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Wegen einer Straftat tritt Marcel Leclerc die Flucht von Düsseldorf nach Thailand an. Bei der Abreise entzieht er sich der Verhaftung, indem er Kommissar Malik in eine Falle lockt. Malik, der auf schwere Drogenkriminalität spezialisiert ist, fühlt sich in seiner Ehre gekränkt und reist dem Kleinganoven hinterher. In der ersten Nacht auf der Halbinsel Phuket wird Marcel von einer Prostituierten mit K.O. Tropfen betäubt und ausgeraubt. Er besitzt nichts mehr außer der Kleidung auf seiner Haut. Auf der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten verdingt er sich als Tauchlehrer, Koch, Tellerwäscher und Fischer. Die Arbeitgeber beuten ihn schamlos aus. Sophie, die Freundin eines schwedischen Skippers, begegnet ihm mit Ablehnung. Zwei Fremde versuchen, die Niederländerin zu vergewaltigen. Marcel beweist Wagemut und bewahrt sie vor der Schändung. Das Verhältnis der beiden Europäer verbessert sich. Die Geldnot zwingt Marcel dazu, sich auf einen Drogendeal im Goldenen Dreieck einzulassen. Anstatt das Heroin in Empfang zu nehmen, brennt er mit dem Vorschuss durch. Aus Angst vor der Rache der chinesischen Mafia zieht er sich in ein Wat zurück, wo er sich mit dem Buddhismus auseinandersetzt. Nach ein paar Wochen fordert der Abt ihn auf, als Bettelmönch durch die Straßen von Phuket zu ziehen. Marcel verlässt den Orden und reist nach Ko Surin Tai, der Insel, auf der Seenomaden am Rande der thailändischen Gesellschaft leben. Eine Familie nimmt den Deutschen in ihre Pfahlhütte auf. Er verliebt sich in eine der Töchter und taucht ein in die Welt der Schamanen, Meergeister und Dämonen.
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Seitenzahl: 489
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Der Autor, 1963 in Moers geboren, wuchs in Krefeld auf. Nach dem Abitur führte ihn das Studium in die Römerstadt Trier und nach Frankfurt a. M., wo er sich mit Fragen der Stadtentwicklung auseinandersetzte. Heute wohnt und arbeitet er gemeinsam mit seiner Ehefrau in Düsseldorf. Seine Stories sind in der realen Welt angesiedelt, in die plötzlich und unerwartet das Fantastische einbricht. Szenen aus dem Alltag oder dem privaten Umfeld der Protagonisten wechseln sich ab mit surrealen Episoden.
Veröffentlichungen
Seine Erzählung „Die Friedhofswärterin“ ist im November 2018 im Rahmen der Anthologie „Versteckt liegende Friedhöfe und ihre Geheimnisse“ im Shadodex - Verlag der Schatten, erschienen. Vier Wochen später kam die Geschichte „Liebe 2.0“ in der Anthologie „Vollkommenheit“ im Hybridverlag heraus. Weitere Veröffentlichungen u. a. „Der Wassermann“ in der Anthologie „Fantastische Welten“ von Silvia Klöpper und „Das Porträt“ in der Anthologie „Echo einer anderen Welt“ vom Sarturia Verlag. Seit Ende November des Jahres 2019 ist die Anthologie „Zartbitter - Geschichten von Nachtschwärmern, Traumtänzern und Pechvögeln“ auf der Plattform von BoD auf dem Markt, seit April 2020 die Fantasy-Novelle „Der Apfel des Todes“. Die Anthologie „Hartbitter - Geschichten von Phantasten, Vorkämpfern und Glückssuchern“ datiert von November 2020. Den Debutroman „Die Jenseitsstürmerin“ hat er bei KDP unter dem Pseudonym „Claire Dupont-Lagarde“ veröffentlicht. Die Fantasy Erzählung hat beim Wettbewerb „Fun For Writing“ im Jahr 2017 in der Kategorie „Roman“ den ersten Platz belegt. Der Roman „Marathon in den Tod“ ist die letzte Veröffentlichung aus dem Jahr 2021, die auf allen Plattformen des Buchhandels zu finden ist.
Nichts im Leben geschieht aus Zufall. Alle Begegnungen haben einen Grund, wobei manche dein Schicksalsrad aus dem Rhythmus bringen.
Sumatra, Banda Aceh, 27. Dezember 2004
Düsseldorf, Drogendezernat, Ende Januar 2024
Die Flucht
Schrei nach Liebe
Hoffnungsschimmer
Regenfront
Chancen
Segel im Passatwind
Hauch der Wildnis
Welt gegen den Strom
Knochenjobs
Ko Surin Marinepark
San Pha
Vertreibung aus dem Paradies von Gestern
Der sechste Todestag
Im Land der Träume
Burma Banks
Glaube, Hoffnung, Meditation
Songkran
Alkohol und Leitungswasser
Palita
Chonthicha
Chonthicha und Marcel
Selbstzweifel
Unter Fischern
Disharmonien
Das magische Band
Dschungelfieber
Dao
Innere Stimmen
Verblendung
Freiheit
Offenbarung
Sven
Kreislauf des Lebens und des Todes
Spiegelbilder
Rachsucht
Die Zufallsbegegnung
Anhang: Liste der Romanfiguren
Mit einem Lächeln glitt Laboon, der Freund der Meere und Feind der Küstenbewohner, durch aufgewühltes Wasser. Schwimmende Autos, Betonteile und Wasserleichen steigerten sein Wohlbefinden. Mit Genugtuung nahm er zur Kenntnis, dass die Fische keine Probleme hatten, der Welle zu trotzen. Er kraulte zur Oberfläche und äugte aus dem Wasser. Menschen hockten auf Bäumen, schrien um Hilfe, versuchten, sich gegenseitig festzuhalten. Auf einem Trümmerberg kauerte eine Frau im blauen Langarmtuch, die den Verlust ihrer Tochter beklagte. Niemand war in der Lage, sie in die Arme zu nehmen oder ihr Trost zu spenden. Am Himmel strebte eine Schar kreischender Vögel den Bergen entgegen, fort von dem Wasser, das sich das Land nahm. In der ganzen Welt liefen Bilder aus dem Katastrophengebiet über die Mattscheiben. Millionen Tränen flossen ins Meer, bevor Hilfskräfte zu den Menschen vordringen konnten, um sie aus ihrer Notlage zu befreien. Niemand ahnte, wer für die Katastrophe die Verantwortung trug. Loboon fand Gefallen an dem, was er sah. Seit Urzeiten bereitete ihm die Verschiebung des Meeresbodens Freude. Nur er beherrschte die Magie, das Wasser zum Tanzen zu bringen. Er erinnerte sich an einen Tag vor 66 Millionen Jahren, an dem ein Tsunami den Dinosauriern, die Herrscher des Landes in der damaligen Epoche, den Todesstoß versetzt hatte. Berghohe Wellen waren durch das Meer gerast und hatten sich in Form einer 1.500 Meter hohen Wasserwand durch den heutigen Golf von Mexiko fortgepflanzt. Für Menschen, die nach der Eiszeit in unregelmäßigen Abständen in den Wellen ertranken, empfand er kein Mitleid. Seiner Meinung nach stand diese Spezies im Begriff, den blauen Planeten zu zerstören. Deshalb hegte der Naturgeist die Absicht, die Umweltsünder von den Küstengebieten zu vertreiben.
Die Sonne wanderte in den Zenit. Er tauchte ab und suhlte sich in dem warmen, schäumenden Wasser, das über Wiesen und Felder strömte und alles mit sich riss, was sich der Natur widersetzte. In Höhe der Stadt Banda Aceh vollzog er eine Kehrtwende und schwamm nach Norden ins offene Meer, wo Wind und Wellen im Wechsel regierten. Die großen Meeressäuger umschwärmten ihn, erwiesen ihm ihre Ehrerbietung und fragten, ob er der Unterstützung bedürfte. Laboon bejahte die Frage und erklärte ihnen, dass die Seuche Mensch die Weltmeere befallen hätte, wobei besonders die Korallenriffe dem Untergang geweiht wären. Er erteilte den Meeressäugern den Rat, sich zur Wehr zu setzen, bevor es zu spät sei. Durch ihre Kraft und Intelligenz seien sie in der Lage, Fischerboote oder Jachten zu attackieren und zu versenken. Die Verbündeten versprachen, alles zu unternehmen, was in ihrer Macht stünde. Laboon bedankte sich, nahm Tempo auf und raste vorbei an Malaysia und der Inselwelt im Süden von Thailand, bis er die Andamanensee an der Seegrenze zu Myanmar erreicht hatte. Auf dem Weg zum tiefen Ende des Ozeans passierte er bei den Burma Banks einen Korallengarten, dessen Schönheit ihn faszinierte. Das Meereswesen steuerte auf das Gebilde zu und betrachtete die markanten, in allen Farben des Spektrums leuchtenden Nesseltiere. Er lauschte dem Gesang der Wale, den Liedermachern der Ozeane, beobachtete die Delfinschulen und erfreute sich an den farbenfrohen Korallenfischen. Niemals würde er den Meeresbewohnern Schaden zufügen. Laboon liebte die Natur, war er doch seit Anbeginn der Zeit ein Teil von ihr. Voller Bewunderung glitt er in die Tiefe. Bei 300 Meter übertraf eine feuerrote Korallenformation alle anderen an Brillanz. Eine Mädchenstimme erklang, verführerisch und betörend, wie die Sirenen in der Antike. Sie kam aus den Korallen und zog ihn in den Bann, er konnte sich nicht dagegen wehren. Der Beschützer der Meere und ihrer Bewohner vergaß für einen Moment seine Prinzipien: Er schwamm auf das Prachtexemplar zu und brach ein Teil davon ab. Jetzt war er im Besitz der schönsten Koralle der Unterwasserwelt. Sie diente ihm als Souvenir, als Erinnerung an das Ereignis, das so viele Menschen in den Tod riss oder ihnen die Zukunft stahl. Mit verklärtem Blick glitt die Errungenschaft durch seine Tentakel. Er bekam keine Zeit, um sich an ihr zu erfreuen. Aus dem Nichts griffen vier Hände nach ihm und hielten ihn fest wie Schraubstöcke. Autsch! Wer, zum Teufel, wagt es…?
Ehe er sich versah, bugsierten ihn zwei Wesen in eine Höhle, in der Finsternis herrschte. Eines von ihnen entriss ihm das Souvenir. Es knirschte. Im Bruchteil von Sekunden wucherten die Korallen über ihn. Das Meereswesen versuchte, sich zu befreien, die messerscharfen Polypen beiseitezuschieben. Er wütete, schlug um sich, nahm verschiedene Gestalt an. Vergeblich - er war gefangen im Ozean, den er zu beherrschen glaubte. Er schrie seinen Schmerz in die Dunkelheit, bis sich die Wellen zu Bergen auftürmten. Die Fische flohen ins tiefe Wasser und wandten sich von ihm ab. Der Titan der Meere, der Monsterwellen auslöste und die Fähigkeit besaß, Kontinentalplatten zu verschieben, war nicht in der Lage, die Korallen zu überwinden. Er hatte einen Fehler begangen, sich an der Natur versündig, indem er ein Tabu gebrochen hatte. Zwei Wesen aus einer anderen Welt, die über eine Magie verfügten, die stärker war als die seinige, hatten den Frevel ausgenutzt und ihn gefangen genommen. Seine Verbündeten, die Meeressäuger und die Großfische, konnten ihm nicht helfen, denn sie befürchteten, sich an den messerscharfen Polypen Verletzungen zuzuziehen, die zum Tode führten. Es blieb Laboon nichts anderes übrig, als sich auf die Dummheit der Touristen zu verlassen. Ein kleines Schlupfloch würde ihm reichen, um sich aus dem Gefängnis zu befreien. Er übte sich in Geduld und legte sich schlafen. Zeit spielte für ihn keine Rolle, denn er war es gewohnt, in Dimensionen zu denken, die sich der Vorstellungskraft der Menschen entzog. Die Rettung der Ozeane und ihrer Lebewesen erlitt einen Rückschlag, der Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem in Südostasien hatte.
Der Tag, an dem das Selbstbewusstsein des Kommissars Stephan Malik Schaden nahm, begann mit einem Seufzer, der an den Wänden des Polizeipräsidiums in Düsseldorf widerhallte. Schlaftrunken schob er um halb Zehn die Tür zu seinem Büro auf. Er verabscheute Hektik, nichts brachte ihn aus der Ruhe. Niemand würde die 60-minütige Verspätung bemerken oder ihn deswegen tadeln.
Lange Zeit galt er als der beste Fahnder des Drogendezernats im Polizeipräsidium, gefürchtet bei den Delinquenten wegen seiner Hartnäckigkeit und Intelligenz. Bei den Kollegen genoss er den Ruf des Unfehlbaren, dem kleinste Hinweise genügten, um Gesetzesbrecher auf die Spur zu kommen. Aufgrund seiner Fähigkeiten war er spezialisiert auf schwierige Fälle, wobei der Fokus in den letzten Jahren auf der Clankriminalität lag. Zum Leidwesen von Stephan tummelten sich die Bosse zunehmend im Drogengeschäft, weil dort die höchste Rendite winkte. Allerdings lagen die Fahndungserfolge des Kommissars sechs Monate zurück und manchmal beschlich ihn das Gefühl, als hätte er die besten Jahre hinter sich. Das Alter forderte seinen Tribut. Es mangelte ihm an Motivation, die schwindenden Körperkräfte durch Training wettzumachen. Aber er war davon überzeugt, auch ohne Fitnessstudio und Waldläufe in die Erfolgsspur zurückzukehren.
Mit triefend nasser Feldjacke schritt der Ermittler durch den Raum, der im Dachgeschoss des kasernenartigen Gebäudes lag. Der heutige Morgen diente der Vorbereitung des Einsatzes im Düsseldorfer Hafengebiet. Eine Stunde würde dem 53 - jährigen Haudegen reichen, denn er war ein Mann, der draußen, im Milieu, auf Verbrecherjagd ging. Für ihn rangierte die Intuition über den Dienstvorschriften, die aus einer Zeit stammten, als kriminelle Organisationen weder über Smartphones noch über Computer verfügten. Anstatt die Planung des Zugriffs in Angriff zu nehmen, warf er seine Jacke auf die Fensterbank und schlenderte zum Waschbecken, dessen bräunliche Färbung Zeugnis ablegte von der Nachlässigkeit, mit der die Reinigungskräfte ihre Arbeit verrichteten. Er schob den Hebel der Armatur nach oben, nahm das flüssige Nass mit beiden Händen auf und wusch sich das Gesicht. Stephan litt unter chronischen Schlafmangel, wälzte sich in den Nächten auf der Matratze, bis ihn der Wecker erlöste. Das Wasser aus dem Hahn spülte den Schrecken der Nacht fort. Die Erfrischung erzeugte ein Wohlgefühl, die Lebensgeister erwachten.
Er schaute in den Spiegel, der wie ein Mahnmal über dem Waschbecken hing. Ihm gefiel, was er sah. Das eckige Gesicht mit dem kantigen Kinn und dem Drei-Tage-Bart thronte auf einer untersetzten Figur. Mit 1,75 Metern gehörte er nicht zu den Größten der Kohorte aus dem Jahr 1971. Er glich dieses körperliche Manko durch Muskelpakete, die sich unter dem T-Shirt abzeichneten, aus. Die stahlblauen Augen verliehen ihm eine Kälte, die jedem Kontrahenten Angst einflößte. Die kurzen braunen Haare standen in verschiedene Richtungen ab, zumal er sie seit Tagen nicht gewaschen hatte. Die Arbeit verlangte ihm alles ab. Stephan sah sich mit einem Milieu konfrontiert, in dem ein Menschenleben nichts zählte. Seit dem Tod seiner Frau war der Alkohol ein treuer Begleiter an den Abenden aus Monotonie. Er verhalf dem Kommissar dazu, die Auseinandersetzung mit den Abgründen der menschlichen Psyche auszuhalten, Kraft zu schöpfen für den Kampf gegen das Verbrechen. Er achtete darauf, dass der Alkoholkonsum seine Leistungen nicht beeinträchtigte, trank während der Arbeit keinen Tropfen und versuchte, sich gesund zu ernähren. In den letzten Jahren gerieten die Vorsätze, ohne dass er es bemerkte, in Vergessenheit.
Erfrischt wandte sich der Gesetzeshüter vom Waschbecken ab, drehte sich um und nahm den Schreibtisch in Augenschein, auf dem der Personal Computer und das Telefon in einen Wust von Aktenbergen und Papierstapeln untergingen.
»Zum Teufel! Was ist denn das für ein Mist?«, brummte er und stemmte beide Hände in die Hüften. Mitten in der Tastatur steckte ein geknicktes DIN-A-4 Blatt, auf dem der Name „WIM“ aufgetragen war, der Spitzname seines Vorgesetzten. Der Kommissar hasste es, wenn der Chef ihm, ohne ein persönliches Gespräch, Aufgaben unterschob, denn es waren stets Vorgänge, die keinen Zeitaufschub duldeten. Stephan grapschte nach dem Papier und faltete es mit gerunzelter Stirn auseinander. Ein Foto trudelte auf den Boden. Er schenkte ihm keine Beachtung, sondern konzentrierte sich auf den Text. Seine Befürchtungen bestätigten sich. Ein „Eilt – Vorgang“, der am Vormittag zu erledigen war, erregte den Widerwillen des Kommissars. Er zwang sich dazu, das Gekritzel des Chefs zu entziffern: Fahr sofort nach Reisholz, um Marcel Leclerc mit dem Haftbefehl (findest du in der Cloud) in dessen gleichnamigem Reisebüro festzunehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass der Subventionsbetrüger beabsichtigt, das Land zu verlassen. Ich setze volles Vertrauen in dich! Seine Mutter war ins Drogenmilieu abgerutscht. Vielleicht betreibt der Kerl in seinem Büro einen schwunghaften Handel. Wie ich dich kenne, wirst du es herausfinden!
Unter dem Text befanden sich die Anschrift des Beschuldigten sowie der Zeitpunkt, an dem Wim den Auftrag erteilt hatte: 07.05 Uhr. Der Kommissar wunderte sich nicht darüber, dass sein Chef das Schreiben zu so früher Zeit abgezeichnet hatte, denn Wim betrat stets als erster das Präsidium und verließ es als Letzter. Es stimmte Stephan ärgerlich, dass ihm der Vorgesetzte einen Fall unterschob, der vor Trivialität triefte und nicht zum Aufgabenprofil eines Top-Ermittlers passte. Einen Subventionsbetrüger festnehmen? Einen Reiseheini aufspüren, den Nobody, der wegen einer Lappalie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war? Das rangierte unter der Würde des Haudegens, der sich mit Schwerkriminellen anlegte und keine Mühen scheute, sie ihrer Strafe zuzuführen. Es war Stephan klar, dass der Anlass für solche Feuerwehraufträge im Personalmangel des Polizeipräsidiums begründet lag. Es gab keine Abteilung, die nicht über Nachwuchssorgen klagte. Der Hinweis darauf, dass Leclerc im Drogengeschäft tätig war, hielt Stephan für einen Vorwand. In seinem Ressort gab es keine Erkenntnisse über diesbezügliche Aktivitäten in dem Ladenlokal.
Stephan kniete nieder und nahm das auf dem Boden liegende Foto des Gesuchten in die Hand. Ein Blick genügte, um sich die Merkmale der Augen, der Nasenpartie, des Haaransatzes und die Form des Mundes einzuprägen. Der Kommissar besaß die Gabe, Personen auch dann zu erkennen, wenn diese ihr Erscheinungsbild durch einen Bart oder eine andere Frisur verändert hatten. Mehr noch: Die Mimik des Gesuchten gab Stephan einen Hinweis auf dessen Psyche. Auf dem Foto hatte der Delinquent die Lippen etwas auseinandergezogen, als würde er versuchen, zu lächeln. Der Kommissar durchschaute die Fassade, war davon überzeugt, dass die Freude im Leben des Gesuchten ein Schattendasein fristete. Mit Wut im Bauch streifte der Gesetzeshüter die Feldjacke über und eilte aus dem Raum, raus aus dem Gebäude, in dem die Langeweile wohnte. Auf dem Hof stieg er in seinem W 124 ein, der Mercedes Diesel aus dem Jahr 1990, den Stephan seit dem Eintritt ins Kommissariat als Dienstwagen nutzte. Obwohl der Rost an den Kotflügeln des Vehikels nagte, verrichtete die Maschine, trotz 380.000 km Laufleistung, ordnungsgemäß ihren Dienst. Hatten sich Auto und Fahrer mit den Jahren aneinander angeglichen? Scheppernd sprang der Wagen an und trotzte der Kälteglocke, die über der Stadt klebte. Gedankenversunken tuckerte der Kommissar durch die Stadt. Er dachte an den Großeinsatz am kommenden Tag, an den Clanchef, der ihn seit Jahren mit dem Tod bedrohte, und an die Junkies vom Worringer Platz, wo ihm das Elend der Drogensüchtigen jeden Tag ins Auge sprang. Es fiel ihm leicht, die optimale Route zum Beschuldigten zu finden, denn Stephan kannte sich in den Industriestadtteilen der Rheinmetropole aus, war selbst in einem aufgewachsen und wohnte in Flingern, ein traditionelles Arbeiterwohnquartier östlich der Innenstadt.
Das Reisebüro lag an einer Hauptverkehrsstraße, in der sich eine nicht enden wollende Blechlawine über den Asphalt schob. Es bereitete Stephan Mühe, einen Parkplatz zu finden, denn in dem Quartier mischten sich Anwohner mit Beschäftigten. Nach zehn Minuten gab er auf und parkte in zweiter Reihe, unmittelbar gegenüber dem Gebäude. Beim Aussteigen gewann der Kommissar den Eindruck, als ob sich hinter der Glasscheibe des Reisebüros ein Schatten abzeichnete. Er verblasste genauso schnell, wie er gekommen war.
Ich werde die Angelegenheit im Handumdrehen erledigen. Es gibt Wichtigeres als Subventionsbetrüger.
Stephan zog den Kragen seiner grauen Feldjacke hoch, überquerte die Straße und steuerte auf den Eingang des Reisebüros zu. Die Kirchturmuhr schlug elf Mal, es hatte seit einer Stunde geöffnet. Mit einem Ruck riss der Ermittler die Tür auf und betrat den Raum, in dem unzählige Kataloge verstreut auf dem Boden lagen. Flugtickets, Rechnungen und Reisebeschreibungen flogen umher, aufgewirbelt durch den Luftzug, den er beim Öffnen der Tür verursacht hatte. Der Schreibtisch gähnte – bis auf den Computer und zwei auseinandergebrochene Kugelschreiber – vor Leere. Auf dem Beistelltisch thronte ein Becher Kaffee. Stephan schlenderte zum Arbeitsplatz des Inhabers und nahm das Behältnis in die Hände. Es war warm. Der Vogel steht im Begriff, die Stadt zu verlassen, ganz so, wie Wim es beschrieben hat.
Sein Blick fiel auf eine Pforte, die vom Geschäftsraum aus zum hinteren Teil des Gebäudes führte. Die Aufschrift „Privat“ hinderte den Ermittler nicht daran, sie aufzuschieben. Er betrat einen Flur, dunkel und eng, der Zugang gewährte zu weiteren Räumen, die allesamt durch Türen abgetrennt waren. Das ist die Wohnung von Leclerc. Es ist ein Leichtes, den Betrüger hier zu überwältigen.
Plötzlich erklang ein Stöhnen, wie von einem Menschen, der mit dem Tode rang. Die Geräusche kamen aus dem hinteren Teil des Flurs, dort wo eine Tür mit Stahlrahmen ins Nirgendwo führte. Eine Abstellkammer? Der Eingang zum Keller, wo der Übeltäter sich verschanzt hatte? Die Wehklagen gerieten zu einem Dauerton, der am Nervenkostüm des Ermittlers zerrte. Er zögerte keine Sekunde, rannte zur Tür und drückte die Klinke nieder. Waffe ziehen, in den Raum springen, ihn sichern, gingen Hand in Hand. Dunkelheit schlug ihm entgegen, nur das Schreien erfüllte das Zimmer, in dem es nach Schweiß und Ungewissheit roch. Wo ist der verdammte Lichtschalter? Der Kommissar suchte die Wand an den Stellen ab, wo solche Hebel gewöhnlich zu finden sind. Er scheiterte mit seinen Bemühungen. Es galt, keine Zeit zu verlieren, jemand lag im Sterben oder stand im Begriff, Opfer einer Gewalttat zu werden. Stephan griff nach dem Feuerzeug in seiner Jacke und entzündete es. Wie ein Messer durchdrang der Lichtstrahl die Dunkelheit. Ein Plastikvorhang, hinter dem sich ein Schatten bewegte, fiel in sein Blickfeld. Von dort kamen auch die Schreie. Ein Sprung- Stephan war dort, wo Hilfe vonnöten war. Er riss den Vorhang zur Seite und erstarrte. Auf dem Boden lag ein iPad, auf dem ein Film des Streaming-Dienstes Netflix ablief. Der Ermittler kannte die Slasher-Szene, hatte sie im Kino und zu Hause auf DVD angeschaut. Es war der Film Freitag der 13. mit dem psychopathischen Serienmörder Jason Voorhees. Verdammt, eine Falle! Stephan wich einen Schritt zurück und ballte die Hand zu einer Faust. Ein kalter Gegenstand traf seinen Hinterkopf. Wie ein Stein sackte der Kommissar auf die Fliesen der Duschkabine, wo eine gnädige Ohnmacht ihm die Scham nahm.
Beim Erwachen dröhnte sein Schädel wie nach einem Punkkonzert der „Toten Hosen“. Er hatte keine Ahnung, wie lange er außer Gefecht gesetzt worden war. Er stöhnte und fasste sich an den Hinterkopf. Die Haare waren verklebt mit einer roten Flüssigkeit, die sich an seinen Fingern sammelte. Selten zuvor hatte sich Stephan dermaßen elend gefühlt. Ein Nobody hatte ihn hinters Licht geführt, ihm eine Falle gestellt, in die nur Anfänger hineintappen. Überheblichkeit gepaart mit einer gehörigen Portion Unvorsichtigkeit waren die Triebfedern, die ihn der Lächerlichkeit preisgegeben hatten. Ein 26 Jahre alter, 1,80 Meter großer blonder Wuschelkopf mit hagerer Figur hatte dem Muskelprotz Grenzen aufgezeigt und ihn bis auf die Knochen blamiert. Verdammter Mistkerl, das wirst du mir büßen!
Mit abgetragener Winterjacke, verschwitztem T-Shirt und an der rechten Seite aufgerissener Jeans baute sich Marcel Leclerc Anfang Februar des Jahres 2024 vor der Passkontrolle des Düsseldorfer Flughafens auf. Er hoffte, dass der Beamte ihm Zutritt zu den Gates gewährte. Der Polizist bemerkte die Nervosität des Reisenden, irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen. Der Beamte unterzog dem Pass einer Prüfung und glich die Daten mit der Fahndungsdatei ab. Es gab keine Hinweise darauf, dass der Mann eine Straftat begangen hatte oder im Begriff stand, eine vorzubereiten. Der Kontrolleur starrte auf die Narbe des Gegenübers hinter der Glasscheibe, die ein Viertel der rechten Wange einnahm. »Flugangst«, fragte der Grenzer und drückte Marcel das Dokument in die Hand.
Anstatt einer Antwort eilte der Passagier durch das Drehkreuz und begab sich auf schnellsten Weg zum Wartebereich, wo er dem Check-in für den Flug nach Phuket im Süden von Thailand, mit Zwischenlandung in Abu Dhabi, entgegenfieberte. Marcel verfolgte die Absicht, nach der Landung in dem südost-asiatischen Land unterzutauchen. Er fingerte nach dem Boardingpass, der aus der Außentasche seines Rucksacks hervorlugte. Hoffentlich reicht die Zeit und es dauert eine Weile, bis ich zur Fahndung ausgeschrieben werde, dachte er und zerknüllte ein Papiertaschentuch bis zur Unkenntlichkeit.
Eine monotone Frauenstimme erlöste ihn. »We are ready for Checkin…«
Er sprang vom Sitz auf, quetschte sich in die Menschenschlange und drängelte sich vor, obwohl seine Sektion nicht an der Reihe war. Barsch wies ihn die Dame am Gate an, sich am Ende anzustellen: »First Class, dann Businessclass, bitte. Anschließend Behinderte und Frauen mit kleinen Kindern. Wir haben es doch gerade durchgegeben.«
Den Kopf beladen mit Sorgen folgte Marcel der Anweisung und schloss sich der Warteschlange an, versuchte jedoch, sich vorzudrängeln. Alle paar Sekunden äugte er über die Schulter, um nach der Polizei oder dem Grenzschutz Ausschau zu halten. Er gewann den Eindruck, dass tausend Augen auf ihn ruhten, man jede seiner Bewegungen beobachtete. Eine Angestellte der Airline nahm seine Bordkarte entgegen. Es piepste – der Blondschopf stand hinter der Einlasskontrolle, bereit, für ein Leben ohne Gesetze und Regeln, die den Menschen die Freiheit rauben. Er setzte zum Spurt an. Ein Mann schimpfte: »Hoppla! Mach mal langsam! Du gehst auch nicht früher in die Luft, Blödmann.« Marcel überhörte die Beleidigung und nahm die vordere Treppe des Flugzeugs, wo weniger Menschen zum Einsteigen herumstanden. Mit dem Zeigefinger deutete die Stewardess auf die letzte Reihe, wo sich sein Sitz befand. Obwohl man ihm einen Gangplatz zugewiesen hatte, setzte er sich ans Fenster, um die Außenarbeiten bei der Abfertigung des Fliegers zu verfolgen. Das Tankfahrzeug verrichtete seine Aufgabe, ein Band transportierte Koffer ins Innere des Airbus, das Bodenpersonal verständigte sich mit Gesten, die Marcel nicht zu deuten vermochte. Er wohnte den Vorgängen mit Argwohn bei, obwohl nichts anderes als die übliche Routine beim Start ablief. Ein Geruch nach Kerosin und verbrauchter Luft stieg in seine Nase. Ohne ersichtlichen Grund verzögerte sich der Abflug. Unruhe breitete sich unter den Passagieren aus. Nach zehn Minuten erklang die sonore Stimme des Flugkapitäns aus dem Cockpit. Er behauptete, beim Boarding sei ein Fehler aufgetreten. Eine Reisetasche ohne Namensschild müsse untersucht und identifiziert werden. War es ein Vorwand, um den Airbus am Abflug zu hindern? Marcel erhob sich vom Sitz und spähte über die Lehne. Drei Reihen vor ihm hockte ein Mann mit braunen, wirren Haaren, der seine dunkle Sonnenbrille, trotz der spärlichen Beleuchtung im Jet, nicht abnahm. Marcel befürchtete, es wäre der Kommissar, den er zu Hause in eine Falle gelockt und niedergeschlagen hatte. Der Wirrkopf erhob sich von seinem Sitz, um eine Zeitschrift aus der Aktentasche im Ablagefach über ihm herauszuziehen. Marcel atmete tief durch und entspannte sich. Der Mann war 1,70 Meter groß und von schmächtiger Gestalt, das glatte Gegenteil zu dem Muskelprotz aus dem Reisebüro.
Eine weitere halbe Stunde Bangen. Marcel räumte seinen Fensterplatz zugunsten einer Endvierzigerin, die mit Maske und über den Kopf gestülpter Kapuze jegliche Form der Kommunikation im Keim erstickte. Im Zeitlupentempo rollte der Flieger zur Startbahn. Motoren dröhnten, der Jet schraubte sich in die Höhe, bis die Landschaft wie eine Spielzeugwelt wirkte. Nur weg von hier. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Ich hasse dieses Leben! Kaum hatte der Airbus die erforderliche Reisehöhe erreicht, wackelte er wie eine Waschmaschine im Schleudergang.
»Wir durchqueren eine Schlechtwetterzone. Der Bordservice wird, bis auf Weiteres, eingestellt«, tönte es aus dem Cockpit. Der Blondschopf blickte in Gesichter, in denen sich Unbehagen abzeichnete. Typisch! Nichts gelingt, alles geht schief, dachte er und hielt sich mit schweißnassen Händen an den Plastikstützen des Sitzes fest. Im Kopfkino lief sein Leben wie im Film ab, die Kindheit mit der drogensüchtigen Mutter, das Mobbing der Mitschüler in der Jugendzeit, die misslungenen Versuche, eine Ausbildung abzuschließen oder einen Job mit Sozialversicherungsgarantie zu ergattern. Die vergangenen Jahre waren gekennzeichnet durch die Corona-Pandemie, in der sein Reisebüro kaum Einkommen erzielt hatte. Es war sein erster und letzter Versuch gewesen, mit einem eigenen Unternehmen Geld zu verdienen. Mitten im Insolvenzverfahren war er in einer Kneipe der Düsseldorfer Altstadt auf Lisa getroffen, die er sofort in sein Herz geschlossen hatte. In geschäftlichen Angelegenheiten brillierte sie, glaubte er. Es gelang ihr, die Insolvenz des Unternehmens zu verhindern und es binnen eines Jahres in die Gewinnzone zurückzuführen. »Wie hast du das gemacht«, hatte er sie gefragt. »Das lass mal meine Sorge sein. Kümmere du dich um die Reiseträume deiner Gäste. Aber Finger weg von den Finanzen, davon verstehst du nichts.« Am nächsten Tag hatte er ihr die Prokura übertragen und damit den Weg in den Abgrund geebnet. Man hat tausend Möglichkeiten, um eine Partnerschaft zu beenden, doch ihre Methode toppte alle Abschiedsszenarien, die es auf dieser Welt gibt: »Ich geh kurz raus zum China-Imbiss an der Ecke, besorge mir Schminke im Drogeriemarkt und bin in einer Stunde wieder da«, sagte sie mit einem Augenaufschlag, der vor Unschuld triefte. Sie schob die Tür auf, blickte nicht zurück und machte sich auf den Weg. Am Abend, kurz nach 20.00 Uhr, war sie immer noch nicht zurück. Jeder andere Mann hätte die Polizei gerufen, mit Freunden und Bekannten telefoniert oder die halbe Stadt durchstreift. Ihn dagegen beschlich ein mulmiges Gefühl, eine Vorahnung, verbunden mit der Befürchtung, dass sich ihr Verhalten nahtlos in sein verkorkstes Leben einfügte. Er wagte nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, sondern tröstete sich in der Eckkneipe mit einem 18 Jahre alten Single Malt Whiskey aus den schottischen Highlands. Beim Betreten der gemeinsamen Wohnung um Mitternacht kam es wie erwartet. Aufstehende Schranktüren, durchwühlte Aktenordner sowie herausgerissene Passwörter für die Bankkonten zwangen ihn dazu, das Ungeheuerliche zu akzeptieren: Die Beziehung und mit ihr das Unternehmen waren gescheitert. Ohne ein Wort des Abschieds, eine Erklärung oder wenigstens einen Hinweis auf den Anlass ihres Verschwindens brauste Lisa aus seinem Leben und ward nie mehr gesehen. Wegen fehlender finanzieller Mittel meldete Marcel zum zweiten Mal Konkurs an. Die Überschuldung führte Hals über Kopf zur Privatinsolvenz. Aufgebrachte Reisende sowie ein rigoroser Konkursverwalter raubten ihm den Schlaf. Schlimmer noch: Lisa hatte die Corona-Beihilfen dazu genutzt, um Subventionsbetrug in einer sechsstelligen Größenordnung zu begehen., wobei sie bei den Anträgen seine Unterschrift gefälscht hatte. Um der Gefängnisstrafe zu entgehen, buchte Marcel einen Flug nach Phuket, der aufgrund der langen Flugzeit zu einem Sonderpreis angeboten worden war.
»Kaffee oder Tee?« Die Frage der Stewardesse führte ihn zurück in die Realität. Er hatte nicht wahrgenommen, wie der Airbus aus den Turbulenzen herausgeflogen war und der Bordservice wieder eingesetzt hatte. Na also, noch mal gut gegangen. Ich werde in Thailand einen Neuanfang wagen und Lisa aus meinem Gedächtnis streichen. Marcel war mit dem Schmuck, den sie in der Eile im Wohnzimmerschrank zurückgelassen hatte, ins Flugzeug gestiegen, sicher verstaut in seiner linken Hosentasche. Er besaß die Anschrift eines chinesischen Händlers in Patong, der sich auf solche Wertsachen spezialisiert hatte. Mit dem Erlös verband der junge Mann die Hoffnung, die ersten vier Wochen in Thailand zu finanzieren.
Bei der Landung in Abu Dhabi brach die Nacht über den Flieger herein. Dennoch wimmelte es im Terminal vor Menschen. Es gelang Marcel erst nach 60 Minuten, einen Platz auf den Sitzbänken zu erobern. Sieben Stunden waren zu überbrücken. Marcel nahm das Kurs- und Übungsbuch der thailändischen Sprache zur Hand. Er hatte sich den Sprachtrainer aus der Stadtbücherei für vier Wochen ausgeliehen. Es war niemand in der Lage, die Rückgabe des Buches von ihm einzufordern. Er überflog die ersten Kapitel, studierte die Schriftzeichen und prägte sich die Aussprache ein. Der Lernstoff erforderte seine volle Konzentration, denn das Idiom wartet nicht nur mit unterschiedlichen Tonhöhen, sondern auch mit 44 Konsonanten und 32 Vokalen auf, die es im Deutschen nicht gibt. Dennoch würde Marcel nicht lange benötigen, um in dieser Fremdsprache zu kommunizieren, zumal er zuhause mit dem Studium begonnen hatte. Wenn er ein Talent besaß, dann war es seine Sprachbegabung. Durch die Mutter aus Venlo mit ihren Partnern aus aller Herren Länder erlernte er im Kindesalter, neben der niederländischen und der deutschen Sprache, auch das Englische und Französische, ohne dass es ihm Mühe bereitete. Durch das Studium des Übungsbuches vergaß Marcel die Zeit, überhörte den „Final Call“, obwohl sein Name mehrfach über Lautsprecher durchgegeben worden war. Bis er realisierte, dass alle Passagiere eingestiegen waren, verging eine Viertelstunde. Ein schepperndes Geräusch schreckte ihn auf. Die Damen am Gate standen im Begriff, das Tor zu einer anderen Welt zu schließen. Marcel sprang auf, zeigte ihnen die Bordkarte und hechtete über die Gangway. Wie zu erwarten, nahm er in der hinteren Sitzreihe des Fliegers Platz, wo er mit dem Studium der Fremdsprache fortfuhr. In der Abenddämmerung fiel er in den Schlaf, der nicht länger als ein paar Minuten währte. Die Zeit zerrann im Wechselbad der Gefühle, Erleichterung und Ungewissheit spielten miteinander Schach.
Mit halbgeschlossenen Augen blinzelte Marcel aus dem Fenster. Der Jet verringerte die Flughöhe und durchbrach sich auftürmende Wolkengebirge. Er betrachtete die Landschaft, die in der untergehenden Sonne ihre Pracht offenbarte. Die Halbinsel Phuket lag ihm zu Füßen - sanfte Hügeln aus einer Symphonie von Grüntönen und einem Meer, deren Wellen sich an Stränden aus Korallensand brachen. Er verband mit der Einreise die Hoffnung, die Vergangenheit wie einen zu eng gewordenen Anzug abzustreifen und das Glück zu suchen in einem Land, dessen Kultur ihm fremd war. Er hegte die Absicht, eine Reiseagentur zu gründen und Exkursionen anzubieten, die in keinem Travel Handbuch zu finden waren. Eventreisen, Abenteuertouren, Ausflüge für Menschen, die ein Herz für die Kultur des Landes und nicht für Bars oder Strandliegen hatten. Sobald das Geschäft Gewinn abwirft, stelle ich Mitarbeiter ein, die sich mit den hiesigen Gepflogenheiten auskennen. Dann expandieren wir, gründen Filialen und reihen uns ein in die Phalanx großer Reiseveranstalter.
Mit 95,98 Euro aus der Reisekasse, den Schmuck seiner Freundin, dem Handy und einem Rucksack mit ein paar T-Shirts, einer Winterjacke sowie dem Foto seiner Mutter, das Wertvollste, was er besaß, landete Marcel.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, dachte er und stolperte aus dem Flieger, die Glieder steif wie ein Brett. Tropenluft schlug ihm entgegen. Thailand begrüßte ihn mit Schwüle, das Land der Engel mit der „Metropolregion Bangkok“, in der sich 15 Millionen Einwohner auf engstem Raum drängeln, den 15 Bergvölkern, den 41.000 buddhistischen Tempeln und den Tsunamis, die ganze Küstenabschnitte in Trümmerwüsten verwandelt hatten.
Freitagabend passierte Marcel die Grenzkontrolle am Flughafen. Niemand kümmerte sich um den Mann, der wie ein Geist aus einer anderen Welt durch das Gebäude schlich. Seit seiner Flucht aus Düsseldorf war zu wenig Zeit vergangen, als dass die dortigen Behörden in der Lage gewesen wären, einen Auslieferungsantrag an die thailändischen Kollegen zu stellen. Marcel nahm Platz auf einer Bank in der Ankunftshalle, um für den Kontakt zum chinesischen Händler in Phuket-City das kostenlose WLAN des Flughafens zu nutzen. Im Gegensatz zu den anderen Touristen, die sich nach der Ankunft eine inländische SIM-Karte besorgten, verfügte der junge Mann nicht über die finanziellen Mittel, um ihrem Beispiel zu folgen. Er rief die Nummer des Händlers an und erfuhr, dass dessen Geschäft erst am Montag geöffnet hatte. Es galt, zwei Tage mit exakt 95,98 Euro zu bestreiten, nicht viel in einer Touristenregion, in der es an Billigunterkünften mangelte. Er widerstand der Versuchung, in einer Absteige einzuchecken, und wanderte zu dem ein Kilometer vom Flughafen entfernt gelegenen Nai Yang Beach. Marcel richtete sich einen Schlafplatz unter einer Kokospalme ein, die von der Straße aus nicht einsehbar war. Er stattete diesen mit den heruntergerieselten Blättern des Baumes aus und genoss den Duft des Meeres, der Freiheit verhieß. Der Schlaf war kurz und traumlos. Marcel fuhr hoch und betrachtete das Sternenzelt. Es sah anders aus als in Deutschland. Der Düsseldorfer versuchte, abzuschalten, zu meditieren oder durch Konjugation der Verben zu ermüden. Der Jetlag, der Langstreckenflug sowie die Strapazen der letzten Tage forderten ihren Tribut.
Um Mitternacht schreckte ihn Hundegebell aus dem Dämmerzustand. Fünf Tiere kämpften miteinander und näherten sich ihm mit wütendem Knurren. Er erhob sich vom Boden und schickte sich an, die Straßenköter zu vertreiben. Nicht in die Augen schauen, sonst greifen sie mich an. Einer der Hunde ignorierte das Verhalten des Deutschen, spurtete auf ihn zu, sprang hoch und versuchte, ihm die Kehle durchzubeißen.
Marcel wich dem Tier aus und trat es mit voller Wucht in die Geschlechtsteile. Winselnd ließ der Rüde von ihm ab und verschwand mit seinen Gefährten im Unterholz. Gieriges Knurren bewies, dass die Wadenbeißer in der Nähe waren und auf eine Gelegenheit zum Angriff warteten. Der junge Mann erklomm einen Baum, wo er in einer Astgabel dem Morgen entgegenfieberte.
Mit dem ersten Hahnenschrei kehrte Ruhe ein, die Hunde verfolgten ein anderes Opfer.
Kein guter Start für einen Neuanfang, dachte Marcel, stieg vom Baum und schlenderte zurück zu seiner Kokospalme. Dennoch war an Schlaf nicht zu denken. Mit den ersten Sonnenstrahlen liefen Jogger am Strand um die Wette, Garküchen wurden aufgebaut und betrieben, es roch nach ranzigem Fett und Betriebsamkeit. Marcel beobachtete einen ganz in Orange gekleideten Mönch, der einem Vogel die Freiheit schenkte. »Jeden Tag eine gute Tat, das verbessert mein Karma. Wer hingegen anderen Menschen Schmerzen zufügt oder sie ins Verderben führt, wird am Hass ersticken«, predigte er und freute sich, dass Marcel mit ihm einer Meinung war.
Vom Hunger getrieben nahm der Düsseldorfer am Nachmittag ein Songthaew, das thailändische Großraumtaxi, mit dem Fahrtziel „Patong“, dem Zentrum des Massentourismus im Süden von Thailand. Auf schmalen Sitzbänken hockte er zusammengepfercht mit anderen Touristen und einer Gruppe thailändischer Jugendlicher, die sich über den Deutschen mit seiner blonden Haarpracht lustig machten. Er ignorierte sie, genoss stattdessen die Fahrt in dem offenen Vehikel, wo sich die Schwüle des Tages mit den Abgasen der Autos mischte. An einer belebten Straße, der Bangla Road, stieg er aus. Dem Blondschopf trieb die Hitze den Schweiß auf die Stirn, er fühlte sich wie in einer Sauna nach dem Aufguss. Er streifte die Perlen ab und nahm das Ambiente in Augenschein. Die jungen Mädchen mit den leuchtenden, batteriebetriebenen bunten Schleifen auf dem Kopf, die grell blinkenden Katzenköpfe oder Disney Figuren auf langen Stäben verkauften, wirkten lustig. Verdruss bereiteten die zahllosen Türsteher, die mit ihren großen Schildern über „Happy Hour Angebote“ und angeblich einmalige Shows die Straße versperrten. Marcel fühlte sich wie in der Düsseldorfer Altstadt in einer lauen Sommernacht am Wochenende. Aber die grelle Leuchtreklame, die Gerüche der Garküchen und die alten Holzmaste, die unter dem Kabelwirrwarr der Elektroinstallationen ächzten, zeigten ihm, in welchen Teil der Welt er gelandet war.
Regen setzte ein, im Bruchteil von Sekunden bildeten sich Seen auf der Straße, Wasserfontänen, verursacht von vorbeifahrenden Autos, durchnässten ihn bis auf die Haut. Im Laufschritt betrat er die Bar am Ende der Bangla Road, die mit ihrer Partymusik und dem „Ballermann-Flair“ eher zum Weitergehen, denn zum Verbleib aufforderte. Der Wunsch, ins Trockene zu gelangen, schlug alle Vorbehalte in den Wind. Mit verschränkten Armen trat er ein und schlenderte mit gespielter Lässigkeit zum Barbereich. Er nahm Platz neben einen fetten, älteren Mann, der zwei wild gestikulierende Thai-Mädchen mit Longdrinks versorgte, bestellte aus Kostengründen ein Glas Wasser und genoss die lockere Atmosphäre in dem Etablissement. Am hinteren Ende des Bartresens unterhielt eine Überzahl von jungen Mädchen einige männliche Gäste mit harmlosen Spielchen wie „Jenga“ oder „Vier gewinnt“. Eine Band verbreitete eine Partystimmung, die zum Tanzen aufforderte. Obwohl Marcel keinen Bezug zum Rotlichtmilieu hatte und das aus seiner Sicht ausbeuterische Verhalten reicher Westler gegenüber den ärmeren südostasiatischen Frauen verabscheute, behagte ihm die Stimmung in dem Lokal. Zeitweilig vergaß er sogar den Stress der vergangenen Tage und den bösartigen Kommissar, der ihn verfolgt hatte.
Zur Freude von Marcel schob der Dicke mit seinen zwei Thai-Perlen nach einer halben Stunde ab. Die schmächtigen, gerade einmal fünfundvierzig Kilogramm leichten Mädchen hatten Mühe, den betrunkenen Mann abzustützen. Sie bugsierten ihn auf die regennasse Straße, wo er aus dem Blickfeld von Marcel verschwand. Der freie Stuhl wurde umgehend wiederbesetzt. Neben ihm nahm eine hübsche Thailänderin Platz. Er konnte ihr Alter schlecht einschätzen, denn durch die zierlichen Figuren wirken thailändische Damen jünger als ihre europäischen Geschlechtsgenossinnen. Im Nachhinein schätzte er ihr Lebensalter auf etwa dreißig Jahre ein. Mit ihrem farbenfrohen T-Shirt, der hautengen Jeans sowie der eleganten, randlosen Brille wirkte sie alles andere als nuttig, sondern sah eher aus wie eine Lehrerin, die sich aus Versehen an diesem verruchten Ort aufhielt. Ist sie, ebenso wie ich, vor dem Gewittersturm in diese Bar geflohen oder gehört sie zum Personal des Betriebs und wartet auf eine Gelegenheit, um mich auszunehmen?
Marcel orderte einen Whiskey pur, obwohl er ihn in Deutschland nur als Longdrink mit Cola schätzte. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass die Dame, trotz räumlicher Nähe, keinen Kontakt zu ihm aufnahm. Im Gegenteil: Sie beachtete ihn nicht. Er hätte zu gerne gewusst, was sie dachte, aber sie saß nur da und nippte an ihrem Drink, einen Mai Thai, den aus Rum und Curacao Likör zusammengemixten Longdrink. Mit Todesverachtung kippte Marcel den Single Malt auf Ex in sich hinein. Das Brennen im Hals schwächte sich ab im Angesicht der Anspannung, die ihn erfasst hatte, aber der bittere Geschmack auf der Zunge ließ sich nicht herunterschlucken. Die Thailänderin tippte auf ihrem Smartphone herum.
Nach einer Viertelstunde lauten Schweigens kam der Barkeeper auf das ungleiche Paar zu und fragte: »Darf ich Ihnen noch zwei Drinks servieren?«
Verwundert schaute die junge Frau hoch, schüttelte den Kopf und sagte einige Worte auf Thailändisch, die Marcel aufgrund des Lärms in dem Etablissement nicht verstand. Sie wandte sich ihm zu und erklärte in gutem Englisch mit hoher Stimme: »Bitte entschuldigen Sie das Versehen. Der Barkeeper war der Meinung, dass wir ein Paar wären.« »Kein Wunder, wenn man so eng beieinanderhockt.«
»Es ist halt eine Bar. Aber keine Sorge. Ich lasse mich niemals von fremden Männern einladen, sondern begleiche die Rechnung für meine Getränke selbst.«
Na, scheint ja keine Prostituierte zu sein.
Die beiden kamen ins Gespräch. Sie bedienten sich sowohl der englischen als auch der thailändischen Sprache, wobei Hände und Füße dazu dienten, Missverständnisse auszuräumen. Sie hieße Tamika und arbeite in einem Reisebüro in der Inselhauptstadt, behauptete sie. Damit war der Bann gebrochen. Marcel hatte – so glaubte er – durch Zufall eine nette Kollegin angetroffen, die im selben Beruf wie er tätig war. Vielleicht war sie sogar in der Lage, ihn beim Aufbau einer Agentur zu unterstützen, konnte ihm Ratschläge erteilen, die man in einem Land mit ungeschriebenen Gesetzen und Gepflogenheiten benötigt. Auf jeden Fall stimmte die Chemie zwischen den beiden Barbesuchern. Er bot ihr an, in einem Restaurant zu dinieren, um die Unterhaltung in gepflegter Atmosphäre fortzusetzen.
»Ein aufschlussreiches Gespräch«, sagte sie beim Verlassen der Bar. »Bei dir weiß man nie, ob es im Leben nach oben oder nach unten geht.« Marcel lachte und legte einen Arm auf ihre Schultern. Das Paar wurde schnell fündig, denn die Bangla Road hält für jeden Geldbeutel kulinarische Überraschungen bereit. Sie entschieden sich für ein gehobenes Straßenlokal, dessen Eingang zwei goldene Tigerköpfe zierte. Beim Essen erfuhr er, dass der Name Tamika für Neugier stand. Sie sei allem Fremden gegenüber aufgeschlossen. Konventionen würden für sie keine Rolle spielen. Zwar hätte sie einen Partner, aber der wäre ebenfalls in der Reisebranche tätig und häufig wochenlang im Ausland unterwegs.
Marcel berichtete aus seinem Leben, wobei er das Pech, welches wie eine zähe Masse an den Absätzen seiner Schuhe klebte, nicht ausließ. Den Haftbefehl aus Deutschland erwähnte er mit keiner Silbe. Er sei schon zufrieden, wenn kein Unglück auf ihn zurolle. Bei der Konversation nutzte er die Gelegenheit, seine Kenntnisse des Thailändischen zu vertiefen. Schließlich gibt es keinen besseren Weg, als eine Fremdsprache durch eine Muttersprachlerin zu erlernen. Tamika hörte mit glänzenden Augen zu und lächelte wie Mona Lisa auf dem weltberühmten Gemälde von Leonardo da Vinci. Marcel verfiel ihrem hintergründigen Charme. Das glatte, lange schwarze Haar, die feinen Gesichtszüge und ihre tiefschwarzen Augen führten ihn in eine Welt, in der es keine Konkursverwalter oder Kommissare gab. Einmal glaubte er sogar, in ihren Pupillen das Paradies zu erblicken. Er fühlte sich in ihrer Nähe wohl und wünschte sich nichts sehnlicher, als die kommenden Wochen in Thailand mit ihr zu verbringen.
Zum Abschluss des Dinners genehmigte sich das Paar einen Digestiv. »Es war ein Wink des Schicksals, dass wir uns in dieser Bar getroffen haben«, sagte er und stieß mit ihr an.
»Nichts im Leben geschieht aus Zufall. Alle Begegnungen haben einen Grund, wobei manche dein Schicksalsrad aus dem Rhythmus bringen«, gab sie ihm zur Antwort und warf einen Blick auf die in der Getränkekarte aufgelisteten alkoholischen Cocktails.
Marcel verschüttete einen Teil des Getränks und sinnierte darüber, welche Botschaft Tamika mit dieser Behauptung transportierte und welche Bedeutung sie für ihn hatte. Fragezeichen rotierten in seinem Kopf. Der Kellner kam auf die Turteltauben zu und kredenzte ihnen eine Bloody Mary. Von weiteren Erkundigungen sah Marcel ab.
Der Abend verlief harmonisch. Tamika ließ sich, trotz inständiger Bitte, nicht von ihm einladen, sondern beglich ihre Rechnung aus eigener Schatulle. Insgeheim freute sich Marcel über ihre Generosität, denn die ihm verbliebenen 50 Euro reichten gerade aus, um seinen Verzehr zu begleichen. Arm in Arm verließen sie das Lokal. Der junge Mann war davon überzeugt, dass er die Liebe seines Lebens gefunden hatte. Er vertraute dem zarten Wesen an seiner Seite, zumal er keinerlei Hinweise fand, dass sie ihm etwas vorspielte. Leuchtete fern der Heimat ein Stern, der ihn von seiner Pechsträhne befreite? Hatte er die Traumfrau gefunden, die ihn so liebte, wie er war und ihn nicht betrog, so wie Lisa, für die er nur ein Abenteuer gewesen war? Eine Flut von Gedanken schoss durch seinen Kopf. Er vergaß die Geldnot, verdrängte die Angst, von der Polizei aufgegriffen und nach Deutschland abgeschoben zu werden.
Das Paar schlenderte durch die Gassen der Innenstadt, vorbei am Jungceylon, dem größten Einkaufszentrum in diesem Teil der Halbinsel.
»Was war der glücklichste Tag in deinem Leben«, fragte sie ihn beim Gang durch den Konsumtempel.
Marcel verlangsamte seine Schritte. Der glücklichste Tag? Niemand hatte ihm jemals zuvor eine solche Frage gestellt. Vor seinem geistigen Auge liefen Bilder ab, Sequenzen aus der Kindheit, der Jugendzeit und dem Erwachsenenalter.
Mit leiser Stimme sagte er: »Hm, der glücklichste Tag? Gute Frage! Wenn ich ehrlich bin, gab es keinen, der dieses Attribut verdient.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wangen und hauchte: »Warte die Zeit ab. Ich bin mir sicher, dass du diese Nacht niemals in deinem Leben vergessen wirst.«
In der Auslage eines Schmuckladens glitzerte eine filigran verarbeitete Goldkette mit einem Medaillon. Der Preis rangierte oberhalb des durchschnittlichen Monatseinkommens eines Arbeitnehmers in Thailand.1
Marcel fingerte nach seiner Kreditkarte, die keine Deckung aufwies. Tamika hielt ihn zurück. »Ich habe den Eindruck, dass du nicht mit Geld umgehen kannst. Du musst lernen, deine Ausgaben an die Einkünfte anzupassen, sonst gehst du in diesem Land unter«, sagte sie und zog ihm am Ärmel. Marcel zögerte die Antwort heraus. Er fragte sich, wie es Tamika gelungen war, seinen Schwachpunkt herauszufinden, obwohl sie ihn erst seit wenigen Stunden kannte. Bilder von überzogenen Konten und gesperrten Kreditkarten flimmerten vor seinen geistigen Augen - Geldsorgen, die Bremsklötze seines Lebens.
»Wie du meinst«, sagte er und betrachtete die Designer Uhr in der Auslage.
»Morgen kaufen wir dir eine neue Hose. Du kannst so in Thailand nicht herumlaufen. Die Jacke brauchst du hier nicht.«
Auf dem Weg zum Ausgang erläuterte Tamika, sie hätte kein Interesse am Damenschmuck. Ihr wäre es lieber, das Geld für ein Zimmer in einem Boutique Hotel auszugeben, denn sie läge Wert auf ein Ambiente, wo man die Seele baumeln lassen könne. Marcel versprach, auf ihre Wünsche einzugehen. Das Liebespaar verließ das Einkaufszentrum und schlenderte durch das pulsierende Herz der Stadt. In der Ferne leuchtete das Logo eines Luxushotels, dem teuersten am Ort. Marcel nahm Kurs auf das Etablissement und schlug vor, eine Suite anzumieten. Tamika verwies auf die hohen Kosten. Sie empfahl kleinere Hotels mit einem besseren Preis-/ Leistungsverhältnis. Marcel blieb standhaft und versuchte, sie zu überreden. Am Ende gab Tamika nach. Das Paar bezog das Apartment auf dem Roof-Top mit Blick aufs Meer, der Quelle der Inspiration und Faszination. Das ist mir die Sache wert! Morgen verkaufe ich den Schmuck und tilge meine Schulden. Sicher übernimmt Tamika wieder die Hälfte der Kosten. Er war dankbar, dass dem Rezeptionisten der Reisepass und die Unschuldsmiene ausreichten und die Rechnung beim Auschecken zu begleichen war.
In der Suite geriet Marcel ins Grübeln. Er verharrte auf der Stelle und äugte aus dem Fenster, wo sich die Leuchtreklame in den Fensterscheiben der Hochhäuser spiegelte. Tamika wunderte sich über das Verhalten ihres Freundes und fragte: »Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?«
»Doch, aber… «
»Was liegt dir auf dem Herzen?«
»Geht das bei dir immer so schnell, wenn du einen Mann kennenlernst?«
»Nein! Ich bin schon seit vielen Jahren nicht mehr ausgegangen. Ich arbeite bis spät in den Abend hinein, da bleibt wenig Zeit für Vergnügungen.«
»Warum bist du mit mir mitgegangen? Du kennst mich kaum.«
»Du bist mir am Eingang zur Bangla Road aufgefallen. Du hast einen hilflosen Eindruck gemacht. Das hat meine Neugier geweckt.«
»Ach ja. Wieso das denn?«
»Normalerweise sind westliche Touristen der Meinung, sie seien etwas Besseres.«
»Magst du mich?«, fragte er und schaute ihr tief in die Augen.
»Wäre ich sonst hier? Du bist genau mein Typ. Mir gefallen dein blondes lockiges Haar und deine Statur. Die thailändischen Männer sind einen Kopf kleiner als du.«
Anstatt Blickkontakt aufzunehmen, schielte Tamika an ihm vorbei zur Minibar, wo die alkoholischen Getränke auf Konsumenten warteten.
»Stört dich die Narbe an meiner rechten Wange?«
»Nein, die habe ich bislang nicht bemerkt. Wie ist es dazu gekommen?«
»Hm… als ich 18 war…meine Mitschüler…«
»Lass die Vergangenheit ruhen. Bring mir lieber einen Piccolo! Ich bin nicht richtig in Stimmung«, hauchte sie und vermied jeglichen Augenkontakt.
Anstatt den Fusel aus der Minibar zu öffnen, orderte Marcel beim Room-Service eine Flasche Dom Perignon, den der Hotelmanager über einen chinesischen Importeur aus Frankreich eingeflogen hatte. Die Köstlichkeit lagerte seit Jahren in den Kellerräumen des Hotels, denn es gab niemanden, der bereit gewesen wäre, den Wucherpreis zu entrichten. Nach fünf Minuten erschien der Room-Boy und übergab dem Deutschen den Sekt mit einem Lächeln im Gesicht. Mit einem Ruck zog Marcel den Korken heraus. „Plopp“ – es schien, als ob alle bösen Geister aus Angst vor der Explosion aus dem Hotel flohen. Der Sekt prickelte auf seiner rechten Hand.
»Irgendwie seltsam! Wir zwei allein im Hotelzimmer?«
»Lass das Grübeln! Vergesse alles, was dich bedrückt und genieß die Nacht, als ob es deine letzte wäre.«
Sie stand auf und nahm den Düsseldorfer in den Arm, um ihn zu küssen. Ihre Finger streichelten seine Brust und arbeiteten sich Zentimeter für Zentimeter nach unten vor. Er bemerkte nicht, wie ihm die Flasche aus den Händen glitt und auf dem Boden in tausend Einzelteile zersplitterte. Der Schrei nach Liebe, der seit seiner Geburt im Herzen ertönte, schob alle Bedenken beiseite. Er gab sich dem Charme und den glänzenden Augen der Beauty hin. Seine innere Stimme suggerierte ihm: Das ist die Chance deines Lebens. Nutz die Gelegenheit, ehe es zu spät ist.
»Halt! Nicht so hastig. Ich muss mich im Badezimmer frisch machen. Bis ich zurückkomme, kannst du dich von dieser Lektüre inspirieren lassen.« Sie wandte sich von ihm ab, zog das Buch aus ihrer Handtasche und schlenderte zum Bad. Marcel nahm es zur Hand: Kamasutra – das Tantra der Liebe! Er blätterte es durch. Es beinhaltete nicht nur Sexualstellungen, sondern behandelte die gesamte Palette des menschlichen Liebeszyklus. Bevor er die Gelegenheit bekam, sich in Einzelheiten zu vertiefen, kehrte Tamika nackt aus dem Badezimmer zurück, nahm ihn in den Arm und strich ihm durchs blonde Haar, welches in diesem Teil der Welt zu den Ausnahmeerscheinungen zählt. Er betrachtete ihre wohlgeformten Brüste, die bei jeder Bewegung Lust versprühten. Tamika ergriff seine Hand, zog ihn hinter sich her und legte sich auf das Bett. Marcel starrte sie an. Endorphine liefen Amok. Sie rekelte sich auf der Matratze, spreizte die Beine und öffnete die Schenkel wie ein Buch. Jede Faser ihres Körpers schrie: Nimm mich, ich bin dein… mach schon, ich kann es kaum erwarten.
»Lass dich gehen«, forderte die Sexgöttin ihn auf.
Marcel riss seine Kleider im hohen Bogen vom Leib und schmiss sich neben ihr auf das Bettlaken. Dieser Akt würde ihre Liebe unsterblich machen. Alles, was Tamikas Freund ihr geboten hatte, verblasste im Angesicht der Wolke sieben, auf der er mit ihr schwebte, davon war Marcel überzeugt. Es gab kein Vorspiel, zu stark wog das Verlangen, sich zu vereinen, Körpersäfte auszutauschen. Die Begierde dominierte den Verstand, verdrängte den Zweifel, der nach dem ersten Orgasmus im Kopfkino flimmerte.
Sie liebten sich, bis der Schweiß in Strömen floss. Er lag auf ihrem zuckenden Körper und sah, wie die Glückseligkeit ihn anlächelte und ihn von ihrem Gegenstück, dem Pech, befreite. Seine heißen Küsse verglühten auf ihrer zarten Haut. Ihre Leiber verschmolzen miteinander und er befahl der Nacht, den Morgen aufzuhalten. Nie zuvor im Leben hatte er den Geschlechtsverkehr dermaßen genossen, aber es war nicht nur der Sex, der ihn faszinierte. Mit jedem Stellungswechsel wuchs die Liebe zu der Frau, mit der er sich vereinte. Einmal hockte sie in umgekehrter Reiterstellung auf ihn. Marcel bewunderte ihre farbenreiche, großflächige Tätowierung, die die Mitte des Rückens einnahm. »Mir gefällt dieses Tattoo. Was bedeutet es?«
»Ein Drache aus dem chinesischen Tierkreiszeichen. Er steht nicht nur für Reichtum, sondern auch für Glück, Güte und Intelligenz. Aber jetzt mach weiter! Ich bin noch nicht befriedigt.«
Tamika verkörpert genau das, wonach ich mich sehne.
Um 02.00 Uhr überkam Marcel, ungeachtet der Hochstimmung, die Müdigkeit, denn er hatte in den letzten Nächten kaum geschlafen. Zudem zeigte der Alkohol seine Wirkung. Die Thailänderin bemerkte seinen nachlassenden Elan. »Man kann zwar nicht alle Stellungen aus dem Kamasutra ausprobieren, aber man kann es wenigstens versuchen«, sagte sie und empfahl ihm, einen Energiedrink aus der Minibar zu sich zu nehmen, um neue Kraft zu tanken.
»Wir haben die halbe Nacht vor uns«, hauchte sie, schlenderte zum Kühlschrank, fingerte eine halbe Minute lang an der Öffnung herum und schüttete den Drink ins Glas.
»Schön! Ich mach alles, was du von mir verlangst.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen kam sie auf ihren Liebhaber zu. Seine Augenlider wogen schwer und schwerer, es gelang ihm nicht, wach zu bleiben. Mit dem Kopf vornüber sank er auf das Kissen. Sie richtete ihn auf und reichte ihm die prickelnde Brause. »Trink! Es wird dir guttun.« Marcel leerte das Behältnis in einem Zug. Den ungewöhnlichen Geschmack führte er auf die lokale Rezeptur des Herstellers zurück. Ihr Mund drückte sich auf den seinen. Die roten Lippen glitten über seine verschwitzte Brust, bis sie die untere Körperhälfte erreicht hatten. Er genoss den Oralverkehr in vollen Zügen. Zeitgleich mit dem Orgasmus fielen ihm die Augen zu. Mit bleischweren Gliedern sank Marcel in einen Schlaf, der einer Ohnmacht glich.
Am Nachmittag des nächsten Tages zog ihn ein Albtraum in den Bann: Die Mär führte ihn an den Nai Yang Beach, zu dem Moment, als einer der Straßenköter ihn attackierte. Wie auf Kommando ließen die Hunde von ihm ab und legten sich winselnd mit dem Rücken auf den Boden. Eine Kreatur griff die Tiere an und tötete sie mit seinen Tentakeln. Das Wesen, halb Hai, halb Krake, wandte sich dem Eindringling aus Deutschland zu und schickte sich an, ihn ins Meer zu ziehen. Marcel vermochte dem Dämon, der ständig sein Aussehen veränderte, nichts entgegenzusetzen. Eine Riesenwelle schwappte über ihn und löschte jegliches Leben in ihm aus.
In Schweiß gebadet wachte Marcel auf und schrie: »Was habe ich dir getan? Habe ich nicht das Recht, nach der Glückseligkeit zu suchen?«
Röchelnd richtete er sich auf und schlug auf das verblassende Bild der grinsenden Kreatur ein. Auf der Bettkante überkam ihn ein von Übelkeit begleiteter Schwindel. Er wankte durch den Raum und stolperte über die eigenen Füße. Ihm gelang es nicht, das Bad zu erreichen, sondern erbrach das Essen des Vortages auf dem Teppich, ein edles Teil aus Naturmaterialien. Vor Schwäche schlief er in verdrehter Haltung auf dem Boden ein.
Irgendwann vernahm Marcel Stimmen auf dem Flur.
»Room cleaning!«
Oh nein, das Reinigungspersonal! Wenn die diese Sauerei sehen, kommt der Sicherheitsdienst ins Zimmer.
»Heute nicht! Ich bleibe den ganzen Tag im Bett. Kommt morgen wieder.«
Schweigen. Jemand klopfte an die Tür.
»Heute kein cleaning, ich muss schlafen!«
Erneut hämmerten Fäuste gegen das Türblatt, diesmal heftiger als beim ersten Mal.
»Lasst mich in Ruhe! Geht woanders hin!«
Leises Fluchen auf dem Flur. Die Damen murmelten ein paar Worte auf Thai und begannen mit der Reinigung des Nachbarzimmers. Mit größter Willensanstrengung widerstand Marcel der Versuchung, liegen zu bleiben und sich dem Schlaf, dem kleinen Bruder des Todes, hinzugeben. Die erneut aufkommende Übelkeit veranlasste ihn dazu, sich zu erheben und zur Toilette zu torkeln, wo der restliche Mageninhalt samt Gallenflüssigkeit in der Schüssel landete.
Nach dem Erbrechen fühlte sich Marcel besser. Die Lebensgeister kehrten zurück und mit ihnen der Verstand. Wo war Tamika, die Neugierige? Er hatte zwar einen Whiskey, eine halbe Flasche Wein und einen Digestiv getrunken, aber er war Alkohol gewöhnt und besaß eine gewisse Trinkfestigkeit. Der Gang zum Schlafraum reichte zur Beantwortung aller Fragen aus. Seine Habseligkeiten lagen auf dem Boden, Kleidung und Rucksack von innen nach außen gekehrt. Nur das Foto seiner Mutter und das Übungsbuch der thailändischen Sprache befanden sich an der Stelle, wo er sie in der Nacht abgelegt hatte. Wie nicht anders zu erwarten, waren das Handy sowie der deutsche Pass, der sich in Thailand zu Höchstpreisen veräußern lässt, entwendet worden. Sogar die Winterjacke fehlte. Wozu diente sie, wenn die Temperatur im Süden des Landes, selbst in der kältesten Jahreszeit, nicht unter 25 Grad Celsius fällt?
Marcel fand keinen Trost in dieser Erkenntnis, sondern erinnerte sich an den Unglückstag in Düsseldorf, wo er am Abend eine ausgeräumte Wohnung vorgefunden hatte. Blitzartig schoss es ihm durch den Kopf: Das Pech hatte sich seiner bemächtigt. Es hatte alle Trümpfe ausgespielt, ihn hinterrücks überlistet und ihn in eine lebensgefährliche Lage gebracht. »Was ist denn das?«, fragte er sich, nachdem er im Bad das Licht angeknipst hatte. Im Spiegel lachte ihn ein faustgroßes Herz an. Darunter stand mit Lippenstift geschrieben: »Du bist nicht nur naiv, sondern genau das, was du mir gebeichtet hast: Ein Pechvogel wie er im Buche steht. Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinen Pfad aus Dornen. Deine Tamika.«
Der betrogene Mann schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, trat mit den Füßen gegen die Duschwand und stieß einen Schrei aus, der auf der Etage seines Zimmers alle Gäste in Aufregung versetzte. In ihm waberte das Verlangen, etwas zu zerstören, jemanden anzugreifen oder sich selbst zu bestrafen. Anstatt der Wut zu gehorchen, sank er nieder und weinte, bis der letzte Rest seiner Tränenflüssigkeit den Boden tränkte. Hoffnungslosigkeit spiegelte sich in seinem Gesicht. Er besaß nichts mehr außer dem T-Shirt und der Bluejeans, die auf der Anrichte auf ihren Träger warteten. Das Foto seiner Mutter wies keinerlei Beschädigungen auf. Gab es Hoffnung an einem Tag, der schwarz war wie die Nacht?
1 342 Dollar, von 2001- 01 bis 2024-06
Marcel kleidete sich an und reinigte den Raum von den Resten des Erbrochenen, dessen säuerlicher Geruch Übelkeit hervorrief. Der Dom Perignon hatte einen dunklen Kranz auf dem weißen Teppichboden hinterlassen, der selbst nach dreifacher Reinigung mit Wasser nicht wich.
Erschöpft nahm der junge Mann am Schreibtisch Platz und blätterte in der Informationsbroschüre des Hotels. Bei den Ausflugsangeboten lokaler Reiseveranstalter fanden sich diverse Visitenkarten, darunter diejenige eines schwedischen Unternehmers, der in Kamala Segeltörns zu den Inseln der Andamanensee anbot. Marcel steckte die Karte in die Hosentasche. Er würde versuchen, bei dem Skipper um Arbeit nachzufragen. Von der körperlichen Anstrengung gezeichnet, schmiss sich der Pechvogel auf das Bett, um sich von dem Überfall zu erholen, Kraft zu tanken für die Prüfungen, die auf ihn zukamen.
Um vier Uhr in der Frühe schlug er die Augen auf, gequält von Vorwürfen, die ihm die Zukunft verdunkelten. Wie konnte ich nur so naiv sein?
Er erinnerte sich an eine These von Stefanie Stahl, eine der renommiertesten Psychologinnen in Deutschland, die behauptet hatte, Verliebtheit sei wie eine Hormonvergiftung. Man ließe sich bei der Partnerwahl von Gefühlen leiten und geriete dadurch an die oder den Falschen.
Für Selbstmitleid fehlte Marcel die Zeit - in zwei Stunden würde sich die Sonne aus dem Meer erheben. Es galt, die Nacht auszunutzen, um das Hotel durch die Hintertür zu verlassen. Der blonde Lockenkopf schulterte den Rucksack und trat die Flucht an, wie so oft in seinem Leben. Er schob die Zimmertür auf. Eine Angestellte des Hotels schlenderte durch den Flur. Er warf die Tür ins Schloss und wartete, bis das Stakkato ihrer Stöckelschuhe verhallte. Er wusste, dass sein Erscheinungsbild ihn zur Zielscheibe für jeden Verfolger machte.
Einmal war Marcel in einem Lokal der Düsseldorfer Altstadt von einer Dame mit dem Fernsehmoderator Thomas Gottschalk verwechselt worden. Erst nachdem die Frau zu seinem Tisch gekommen war, hatte sie seine Narbe bemerkt und sich für ihren Irrtum entschuldigt. Die Situation war ihm peinlich gewesen, denn er verachtete den Showman, der seine Sendungen so inszenierte, als bestünde das Leben aus Sonnenschein und Regenbogenfarben.
Der Zechpreller vermied es, den Aufzug zu benutzen, denn das barg die Gefahr in sich, auf einen Wachmann oder einen Angestellten des Hotels zu treffen. Stattdessen wählte er den Fußweg über das Treppenhaus, wo er in der zweiten Etage das Hinweisschild zum Fitnessstudio erblickte. Die Tür zu der Gym war angelehnt. Er schob sie auf und inspizierte den Raum.
Jemand schimpfte: »Hey man, what the hell you are doing here in the middle of the night?«
»Oh… sorry …nothing.«
Marcel wich zurück und vergas, die Tür zu schließen. Ein Angestellter des Hotels hatte im Fitnessstudio das Nachtlager aufgeschlagen. Marcel hechtete die Treppe hoch, nur weg von dem Kerl, der ihm gefährlich werden konnte. Auf der dritten Etage rannte der Zechpreller zum Fenster und riss es auf. Dunkelheit empfing ihn, der Mond hatte sich in einem Gebirge aus Wolken schlafengelegt. Welche Überraschung am Boden wartete, entzog sich der Kenntnis des Düsseldorfers. Sicher war nur, dass er sich auf der Rückseite des Hotels befand, wo Müllcontainer, ausrangierte Möbel, defekte Strandliegen sowie Leitungen und Behälter für die Versorgung des Hotels vor sich hingammelten. Trotz der Gefahr, an der Fassade abzurutschen, klammerte sich Marcel an dem Regenrohr fest. Zentimeter für Zentimeter hangelte er sich nach unten. Er wog zu schwer – das Regenrohr hielt der Belastung nicht stand und gab nach. Mit einem Aufschrei stürzte er in die Tiefe und schlug auf dem Boden auf. »Autsch!«