grünen Bereich, solange er sich nicht überforderte.

»Nun übertreibe nicht! Ich fühle mich wie neugeboren. Bitte entschuldigt mich! Ich muss mich um die Reise kümmern. Die Airline hat eine Flugplanänderung vorgenommen. Die Maschine hebt eine halbe Stunde früher ab«, sagte Noel.

Die Bemerkung über sein Befinden war gelogen, denn er hatte nach dem Arbeitstag im Betrieb und dem anschließenden Lauftraining einer Sitzung der Industrie- und Handelskammer beigewohnt, die um 21.00 Uhr beendet worden war.

Auf dem Weg zum Obergeschoss blieb der Transportunternehmer in der Mitte der Treppe stehen, drehte sich auf dem Absatz um und knurrte: »Achte in Zukunft auf deinen Köter. Er hat wieder auf die Pflastersteine vor unserem Haus gekackt.«

In Marissas Augen blitzte es. »Woher nimmst du die Unverfrorenheit, meinen Hund zu beschuldigen? Jedes Mal, wenn ich dir begegne, hagelt es Vorwürfe.«

»Ach, wirklich?«

Anstatt sich auf ein Streitgespräch einzulassen, eilte Noel die Treppenstufen hoch und schlug die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich zu.

Ihm missfiel, dass sich seine Frau mit Marissa in konstanter Regelmäßigkeit traf.

Zweimal in der Woche verabredeten sich die Damen zu Theaterveranstaltungen, Kinovorführungen oder Konzerten, wobei sie nie vor 21.00 Uhr zurückkehrten. Zudem gewann er den Eindruck, dass die Damen nicht nur über die Reise gesprochen hatten. Wie sonst war die Festbeleuchtung im Haus zu erklären?

Mit zunehmender Ehedauer hegte Noel die Befürchtung, dass er mit Eleftheria nicht harmonierte. Für sie war es eine Form von Gewalt, die Zeit allein mit ihrem Mann zu verbringen. Sie war eine extrovertierte Person, pflegte Kontakte zu Freunden, Verwandten und ihrer Familie. Ständig klingelte die Telefonanlage mit vier Mobilteilen im Haus, die Ferngespräche auf allen Ebenen, einschließlich des Kellergeschosses, ermöglichte. Die Smartphones, von denen sie drei ihr Eigen nannte, bedurften der zweimaligen Aufladung binnen 24 Stunden. Der Pfeifton, der bei jeder neuen Nachricht erklang, raubte Noel, der sich am Feierabend nach Ruhe sehnte, den letzten Nerv. Eleftheria hasste die Inaktivität, suchte ständig nach Möglichkeiten, die Zeit zu gestalten, liebte Partys ebenso wie Ausflüge oder Wochenendtrips. Selbst eine Stunde Leerlauf reichte aus, um ihren Unwillen hervorzurufen. Es kam vor, dass sie an einem Tag mehrere Aktivitäten gleichzeitig plante, um nicht Gefahr zu laufen, der Langeweile anheimzufallen.

Noel hingegen hatte die Arbeit, den Sport und seine Frau.

Die Dauer eines Tages hätte der doppelten Zeitspanne bedurft, um allen Ansprüchen zu genügen. Je älter er wurde, desto weniger ertrug er andere Menschen. Die Freizeit verbrachte er am liebsten mit ihr allein. Für ihn war seine Frau ein Stern, der die Welt zum Leuchten brachte. Jedes Mal, wenn der Gedanke an Entzweiung aufkam, versuchte er, ihn zu verdrängen, denn er passte nicht zu seiner Vorstellung von Liebe. Für Noel war sie eine Person, die ihre Andersartigkeit und Exklusivität zelebrierte. Er verzieh ihr, wenn sie beim Bummel über die Düsseldorfer Königsallee die Kreditkarten überzog oder Privatentnahmen vom Betriebskonto tätigte. Mit ihr blühte der Mittfünfziger auf, war nicht mehr das Gesicht in der Menge, sondern ein Herr in Begleitung eines Paradiesvogels. Seitdem er mit ihr verheiratet war, stieg der Umsatz der Firma, ein Umstand, den er auf die Glückshormone zurückführte, die die Liebe in ihm hervorrief. Seine größte Sorge bestand darin, Eleftheria zu verlieren und im Sturm des Lebens allein zu stehen.

Noel nahm sich vor, die Zeit in Georgien dazu zu nutzen, die Liebe zu erneuern und zu vertiefen.

Er fuhr den Computer hoch, um den E-Mail-Account zu öffnen. Eine Nachricht des Prokuristen, den die Angestellten im Speditionsunternehmen in Verballhornung des Familiennamens „Lippmann“ hinter vorgehaltener Hand „Lippi“ nannten, poppte hoch.

Es ist 22.10 Uhr! Was macht der Kerl so spät im Betrieb, dachte Noel und überflog die Nachricht.

Die letzten Sätze las er zweimal: »Ein Truck wurde in Ungarn als gestohlen gemeldet. Ich habe die Polizei und die Versicherung informiert. Machen Sie sich keine Sorgen! Ich regle das und wünsche Ihnen und Ihrer Frau einen schönen Urlaub.«

Noel nahm das Smartphone zur Hand und gab die Kurzwahl ein, unter der sein Prokurist gewöhnlich zu jeder Tages- und Nachtzeit zu erreichen war.

Niemand meldete sich.

Der Transportunternehmer schrieb eine E-Mail mit Fragen zum Vorgang.

Seine Hände zitterten, denn zum ersten Mal seit Bestehen des Speditionsbetriebs wurde ein Lastkraftwagen im Ausland vermisst.

Auch auf die schriftliche Anfrage erfolgte keine Reaktion.

Noel vermutete, dass Herr Lippmann die Firma nach Versenden der Mail verlassen hatte.

Morgen früh rufe ich ihn an. Die Angelegenheit lässt mir keine Ruhe.

Mit gerunzelter Stirn überprüfte er die Unterlagen für die zehntägige Reise nach Georgien, wo Ende Oktober des Jahres 2019 der „Tiflis Marathon“, ein Laufwettbewerb mit Teilnehmern aus der ganzen Welt, stattfinden sollte.

Er druckte die Tickets für den Flug von Dortmund nach Kutaissi, einer Stadt in Westgeorgien, aus.

Danach nahm er den Bericht des Hausarztes zur Hand.

Sein Blick blieb bei der abschließenden Empfehlung des Mediziners hängen: »Solange Sie traben und den aeroben Bereich nicht verlassen, steht dem Ausdauersport nichts entgegen. Vermeiden Sie Spurts und Pulsfrequenzen über 140 Schläge.«

Noel suchte das Bad auf und betrachtete sein Antlitz im Spiegel.

Die dunkelbraunen an den Schläfen ergrauten Haare fielen in sein Blickfeld. Sie verdeckten eine Hautveränderung, die sich von der rechten Kopfseite bis zu der fliehenden Stirn entlang zog – ein Feuermal, unter dem er seit frühester Kindheit litt. Durch die Farbintensität bildete es einen Kontrast zum blassen Gesicht mit dem runden Kinn und den vollen Lippen. Unter buschigen Augenbrauen ruhten dunkle, schwere Augen, die ihm das Erscheinungsbild eines Träumers verliehen. Die Augenringe verrieten, dass er unter Schlafentzug litt. Trotz des geringen Zeitbudgets hatte er fünf Trainingseinheiten mit einer Laufleistung von 80 km pro Woche absolviert – für einen 54-jährigen Unternehmer mit Vorerkrankungen eine beachtliche Leistung.

Nach dem Wettkampf beende ich meine Laufkarriere. Dann steht einem unbeschwerten Weihnachtsfest nichts im Wege.

»Hoffentlich hast du die Reisemappe nicht durcheinandergebracht! Wir fahren schließlich nicht ins Sauerland.«

Noel zuckte zusammen, als ob jemand einen Eimer Wasser über seinen Kopf ausgeschüttet hätte. Er hatte nicht bemerkt, dass Eleftheria ihm nach der Verabschiedung von Marissa ins Arbeitszimmer gefolgt war. Die Frage traf ins Schwarze, denn er besaß eine Schwäche, die sich im Alter verstärkte: seine Vergesslichkeit.

Er fürchtete sich davor, der Demenz anheimzufallen, und unternahm alles, um dagegen anzukämpfen. Sogar der Laufsport diente diesem Zweck. Gleichwohl, auch er vermochte die Veranlagung nicht zu mindern. Ohne Ordnungssinn seiner Frau hätten sich Pässe, Flugtickets oder Hotelbuchungen überall verborgen, nur nicht dort, wo sie hingehörten.

»Aber sicher, Liebes! Ich habe alles gecheckt. Bitte begib dich ins Bett, die Nacht ist kurz.«

»Oh, für mich ist die Reise nicht so entbehrungsreich wie für dich. Du musst auf dein Herz achten.«

»Klar, aber durch gute Vorbereitung ist das Risiko, dass meine Gesundheit Schaden nimmt, minimal. Übrigens kommt Klaus Steinbicker auch mit. Wir holen ihn morgen auf dem Weg zum Flughafen in Duisburg ab.«

»Muss das sein? Ich mag den Totengräber nicht. Er ist unheimlich.«

Eleftheria sah ihren Mann enttäuscht an.

»Ach, Liebes! Klaus ist kein Totengräber, sondern Friedhofsgärtner. Er ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Die leiblichen Kinder bekamen an Weihnachten und an Geburtstagen Geschenke, für ihn hagelte es Schläge.«

»Das interessiert mich nicht. Für mich gehört er nicht ins Team.«

»Du unterliegst einer Fehleinschätzung. Er wirkt wegen der hünenhaften Gestalt auf Frauen befremdlich. Doch der Schein trügt. Er ist nicht nur ein guter Sportler, sondern auch ein sanfter Riese, der niemanden etwas zuleide tut. Solange du ihn nicht provozierst, wird es keine Probleme geben.«

Anstelle einer Antwort pfefferte Eleftheria die Tropfen gegen Reiseübelkeit ins Handgepäck.

Noel erläuterte ihr, warum er Wert auf die Teilnahme des Langstreckenläufers legte, den er in der Reha-Klinik kennengelernt hatte. Klaus hätte ihm aufgezeigt, wie man die Kondition, ohne sich zu überfordern, verbessert. Durch ihn wäre er in die Laufgruppe in Ratingen integriert und an den Ausdauersport herangeführt worden. Er sei ihm zu Dank verpflichtet.

Eleftheria verzog keine Miene und warf ihre schwarzen Haare über die Schulter. Sie streifte den Kimono Chiffon aus semitransparenter Spitze und Mesch über und stellte das Wecksignal auf fünf Uhr morgens ein. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, stiefelte ins Erdgeschoss und räumte die Küche auf.

Eine halb leere Flasche Hibiskuslikör aus der Brennerei Druffel in Stromberg, Eleftherias Lieblingsgetränk, sowie zwei benutzte Weingläser deuteten auf den hohen Blutalkoholspiegel hin, der in ihrem Körper zirkulierte.

Nach der Hausarbeit löschte Noel die Lichter im Haus und legte sich zu seiner Frau ins Bett.

Er wagte nicht, sich umzudrehen, achtete auf jedes ihrer Geräusche.

Sie atmete ruhig und regelmäßig.

Der gestohlene Truck in Ungarn macht mir Sorgen. Ich habe das Gefühl, dass die Reise unter einem Menetekel steht.

Der Schlaf, der vor jeder Auslandsreise maßgeblich für die Gesundheit und das Wohlbefinden ist, stellte sich nicht ein.

Stattdessen zerwühlte Noel das Bett, bis sich das Laken von der Matratze löste.

Startschuss

Mit dem Hahnenschrei brauste das Unternehmerehepaar in Düsseldorf los. Eile war geboten, denn die übrigen Läufer des Teams warteten am Check-in auf ihre Flugtickets und die Voucher für das Gasthaus.

Eleftheria verstand es, sich wie ein Mannequin zu kleiden. Sie trug ein frisch gebügeltes blaues Designerkostüm mit gewagtem Ausschnitt, dazu farblich abgestimmt das passende Schuhwerk.

Noel fragte sich, ob es bis zum Ende der Reise ins Hochland die Passform behielt, vermied es aber, diesbezügliche Bedenken zu äußern.

Er selbst entschied sich für einen schwarzen Jeansanzug, der seine schlanke Figur betonte. Die Kleidung wirkte cool und edel zugleich.

Klaus Steinbicker stieg, wie geplant, am Duisburger Hauptbahnhof zu. Er trug eine graue Stoffhose aus Leinen und einen Parka, beides abgetragene Exemplare aus dem Second Hand Shop.

Beim Handshake sagte Noel: »Nur wenn du am Boden liegst, vermagst du dich zu erheben. Aus Asche wächst unser Traum, der Niederlagen in Siege verwandelt.«

Der Motivationsspruch der Marathonis verwies auf das gemeinsame Ziel beim Wettkampf. Die Sportler hatten es sich angewöhnt, die Floskel vor jedem Sportevent zu verwenden, obwohl Noel aus gesundheitlichen Gründen Langlauf betrieb und keine Ambitionen auf Erfolge hegte.

2,01 Meter pressten sich auf die Rückbank, wodurch Klaus seinen Freund um 22 cm überragte.

Seine hünenhafte Gestalt war der Grund dafür, dass Klaus von den Mitstreitern den Spitznamen „der Lange“ verpasst bekommen hatte.

»Alles fit«, fragte Noel ihn.

»Muss, Alter!«, antwortete der Lauffreund lakonisch.

Die beiden Männer waren sowohl im Hinblick auf die Erscheinung als auch auf den sozialen Status ein ungleiches Paar – Extreme, die dennoch aneinanderhingen, wie Magnete auf Eisen. Es gab eine Eigenschaft, die sie zusammenschweißte, ein magisches Band, welches niemand erkannte oder zu zerschneiden vermochte. Es war eine Gnade, dass keiner von ihnen ahnte, wozu des diente.

Die Freundschaft der passionierten Läufer passte nicht ins Weltbild von Eleftheria, die sich mit den Reichen und Schönen aus Düsseldorf umgab. Die Duisburger Spedition ihres Mannes, in der es nach Abgasen und Arbeit roch, besuchte sie zur Weihnachtsgala oder zu betrieblichen Anlässen, wie zum Beispiel Jubiläumsfeiern.

»Habt ihr kein anderes Thema als den Sport«, schimpfte sie.

Abgesehen von dieser Frage redete sie im Verlauf der Fahrt weder mit dem Langen noch mit ihrem Mann ein einziges Wort.

Der 53-jährige Klaus Steinbicker besaß den Hauptschulabschluss und hatte die Ausbildung zum Maler nicht beendet. Seit 20 Jahren schuftete er als angelernter Friedhofsgärtner auf einer Begräbnisstätte im Stadtbezirk Duisburg-Rheinhausen. Die Unternehmergattin hielt ihn für minderbemittelt, zumal er sich des von ihr belächelten Ruhrgebietsdialekts bediente – die Sprache der Arbeiter, direkt und grobschlächtig, aber auch offenherzig zugleich.

Unbehagen regierte, eine Anspannung, die alle Insassen des funkelnagelneuen Fünfer-BMW fesselte.

Noel beobachtete den Friedhofsgärtner im Rückspiegel.

Er kaute an den Fingernägeln, sein Blick schweifte in eine unendliche Ferne – Anzeichen dafür, dass er am liebsten die Reise abgebrochen hätte.

Ihm stand der erste Flug bevor.

Sein Kopfkino produzierte Bilder von Flugzeugabstürzen und Menschen, die von ihren Sitzschalen an die Decke der Kabine schossen.

Er reiste selten in die Fremde, wo er weder die Sprache noch die Mentalität der Bewohner verstand. Ein paar Wochenendtrips nach Venlo, das war alles, was er an Auslandserfahrung aufzuweisen hatte. Stattdessen zog er es vor, die Freizeit zu Hause zu verbringen, zumal es ihm am Geld für Reisen mangelte. Wäre Noel mit seiner großzügigen Einladung nicht gewesen, so hätte der Duisburger auf den Marathon in Georgien verzichtet und sich an Wettbewerben in Deutschland beteiligt.

Vor Dortmund staute sich der Verkehr auf der Autobahn. Noel schaute auf die Uhr - zwei Stunden bis zum Abflug.

Es wäre besser gewesen, früher von Zuhause loszufahren.

Elfi braucht zu lange für die Morgentoilette, besonders dann, wenn sie am Vorabend getrunken hat.

Nach einer dreiviertel Stunde zähflüssigen Verkehrs näherte sich der BMW dem Flughafen.

Trotz hoher Gebühren wählte Noel einen Parkplatz auf der dem Abflugterminal gegenüberliegenden Seite.

Den Fußweg zum Gate legte das Trio im Laufschritt zurück.

Noel achtete darauf, dass sich seine Frau nicht überforderte.

Die männlichen Läufer des Teams standen vor der Anzeigetafel und fixierten die Uhr, deren Zeiger der Zeit davonliefen.

Noel hob zur Entschuldigung die Hand und begrüßte sie.

»Oh, unser Teamleiter gibt sich die Ehre! Hoffentlich gehörst du in Tiflis nicht auch zu den Letzten«, sagte Hartmut, der als Sportjournalist bei einer Tageszeitung in Essen arbeitete.

»Ein Stau auf der Autobahn«, entgegnete Noel. »Die Strecke zwischen Düsseldorf und Dortmund war zum Bersten voll. Außerdem haben wir den Langen in Duisburg abgeholt.«

Niemand aus der Gruppe erhob einen Vorwurf. Noel strahlte vor Erleichterung und blickte in lachende Gesichter.

Alle freuten sich auf die Reise, die Abwechslung vom Alltagstrott versprach.

Bis auf eine Ausnahme strotzten die Läufer vor Gesundheit.

Nur Dante, der Ehepartner von Hartmut, schleppte ein leichtes Übergewicht mit sich herum und gähnte hinter vorgehaltener Hand.

Der Endvierziger aus gutem Hause betätigte sich als freiberuflicher Blogger und managte den Zweipersonenhaushalt in Essen – Rüttenscheid mehr recht als schlecht. Er war auf der Sinnsuche, hatte den Kompass für sein Leben nicht gefunden. Durch seine gewissenhaft recherchierten Beiträge über die Machenschaften krimineller Clans in Essen stockte er das Haushaltseinkommen auf. Natürlich profitierte Dante dabei vom Newsticker im Zeitungsverlag des Ehepartners, der an den Wochentagen spät abends zu Hause eintrudelte. Aus ihrer Homosexualität hatte das Paar nie einen Hehl gemacht. »Heterosexuelle Liebe ist eine Kerze, die sich rasch verzehrt. Aber die Liebe zwischen Männern ist ehrlich und frei von Sentimentalitäten«, hatte Dante einmal im Verlauf einer Trainingseinheit im Stadtwald bei Ratingen behauptet. Bei anderen Mitgliedern der Laufgruppe rief er mit dieser Behauptung Widerspruch hervor.

Die einzige Marathoni kauerte in meditativer Stellung auf einer Sitzbank aus Plastik. Sie trug den Spitznamen „Gazelle“ und war der unumstrittene Star der Gruppe. Mit 42 Jahren zählte sie elf Monate weniger als Hartmut, der Benjamin unter den männlichen Teamläufern, die bei Wettkämpfen lediglich ihre Hacken zu sehen bekamen. Ihr Spitzname hatte sich verfestigt. Niemand aus der Gruppe vermochte sich an ihren Familiennamen zu erinnern. Gerade einmal 45 Kilogramm schwer reichte sie dem Langen bis zur Schulter. Sie quälte sich durch die „Rush Hour“ des Lebens, hatte einen pubertierenden Sohn und besaß einen Heimarbeitsplatz, von dem aus sie die Schadensbearbeitung eines Versicherungsunternehmens managte. Ungeachtet der läuferischen Exzellenz galt sie als Einzelgängerin, die sich nur dann ins Team integrierte, wenn Harmonie herrschte. Dies war selten der Fall, dazu drifteten die Persönlichkeitsprofile der Sportler zu weit auseinander.

Die Gazelle nahm die Stimme des Teamleiters wahr, erhob sich und tänzelte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und hielt Ausschau nach Eleftheria, die nach dem Spurt zum Flughafengebäude ihre Frisur richtete.

»Du bist aber schlecht drauf«, flötete die Gazelle. »Hast du Angst vor der eigenen Courage oder Ärger mit deiner Herzensdame?«

Noel löste sich aus der Umarmung und wich einen Schritt zurück.

Der Gazelle kann man nichts vormachen, die merkt einfach alles.

Hilfesuchend nahm er Blickkontakt mit seiner Frau auf.

Die zuckte mit den Schultern und bemerkte beiläufig: »Manche Menschen wissen mehr über deinen Gemütszustand als ich.«

Am Gate versuchte der Lange, mit dem Handy ein Gruppenfoto zu schießen.

Bis auf Eleftheria versammelten sich alle Teammitglieder in einem Halbkreis vor dem Flugsteig.

Er bat sie, vor die Gruppe zu treten, um ihre graziöse Erscheinung ins Zentrum des Bildes zu rücken.

Sie weigerte sich.

Mit ihren Blicken maß sie seine Nichtigkeit ab.

Sogar Noel brachte sie nicht dazu, dem Wunsch des Langen zu entsprechen.

Dieser sah von dem Vorhaben ab.

Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Beim Check-in separierten sich Hartmut und Dante von der Gruppe und tuschelten miteinander, was den Argwohn des Teamleiters hervorrief.

Geheimniskrämer!

Lautsprecher knarrten, Hektik kam auf: »Ihr Flug ist zum Einsteigen bereit«, tönte es.

Für ein Telefonat mit dem Prokuristen blieb keine Zeit.

Mit flauem Gefühl stiegen die Marathonis die Gangway empor und nahmen ihre Plätze ein.

Der Flieger hob ab gen Osten.

Der Chef nahm seine Sorgen, die sich über den Wolken nicht verflüchtigten, mit auf die Reise.

Nach Abschluss der Startphase erklang die Bassstimme des Flugkapitäns: »Vor uns liegt eine ausgedehnte Schlechtwetterzone. Bitte schnallen Sie sich an! Bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Wir stellen den Bordservice bis auf Weiteres ein.«

Turbulenzen setzten ein, die die Mägen der Flugpassagiere bis zum Erbrechen strapazierten.

Eleftheria übergab sich dreimal. Sie glich einer Leiche, die man zur Aufbahrung geschminkt hatte.

Der Lange krallte sich wie ein Klammeraffe an den Armlehnen des Sitzes fest. Hinter jedem Luftloch vermutete er das Ende des Flugs, den Absturz in die Tiefe, der mit dem Zerschellen der Maschine an schroffen Felswänden endete.

Trotz ihrer Unterschiedlichkeit gibt es eine Gemeinsamkeit. Die beiden sind sensibel wie Mimosen, dachte Noel und fingerte im Handgepäck nach den Tropfen gegen Reiseübelkeit.

Über dem Schwarzen Meer beruhigte sich die Wetterlage.

Der Jet driftete durch fliehende Wolken, die sich ein Wettrennen mit dem Sonnenlicht lieferten.

Das Gesicht von Unternehmergattin war aschfahl, ihr schmaler, zarter Körper bebte.

Der Lange sah auch nicht besser aus.

Die Landung verlief holprig, es ruckelte, Gummigeruch breitete sich in der Kabine aus.

Das Flugzeug zuckelte zum Gate, Motoren dröhnten, bis sich eine knisternde Stille über die Köpfe der Passagiere legte.

Klaus und Eleftheria beruhigten sich.

Das Team stieg aus und begab sich zur Passkontrolle, wo mürrische

Beamte die Ankömmlinge erwarteten.

Die Einreise von Dante stand kurz davor, zu scheitern.

Sein Amulett, die Silhouette einer offenen Hand mit Friedenstaube, erregte Argwohn. Der pechschwarze Wuschelkopf, der Vollbart, die Schlabberhose sowie das ungewaschene T-Shirt trugen nicht zur Beruhigung der Kontrolleure bei.

Man separierte ihn von der Gruppe und führte ihn in einen Nebenraum, wo es nach Schweiß und Angst roch.

Zwei Polizeibeamte zwangen ihn, sich bis auf die Unterhose zu entkleiden. Sie nahmen seinen Rucksack auseinander und verhörten den Blogger wie einen Terroristen auf dem Weg zum Attentat.

Nach einer Stunde ließen sie ihn achselzuckend ins Freie, wo die übrigen Mitglieder des Teams mit verschränkten Armen auf ihn warteten.

Noel trat ihm einen Schritt entgegen: »Endlich! Was haben die Grenzer bei dir gesucht?«

Dante, der sein T-Shirt falsch herum angezogen hatte, gab keine Antwort. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass es ratsam war, auf weitere Fragen zu verzichten.

Im Außengelände des Flughafens nahm Noel den vorab reservierten Mietwagen in Empfang, ein Kleinbus, der für sechs Personen Platz bot. Durch die Verspätung drängte die Zeit, denn es galt, die Herberge im Hochgebirge vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.

»Zugdidi, Mazeri, Mestia? Ich habe zwar von diesen Orten gehört, sie aber nie besucht«, sagte die Dame von der Autovermietung. »Fahren Sie lieber zum Josef-Stalin-Museum in Gori. Dort erfahren Sie, aus welchem Holz Helden geschnitzt sind.«

Noel rasselte mit dem Schlüsselbund. Er schätzte weder den Alleinherrscher des Sowjetregimes noch andere Diktatoren.

»Nein, dafür haben wir keine Zeit. Wir bereiten uns im Kaukasus auf den Tiflis-Marathon in der nächsten Woche vor«, sagte Noel, dessen Augen bei der Erwähnung des Wettkampfes glänzten.

»Noch so ein paar Verrückte! Wenn Sie dort ankommen, halten Sie sich von den Wehrtürmen fern. Sie bringen Unheil.«

»Wir glauben nicht an Geister oder Gespenster.«

Die Dame winkte ab, beendete das Gespräch und verschwand im Terminalgebäude.

Noel nahm den Mietwagen in Augenschein. Abgefahrene Reifen sowie ein öliger Fleck am Boden nährten Zweifel, ob das Vehikel den technischen Anforderungen für den Verkehr auf Serpentinenstraßen genügte.

Mit dem Ausspruch »Lass knacken, wer brettern getz los«, setzte sich der Lange ans Steuer.

Noel, der neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm, hatte ihn darum gebeten, den Fahrdienst in Georgien zu übernehmen. Außer seiner Frau gab es niemanden, dem er mehr vertraute, zumal der Lange nur dann zu alkoholischen Getränken griff, wenn er nicht hinter dem Steuer saß. Dieser Umstand traf nicht auf jeden in der Gruppe zu.

Klaus streichelte das Gaspedal und tauchte ein in die Welt georgischer Automobilisten, die nach eigenen Regeln fuhren.

Er nahm die Herausforderung an und blühte im Verlauf der Fahrt auf. Die beiden Essener fuchtelten mit den Armen und stießen Schreie aus, die sonst nur auf Rummelplätzen in Geisterbahnen zu vernehmen sind.

Am Straßenrand verendete ein Hund in einer Blutlache, ein Anzeichen dafür, dass die Fahrt auf den Schnellstraßen des Landes Risiken in sich barg.

»Keine Sorge«, beruhigte Eleftheria. »Das ist völlig normal, die Georgier fahren immer so.«

»Warst du… schon einmal… hier?«, stotterte Dante, der mit Schweißflecken unter den Achseln den Straßenrand beobachtete, wo freilaufende Kühe sich nicht von der Raserei auf der Straße beirren ließen.

»Nein, aber meine Freundin hat mich vorgewarnt.«

Der Lange blieb gelassen und steuerte den Wagen nach Westen.

An der Abzweigung zum Schwarzen Meer schlug er eine nördliche Richtung ein und tuckerte hinauf in die Berge, vorbei an einen Stausee, der kein Ende nahm.

»Jetzt ist es nicht mehr weit, dann sind wir in Abchasien, der abtrünnigen Kaukasusrepublik«, sagte Hartmut nach einer weiteren Stunde Fahrt. Mit kantigem Gesicht, glatten nach hinten gekämmten Haaren und schwarzer Hornbrille glich er einem Oberlehrer, der zu jedem Thema – zumeist überflüssige - Kommentare abgab.

»Wir sind nicht nach Georgien gereist, um über Politik zu diskutieren. Es geht darum, uns auf den Marathonlauf in der nächsten Woche vorzubereiten und uns achtbar zu schlagen«, sagte Noel.

»Bist du sicher, dass du die Sorgen der Bevölkerung ausblenden kannst?«

Hartmuts Blick schweifte zu einem Areal, auf dem eine Industriebrache Zeugnis von der wirtschaftlichen Situation der Bergbewohner ablegte.

Dante stieß ihn so lange mit dem Ellbogen in die Rippen, bis er schwieg.

Hartmut, der gemeinsam mit seinem Ehepartner die hintere Sitzbank des Vans belegte, kramte einen roten Aktenordner aus dem Rucksack hervor und blätterte ihn durch.

Er bemerkte die fragenden Blicke des Teamleiters und verstaute die Dokumente sofort wieder.

Die Gazelle, die mit Eleftheria auf der mittleren Sitzreihe hockte, drehte sich um und beobachtete den Vorgang.

Ihre Gesichtszüge trieften vor Entsetzen.

Verfügte sie über die Gabe, in den Gedanken anderer Menschen zu lesen?

Der Journalist hasste Computer, denn er war vor zwei Jahren Opfer eines Hackerangriffs geworden. Sensible Unterlagen über Doping im Fußballsport waren in die Hände von Sportfunktionären geraten. Beinah wäre er durch Unterlassungsklagen der beschuldigten Personen ins Gefängnis gekommen. Seit dieser Zeit wagte er es nicht, im Internet zu surfen oder E-Mails abzurufen. Zum Schreiben der Reportagen und Berichte nutzte er eine manuelle Schreibmaschine Typ „Erika Modell 5“ aus dem Jahr 1936, ein antikes Sammlerstück, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Die digitalen Arbeiten überließ er seiner Sekretärin oder Dante, der ihn bei der Tätigkeit im Verlag unterstützte.

Hinter dem Stausee nahm die Steigung der Straße zu.

Der Van quälte sich durch eine Baustelle, die wenig Raum für Begegnungsverkehr zuließ.

Zweimal zwangen Kühe oder Schafe die Reisenden dazu, aus dem Fahrzeug auszusteigen und die Tiere von der Fahrbahn zu verscheuchen.

Durch ein Labyrinth von Haarnadelkurven schraubte sich der Van in die Höhe.

Aus dem Hintergrund näherte sich ein schwarzer Transporter, der eine Rußfahne in die Luft blies.

Rasch schloss er auf, ohne Abstand einzuhalten.

Er beförderte keine Lasten, sondern bestand nur aus der Fahrerkabine, ein Umstand, der höhere Geschwindigkeiten ermöglichte.

»Lass jucken, Kumpel! Oder willse hier anwachsen?«, fauchte Hartmut, der unter dem Ölgestank litt, der sich im Inneren des Vans ausbreitete.

»Solange ich annet Ruder bin, hass du Pause«, entgegnete der Lange lakonisch. Er fühlte sich provoziert, denn Hartmut mied gewöhnlich den von Klaus verwandten Ruhrgebietsdialekt.

»Wie beim Marathonlauf wäre ein wenig mehr Tempo hilfreich«, sagte die Gazelle. »Der LKW kann hier am Berg nirgends überholen!«

Klaus schaltete einen Gang zurück und beschleunigte.

Die Distanz zum Truck vergrößerte sich, doch an der nächsten Kehre trennten die beiden Fahrzeuge nur eineinhalb Meter.

Das Dröhnen des Dieselmotors verschluckte den Schrei, den die Gazelle ausstieß.

»Gib Gas!«, fuhr Noel seinen Sitznachbarn an.

Mit dem Mut der Verzweiflung befolgte Klaus den Ratschlag, obwohl er zu Hause einen zurückhaltenden Fahrstil pflegte.

Räder quietschten, Passagiere rutschten von einer Seite zur anderen, das Gepäckstück auf der Hutablage schoss durch die Fahrgastkabine. Der Abstand zum Verfolger vergrößerte sich.

»Na also, geht doch!«, zischte Hartmut und öffnete den oberen Knopf des Hemdes.

Erneut schraubte sich der Van über enge Kehren in die Höhe.

Wie von Geisterhand gesteuert tauchte das Ungetüm wieder auf. Das Brummen des Motors wirkte wie eine Drohung.

Vor Aufregung verschaltete Klaus sich, erwischte den dritten, anstatt den ersten Gang.

Der Truck fuhr auf.

»Zurückschalten!«, schrie Noel, aber es war zu spät.

Der Laster touchierte die Stoßstange des Vans und schob ihn vor sich her.

»Teufel noch mal! Der Kerl will uns ans Leder«, schrie Dante, dessen Hals mit roten Flecken übersät war.

Noel drehte sich um und erbleichte.

Hinter der mit Schmutz und Staub verunreinigten Windschutzscheibe hockte eine Gestalt mit gefletschten Zähnen. Er gestikulierte nicht, hielt das Lenkrad locker mit einer Hand und starrte stur geradeaus, als ob es kein anderes Auto auf der Straße gäbe.

Noel realisierte, dass der Fahrer nicht die Absicht hegte, sie zu überholen oder zum Anhalten zu zwingen.

Er verfolgte ein anderes Ziel: das Auto von der Straße zu fegen.

Metall rieb sich auf Metall, der Van geriet aus der Spur.

Auf der Beifahrerseite sorgte ein Steilhang bei den Insassen für Entsetzen. Eine dreihundert Meter tiefe Schlucht, auf dessen Sohle sich ein Bach durch das mit Felsbrocken übersäte Tal schlängelte, öffnete sich. Es gelang dem Langen, den Van von der Stoßstange des Brummis zu lösen, wobei es seinen Fahrkünsten zu verdanken war, dass das Manöver nicht im Fiasko endete.

Eine Linkskurve näherte sich im rasenden Tempo.

Klaus nahm das Gas nicht zurück, sondern wechselte auf die Mitte der Straße.

Im Rückspiegel sah Noel, dass der Verfolger das gleiche Manöver vollführte.

Wenn in dieser Kurve Gegenverkehr auftaucht, sind wir verloren. Wir werden zwischen zwei Fahrzeugen eingequetscht und auf ein Miniaturformat zusammengeschrumpft, dachte er und stemmte sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab.

Er schloss die Augen, Schreie ertönten, Dante schlug mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe.

Noel öffnete die Augen.

Die Gegenfahrbahn gähnte vor Leere.

Eine zweihundert Meter lange Gerade bot die Chance, das Tempo zu erhöhen.

Klaus schaltete zurück und gab Vollgas.

Der Kamikaze-Fahrer verlor den Anschluss.

Als ob er sich in einem Fahrsimulator befände, malträtierte der Friedhofsgärtner Lenkrad und Fußpedale. Ein brenzlicher Geruch im Fahrzeuginnern deutete darauf hin, dass der Van die technische Belastungsgrenze überschritten hatte. Es war schließlich ein Modell älterer Bauart ohne Assistenzsysteme.

An einer Gefällstrecke gönnte Klaus dem Fahrzeug eine Ruhepause, indem er die Drehzahl reduzierte.

Das Team wähnte sich in Sicherheit.

Ein Traktor, der einen mit Heu beladenen Hänger hinter sich herzog, zwang Klaus dazu, auf das Bremspedal zu treten.

»Verdammt! Ausnerechnet getz!«

Er donnerte die Faust aufs Lenkrad und versuchte, an dem Vehikel vorbeizukommen.

Die Insassen auf der rechten Seite blickten in einen Abgrund, auf dessen Boden drei Autowracks vor sich hingammelten. Nirgends eröffnete sich eine Möglichkeit zum Überholen, zumal der Bauer keine Anstalten machte, rechts ranzufahren.

Der Lange fixierte den Rückspiegel.

Der Truck bretterte über die Straße, die Konturen des Ungetüms wirkten durch die Staubfahne, die er aufwirbelte, unscharf und verschwommen.

Der Motor des Traktors geriet ins Stocken.

Eine schwarze Abgaswolke verpestete die Luft.

Die Landmaschine verlangsamte das Tempo, es fehlte nicht viel bis zum Stillstand.

Bildeten Bauer und Trucker ein Team? Verfolgten sie die Absicht, unliebsame Besucher am Erreichen ihres Ziels zu hindern?

Mit einem Hupkonzert und aufgeblendeten Scheinwerfern bretterte der Truck über die Straße und setzte zum Überholen an.

Das Ungetüm fuhr parallel zum Van und drängte ihn an den Seitenrand.

Bleche knirschten und verbogen sich, die Reifenabdeckungen des Vans lösten sich und kullerten ins Tal.

Der Trucker kicherte in sich hinein und zeigte den Deutschen den Stinkefinger.

»Anhalten! Ich steig aus und knöpf mir das Ekelpaket vor«, schrie Noel, dessen Gesichtsausdruck verriet, dass er die Idee für wenig erfolgversprechend hielt.

Der Todesfahrer vollzog eine Vollbremsung und riss das Lenkrad herum.

Mit quietschenden Reifen bog er in einen Waldweg ab.

Noel unternahm den Versuch, sich das Kennzeichen zu merken. Er scheiterte an den georgischen Schriftzeichen, eine Sprache, die zu den ältesten und schwierigsten der Welt gehört.

Das Ungetüm verschwand hinter Bäumen und geriet aus dem Blickfeld.

»Was… war denn… das?«, stammelte Hartmut, dessen Gesichtsfarbe dem Schnee auf den Gletschern glich.

Niemand gab ihm eine Antwort, alle Insassen waren dankbar, dass die Hetzjagd ein Ende genommen hatte.

Sogar Eleftheria lächelte, was Noel mit Erleichterung zur Kenntnis nahm.

In der Ausbuchtung am Waldrand hielt die Landmaschine an, um dem

Van Vorfahrt zu gewähren.

Jetzt war der Weg frei für die Reise in eine Welt voller Möglichkeiten, aber auch voller Unwägbarkeiten.

Gegen Abend erreichte die Gruppe die Hochfläche von Swanetien, der Region im hohen Kaukasus.

Aus der Ferne grüßten schneebedeckte Fünftausender in der Abendsonne. Die ersten Wehrtürme tauchten auf, jahrhundertealte ohne Nägel geschaffene Bauwerke, die im Winter vor der Kulisse majestätischer Gletscher den Schneelawinen trotzen.

Die Spannung löste sich, die Erleichterung über das glückliche Ende der Verfolgungsjagd wog schwerer als der Schrecken. Die Gruppe zelebrierte die Freude, welche Reisende bei der Zielankunft erfasst.

Jemand sang: »Theo, wir fahrn nach Lodz«.

Wie auf Kommando schmetterte das gesamte Team den Refrain mit. Ein Schlager nach dem anderen wurde angestimmt, Evergreens aus den 60er und 70er Jahren, die ein jeder liebte.

Dante zauberte eine Flasche Wein aus dem Rucksack.

Man lachte, scherzte, schunkelte.

Noel unterhielt die Mitstreiter mit Trinkliedern aus dem rheinischen

Karneval.

Am Ende lagen sich alle in den Armen und grölten: »Ja sind wir im Wald hier, wo bleibt unser Altbier. Wir haben in Düsseldorf die längste Theke der Welt.«

»Habt ihr verstanden, was uns die Dame von der Autovermietung geraten hat? Hände weg von den Wehrtürmen!«, sagte Eleftheria, die nicht mitgesungen hatte.

Die zwei Sätze reichten aus, um die Euphorie zu beenden, katapultierten das Team zurück in die Realität.

»Spaßbremse!«, zischte die Gazelle.

»Fängst du jetzt auch mit dem Blödsinn von den Wehrtürmen an«, fragte Hartmut.

Anstelle einer Antwort herrschte beim Rest der Fahrt Schweigen, bis das Auto durch Mestia, der auf 1.500 Meter thronenden alten Hauptstadt der Region, rumpelte.

»Gott sei Dank! Rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir unser Ziel«, sagte Noel.

Die Gruppe beabsichtigte, eine Woche in dem Bergort zu logieren, um durch Höhentraining die Kondition zu verbessern. Die vermehrte Produktion roter Blutkörperchen sollte die Leistungsfähigkeit steigern, ein natürliches Doping, welches nicht nur bei Hochleistungsathleten beliebt ist. Außerdem hatten sich die Läufer vorgenommen, den Teamgeist zu stärken und Eindrücke von einem Land mitzunehmen, das die meisten Menschen in Deutschland bestenfalls vom Hörensagen kennen. Um den Trainingseffekt nicht zu mindern, stand die Anreise nach Tiflis am letzten Tag vor dem Wettkampf auf dem Plan.

Die Gaststube lag am Rande des Zentrums an einem Hang.

Das Team bezog die Zimmer – das Unternehmerehepaar und die Essener jeweils ein Doppelzimmer, Klaus und die Gazelle zwei Einzelzimmer. Jedes Einzelne bestach durch einen anderen Stil – klassisch, modern, avantgardistisch – die Gastfamilie hatte sich bei der Einrichtung der Pension Mühe gegeben.

Der Raum des Unternehmerehepaars zeichnete sich durch Möbel aus, die aus Buchenholz geschnitzt waren. Gegenüber dem Bett mit blütenweißem Baldachin thronte eine Standuhr aus dem gleichen Material mit zwei vergoldeten Pendeln.

»Punkt 20.00 Uhr im Speiseraum. Freut euch auf georgisches Essen vom Feinsten«, gab Boris Kebanadze, der Gastwirt der Herberge, den Gästen mit auf den Weg.

Sein Blick blieb an Dante und Hartmut hängen, die ihre Habseligkeiten händchenhaltend in die erste Etage beförderten.

Deren Raum war als Einziger nicht renoviert und versprühte den Charme der Sowjetzeit. Dieser Umstand führte – insbesondere bei Hartmut – zur Verärgerung.

Der Teamleiter kannte Boris vom New York Marathon, wo die beiden Männer, trotz der schlechten Platzierung, den Zieleinlauf bei der „After-Run-Party“ bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatten. Noel hatte zu der Gruppe von Läufern gehört, die den Central Park nach Abbau der Kulissen erreichte. »Der Erste und der Letzte genießen die größte Aufmerksamkeit«, lauteten damals die tröstenden Worte des Georgiers nach dem zehnten Glas Bier. Obwohl er wegen einer Achillessehnenentzündung keinen aktiven Sport mehr betrieb, war der Kontakt zu dem deutschen Transportunternehmer nie abgebrochen. Boris war es auch, der ihn auf den Wettbewerb in Tiflis hingewiesen hatte.

»Wir hatten eine unangenehme Begegnung. Ein Kamikaze-Fahrer hat uns von der Straße abgedrängt«, sagte Noel.

»Wirklich? Was das für ein Auto?»

»Ein schwarzer Truck, der nur aus der Fahrerkabine bestand.«

»Vielleicht ein Betrunkener? Man hat mir berichtet, dass heute viele Tiere auf der Straße überfahren worden sind.«

Damit war das Thema für Boris erledigt.

Er ging voran und begleitete die Gäste in die erste Etage, wo sich deren Zimmer befanden.

Noel schleppte die Koffer die Treppe hoch, wobei derjenige seiner Frau doppelt so schwer wog wie der seinige.

Eleftheria trottete hinter ihm her und legte sich nach Bezug des Zimmers aufs Bett.

»Geht es dir nicht gut? Bekommt dir die Luft nicht? Ich habe absichtlich einen Ort ausgewählt, der nicht so hoch liegt.«

»Nein! Es ist alles in Ordnung, aber ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Die Turbulenzen im Flieger und die Schaukelei im Auto, weißt du. Geh allein zum Essen. Ich komme später nach.«

Die 49-Jährige rekelte sich auf der Matratze und schaute zum Fenster. Die Abendsonne verbarg sich hinter Berggipfeln, die den Himmel berührten.

Mit ebenmäßigem Gesicht, dunklen Augen sowie der bronzefarbenen Haut glich sie einer Edeldame aus der griechischen Antike. Ihre feingliedrigen Finger spielten mit dem pechschwarzen Schopf, der sich wie eine Verheißung über ihre Brüste legte.

Ihr schönster Schmuck besteht nicht aus Diamanten oder Zuchtperlen, sondern aus der Haarpracht, dachte Noel und drückte ihr einen Kuss auf die Wangen.

Eleftheria stammte aus einer Künstlerfamilie, der Vater Schauspieler, die Mutter Sängerin auf einer renommierten Opernbühne. Sie selbst war passionierte Malerin, verkaufte aber selten Bilder, wobei die Abnehmer dem Bekanntenkreis des Unternehmerehepaares angehörten. Trotz zweier Aufnahmeprüfungen war es ihr nicht gelungen, einen Studienplatz in der Kunstakademie zu ergattern. Stattdessen hatte sie eine private Schauspielschule besucht, aber nicht abgeschlossen. Gelegentlich gastierte sie auf Amateurbühnen, deren Leitung sie für ihre Dienste mit einer Aufwandsentschädigung entlohnte. Der Betrag rangierte im zweistelligen Eurobetrag. Ohne Eigenmittel hatte sie im Alter von 25 einen Galeristen geheiratet. Die Ehe war nach zwei Jahren gescheitert. Nach der Scheidung hatte der Ex-Mann Konkurs angemeldet und sich den Unterhaltszahlungen entzogen.

»Soll ich dir das Essen ins Zimmer bringen? Du benötigst eine Stärkung«, sagte Noel und kontrollierte ihren Puls.

»Nein, bemühe dich nicht! Ich bekomme ohnehin keinen Bissen herunter. Du hast dein Handy im Auto liegengelassen. Ich habe es auf dem Nachttisch abgelegt.«

Was kuckt die mich so merkwürdig an, dachte Noel, aber dann war er froh, dass sie es mitgenommen hatte, denn das Telefonat mit dem Prokuristen in Duisburg stand auf seiner Prioritätenliste an erster Stelle.

Der dortige Fuhrpark umfasste fünfzehn LKW, die vorrangig nach Ostdeutschland und Osteuropa unterwegs waren. In den Anfängen des Unternehmens hatte Noel selbst hinter dem Steuer gesessen, bis ein Rückenleiden längere Fahrten verhinderte. Noel sorgte sich um seine Frau, zumal sie durch die Krankheit in den letzten Jahren zehn Pfund abgenommen hatte. Es gab Tage, an denen sie lediglich eine Mahlzeit zu sich nahm, die aus Obst oder Fruchtsäften bestand. Immerhin war es ihm gelungen, ihr das Rauchen, die Ursache des Lungenemphysems, abzugewöhnen. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass seine Frau ihn zum Marathon in Tiflis begleitete, obwohl sie Langstreckenläufe für eine Form der Selbstkasteiung hielt.

Es galt, jeden Tag an der Seite dieser göttlichen Frau wertzuschätzen, denn ihre Lebensdauer war auf wenige Jahre begrenzt.

Versorgungsstation

Noel streichelte ihre Wangen, verließ den Raum und begab sich in den Speiseraum, wo das Team sowie der Gastgeber mit Gattin Elana auf die Düsseldorfer warteten.

Das Ehepaar aus Georgien beherrschte die deutsche Sprache, denn es hatte über zehn Jahre in Frankfurt am Main gearbeitet.

Elana war Angestellte im Export-/Importunternehmen gewesen, Boris Mitinhaber eines Sicherungsdienstes. Mit einem sechsstelligen Eurobetrag auf dem Bankkonto waren sie in ihre Heimat zurückgekehrt und hatten dort eine Pension für den sich im Aufschwung befindlichen Fremdenverkehr errichtet.

»Wo bleibt unser Engel? Ich habe extra für sie eine Flasche Hibiskuslikör aus Deutschland importiert. Es hat mich ein kleines Vermögen gekostet«, frotzelte Boris.

Der Georgier spielte mit dem Begriff „Engel“ auf den Umstand an, dass die Beauty eine Stiftung leitete, die sich um mittellose Menschen mit Lungenkrankheiten kümmerte.

»Wir gehen den Weg gemeinsam, bekämpfen die Krankheit und unterstützen Menschen, denen es schlechter geht als mir. Wenn ich sterbe, hat mein Leiden einen Sinn gehabt«, hatte sie Noel erklärt und ihn dazu ermutigt, mit dem Laufsport zu beginnen. Die Krankheiten schweißten das Ehepaar zusammen, zwei Strauchelnde, die sich gegenseitig aus dem Sumpf zogen, so zumindest, hatte es den Anschein.

Aus einem gusseisernen Bottich schöpfte Elana eine breiige Gemüsesuppe und verteilte sie auf die Teller.

»Es ist die lange Anreise nach Georgien mit dem unruhigen Flug und die Begegnung mit dem Kamikaze-Fahrer. Eleftheria hat mir versprochen, nach einem Nickerchen dem Mahl beizuwohnen«, sagte Noel.

»Alles andere wäre eine Enttäuschung. Elana möchte mit ihr nach Uschguli reisen, ein verwunschener Ort im Hochland. Dort wartet eine Überraschung auf deine Frau.«

»Oh, spann mich nicht auf die Folter! Geht es um einen Einkaufsbummel?«

Boris rollte mit den Augen, blieb ihm aber die Antwort schuldig.

Nach der Suppe tischte Elana das Nationalgericht auf - Chatschapuri, ein gebackener Hefeteig mit Käsefüllung, der nicht jedem am Tisch mundete. Dazu gab es Rote Bete mit Walnüssen und Backpflaumen sowie ein Salat aus dem Garten.

Das Fleisch nannte sich „Mzwadi“, die Urform des Schaschliks.

Die Tischmanieren des Langen sorgten bei den Gastleuten für Verwunderung.

Klaus besaß die Angewohnheit, alles, was auf dem Teller kam, zu separieren und es hintereinander, statt gleichzeitig, zu verzehren. Kohlenhydrate, Gemüse, Salate und Eiweißerzeugnisse bedurften der Trennung. Zuerst verspeiste er Fleisch oder Fisch, wobei er jeden Bissen auf der Zunge zergehen ließ. Es folgten Gemüse oder Salat. Den Abschluss bildeten die Sattmacher Kartoffeln, Nudeln oder Getreideprodukte.

Die Gastleute schauten mit offenen Mündern zu, wie er das Käsebrot in der Mitte zerbröselte, die Füllung mit Gabel und Messer herausschälte und sie separat verzehrte.

Er war in jeder Hinsicht ein Mensch, der Konventionen brach.

Kaum war das Essen beendet, stolzierte Eleftheria die Treppenstufen runter und nahm am Kopfende des Tisches Platz.

Die Gastleute begrüßten sie mit weit ausgebreiteten Armen.

»Schön, dass du da bist! Wenn du erscheinst, kommt die Sonne ins Haus«, sagte Boris.

Er bot ihr an, sie mit leiblichen Genüssen zu verwöhnen.

Sie lehnte dankend ab.

Noel runzelte mit der Stirn.

»OK, jetzt möchte ich aber erfahren, was euch in diese Wildnis treibt«, eröffnete der Georgier die Gesprächsrunde.

Seine erwartungsvollen Blicke schweiften durch den Raum und blieben am Teamleiter hängen.

»Mach du doch den Anfang, Noel!«

Anstatt auf die Aufforderung einzugehen, stellte der Angesprochene den Langen vor, der die freie Rede vor fremden Menschen scheute.

Dessen Hundeblick triefte vor Dankbarkeit.

Immerhin schaffte er es, die Ausführungen des Teamleiters um zwei vollständige Sätze zu ergänzen: »In die Bude bin ich am rumklucken, abba bei unsa Lauftreff mach ich dat Tempo. Dreidreiviertel Stunde, datis mein Ziel inne Hauptstadt.«

»Das kann sich sehen lassen«, sagte Boris und klopfte dem Langen auf die Schulter. »Beim Marathonlauf kommt es nicht auf sprachliche Eleganz, sondern auf Fitness und Durchhaltevermögen an.«

»Bei mir geht es nicht nur um den Wettkampf. Es war immer mein Traum, wie ein Auslandskorrespondent zu arbeiten«, sagte Hartmut. »Für den Zeitungsverlag bereite ich eine Reportage über den Wettbewerb in Tiflis vor. Ich freue mich darauf, private Interessen mit beruflichen Pflichten zu verknüpfen. Beim Wettkampf werde ich versuchen, eine Zeit unter vier Stunden zu erreichen.«

»Er teilt uns nur die halbe Wahrheit mit! Sportreportagen sind für ihn notwendiges Übel«, zischte Eleftheria, für die Hartmut zu den „Personas non grata“ zählte. »Seine Leidenschaft ist die Recherche von Machenschaften der Ruhrgebietsclans sowie der kriminellen Organisationen mit ihren internationalen Verflechtungen.«

Der Journalist zuckte zusammen: »Kaum bist du da, gibt es Streit! Was weißt du schon über meinen Beruf? Pack dich an die eigene Nase! Du führst ein bequemes Dasein als Unternehmergattin, wobei du die Konten deines Mannes plünderst.«

Noel sprang von der Sitzbank auf und baute sich mit den Armen fuchtelnd vor dem Essener auf.

»Was erlaubst du dir? Du wagst es, meine Frau zu beleidigen?«

»Immer mit der Ruhe! Die beschwerliche Anreise und die Verfolgung durch den Geisterfahrer haben euch gestresst. Ich möchte lediglich in Erfahrung bringen, was euch dazu motiviert, am Wettkampf teilzunehmen«, beschwichtigte Boris und versuchte, das Gespräch auf die ursprüngliche Thematik zu lenken.

»Wir sind beide keine Engel«, raunzte Hartmut und lehnte sich zurück.

Eleftheria tötete den Journalisten mit Blicken.

Sie wandte sich von ihm ab und bat Noel mit einer knappen Handbewegung, den Vorfall zu ignorieren.

Er beruhigte sich, stiefelte zurück zum Tisch und nahm seinen Sitzplatz an der Stirnseite ein.

Dante, der bei allen Teammitgliedern Sympathien genoss, ergriff das Wort: »Wenn ich ehrlich bin, ist mir die Zeit nicht so wichtig. Mir ist es egal, wie lange ich benötige, Hauptsache ich erreiche den Zieleinlauf. Außerdem arbeite ich an einem Blog über den Grenzkonflikt zwischen Georgien und Abchasien.«

Boris rümpfte die Nase. Das Anliegen von Dante missfiel ihm.

Die Gazelle bemerkte seine Verstimmung und sagte: »Mich interessiert der Wettbewerb und sonst nichts! Ich verfolge das Ziel, in der Altersgruppe der 40 - 45-jährigen Frauen den ersten Platz zu belegen. Alles, was über dreieinhalb Stunden liegt, wäre eine Enttäuschung.«

»Alle Achtung! Solch ein Tempo habe ich selbst in meiner Glanzzeit nie erreicht«, sagte der Georgier.