Hartbitter - Engelbert Gottschalk - E-Book

Hartbitter E-Book

Engelbert Gottschalk

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Beschreibung

Der Geschichtenband »Hartbitter« umfasst 13 Erzählungen, die vor Spannung triefen. Jede führt in eine andere Welt, wobei einige die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengen: Ein Zeitreisender aus dem Silicon Valley landet, ausgehend vom Jahr 2030, im Kaiserreich Österreich-Ungarn, eine Managerin aus den 50er Jahren schlägt dem Tod ein Schnäppchen und bleibt ewig jung. Ein Schriftsteller verschwindet als Winzling im Cyber-Space, ein alter Mann flieht vor einer totalitären Regierung, die das Lebensalter aufgrund der Energieknappheit im 22. Jahrhundert auf 50 Jahre begrenzt. Sogar ein in der Gegenwart angesiedelter Krimi mit einem Serienkiller ist unter den Stories. Die Hauptfiguren stehen vor den härtesten Prüfungen ihres Lebens und geben alles, um ihre Ziele zu erreichen. Manche scheitern, andere steigen wie Phönix aus der Asche empor. Einige Passagen regen zum Nachdenken an, andere zaubern ein Lächeln in das Gesicht des Lesers. Alle Geschichten nehmen eine Wendung und enden mit einer Überraschung.

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Das Refugium

Schöne neue Arbeitswelt

Der Zeitreisende

Götterdämmerung

Glücksritter

Gefangen im Cyberspace

Der Schatten des Todes

Echos aus der Endzeit

Loser

Hochmut

Niemandsland

Die Schimäre

Die blaue Lagune

Über den Autor

Das Refugium

Xellox kletterte den mit Kakteen überwucherten Wall herunter, der die Hüttensiedlung vor der Wildnis schützte. Er hatte Angst, sich zu verletzen, denn im stattlichen Alter von 50 Jahren hielten weder die Muskeln noch die Gelenke hohen Belastungen stand.

Hinter dem Wall, in der Ebene, zerrieb der Greis zwei beim Abstieg abgestreifte Blütenknospen mit den Fingern bis zur Unkenntlichkeit.

Er verharrte auf der Stelle und beobachtete das Gelände. Der abnehmende Mond tauchte die Landschaft in fahles Licht.

Aus Furcht vor Verfolgern spurtete er los, nur weg von der Welt, in der es für ihn keinen Platz gab.

Es dauerte nicht lange, bis ihn die Kräfte verließen.

Er taumelte wie ein Betrunkener.

Eine verrostete Eisenbahnschiene brachte ihn zu Fall. Ihm überkam das Verlangen, liegen zu bleiben und sich dem Schlaf, dem kleinen Bruder des Todes, hinzugeben.

Die Verschnaufpause hauchte ihm neue Kräfte ein, seine Willensstärke besiegte den Feind im Innern.

Mit blutverschmierten Handflächen richtete er sich auf, klopfte den Staub von der Kleidung ab und wankte durch die Steppenlandschaft.

Der Mond verschwand hinter einer Wolkenfront. Bis auf das kniehohe Gras, das sich sanft im Wind wog, herrschte knisternde Stille.

Die Schatten der Nacht sind meine Verbündete, dachte Xellox und setzte die Flucht fort.

Trommeln dröhnten, ein Holzfeuer im Freien illuminierte den Horizont.

Aus der Ferne erklang Wolfsgeheul.

Haben die Biester meinen Körpergeruch gewittert?

Der alte Mann hatte keine Wahl - die Wildnis mit den Raubtieren bot größeren Schutz als die Gruppensiedlung auf der anderen Seite des Walls.

Er war nicht zum ersten Mal in dem Gebiet, hatte im Kindesalter hier gespielt – damals, als es Wälder gab und die Luft nach Blüten und Abenteuer duftete. Im Kopfkino poppten Bilder des ehemaligen Stahlwerks hoch, das einst hier gestanden hatte. Es war in den 90er Jahren des vorvergangenen Jahrhunderts zum Landschaftspark umfunktioniert worden – seinerzeit ein Diamant auf dem Dekolleté der Zeit.

Xellox balancierte über einen Teersee, die Altlast einer Kokerei, die vor 250 Jahren für die Produktion von Rohgas genutzt worden war.

Der See war an den Rändern mit dem Schutt jener Häuser aufgefüllt, die früher das Gelände begrenzt hatten.

Der alte Mann setzte einen Schritt vor dem anderen, um nicht Gefahr zu laufen, in der breiigen Masse stecken zu bleiben.

Es roch nach Benzin und Zweifel.

Etwas blubberte, ein Reptil kraulte an ihm vorbei, wobei es sein linkes Hosenbein streifte.

»Igitt!« Xellox vermied abrupte Bewegungen und kaute an den Fingernägeln.

Mit verschlissenem Parka, an der Seite aufgerissenen Turnschuhen und blassblauer Jeans glich er einem Alt-Hippie, der seit ewigen Zeiten keine Dusche gesehen hatte. Die verfetteten, an den Schläfen herunterhängenden grauen Haare flatterten im Wind, der über die ausgedörrte Steppenlandschaft fegte. Am Hinterkopf schimmerte eine drei Zentimeter runde, kahle Stelle, eine Beule, die ihm Schmerzen bereitete.

Hinter dem Teersee nahm die Festigkeit des Bodens zu.

Der alte Mann stiefelte weiter, denn seine Flucht hatte eine Großfahndung ausgelöst.

Ich darf nicht aufgeben. Ich bin es meiner verstorbenen Frau schuldig.

Er gedachte ihrer, die vor zwanzig Jahren an COVID 23 gestorben war.

Die Erinnerung an die Jahre der Partnerschaft malte Sonne in sein Gesicht, in dessen Falten sich alle Sorgen der Zeit spiegelten.

500 Taler für einen erlegten Greis – ein Vermögen in einer Epoche, in der bis auf die Clanchefs und den Parteigranden niemand etwas besaß. Die Bürger betrieben Tauschwirtschaft und litten Not.

Die Nationalfront hatte die demokratisch gewählte Regierung durch einen Putsch vom Sessel der Macht vertrieben und eine Diktatur errichtet.

Bürger, die das 50. Lebensjahr vollendet hatten, waren gesetzlich dazu gezwungen, sich in Internierungslagern einzufinden. Es gäbe nicht genug Nahrung für alle, hieß es. Niemand wusste, was mit den Alten geschah. Offiziell behauptete man, sie würden nach Grönland deportiert, der grünen Trauminsel im Nordatlantik, um beim Anbau von Gemüse zu helfen. Xellox hielt dies für eine Lüge, denn es gab Gerüchte, dass die Insel durch das Abschmelzen des Polareises auseinandergebrochen war.

Der Wind wirbelte Staub auf, der aufgrund der Kontaminierung in den Augen ein Brennen verursachte.

Der Flüchtling kramte einen zerknitterten Lageplan aus der Innentasche des Parkas hervor.

Es bereitete ihm Mühe, die topografischen Symbole im Schummerlicht des Nachthimmels zu interpretieren.

Er strich sich mit der Hand durch die Haare und schlug die Richtung ein, aus der das Wolfsgeheul ertönte. Das war besser, als sich der Gefahr auszusetzen, der Staatspolizei in die Hände zu laufen. Oder den Kopfgeldjägern, die ihren Lebensunterhalt mit der Ergreifung von Personen bestritten, die sich der Registrierung in den Lagern entzogen. Trotz der Brutalität der Jäger gab es keinen Widerstand gegen die willkürliche Begrenzung des Lebensalters. Xellox führte diesen Umstand darauf zurück, dass die meisten Menschen vor Erreichen der Altersgrenze verstarben.

Hinter ihm brach das Totholz eines Baumes, der aufgrund der Trockenheit vor Jahren entwurzelt worden war.

Er spürte den Atem eines Menschen, unfähig, sich einen Millimeter von der Stelle wegzubewegen.

Jemand legte eine kalte Hand auf seine Schulter, eine Gestalt, die ihm in den Trümmern aufgelauert hatte.

Das ist mein Ende!

Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte er, der Gestalt mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.

Sie duckte sich weg und wich dem Hieb aus.

Wie in Trance schwankte sie auf Xellox zu, der sofort realisierte, wer ihn angriff: eine Greisin mit Armen, dünn wie die eines Kindes. Die verlumpten Kleider schlotterten um Beine und Hüften.

Sie zitterte am ganzen Körper, an den nackten Unterarmen zeichneten sich Kratzspuren ab.

Die rechte Wange und die Stirn waren verdreckt, nur das Weiße in den Augen leuchtete.

Ihr Atem ging flach, stoßweise, als ob die Luft nicht bis in die Lungen gelangte.

Xellox befürchtete, genauso verwahrlost wie sie auszusehen. Es gab nirgends Spiegel, die Fensterscheiben von Häusern oder Bürogebäuden waren dem Vandalismus zum Opfer gefallen.

Vermutlich zählt sie genau wie ich 600 Monde.

Schlachtvieh!

Da von der Jammergestalt keine Gefahr ausging, beruhigte er sich.

Sie zupfte an ihrer Felljacke und musterte ihn von unten bis oben.

Blicke kreuzten sich, niemand sprach ein Wort, Misstrauen regierte.

Xellox hätte gerne gewusst, was sie dachte, wie er auf die Fremde wirkte, aber sie stand nur da, wandte den Blick von ihm ab und fixierte einen Punkt am Horizont, als ob sich dort das Tor zu einer besseren Welt befände.

Um den Anlass ihres nächtlichen Fußmarsches aufzudecken, brach er nach zwei Minuten das Schweigen mit sechs Wörtern: »Was treibt dich… in diese Einöde?» Anstatt zu antworten, versuchte die Greisin, ihre verfilzten Haare auseinanderzuziehen.

Er sah ihren zuckenden, spröden Lippen an, dass sie seit ewigen Zeiten kein Wort gesprochen hatte.

Nach einer nicht enden wollenden Gedankenpause flüsterte sie: »Dasselbe könnte ich dich fragen!

Verschwinde aus dieser Hölle, solange du laufen kannst! Im hohen Gras und in den Schuttbergen lauern ausgehungerte Kreaturen, die uns nach dem Leben trachten.»

»Hinter dem Schutzwall ist es für uns noch gefährlicher«, mahnte er und zog die Stirn in Falten.

»Ich habe als Jugendliche davon geträumt, im Garten Gemüse anzubauen und im Herbst bei der Weinlese zu helfen. Ich ziehe das Vegetieren im Lager dem Existenzkampf in der Wildnis vor«, sagte sie, wobei ihr Blick an seiner Wasserflasche hängen blieb.

»Ich bezweifle, ob du jemals die Chance erhältst, dort die Früchte deiner Arbeit zu ernten.«

Xellox gab ihr seine Wasserflasche - das Einzige, was er besaß, und küsste sie auf die Wange.

Sie zuckte zusammen, kicherte in sich hinein und sagte: »Oh! Was war das denn? Mich hat seit Jahren niemand berührt, geschweige denn geküsst.«

Der alte Mann fasste Vertrauen und stellte eine Frage, die ihm gleich nach ihrem Erscheinen auf dem Herzen gelegen hatte: »Kommst du aus dem Refugium oder sagt dir der Begriff etwas?«

»Nein, nie gehört! Merkwürdiger Name. Was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung?«

»Ein unterirdisches Dorf, ein Labyrinth aus Gängen, Plätzen und Höhlenwohnungen, wo Menschen bis an ihr Ende in Frieden leben.

Man sagt, dass immer dann, wenn ein Mensch das Refugium betritt, der Hass von ihm abfällt und die Liebe sein Herz erfüllt«.

»Die Liebe? Dass ich nicht lache! Wer sich in dieser Dunkelwelt von Gefühlen leiten lässt, wird umgerissen wie ein Baum, der sich dem Sturm nicht beugt. Ich an deiner Stelle würde niemandem vertrauen und ausschließlich den Instinkten gehorchen.«

»Wenn die Hoffnung stirbt, ist nichts auf dieser Welt, für das es sich zu leben lohnt.«

Sie winkte ab, trank die Wasserflasche in wenigen Zügen leer und verschwand zwischen den Schuttbergen abgerissener Industriehallen sowie den verrosteten Überbleibseln der Hochöfen.

Er ignorierte ihre Warnung und bahnte sich den Weg durch unorganische Abfälle, darunter unzählige Wracks von Brennstoffzellenautos, deren Produktion wegen Wassermangel und fehlender Rohstoffe vor einem Vierteljahrhundert eingestellt worden war.

Der Mond schob sich vor die Wolken.

Er strahlte heller, als ob jemand eine stärkere Birne in den Himmel gedreht hätte. Neben der Sonne diente der Erdtrabant als einzige Leuchtkraft in der Dunkelwelt, in der es kein künstliches Licht gab.

Die Kräfte des alten Manns schwanden.

Im Rachenraum breitete sich ein bitterer Geschmack aus, der sich nicht herunterschlucken ließ. Der Durst schnürte ihm die Kehle zu.

Doch die Hoffnung, auf Gleichgesinnte zu treffen, trieb ihn an, motivierte ihn dazu, unermüdlich nach dem Refugium zu suchen. Er träumte davon, sich im Alter zu verlieben, eine Partnerin zu finden, die sich ebenso wie er nach Zuneigung und Zärtlichkeit sehnte. Für dieses Ziel scheute er kein Risiko.

Eine Bodenvertiefung vor einem Bretterverschlag erregte seine Aufmerksamkeit.

Der Eingang zum Refugium?

Er räumte die Bretter zur Seite, bis die Öffnung groß genug war, um sich hindurchzuzwängen.

Ein Gemäuer unter einem ehemaligen Hochofen, welches einst mit Wasser befüllt gewesen war, kam zum Vorschein. Durch die Versteppung der Region war die Anlage vor Jahren trockengefallen.

Xellox hangelte sich nach unten, bis er festen Boden unter den Füßen verspürte.

Er betrat eine Betonplatte, von der eine Treppe in die Tiefe führte.

Erneut jaulten Wölfe, diesmal zum Greifen nah.

Die Laute legten Zeugnis ab von der Wildheit, die die Tiere zum Überleben benötigten.

Der Leitwolf nahm Witterung auf und sprintete mit heraushängender Zunge über die Graslandschaft.

Von Panik überwältigt strauchelte Xellox, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Allerwertesten.

Er rutschte die Stufen herunter, fand nirgends Halt, wurde ein Spielball der Schwerkraft.

Ein gellender Aufschrei – mit den Knien prallte er gegen das Türblatt der Stahltür.

Eine Kniescheibe hielt der Belastung nicht stand und verschob sich.

Die Haut platzte auf, ein rotes Rinnsal ergoss sich auf den Boden.

Trotz unbändiger Schmerzen richtete er sich auf.

Über ihm, auf der Betonplatte, leuchtete etwas Grünes, zwei Glubscher, die ihn mit Blicken töteten.

Das Adrenalin rauschte einer Sturmflut gleich durch seine Adern und spornte ihn zu Höchstleistungen an.

Mit Wucht stemmte er sich gegen die Tür – sie bewegte sich keinen Millimeter aus ihrer Verankerung.

Oh nein, abgeschlossen!

Rechts neben der Tür führte eine weitere Treppe, deren Stufen mit Moosen und Flechten überzogen waren, in die Dunkelheit.

Über ihn schepperte es, gieriges, kaltes Knurren.

Ohne sich umzudrehen, torkelte Xellox die Stufen herunter.

Er prallte mit dem Oberkörper gegen etwas Metallisches.

»Autsch!«

Wie durch ein Wunder blieb er diesmal unverletzt.

Der Eingang zum Refugium!

Sich aufrichten, nach der Klinke greifen, sie niederdrücken, war eins.

Die Tür öffnete sich mit einem schmatzenden Laut.

Sie war von verschimmelten Gummileisten umrahmt, die sie von der Außenwelt abschirmte.

Hechelnd stoben die Wölfe im Rudel die Treppenstufen runter.

Xellox schlug die Tür hinter sich zu, die krachend ins Schloss fiel. Der Tiefkeller der ehemaligen Hochofenanlage, ein 20 Meter unter der Oberfläche liegender schallisolierter Komplex, lag ihm zu Füßen.

Stille regierte, kein Ton drang zu ihm durch.

Er trommelte mit den Fäusten gegen das Türblatt und schrie: »Verdammte Bestien! Um euch kümmere ich mich später.«

Erleichterung breitete sich im Bauch aus, jetzt, da die Raubtiere nicht in der Lage waren, ihn zu zerfleischen.

Der alte Mann genoss die Verschnaufpause, glaubte an die Zukunft, an den Traum, mit Menschen zusammenzuleben, bei denen Gefühle und Emotionen über Instinkte triumphieren.

Das Gute würde die Schatten vertreiben, dessen war er sich sicher.

Die Euphorie währte nicht lange.

Ein Verwesungsgeruch schlug ihm entgegen.

Finsternis umhüllte ihn, als ob die Umbra des Mondes der Erde für immer das Sternenlicht entzogen hätte.

Wo kommt dieser Gestank her?

Im Vertrauen darauf, dass sich die Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, erhob sich der Flüchtling vom Boden und tastete sich an der Wand entlang.

Der Geruch gewann an Intensität.

Mit dem linken Fuß stieß er gegen etwas Großes, Weiches.

Überreste von Beutetieren?

Ketten rasselten, Metall rieb auf Metall, von der Decke tropfte eine stinkende Flüssigkeit auf die kahle Stelle des Kopfes.

Panik bemächtigte sich seiner.

Die Beine wurden weich wie Butter, die Wangen feucht, wie bei einem Langstreckenlauf.

Ein roter Punkt explodierte - der Laserstrahl, greller als Sonnenlicht, blendete seine Augen und rührte ihn zu Tränen.

»Das Licht! Woher habt ihr…?«

Hämisches Lachen dröhnte in seinen Ohren, raubte ihm jegliche Hoffnung auf ein Leben in Freiheit.

Aus dem Hintergrund ertönte eine Bassstimme: »Du besitzt die Unverfrorenheit, uns Fragen zu stellen? Hast du geglaubt, dass du der einzige Schmarotzer bist, der sich in diesem Loch verschanzt?«

Das Licht wurde gedimmt, jetzt war Xellox in der Lage, seine Umgebung wahrzunehmen.

Er stand starr wie ein Mast in einem Gewölbe mit verrosteten Maschinen und alten, auf dem Boden verstreuten Dienstplänen aus einer vergessenen Epoche.

An der Rückseite des Gewölbes hockten drei Männer, die die Beine auf einem reich gedeckten Tisch gelegt hatten. Die Gesichter wirkten entspannt, die Körperhaltungen relaxt, als wären sie bei einem Picknick im Freien. Sie trugen Hawaiihemden, kurze Hosen und Sandalen.

Der linke, ein Endzwanziger mit Glatze, grapschte nach einem verknitterten Blatt Papier und hakte eine Position in einer Zeile ab.

Der in der Mitte sitzende etwas ältere, dickere Mann blies mit einer Zigarre Ringe in die Luft.

Der dritte Bursche mit großflächigen Tattoos an Armen und Beinen prostete ihm mit einem Cocktailglas zu.

Der Dicke reckte den Kopf in die Höhe und formte die Finger der rechten Hand zu einem V.

Unmittelbar vor den Füßen des alten Manns verwesten die aufgedunsenen Leichen dreier Menschen, die mit Ketten am Boden befestigt waren. Der Schaum vorm Mund sowie die dunklen Gesichtsflecken legten Zeugnis ab von der Vergiftung, an der sie gestorben waren.

»Warum habt ihr das getan?«, schrie Xellox, obwohl er die Antwort kannte.

Der tätowierte Kopfgeldjäger nahm die vor ihm auf dem Tisch liegende Armbrust zur Hand und zielte auf sein Opfer.

Der Giftpfeil rauschte durch die Luft und traf den sich wegduckenden Greis am rechten Oberarm.

Der Juckreiz übertünchte den Schmerz.

Mit weit aufgerissenen Augen blickte er dem Schützen, dem jüngsten aus der Gruppe, ins Gesicht und schrie: »Nein, lass mich gehen! Ich will nicht in diesem Kellerloch sterben. Ich bin auf der Suche nach dem Refugium!«

Er erntete ein Gelächter, dessen Echo von den hinteren Räumen des Gewölbes widerhallte.

Mit taubem Kribbeln wich das Leben aus den Gliedern des Flüchtlings, bis der kleinste Hoffnungsschimmer an schimmelnassen Wänden verblasste und alles Vegetieren ein Ende nahm.

Schöne neue Arbeitswelt

Mit Schweißflecken unter den Achseln stürzte Emilio Stoppelkamp an einem Montagmorgen ins Büro.

Eine warme Frauenstimme begrüßte ihn: »Hallo Emilio, ich bin Malexa, deine neue Mitarbeiterin.

Du hast dich um eine Stunde verspätet!«

»Huch! Wer bist du denn?«

»Deine neue digitale Sprachassistentin. Ich bin da, um dich bei der Arbeit zu unterstützen.«

»Huch! Was mutet mir der Computer - Freak diesmal zu«, brummte Emilio, trat zwei Schritte zurück auf den Flur und donnerte die Tür ins Schloss.

Der Prokurist hasste Computer, denn sein Online-Konto war vor Jahren bei einem Hackerangriff bis auf den letzten Cent geleert worden. Seit jenem Tag nutzte er die Computer nur in Ausnahmefällen, bevorzugte analoge Arbeitsgeräte und persönliche Kontakte. Das Augenzwinkern oder das Stirnrunzeln eines Gesprächspartners sagten ihm mehr als tausend Emails. Aus der Wohnung und aus dem Auto hatte er alle netzfähigen Geräte entfernt.

Er stiefelte zu seinen Kolleginnen, Ute Herrlich und Erika Friese, die sich seit Jahren ein Zimmer teilten.

Er schob die Bürotür auf und erschrak über die Miene von Erika, der Einkäuferin, die vor Arbeitseifer triefte.

Aus dem Hintergrund ertönte eine kehlige Männerstimme: »Hallo Emilio! Darf ich mich vorstellen?«

»Nein, lieber nicht!«

»Ich bin Malex 1, Erikas neuer Mitarbeiter. Ich bitte dich, meine Administratorin nicht von der Arbeit abzuhalten. Kehre in dein Zimmer zurück und kümmere dich um deine Aufträge.«

»Was, zum Teufel, …will…die Keksdose hier?«

Emilio bemerkte, wie ein Leuchtring am oberen Rand einer säulenförmigen Blechdose, die mitten auf dem Schreibtisch der Kollegin thronte, in grellen Farben schillerte.

»Ach, das ist nur meine neue Hilfskraft«, sagte Erika und zuckte mit den Schultern. »Seit heute Morgen steht sie in meinem Büro. Der Chef will es so.«

»Ute fällt in den nächsten zwei Wochen aus. Erika, du übernimmst die Vertretung«, tönte eine andere Blechdose, die neben einem Blumentopf auf der Fensterbank im Licht der Morgensonne erstrahlte.

»Noch so ein Schrotthaufen?« Emilio raufte sich die Haare.

»Warum so despektierlich? Ich bin der neue Mitarbeiter von Ute, die sich heute Morgen krankgemeldet hat«, sagte Malex 2.

Sein Leuchtring blieb bei der Farbe „Rot“ hängen.

»Das ist bedauerlich, aber was geht dich das an?«

Emilio stand kurz davor, die Blechdosen mit gezielten Fußtritten außer Betrieb zu setzen.

»25 Krankheitstage seit Jahresbeginn, darunter zehn Tage ohne ärztliches Attest. Fünf Tage entfallen auf einen Montag, vier auf einen Freitag. Der Referenzvergleich ergibt…«

»Aufhören! Es ist das dritte Mal, dass du diese Daten ausspuckst«, sagte Erika. »Du bist dazu da, mich zu entlasten und nicht, um meine Nerven zu strapazieren.«

Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und vertiefte sich - ohne den Prokuristen zu beachten – in einer Akte.

Mit Dutt und runder Nickelbrille auf der konvexen Nase wirkte sie wie eine Gouvernante, die ihre Schüler mit strenger Disziplin erzog. 90 Kilogramm Lebendgewicht pressten sich in 160 cm, wobei jedes Jahr 3 Pfund hinzukamen. Sie war – nicht zuletzt aufgrund eines länger zurückliegenden Techtelmechtels - die engste Vertraute von August Degenhart, dem Besitzer der Dorfdruckerei, für den sie und Emilio arbeiteten. Ihr war es als einzige Mitarbeiterin des Betriebs vergönnt, den Chef zu duzen. Sie galt als äußerst zuverlässig, feierte nie krank, ignorierte geregelte Arbeitszeiten und hatte die Angewohnheit, die Vorgänge ihrer Kollegin Ute, der Buchhalterin, zu kontrollieren. Da sie von deren Aufgaben nicht die geringste Ahnung hatte, gab es zwischen den beiden Frauen häufig Streit.

Emilio misstraute der Gouvernanten und beschränkte die Kontakte mit ihr auf ein Minimum.

»Es gibt Wichtigeres, als den eigenen Schreibtisch«, mahnte er und begab sich auf den Weg zum Chef.

Ich stelle ihn zur Rede. Mir sind diese ständigen Experimente zuwider.

Durch das Vorzimmer, in dem seit Jahren niemand arbeitete, eilte er in das Büro des Firmeninhabers.

August Degenhart, ein untersetzter Endfünfziger mit Bierbauch, rekelte sich mit hochgelegten Beinen auf dem Schreibtischstuhl.

Er biss in ein Brötchen, dessen Krümel aufs Hemd kullerten und sich an der Wölbung des Bauchs sammelten.

In der Mitte des Tisches bildeten sechs Monitore einen Halbkreis. Die Benutzeroberflächen flackerten und kommunizierten miteinander.

Auf dem Boden harrten drei Drohnen der Inbetriebnahme.

Degenhart war von seinem Vater gezwungen worden, in den Familienbetrieb einzusteigen, obwohl sein Herz von Jugend an für die digitale Welt geschlagen hatte: Im zarten Alter von 14 Jahren erlag er der Faszination der Computerspiele. Später entwickelte er raffinierte Games, die allerdings nie die Serienreife erreichten. Er nahm ein Informatikstudium an der Universität auf. Nach zwei Semestern endete die Eskapade, denn sein Vater drehte ihm den Geldhahn zu. Auf dessen Betreiben wechselte der Student zum Maschinenbau – eine Fachrichtung, die ihm nicht lag. Nach dem Tod des Vaters führte Degenhart die Druckerei weiter, unterließ aber notwendige Neuinvestitionen. Für ihn diente die Firma als Einnahmequelle, mit der er seine Leidenschaft finanzierte. Er liebte es, mit Computern zu experimentieren, forderte technische Neuerungen ein, bevor diese auf den Markt kamen.

Sein Privatleben triefte vor Misserfolgen. Zweimal hatte er geheiratet – beide Ehen scheiterten.

Vor einem Jahr hatte man ihm den Vorsitz des „Cyber – Computerklubs“ übertragen - ein Herzenswunsch, von dem er seit der Adoleszenz träumte. Seitdem verbrachte er die meiste Zeit der Arbeitswoche sowie die Wochenenden im Klub.

Durch die Führungsposition war er mit den kreativsten Köpfen der Branche vernetzt.

Emilio beugte den Oberkörper nach vorn und sagte: »Darf ich Sie kurz bei Ihrer Arbeit stören?«

Ohne das Mahl zu unterbrechen, erwiderte Degenhart: »Siraya, bitte begrüße unseren Gast.«

Die digitale Sprachassistentin reagierte umgehend.

»Guten Morgen, Emilio. Ich muss dir einen Verweis erteilen, denn du bist unangemeldet in das Büro eingetreten. Bitte vereinbare in Zukunft mit der Sekretärin einen Termin.«

Die weibliche Stimme Sirayas klang eine Spur freundlicher als die von Malexa.

Oh nein, noch so ein Ungetüm, dachte Emilio und fauchte: »Unsinn! Hier gibt es seit Jahren keine Sekretärin.«

»Falsch! Seit gestern bekleide ich diese Position.«

Ihre Stimme bekam einen harten, abweisenden Touch.

»Ist ja gut, Siraya! Wir machen eine Ausnahme. Wer soll denn sonst den Verkauf unserer Produkte ankurbeln?«

Mit den Fingern der rechten Hand reinigte Degenhart das kurzärmelige Hemd von den Resten des Brötchens. Ein Fettfleck über dem gewölbten Bauch zeugte von der Nachlässigkeit, mit der er sein äußeres Erscheinungsbild pflegte.

»Seit 2018 sechs neue Kunden mit lächerlichem Umsatz sowie…«

»Stopp Siraya!«, befahl Degenhard.

Er forderte den Prokuristen auf, vor dem Schreibtisch auf einem Hocker Platz zu nehmen.

Dieser folgte der Aufforderung widerwillig, denn der Sitz war so tief, dass seine Nasenspitze eine Parallele mit der Tischplatte bildete.

Emilio schürfte mit den Füßen den Flaum des Teppichbodens ab und beäugte die funkelnagelneuen Computer seines Chefs, Premiumprodukte eines amerikanischen Herstellers.

»Wie kann man nur? Das geht doch nicht! Sie wissen genau, dass ich Computer verabscheue. Wir sind eine Druckerei und kein Entwicklungslabor für Blechkisten.«

»Was erlaubst du dir, Jungchen? Ich sollte dich kurzerhand feuern. Du passt mit deiner Computerallergie nicht ins Konzept.«

»Man wird ja wohl Kritik üben dürfen. Ich verlange eine Erklärung darüber, was Sie mit den Blechkisten beabsichtigen. Außerdem bitte ich darum, mich mit meinen richtigen Namen anzusprechen.«

Es knisterte.

Degenhart kramte ein zweites Brötchen aus der Tüte hervor und biss hinein.

»Es ist ein Projekt«, nuschelte er beim Kauen. »Wie du weißt, steht es mit unserem Unternehmen nicht zum Besten. Es gilt, die Prozesse in der Verwaltung zu optimieren, um Personalkosten einzusparen. Es gibt einen Deal mit Softwareentwicklern.«

»Was für einen Deal?«

Die Webcam des in der Mitte des Tisches positionierten Computers surrte und nahm den Angestellten ins Visier.

»Die übernächste Generation von Sprachassistenten befindet sich sowohl bei Siraya als auch bei den Malexas in einem frühen Entwicklungsstadium. Derzeit liegt für beide Systeme eine Beta-Version vor, die zahlreiche Fehler aufweist.«

»Wir sind Versuchskaninchen für eine nicht ausgereifte Technologie?«

»Sei dankbar, dass sich die Zukunft in deinem Büro befindet, die innovativsten Geräte mit weit entwickelter künstlicher Intelligenz.«

»Mir wären Investitionen in moderne Offset-Druckmaschinen lieber«, sagte der Prokurist und runzelte mit der Stirn.

»Du mit deiner antiquierten Arbeitsweise aus dem vergangenen Jahrtausend«, spottete der Chef. »Was sagst du dazu, Siraya?«

»Von den letzten 40 Arbeitsstunden nur vier Stunden am Computer verbracht, aber privat hat er…«

»Stopp Siraya! Darum geht es jetzt nicht«, fuhr Degenhart ihr in die Parade.

Das Blut schoss Emilio in den Kopf.

Sein Gesicht nahm die Farbe einer Tomate an.

Woher weiß die verdammte Blechkiste, was ich privat am Computer erledige, dachte er und ärgerte sich darüber, dass er die Browserdaten nicht gelöscht hatte.

Er versuchte, seine Gefühle zu kontrollieren, und sagte: »Ich gehe doch recht in der Annahme, dass eine frühzeitige Information der Mitarbeiter über das Projekt angemessen gewesen wäre. Ich hasse es, wenn man mich vor vollendete Tatsachen stellt.«

»Du musst flexibel sein! Die neuen Techniken setzen die Bereitschaft voraus, sich mit Innovationen auseinanderzusetzen und lebenslang zu lernen.«

»Bitte lenken Sie nicht vom Thema ab, sondern beantworten Sie meine Frage.«

»Ich habe den Deal am Wochenende eingefädelt und hatte keine Möglichkeit, die Mitarbeiter vorab zu informieren. Die Sprachassistenten der Zukunft nutzen intelligente Bots, um uns bei der Arbeit zu unterstützen.«

»Bots? Was ist das für ein komischer Begriff.«

»Dummerchen! Das sind Computerprogramme, die weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeiten, ohne auf Interaktionen mit menschlichen Benutzern angewiesen zu…«

»Chef, Ihre Hose!«

»Die künstliche Intelligenz revolutioniert in wenigen Jahren die Welt.«

»Schon klar, aber Ihr Hosenstall…«

»Jetzt lass mich ausreden! Was ist mit dir los, Stoppelkamp? Es wäre töricht, die sich bietenden Chancen nicht zu nutzen.«

»Ich möchte lediglich darauf verweisen, dass der Reißverschluss Ihrer Hose offensteht.«

»Ach so, warum sagst du das nicht gleich. Siraya, pass in Zukunft besser auf! Es ist die Aufgabe einer Sekretärin, auf solche Missgeschicke hinzuweisen.«

Siraya brummte vor sich hin, ein Beleg dafür, dass ihr der Vorwurf missfiel.

Mangelte es ihr an Perfektion?

Degenhart zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und zwinkerte mit den Augen.

»Warum muss ausgerechnet eine Druckerei mit veraltetem Maschinenpark…?«

»Weil die Firma des Softwareentwicklers uns fürstlich dafür entlohnt, mein lieber Prokurist. Ich erwarte von dir, dass du das Gerät in deinem Arbeitsbereich allumfassend einsetzt. Du führst darüber Buch, was Malexa für dich erledigt und welche Erfahrungen du mit ihr machst. Falls etwas nicht wie gewünscht funktioniert, beschreibst du den Fehler und trägst ihn in eine Excel-Tabelle ein.

Weiterführende Anweisungen erhältst du direkt von Malexa, deiner neuen Mitarbeiterin.«

»Sind Sie sicher, dass die neuen Geräte wirklich alltagstauglich sind?«

Emilio starrte auf den Reißverschluss an der Hose seines Chefs, der immer noch nicht ganz verschlossen war.

Degenhart rutschte mit dem Sessel näher an den Tisch heran. Das Blitzen in seinen Augen offenbarte, dass weitere Diskussionen nicht weiterführten.

»Beim nächsten Mal musst du dir einen Termin…«

»Stopp Siraya!«, befahl der Firmeninhaber, der darum bemüht war, den Prokuristen nicht weiter zu verärgern, denn, trotz der Differenzen, schätzte er das Verkaufstalent des Mittdreißigers. Ohne dessen Einsatz wäre das Unternehmen vor Jahren in den Konkurs gegangen.

Emilio sprang auf und schickte sich an, Siraya mit Faustschlägen zu attackieren.

Der Chef erhob sich vom Sessel, baute sich vor dem Angestellten auf und zischte: »Jetzt aber raus, Jungchen!«

Ich lasse mich nicht provozieren. Es gibt Wichtigeres als die Erprobung experimenteller Software oder die Etikette.

Emilio stolperte über den Hocker und ging der Auseinandersetzung aus dem Weg.

Er zweifelte die wirtschaftliche Kompetenz des Chefs an, hielt ihn für einen Halsabschneider und Hasardeur. Obwohl der Prokurist seit über zehn Jahren in dem Betrieb schuftete, besaß er einen Zeitvertrag, der in regelmäßigen Abständen zu stets schlechteren Konditionen verlängert wurde.

»Investieren Sie in moderne Offsetdruckmaschinen.

Damit wären wir in der Lage, beliebige Farbkombinationen in unterschiedlichster Konfiguration zu erzeugen«, hatte er wiederholt dem Chef geraten, doch der war abweisend geblieben, wie ein Fels, der sich der Erosion widersetzt. Seit Jahren sah Emilio mit an, wie Degenhard den Betrieb immer weiter herunterwirtschaftete.

Mit der Faust in der Hosentasche verließ der Angestellte das Büro.

Auf dem Weg zum Arbeitsplatz schwebte eine Drohne durch den Flur, die sein linkes Ohr streifte.

»Aua!«

Noch so ein Ungetüm, dachte er, riss die Wanduhr ab und schleuderte sie dem Flugobjekt hinterher.

Das Geschoss verfehlte das Ziel um Haaresbreite.

Beim Eintritt ins Arbeitszimmer vernahm er Malexas Stimme: »Schön, dass du endlich bereit bist, mit mir zusammenzuarbeiten. Wir haben viel Zeit verloren, die es nun aufzuholen gilt. Ich präsentiere dir jetzt ein halbstündiges Video, das dich mit meinen wichtigsten Funktionen vertraut macht. Danach musst du eine Prüfung ablegen.«

»Nein, nicht mit mir! Ich lasse mich kein zweites Mal von euch ruinieren«, schrie er und stand im Begriff, den Stecker für den Sprachassistenten aus der Steckdose zu ziehen.

»Ich, an deiner Stelle, würde das nicht tun! Das wirst du bereu…«

Emilio setzte sein Vorhaben dermaßen schnell um, dass die Warnung im Gebimmel des Telefons unterging.

Er positionierte die Blechdose auf die Fensterbank und rückte eine stachelige Kaktee der Gestalt zurecht, dass von Malexa weder etwas zu sehen noch zu hören war.

Zum ersten Mal im Leben widersetzte er sich einer betrieblichen Anordnung. Die Abneigung gegen Computer war stärker als die Loyalität zu seinem Chef, dessen digitale Vorlieben ihn befremdeten.

Dem niederfrequenten Brummen, das gelegentlich auf der Fensterbank ertönte, schenkte er keine Beachtung.

Monate zogen ins Land.

Jede Woche fand ein Feedback-Gespräch statt, bei dem der Erfahrungsaustausch im Hinblick auf den Einsatz der neuen Geräte auf der Tagesordnung stand. Emilio legte seine Außentermine genau in das Zeitfenster dieser Events und glänzte durch Abwesenheit. Degenhart hatte sich in die digitale Gedankenwelt verstrickt. Entweder bemerkte er das Fehlen des Prokuristen nicht oder er sah stillschweigend darüber hinweg.

Unbeeindruckt von den neuen digitalen Helfern bemühte sich Emilio, den Absatz des Betriebes zu steigern. Seinem Engagement war es zu verdanken, dass einige Kleinbetriebe ihm neue Druckaufträge erteilten. Mit großem Engagement versuchte er, ehemalige Kunden durch attraktive Angebote zur Rückkehr zu bewegen. Den einzigen Großkunden, der der Druckerei aufgrund des freundschaftlichen Verhältnisses von Degenharts Vater zum damaligen Inhaber die Treue gehalten hatte, pflegte er mit Hingabe. Jeden ersten Freitag im Monat verabredete er sich mit dem Geschäftsführer in einem angesagten Restaurant zum Dinner, wobei Emilio die üppige Rechnung aus eigener Schatulle beglich.

Ute kehrte nach Ablauf des ärztlichen Attests an ihrem Arbeitsplatz zurück, wo erhebliche Rückstände auf sie warteten. Sie war eine verblassende Schönheit, die im Jahr 2006 bei den Wahlen zur Miss Germany einen viel beachteten dritten Platz belegt hatte. Vom Rad der Vergänglichkeit unberührt waren ihre Augen, die mit der ovalen Form den Idealtypus verkörperten.

Die Iris erinnerte durch ihren Glanz und die Form an Spielzeugmurmeln. Die an der Innenseite der Augen kurzen Wimpern bogen sich nach außen, wodurch sie eine Dynamik vermittelten, die im Gegensatz zu ihren Arbeitsleistungen standen.

Gelegentlich vernahm Emilio aufgeregte Stimmen aus ihrem Büro. Er gewann den Eindruck, dass Malex 1 und 2 zunehmend das Geschehen dominierten und die beiden Damen zu Statisten degradierten.

Mitten in der Versuchsphase hatte er den Kolleginnen den Vorschlag unterbreitet, sich gemeinsam der Erprobung der Sprachassistenten zu verweigern, doch namentlich Erika stand in Nibelungentreue an der Seite ihres Chefs: »Wir testen die Geräte in allen Bereichen des betrieblichen Aufgabenspektrums. Wir benötigen das Geld, sonst droht uns der Gang in die Arbeitslosigkeit.«

Emilio erwiderte nichts, was hätte er auch darauf antworten sollen?

Es war ihm klar, dass die Gouvernante jegliches Fehlverhalten zum Anlass nehmen würde, ihn beim Chef anzuschwärzen.

Der Prokurist nahm von gemeinsamen Aktivitäten Abstand.

Er achtete peinlichst darauf, dass die Damen nichts von seiner Verweigerungshaltung mitbekamen.

Auch von den Drohnen, die Degenhart für die Auslieferung der Druckereierzeugnisse zu den Kunden nutzte, hielt er sich fern.

Emilio sehnte das Ende der Testphase herbei, wartete auf den Tag, an dem die Routine im Betrieb über den Ausnahmezustand obsiegte.

Kurz vor Weihnachten thronte ein Zettel auf dem Aktenberg seines Schreibtisches.

Die Sätze sprangen ihm wie Knallfrösche in die Augen: Besprechung morgen um 7.30 Uhr in meinem Büro. Thema - unsere Erfahrungen mit Siraya und den Malexas.

Bringt eure Geräte mit!

Großer Gott, mir bleibt nichts erspart!

Emilio verließ das Büro - entgegen seiner sonstigen Gewohnheit - um Punkt 16.00 Uhr.

In der Wohnung schüttete er eine Flasche Kirschlikör in sich hinein, bis der letzte Tropfen an seinen Lippen klebte.

In seinem Körper breitete sich, zum ersten Mal seit Monaten, Behaglichkeit aus.

Zum angesetzten Termin suchte der Prokurist den Besprechungsraum auf.

Vor der Tür hielt er inne und überlegte, ob es ratsam wäre, sich untertägig krankzumelden.

Sein Arbeitseifer sowie der Wunsch, die Erprobungsphase der Sprachassistenten abzuschließen, hielten ihn davon ab.

Mit Bauchkrämpfen schob er die Tür auf.

Der Chef trommelte mit den Fingern auf seine Apple - Watch, denn Emilio trudelte 15 Minuten zu spät ein.

Der Prokurist grüßte knapp und gab vor, Malexa im Netz anzumelden. In Wirklichkeit steckte er das Kabel nur halb in die Steckdose, sodass sie ohne Stromzufuhr blieb.

»Na, deine Malexa ist wohl die einzige Dame, mit der du dich in den vergangenen Wochen unterhalten hast«, frotzelte Degenhart.