Märchen aus Frankreich, Band 2 -  - E-Book

Märchen aus Frankreich, Band 2 E-Book

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Beschreibung

Erleben Sie die Märchen und Sagen aus aller Welt in dieser Serie "Märchen der Welt". Von den Ländern Europas über die Kontinente bis zu vergangenen Kulturen und noch heute existierenden Völkern: "Märchen der Welt" bietet Ihnen stundenlange Abwechslung. Ein Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis dieses Buches: Die Faulenzerin. Der Spruch der Moeren. Die gute Schwester. Der König mit den Bocksohren. Die drei Citronen. Die verzauberte Königstochter oder der Zauberthurm. Die Herrin über Erde und Meer. Der goldne Apfel des unsterblichen Vogels. Prinz Krebs. Die Schönste. Der Capitän Dreizehn. Der Drache. Der Riese vom Berge. Helios und Maroula. Das Schloss des Helios. Die Mutter des Érotas. Maroula und die Mutter des Érotas. Der Garten des Érotas. Tischtuch und Goldhuhn. Die Wunderpfeife. Der Garten des Charos. Gevatter Charos. Die siebenköpfige Schlange. Der Teufel und des Fischers Töchter. Die Sendung in die Unterwelt. Gott und die Riesen. Charos' Strafe. Der Vogel Gkión. Himmel und Meer. Die Neraïde. Die Neraïden an der Mühle. Der Wampyr. Der Teufel in der Flasche. Die Rache der Lámnissa. Die Arachobiten und die Lámnia. Der Drache von Koumariá. Die Räthselwette. Der Einsiedler auf dem Berge Liákoura. Alexander von Makedonien. Die Wirkung des Weines.

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Seitenzahl: 843

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Märchen aus Frankreich - Teil 2

Inhalt:

Geschichte des Märchens

Märchen aus Frankreich - Teil 2

Die schlafende Schöne

Riquet mit dem Schopfe

Die gewandte Prinzessin oder Die Begebenheiten der Finette

Bellebelle oder Der Ritter Fortuné

Prinz Unvergleichlich

Dornenblüt

Prinz Chéri

Prinz Désir

Königin Fantasque

Prinz Kurzbein und Prinzessin Zobel

Die Schöne durch Zufall

Die goldenen Knöpfe

Das waren wir, meine Herrn

Der Meisterdieb

Die Steckrübe

Der Priester ohne Glück

Die Gefallsüchtige und ihre Freunde

Die drei Geschenke

Die drei Besen

Der Pächter und sein Diener

Der dumme Junge

Der närrische Johann

Der dumme Hans

Die Einwohner von Sainte-Dode

Hänschens Reise

Der Esel von Montastruc

Der faule Hans

Das Landschiff

Der Schmied aus Fumel

Der geschickte Etienne

Die zwei Mädchen

Der Holzkammhändler

Haltet fest

Hänschen

Hirsekorn

Courtebotte und seine Flöte

Der Schnappsack

Petiton

Die geprellten Diebe

Jakob der Dieb

Der Arme und der Reiche

Merlicoquet

Rindon

Der Schleifer und die Tiere

Johann und Johanna

Klebe an!

Der Müller und sein Herr

Der kleine und der grosse Mönch

Der geschickte Guyon

Die silberne Ziege

Der Schäfer erhält die Königstochter eines Wortes wegen

Spuck in deine Hände

Pipète

Touéno-Bouéno

Der dumme Hans

Bénédicité

Weissfuss

Die sechs Genossen

Peter der Maulaffe

Die wunderbare Violine

Johann und Peter

Die Tauschgeschäfte Johann Baptists

Johanna und Brimboriau

Der Schuster und die Diebe

Die Schafsleber

Der Hase des hl. Petrus

Wie Hänschen Jacqueline heiratete

Der Holzhauer und der verbrühte Wolf

Der schlaue Fuchs

Warum die Frau die Hauswirtschaft führt

Gribouille

Der gedankenlose Peter

Das dumme Hänschen

Peter Berzilié

Warum man keine Ibisnester findet.

Das Siebengestirn.

Die Amsel und die Elster.

Wie die Schwalben ihre weiße Farbe verloren.

Märchen aus Frankreich, Teil 2

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Sweet Angel - Fotolia.com

Geschichte des Märchens

Ein Märchenist diejenige Art der erzählenden Dichtung, in der sich die Überlebnisse des mythologischen Denkens in einer der Bewußtseinsstufe des Kindes angepaßten Form erhalten haben. Wenn die primitiven Vorstellungen des Dämonenglaubens und des Naturmythus einer gereiftern Anschauung haben weichen müssen, kann sich doch das menschliche Gemüt noch nicht ganz von ihnen trennen; der alte Glaube ist erloschen, aber er übt doch noch eine starke ästhetische Gefühlswirkung aus. Sie wird ausgekostet von dem erwachsenen Erzähler, der sich mit Bewußtsein in das Dunkel phantastischer Vorstellungen zurückversetzt und sich, vielfach anknüpfend an altüberlieferte Mythen, an launenhafter Übertreibung des Wunderbaren ergötzt. So ist das Volksmärchen (und dieses ist das echte und eigentliche M.) das Produkt einer bestimmten Bewußtseinsstufe, das sich anlehnt an den Mythus und von Erwachsenen für das Kindergemüt mit übertreibender Betonung des Wunderbaren gepflegt und fortgebildet wird. Es ist dabei, wie in seinem Ursprung, so in seiner Weiterbildung durchaus ein Erzeugnis des Gesamtbewußtseins und ist nicht auf einzelne Schöpfer zurückzuführen: das M. gehört dem großen Kreis einer Volksgemeinschaft an, pflanzt sich von Mund zu Munde fort, wandert auch von Volk zu Volk und erfährt dabei mannigfache Veränderungen; aber es entspringt niemals der individuellen Erfindungskraft eines Einzelnen. Dies ist dagegen der Fall bei dem Kunstmärchen, das sich aber auch zumeist eben wegen dieses Ursprungs sowohl in den konkreten Zügen der Darstellung als auch durch allerlei abstrakte Nebengedanken nicht vorteilhaft von dem Volksmärchen unterscheidet. Das Wort M. stammt von dem altdeutschen maere, das zuerst die gewöhnlichste Benennung für erzählende Poesien überhaupt war, während der Begriff unsers Märchens im Mittelalter gewöhnlich mit dem Ausdruck spel bezeichnet wurde. Als die Heimat der M. kann man den Orient ansehen; Volkscharakter und Lebensweise der Völker im Osten bringen es mit sich, daß das M. bei ihnen noch heute besonders gepflegt wird. Irrtümlich hat man lange gemeint, ins Abendland sei das M. erst durch die Kreuzzüge gelangt; vielmehr treffen wir Spuren von ihm im Okzident in weit früherer Zeit. Das klassische Altertum besaß, was sich bei dem mythologischen Ursprung des Märchens von selbst versteht, Anklänge an das M. in Hülle und Fülle, aber noch nicht das M. selbst als Kunstgattung. Dagegen taucht in der Zeit des Neuplatonismus, der als ein Übergang des antiken Bewußtseins zur Romantik bezeichnet werden kann, eine Dichtung des Altertums auf, die technisch ein M. genannt werden kann, die reizvolle Episode von »Amor und Psyche« in Apulejus' »Goldenem Esel«. Gleicherweise hat sich auch an die deutsche Heldensage frühzeitig das M. angeschlossen. Gesammelt begegnen uns M. am frühesten in den »Tredeci piacevoli notti« des Straparola (Vened. 1550), im »Pentamerone« des Giambattista Basile (gest. um 1637 in Neapel), in den »Gesta Romanorum« (Mitte des 14. Jahrh.) etc. In Frankreich beginnen die eigentlichen Märchensammlungen erst zu Ende des 17. Jahrh.; Perrault eröffnete sie mit den als echte Volksmärchen zu betrachtenden »Contes de ma mère l'Oye«; 1704 folgte Gallands gute Übersetzung von »Tausendundeiner Nacht« (s. d.), jener berühmten, in der Mitte des 16. Jahrh. im Orient zusammengestellten Sammlung arabischer M. Besondern Märchenreichtum haben England, Schottland und Irland aufzuweisen, vorzüglich die dortigen Nachkommen der keltischen Urbewohner. Die M. der skandinavischen Reiche zeigen nahe Verwandtschaft mit den deutschen. Reiche Fülle von M. findet sich bei den Slawen. In Deutschland treten Sammlungen von M. seit der Mitte des 18. Jahrh. auf. Die »Volksmärchen« von Musäus (1782) und Benedikte Naubert sind allerdings nur novellistisch und romantisch verarbeitete Volkssagen. Die erste wahrhaft bedeutende, in Darstellung und Fassung vollkommen echte Sammlung deutscher M. sind die »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm (zuerst 1812–13, 2 Bde.; ein 3. Band, 1822, enthält literarische Nachweise bezüglich der M.). Unter den sonstigen deutschen Sammlungen steht der Grimmschen am nächsten die von L. Bechstein (zuerst 1845); außerdem sind als die bessern zu nennen: die von E. M. Arndt (1818), Löhr (1818), J. W. Wolf (1845 u. 1851), Zingerle (1852–54), E. Meier (1852), H. Pröhle (1853) u. a. Mit M. des Auslandes machten uns durch Übertragungen bekannt: die Brüder Grimm (Irland, 1826), Graf Mailath (Ungarn, 1825), Vogl (Slawonien, 1837), Schott (Walachei, 1845), Asbjörnson (Norwegen), Bade (Bretagne, 1847), Iken (Persien, 1847), Gaal (Ungarn, 1858), Schleicher (Litauen, 1857), Waldau (Böhmen, 1860), Hahn (Griechenland u. Albanien, 1863), Schneller (Welschtirol, 1867), Kreutzwald (Esthland, 1869), Wenzig (Westslawen, 1869), Knortz (Indianermärchen, 1870, 1879, 1887), Gonzenbach (Sizilien, 1870), Österley (Orient, 1873), Carmen Sylva (Rumänien, 1882), Leskien und Brugman (Litauen, 1882), Goldschmidt (Rußland, 1882), Veckenstedt (Litauen, 1883), Krauß (Südslawen, 1883–84), Brauns (Japan, 1884), Poestion (Island, 1884; Lappland, 1885), Schreck (Finnland, 1887), Chalatanz (Armenien, 1887), Jannsen (Esthen, 1888), Mitsotakis (Griechenland, 1889), Kallas (Esthen, 1900) u. a. Unter den Kunstpoeten haben sich im M. mit dem meisten Glück versucht: Goethe, L. Tieck, Chamisso, E. T. A. Hoffmann, Fouqué, Kl. Brentano, der Däne Andersen, R. Leander (Volkmann) u. a. Vgl. Maaß, Das deutsche M. (Hamb. 1887); Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, 2. Bd., 1. Abt. (2. Aufl., Straßb. 1901); Benfey, Kleinere Schriften zu Märchen-forschung (Berl. 1890); Reinh. Köhler, Aufsätze über M. und Volkslieder (das. 1894) und Kleine Schriften, Bd. 1: Zur Märchenforschung (hrsg. von Bolte, das. 1898); R. Petsch, Formelhafte Schlüsse im Volksmärchen (das. 1900).

Märchen aus Frankreich - Teil 2

Die schlafende Schöne

Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder und waren darüber gar sehr betrübt. Sie reisten zwar in alle möglichen Bäder, sie sparten nicht mit Gelübden und Wallfahrten; aber nichts wollte helfen. Endlich wurde die Königin dennoch guter Hoffnung und kam mit einer Tochter nieder. Eine schöne Tauffeier wurde ausgerichtet, und um diese Tochter recht glücklich zu machen, bat man alle Feen aus dem ganzen Lande, deren sieben waren, zu Gevatterinnen, damit ihr jede, so wie es damals unter den Feen üblich war, ein Geschenk machen und die Prinzessin auf diese Weise alle nur möglichen Vollkommenheiten erhalten möchte. Nach der Taufe ging die ganze Gesellschaft in den königlichen Palast, wo man den Feen ein herrliches Gastmahl gab. Jeder legte man ein prächtiges Couvert auf, mit einem Futteral von gediegenem Golde, in welchem Messer, Gabel und Löffel steckten, alles von dem feinsten Golde, mit Diamanten und Rubinen besetzt. Da sich aber die ganze Gesellschaft schon zu Tische gesetzt hatte, öffnete sich die Tür, und eine alte Fee trat herein, die nicht eingeladen worden war, weil sie nun seit länger als fünfzig Jahren nicht mehr ausging und weil man glaubte, sie wäre in ihrem Turme gestorben oder verzaubert. Der König ließ ihr auch ein Couvert auflegen; aber es war unmöglich, ihr auch ein goldenes Futteral zu geben wie den anderen, weil man nur sieben für die sieben Feen hatte machen lassen. Die Alte glaubte, es geschehe ihr zum Affront, und murmelte einige Drohungen zwischen den Zähnen. Eine der jungen Feen, die sich in ihrer Nähe befand, hörte es und vermutete gleich, daß sie der kleinen Prinzessin irgendein schlimmes Geschenk machen würde. Sie versteckte sich daher nach aufgehobener Tafel hinter einem Wandteppich, um ihren Wunsch zuletzt auszusprechen und allenfalls das Böse wiedergutzumachen, welches die Alte dem Kinde antun würde. Hierauf fingen die Feen an, die Prinzessin zu beschenken. Die jüngste verhieß ihr, sie werde die Schönste auf der Welt sein, die zweite Verstand wie ein Engel, die dritte Reiz und Anmut in allem, was sie vornähme, die vierte das Talent, schön zu tanzen, die fünfte wie eine Nachtigall zu singen, die sechste alle Arten von Instrumenten auf das vollkommenste zu spielen. Als die Reihe an die Alte kam, wackelte diese, mehr aus Verdruß als des Alters wegen, mit dem Kopfe und sagte, die Prinzessin solle sich mit einer Spindel in die Hand stechen und daran sterben. Die ganze Gesellschaft erschrak über dieses schreckliche Geschenk, und sie weinten insgesamt wie die Kinder. Aber in diesem Augenblick trat die junge Fee hinter dem Wandteppich hervor und sagte ganz laut zu dem König und der Königin: "Gebt Euch zufrieden, Eure Tochter wird nicht sterben. Es steht zwar nicht in meiner Gewalt, die boshafte Absicht meiner Vorgängerin ganz zu vereiteln; die Prinzessin wird sich mit einer Spindel in die Hand stechen, aber statt zu sterben, wird sie in einen tiefen Schlaf fallen, aus welchem sie nach hundert Jahren durch den Sohn eines Königs aufgeweckt werden wird."

Der König, der danach trachtete, dem von der Alten verkündeten Unglück zu entgehen, ließ einen Befehl bekanntmachen, durch welchen er jedermänniglich bei Todesstrafe verbot, an der Spindel zu spinnen oder nur eine Spindel im Hause zu haben. Eines Tages, da die Prinzessin schon etwa fünfzehn oder sechzehn Jahr alt war, begaben sich der König und die Königin auf eines ihrer Lustschlösser, und da trug es sich zu, daß die Prinzessin im ganzen Schlosse treppauf, treppab aus einer Stube in die andere lief und endlich auch in ein kleines Dachstübchen oben im Turme kam, wo sie ein altes Mütterchen fand, das vor einem Spinnrocken saß und spann. Die gute Alte hatte in ihrem Dachstübchen von dem Befehle des Königs kein Wörtchen erfahren. "Was macht Ihr denn da, gute Frau?" fragte die Prinzessin.

"I, da spinne ich, schönes Kind", versetzte die Alte, die die Prinzessin nicht kannte.

"Ach, das ist ja allerliebst!" antwortete diese. "Laßt mal sehen, wie Ihr's macht! Ich will doch sehen, ob ich es nachmachen kann."

Die Alte gab ihr die Spindel, und wie sie dieselbe in die Hand nahm, stach sie sich damit, denn sie war etwas lebhaft und flattrig, und überdies war es der Wille der Feen, daß es so geschehen mußte. Sie stach sich also und sank ohnmächtig nieder. Die Alte war vor Schrecken außer sich und schrie nach Hilfe. Man eilte von allen Seiten herbei, man spritzte der Prinzessin Wasser ins Gesicht, man löste ihr die Schnürbrust auf, man rieb ihr Hände und Schläfen mit starken Wassern: alles war umsonst, sie kam nicht wieder zu sich. Da erinnerte sich der König, der indes, aufgestört durch den Lärm, auch herbeigeeilt war, der Prophezeiung der Feen, und da er wohl einsah, daß man sich dem Willen der Feen nicht widersetzen könne, so ließ er die Prinzessin in das schönste Zimmer des Palastes tragen und auf ein prächtiges, gold- und silbergesticktes Bett legen. Sie war schön wie ein Engel, denn die Ohnmacht hatte ihrer Haut nichts von ihrer frischen Farbe genommen; ihre Wangen waren rot wie Rosen und ihre Lippen wie Korallen. Nur die Augen hatte sie geschlossen, aber man hörte sie leise atmen und sah daraus gar wohl, daß sie nicht tot war. Der König befahl, sie ruhig schlafen zu lassen, bis die Stunde ihres Erwachens gekommen wäre. Die gute Fee, die ihr das Leben gerettet hatte, indem sie sie zu einem hundertjährigen Schlafe verurteilte, befand sich eben in dem Königreiche Mataquin, zwölftausend Meilen von dem Orte entfernt, wo der Prinzessin dieses Unglück zustieß, aber sie erhielt in wenigen Augenblicken durch ihren Zwerg Nachricht davon, der Siebenmeilenstiefel anhatte – dies waren Stiefel, mit denen man auf jeden Schritt sieben Meilen machte. Die Fee reiste sogleich ab und kam in weniger als einer Stunde auf einem feurigen, mit Drachen bespannten Wagen an. Der König reichte ihr die Hand, als sie aus dem Wagen stieg. Sie billigte alles, was er getan hatte, aber bei ihrer außerordentlichen Voraussicht fiel ihr ein, daß die Prinzessin, wenn sie aufwachte und sich in dem alten Schlosse allein fände, in große Verlegenheit geraten würde. Sie fand auch dafür ein Mittel. Sie berührte außer dem König und der Königin alles, was sich in dem Schlosse befand, mit ihrem Zauberstab, Gouvernanten, Hofdamen, Kammerfrauen, Kammerherren, Bediente, Haushofmeister, Köche, Küchenjungen, Schweizer, Pagen und Lakaien, sie berührte auch alle Pferde im Marstalle samt den Reitknechten, die Hofhunde und den kleinen Pouste, das Schoßhündchen der Prinzessin, das neben ihrem Bett lag. Sowie sie sie berührte, schliefen sie alle ein, um zugleich mit der Prinzessin wieder aufzuwachen und ihr zu Diensten zu sein, wenn sie ihrer bedurfte. Auch die Bratspieße in der Küche, die voll Rebhühner und Fasanen staken, schliefen ein, und auch das Feuer schlief ein. Alles das geschah in einem Augenblick, denn die Feen machen in allem, was sie tun, wenig Federlesens. Hierauf küßten König und Königin ihr liebes Kind noch einmal, ohne daß es davon aufwachte, verließen das Schloß und geboten durch ein Edikt, daß sich niemand demselben nähern solle. Aber auch dieses Verbot war unnötig, denn in weniger als einer Viertelstunde wuchs rund um das Schloß eine so große Menge Bäume, Sträucher und Dornen, und diese waren alle so ineinander verflochten, daß weder Menschen noch Tiere durchdringen konnten. Nur noch die Turmspitze des Schlosses guckte heraus. Man hatte allen möglichen Grund, zu glauben, daß auch dieses ein Werk der Fee sei, damit die Prinzessin während ihres Schlafes nichts von neugierigen Leuten zu fürchten hätte.

Nach Verlaufe von hundert Jahren ging der Sohn des dazumal regierenden Königs, der aus einer anderen Familie war als die schlafende Prinzessin, auf die Jagd, und da es sich traf, daß er in die Gegend des Waldes kam, wo das Schloß lag, fragte er, was das für Türme seien, die aus dem Dickicht des Waldes hervorragten. Jeder antwortete ihm, was er selbst davon gehört hatte; die einen sagten, es wäre ein altes Schloß, worin es spuke, die anderen, daß alle Zauberer aus dem ganzen Lande dort ihren Hexensabbat feierten, die gemeinste Meinung aber war, daß ein Menschenfresser darin wohne, der alle kleinen Kinder raube, die er fangen könne, und sie dort ruhig verzehre, weil ihm niemand nachfolgen könne und er allein sich den Weg durch das dicke Gebüsch zu bahnen vermöchte. Endlich aber nahm ein alter Bauer das Wort und sagte zu dem Prinzen, der nicht wußte, was er von alledem halten sollte: "Durchlauchtiger Prinz, es ist nun länger als fünfzig Jahre, daß ich meinen Vater habe sagen hören, es läge in diesem Schlosse eine wunderschöne Prinzessin, welche hundert Jahre schlafen und dann von einem Prinzen aufgeweckt werden sollte, dem sie bestimmt wäre."

Als der Prinz dieses hörte, geriet er in Feuer und Flammen und zweifelte keinen Augenblick, daß er bestimmt sei, dieses schöne Abenteuer zu bestehen. Von Liebe und Ruhm getrieben, beschloß er, sich auf der Stelle näher davon zu unterrichten. Er näherte sich dem Gebüsche, und bei jedem Schritte, den er tat, machten ihm die Dornen und Sträucher von selbst Platz und ließen ihn durch. So kam er endlich an das Schloß, welches er an dem äußersten Ende einer langen Allee liegen sah. Keiner von seinen Leuten hatte ihm folgen können, weil die Bäume und Sträucher sich wieder geschlossen hatten, sobald er hindurchgegangen war. Ob er sich gleich ein wenig hierüber wunderte, setzte er dennoch seinen Weg weiter fort, denn einem jungen und verliebten Prinzen fehlt es niemals an Mut. Er kam hierauf in einen großen Vorhof, wo das, was er sah, ihn doch beinahe vor Furcht gelähmt hätte. Allenthalben herrschte das schrecklichste Stillschweigen, allenthalben sah man das Bild des Todes. Eine Menge Körper von Menschen und Tieren lagen hier ausgestreckt. Er hielt sie anfänglich für tot, aber an den kupfrigen Nasen der Schweizer und ihren roten Gesichtern sah er, daß sie nur schliefen, und an den Gläsern, die neben ihnen standen und in welchen sich noch einige Tropfen Wein befanden, sah er, daß sie während des Trinkens eingeschlafen waren. Er kam hierauf in einen anderen großen Hof, der mit Marmor gepflastert war. Er stieg die Treppe hinauf und kam in den Wachsaal, wo die Garden in einer Reihe standen, die Büchsen über der Schulter hatten und laut schnarchten. So ging er durch mehrere Zimmer, in denen er eine Menge Herren und Damen fand, die alle schliefen, einige sitzend, andere stehend. Endlich kam er in ein schönes Zimmer, das über und über vergoldet war; hier sah er auf einem Bett, dessen Vorhänge auf beiden Seiten offen waren, das schönste Schauspiel von der Welt, das er je erblickt hatte, eine Prinzessin von etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren, von deren strahlendem Gesicht etwas Leuchtendes und Göttliches ausging. Zitternd und voll Verwunderung näherte er sich ihr und sank neben dem Bett auf die Knie. Nunmehr, da in diesem Augenblick die Bezauberung endigte, erwachte die Prinzessin und sah ihn mit so zärtlichen Augen an, wie ein erster Blick nicht zärtlicher sein kann. "Seid Ihr es, mein Prinz", sagte sie zu ihm, "Ihr habt lange auf Euch warten lassen."

Der Prinz war entzückt über diese Worte und noch mehr über die Art, mit der sie sie vorbrachte. Er wußte gar nicht, wie er ihr seine Freude und Erkenntlichkeit bezeigen sollte. Er versicherte also, daß er sie mehr als sich selbst liebe. Seine Worte waren schlecht gesetzt, aber sie gefielen der Prinzessin nur desto mehr, denn je verliebter man ist, desto unberedter ist man. Er war überhaupt in weit größerer Verlegenheit als sie, und das war auch gar nicht verwunderlich, denn sie hatte Zeit genug gehabt, über ihre Reden nachzudenken, und es ist sehr wahrscheinlich, obgleich die Geschichte nichts davon sagt, daß die gute Fee sie die ganze Zeit mit angenehmen Träumen unterhalten hat, um ihr den langen Schlaf zu verkürzen. Und in der Tat hatte sie diese Zeit so gut angewandt, daß sie vier Stunden lang miteinander sprachen, ohne sich auch nur die Hälfte von dem gesagt zu haben, was sie sich zu sagen hatten.

Indessen war zugleich mit der Prinzessin alles im Schlosse aufgewacht; jedes war wieder an seine Arbeit gegangen, und da sie nicht alle verliebt waren, so verspürten sie einen erschrecklichen Hunger. Die Ehrendame, welche den Dienst hatte und ebenso hungrig war wie die anderen, wurde ungeduldig und sagte der Prinzessin ein über das andere Mal, daß die Speisen aufgetragen seien. Der Prinz half ihr endlich vom Bett auf. Sie war ganz angezogen und in den reichsten Kleidern, aber er sagte ihr freilich nicht, daß sie wie zu Großmutters Zeiten gekleidet wäre und noch einen hohen steif stehenden Kragen trüge, denn sie war deswegen nicht weniger schön. Sie gingen nun zusammen in den Spiegelsaal und setzten sich zur Tafel, wobei ihnen die Bedienten der Prinzessin aufwarteten. Violinen und Oboen erklangen, die Kapelle spielte einige alte Stücke, die vortrefflich waren, ob man sie gleich seit hundert Jahren nicht mehr gespielt hatte. Ohne Zeit zu verlieren, traute sie der Hofkaplan nach aufgehobener Tafel in der Schloßkirche, und die Ehrendame brachte die Prinzessin zu Bett. Sie schliefen wenig, denn die Prinzessin hatte den Schlaf nicht nötig, und der Prinz stand bei Anbruch des Tages auf und kehrte nach der Stadt zurück, wo sein Vater wegen seines Ausbleibens in großer Angst war. Der Prinz gab vor, sich auf der Jagd in dem Walde verirrt zu haben und da habe ihn ein Köhler in seine Hütte aufgenommen und mit schwarzem Brote und mit Käse bewirtet. Der König war ein sehr guter Mann und glaubte es, aber die Königin war nicht so leicht zu bereden, und da sie sah, daß er fast alle Tage auf die Jagd ging und immer eine Ausflucht hatte, wenn er in zwei oder drei Nächten nicht nach Hause gekommen war, so schöpfte sie Verdacht und fiel auf die Vermutung, er müsse irgendwo ein Liebchen haben; denn er lebte länger als zwei Jahre mit der Prinzessin auf diesem Fuße, und sie schenkte ihm zwei Kinder, von denen sie das erste, welches ein Mädchen war, Aurore, Prinzessin Morgenrot, und das zweite, einen Sohn, Jour, Prinz Tag, nannten, weil er noch schöner war als seine Schwester. Die Königin, um ihren Sohn zum Geständnis zu bringen, sagte mehrmals zu ihm, daß man sein Leben genießen müsse und daß man sich seiner Schwächen in gewissen Punkten nicht zu schämen habe, aber er wagte es nicht, ihr sein Geheimnis anzuvertrauen, denn er fürchtete sie, sosehr er sie auch liebte, weil sie aus einem Menschenfressergeschlechte war; sein Vater hatte sie bloß ihrer ungeheuren Reichtümer wegen geheiratet. Man sagte sich auch am Hofe ins Ohr, daß sie alle Begierden der Menschenfresser habe und daß sie, wenn sie kleine Kinder vorbeigehen sehe, sich kaum enthalten könne, sich auf sie zu stürzen. Darum wollte ihr der Prinz nichts sagen. Aber da der König nach Verlaufe von zwei Jahren gestorben war und der Prinz nun freie Hände bekam, deklarierte er öffentlich seine Heirat und holte die Königin, seine Gemahlin, mit großen Zeremonien aus ihrem Schlosse. Sie zog mit vielem Pompe inmitten ihrer beiden Kinder in die Hauptstadt ein. Kurze Zeit darauf bekriegte ihr Gemahl den Kaiser Cantalabutte, seinen Nachbar. Die Verwaltung des Reiches überließ er seiner Mutter und empfahl ihr seine Gemahlin und die Kinder auf das dringendste. Er mußte den ganzen Sommer über ausbleiben, und sobald er abgereist war, schickte die Königinmutter ihre Schwiegertochter und ihre Enkel in ein entlegenes Landhaus, mitten im Walde, um dort ihr abscheuliches Gelüst besser befriedigen zu können. Einige Tage darauf folgte sie ihnen selbst nach, ließ vor dem Schlafengehen ihren Haushofmeister zu sich kommen und sagte zu ihm: "Morgen mittag will ich die kleine Aurore speisen."

"Um Gottes willen, Eure Majestät!" rief der Haushofmeister.

"Ohne Widerrede", versetzte die Königin, und sie sagte dies in dem Tone eines Menschenfressers, dem nach frischem Fleische gelüstet, "und zwar will ich sie mit einer sauren Zwiebelbrühe essen."

Der arme Mann, der wohl sah, daß mit einer Menschenfresserin in diesem Punkte nicht zu spaßen war, nahm sein großes Messer und ging in die Kammer der kleinen Aurore. Sie war damals vier Jahre alt. Sie sprang ihm lachend entgegen, fiel ihm um den Hals und bat ihn um Zuckerwerk. Er fing an zu weinen. Das Messer fiel ihm aus der Hand. Er begab sich in den Hof und schnitt einem jährigen Lamme die Gurgel durch und machte eine so gute Brühe daran, daß ihm die Königin sagte, sie hätte zeit ihres Lebens so was Gutes nicht gegessen. Zu gleicher Zeit hatte er die kleine Aurore mitgenommen und sie seiner Frau gegeben, damit sie sie in einer geheimen Kammer verberge, welche er unten im Hofe besaß. Acht Tage darauf sagte die boshafte Königin wieder zu ihrem Haushofmeister: "Ich will morgen abend den kleinen Jour essen."

Er antwortete nichts, sondern beschloß, sie wie das erste Mal zu betrügen. Hierauf ging er zu dem kleinen Jour, der eben ein Rapier in der Hand hatte und sich mit einem großen Affen herumfocht, und gleichwohl war er erst drei Jahr alt. Er brachte ihn auch seiner Frau, um ihn zu der kleinen Aurore zu tun, und statt des kleinen Jour tischte er der Königin ein junges, sehr zartes Reh auf, das sie außerordentlich gut fand.

Bis dahin ging alles gut. Aber eines Tages sagte die bösartige Königin zu ihrem Haushofmeister: "Morgen will ich die Königin essen, und zwar mit derselben Brühe wie ihre Kinder."

Diesmal geriet der arme Haushofmeister in eine wahre Verzweiflung, weil er nicht wußte, wie er sie noch einmal betrügen sollte. Die junge Königin war, ohne die hundert Jahre, die sie verschlafen hatte, etwas über zwanzig Jahre alt; ihre Haut war ein wenig fest, obgleich weiß und schön. Und wo sollte er auf dem ganzen Viehhofe ein Tier finden, das ihr glich? Er faßte also den Entschluß, der Königin ohne Barmherzigkeit die Kehle durchzuschneiden, um sein eigenes Leben zu retten, und begab sich in dieser Absicht auf ihr Zimmer. Er suchte sich, soviel es ihm möglich war, in Wut zu setzen und trat mit dem Dolche in der Hand in das Zimmer der jungen Königin. Indessen konnte er es doch nicht über das Herz bringen, sie so sehr zu überraschen, sondern überbrachte ihr den Befehl ihrer Schwiegermutter mit dem größten Respekte. "Wohlan", sagte sie und hielt ihm den Hals hin, "vollbringt den Befehl, den man Euch gegeben hat; ich werde meine Kinder wiedersehen, meine armen Kinder, die ich so sehr liebte." Denn sie hielt sie für tot, weil sie ihr heimlich entführt worden waren.

"Nein, nein, Madame", antwortete der arme Haushofmeister gerührt, "Ihr sollt nicht sterben und sollt Eure Kinderchen wiedersehen, denn ich habe sie bei mir versteckt. Ich will die Königin noch einmal betrügen und ihr eine junge Hirschkuh an Eurer Stelle auftischen."

Er führte sie hierauf in die Kammer, wo ihre Kinder waren, die ihr um den Hals fielen und mit ihr weinten, und er ließ sie hier, um eine Hirschkuh zurechtzumachen, die die Alte auch mit dem größten Appetit aß, als wenn es die junge Königin selbst gewesen wäre. Sie freute sich innerlich über ihre Grausamkeit und machte sich darauf gefaßt, dem Könige bei seiner Rückkehr zu sagen, daß seine Gemahlin und seine beiden Kinder von den wilden Wölfen gefressen worden wären.

Als sie aber eines Abends in den Höfen des Schlosses umherschlich, um ihrer Gewohnheit nach frisches Menschenfleisch aufzuspüren, hörte sie in einem tiefer gelegenen Gemache den kleinen Jour weinen, dem seine Mutter die Rute geben wollte, weil er unartig gewesen war, und zu gleicher Zeit hörte sie auch, daß die kleine Aurore für ihren Bruder um Verzeihung bat. Die Menschenfresserin erkannte die Stimmen ihrer Schwiegertochter und ihrer Enkel, und rasend vor Wut, weil sie sich betrogen sah, befahl sie sogleich mit einer fürchterlichen Stimme, vor welcher alles zitterte, den anderen Morgen eine große Kufe in den Hof zu bringen und sie mit Kröten, Vipern, Nattern und Ottern anzufüllen, um die Königin, ihre Kinder, den Haushofmeister, seine Frau und seine Magd hineinzuwerfen. Sie hatte Befehl gegeben, sie mit gebundenen Händen herbeizuführen; die Henker waren schon im Begriff, sie in die Kufe hineinzustürzen, als der König, den man so bald nicht erwartet hatte, in den Hof geritten kam. Er war ganz entsetzt über das furchtbare Schauspiel, zu welchem er hier kam, und fragte, was es bedeuten solle. Niemand wagte es, ihm Auskunft darüber zu geben, als seine Mutter, wütend über das, was sie sah, sich in die Kufe stürzte und sogleich von den giftigen Tieren aufgefressen wurde. Der König betrübte sich darüber, denn sie war seine Mutter, aber er tröstete sich bald in den Armen seiner schönen Gemahlin und seiner liebenswürdigen Kinder.

Moral

Auf einen Ehgemahl zu warten ein'ge Zeit,

Der reich, galant, voll Zärtlichkeit,

Das ist erklärlich und nicht schwer.

Doch hundert Jahre lang und noch im Schlaf dazu:

Man findet keine Schöne mehr,

Die schliefe in so sel'ger Ruh.

Die Mär scheint noch uns zu verstehn zu geben,

Daß jenes angenehme Band, das Hymen flicht,

Selbst wenn er damit säumt, nicht minder Glück verspricht

Und Warten nichts verdirbt im Leben.

Doch liegt's den Schönen fast im Blut,

Sich eilig einen Mann zu wählen,

Daß mir die Kraft fehlt und der Mut,

Das Warten ihnen zu empfehlen.

Es war einmal eine Königin, die bekam einen Sohn, der so häßlich und ungestalt war, daß man lange nicht wußte, ob er eine menschliche Gestalt hätte oder nicht. Eine Fee, die bei seiner Geburt gegenwärtig war, versicherte indes, daß er demungeachtet durch seinen Verstand sehr liebenswürdig werden würde, und sie setzte hinzu, daß er vermöge des Geschenkes, welches sie ihm verliehen habe, seiner Geliebten dereinst ebensoviel Verstand mitteilen könne, als er selbst besäße. Diese Versprechungen beruhigten die arme Königin ein wenig, die sehr bekümmert war, Mutter eines so häßlichen Geschöpfes zu sein. Nun ist es wahr: sobald der Knabe zu reden anfing, hatte er tausend allerliebste Einfälle, und es war etwas Geistreiches in allem, was er vornahm, so daß man ihn liebhaben mußte. Ich habe vergessen zu sagen, daß er mit einem kleinen Haarschopfe auf die Welt kam, daher man ihn nur Riquet mit dem Schopfe nannte, denn Riquet war der Familienname.

Nach Verlaufe von sieben oder acht Jahren kam die Königin eines benachbarten Reiches mit zwei Töchtern nieder. Die erste war schöner als der Tag, und die Königin hatte eine so unmäßige Freude darüber, daß man fürchtete, sie möchte sich Schaden tun. Dieselbe Fee, die bei der Geburt des kleinen Riquet mit dem Schopfe gegenwärtig gewesen, war auch hier dabei und sagte der Königin, um ihre Freude zu mäßigen, daß die kleine Prinzessin keinen Funken Verstand haben und ebenso dumm als schön sein würde. Dies betrübte die Königin nun gar sehr, aber sie hatte einige Minuten darauf ein weit größeres Herzleid, denn das zweite Kind, mit dem sie niederkam, war außerordentlich häßlich. "Laßt Euch das nicht so gar sehr zu Herzen gehen", sagte die Fee zu ihr, "der Mangel der Schönheit wird Eurer Tochter auf andere Art ersetzt werden. Sie wird so viel Verstand und Witz bekommen, daß man ihre Häßlichkeit kaum noch bemerken wird."

"Gott gebe das!" versetzte die Königin. "Aber könnte man der Ältesten, die so schön ist, nicht auch zu etwas Verstand verhelfen?"

"Von dieser Seite kann ich nichts für sie tun", erwiderte die Fee, "aber Schönheit kann ich ihr geben, soviel ich will; und da ich gern alles tun möchte, was nur in meinen Kräften steht, Euch gefällig zu sein, so will ich ihr die Gabe verleihen, dem Manne, der ihr Herz gewinnt, ihre Schönheit mitzuteilen."

Die beiden Prinzessinnen wuchsen nun heran, und ihre Talente wuchsen mit ihnen. Allenthalben sprach man von der Schönheit der Ältesten und dem Verstande der Jüngsten. Aber mit dem Alter vermehrten sich auch ihre Fehler. Die Jüngste wurde zusehends häßlicher und die Älteste von Tag zu Tag dümmer. Sie antwortete entweder gar nicht, wenn man sie fragte, oder sie sagte etwas Albernes. Sie war dabei so ungeschickt, daß sie nicht vier Tassen auf den Kaminsims setzen konnte, ohne eine davon zu zerbrechen, und daß sie kein Glas Wasser trank, ohne die Hälfte davon über ihre Kleider zu schütten.

Sosehr man also auch immer der Schönheit eines jungen Frauenzimmers huldigt, so war dennoch die Jüngste in allen Gesellschaften immer weit beliebter als die Älteste. Zuerst näherte man sich gemeiniglich der Ältesten und Schönsten, um sie zu betrachten und zu bewundern; bald aber schloß man sich an die an, welche den meisten Verstand hatte, um sich an ihren tausend liebenswürdigen Einfällen zu ergötzen, und so stand gewöhnlich in weniger als einer halben Stunde die Älteste allein, und alles hatte sich um die Jüngste versammelt. So dumm die Älteste war, so bemerkte sie dies doch; und sie hätte ohne Bedauern gern alle ihre Schönheit darum gegeben, wenn sie nur die Hälfte von dem Verstande ihrer Schwester gehabt hätte. Die Königin, die sonst eine kluge Frau war, konnte sich zuweilen nicht enthalten, ihr ihre Dummheit vorzuwerfen, und dies verursachte der armen Prinzessin jederzeit die heftigste Bekümmernis.

Eines Tages ging sie in den Wald spazieren, um in der Einsamkeit ihr Unglück zu beweinen, als sie einen kleinen, ungestalten, aber sehr prächtig gekleideten Mann auf sich zukommen sah. Es war der junge Prinz Riquet mit dem Schopfe. Er hatte sich in ihr Porträt verliebt, das man allenthalben finden konnte, und hatte das Königreich seines Vaters verlassen, um das Vergnügen zu haben, sie zu sehen und zu sprechen. Welche Freude, da er sie ganz allein antraf! Er näherte sich ihr mit aller ersinnlichen Ehrfurcht und Höflichkeit. Da er aber nach den ersten Komplimenten bemerkte, daß sie sehr niedergeschlagen war, sagte er zu ihr:

"Ich begreife nicht, wie eine so schöne Person so niedergeschlagen sein kann, als Ihr zu sein scheint. Ich kann mich zwar rühmen, eine große Zahl von schönen Damen gesehen zu haben, aber ich kann aufrichtig versichern, daß keine es wagen dürfte, sich mit Eurer Schönheit zu messen."

"Ihr beliebt zu scherzen", antwortete die Prinzessin und schwieg still.

"Die Schönheit", fuhr Riquet fort, "ist ein so großer Vorzug, daß man jeden anderen Mangel dabei übersehen kann; und da Ihr jene in einem so hohen Grade besitzt, so begreife ich nicht, was es in der Welt geben kann, daß Euch so sehr zu bekümmern imstande ist."

"Ach!" antwortete die Prinzessin, "ich wollte lieber so häßlich sein wie Ihr und etwas mehr Verstand haben, als so schön und so dumm sein, wie ich jetzt bin."

"Man kann seinen Verstand nicht mehr zeigen", war die Antwort, "als wenn man keinen zu haben glaubt, und es liegt in der Natur der Sache, daß, je mehr Verstand man hat, man desto weniger glaubt, ihn zu besitzen."

"Ich weiß das nicht", erwiderte die Prinzessin, "aber ich weiß sehr wohl, daß ich sehr dumm bin, und dies Bewußtsein macht mir tödlichen Kummer."

"Wenn Euer Kummer in weiter nichts besteht", sagte Riquet, "so kann ich Eurem Schmerz leicht ein Ende machen."

"Und wie das?" fiel die Prinzessin ein.

"Ich habe das Talent", antwortete jener, "der Person, welche ich am meisten liebe, so viel Verstand mitzuteilen, als ich will; und da Ihr diese Person seid, so hängt es bloß von Euch ab, so viel Verstand zu bekommen, als Ihr wollt, wenn Ihr mir versprecht, mich zu heiraten."

Die Prinzessin wußte nicht, was sie antworten sollte.

"Ich sehe wohl", fuhr Riquet fort, "daß es Euch schwerfällt, in diesen Vorschlag einzuwilligen, und ich wundere mich nicht darüber; aber ich gebe Euch ein ganzes Jahr Bedenkzeit, um mit Euch selbst zu Rate zu gehen."

Die Prinzessin war so einfältig und hatte doch gleichwohl ein so großes Verlangen, klüger zu werden, daß sie sich einbildete, das Ende dieses Jahres würde niemals kommen. Sie nahm also den Vorschlag an, der ihr gemacht wurde. Und kaum hatte sie dem Prinzen versprochen, daß sie ihm nach Ablauf eines Jahres an ebendem Tage ihre Hand geben wollte, als sie eine außerordentliche Veränderung in sich wahrnahm. Sie war ganz anders als vorher; sie fühlte eine unglaubliche Leichtigkeit, alles zu sagen, was sie wollte, und alles, was sie sagte, war sinnreich, leicht und natürlich. In diesem Augenblick fing sie mit Riquet ein langes, galantes Gespräch an, wo sie mit solcher Fertigkeit plauderte, daß Riquet anfing zu fürchten, er möchte ihr mehr Verstand mitgeteilt haben, als er selbst behalten hätte.

Als sie in das Schloß zurückkam, wußte niemand am Hofe, was er von dieser plötzlichen und außerordentlichen Veränderung denken sollte. Denn statt daß sie wie sonst lauter verkehrtes Zeug geantwortet hätte, sprach sie jetzt ungemein vernünftig und mit vielem Geiste. Man kann sich vorstellen, wie groß die Freude über diese Veränderung war, an der jedermann am Hofe Anteil nahm, ihre jüngste Schwester ausgenommen, welche nun nicht mehr den Vorzug des Geistes hatte und neben ihrer Schwester nur ein häßliches Frauenzimmer war. Der König richtete sich nun in allen Stücken nach ihrem Rat und hielt oft selbst in ihren Zimmern Session. Auch verbreitete sich der Ruf von dieser Veränderung sehr geschwinde, und fast alle Prinzen der benachbarten Königreiche strömten herbei und bewarben sich um ihre Gunst und hielten um sie an. Aber keiner hatte ihr Verstand genug, und sie hörte sie an, ohne einem von ihnen besonders Hoffnung zu machen. Endlich aber kam ein so mächtiger, reicher, geistvoller und wohlgebildeter Freier, daß sie in der Tat einige Neigung für ihn faßte. Ihr Vater bemerkte es und sagte ihr, daß er ihr willig freie Gewalt lasse, einen Gemahl zu wählen, welchen sie wolle, und daß sie ungescheut ihre Erklärung von sich geben könne. Aber ein fester Entschluß in dieser Angelegenheit fällt einem gemeiniglich desto schwerer, je mehr man Verstand hat, und so dankte sie dem Könige für seine gütige Gesinnung und bat ihn um die Erlaubnis, sich noch einige Tage bedenken zu dürfen.

Ganz von ungefähr ging sie in dem Wald spazieren, wo sie den Prinzen Riquet mit dem Schopfe zum ersten Male getroffen hatte, um reiflich nachzudenken, was sie tun solle. Während sie hier in tiefen Gedanken spazierenging, hörte sie unter ihren Füßen ein dumpfes Geräusch, als wenn mehrere Personen kämen und gingen. Sie ward aufmerksam und hörte, wie jemand sagte: "Bring mir dort diesen Kochtopf her." Jemand anderes: "Gib mir den Kessel." Wieder jemand: "Lege Holz an das Feuer." Zu gleicher Zeit öffnete sich die Erde, und sie sah unter ihren Füßen eine Art Küche, worin eine Menge von Köchen, Küchenjungen und anderen Bedienten mit der Zurüstung irgendeines Festes beschäftigt waren. Eine Schar von zwanzig bis dreißig Bratköchen kam heraus und setzte sich in einer Allee des Waldes an eine lange Tafel, die Spicknadel in der Hand und eine Fuchsschwanz-Blume hinter dem Ohr, und fing an, nach dem Takte eines wohlklingenden Liedchens zu arbeiten. Die Prinzessin erstaunte über das, was sie sah, und fragte sie, für wen sie arbeiteten. "Für den Prinzen Riquet mit dem Schopfe", sagte der Angesehenste von der Gesellschaft. "Der Prinz hat morgen Hochzeit."

Hierüber erschrak die Prinzessin und besann sich auf einmal, daß heute eben ein Jahr um war, da sie dem Prinzen versprochen hatte, ihn zu heiraten. Sie hatte nicht wieder daran gedacht, denn als sie dies Versprechen tat, war sie noch einfältig; und da sie von dem Prinzen ihren neuen Verstand bekommen hatte, vergaß sie alle ihre vorhergehenden Torheiten. Sie setzte indes ihren Spaziergang fort, aber kaum hatte sie dreißig Schritte getan, als Riquet mit dem Schopfe vor sie trat, mit aller Keckheit und Pracht, die einem Prinzen geziemen, der sich verheiraten will. Er redete sie an. "Ihr seht", sagte er zu ihr, "daß ich mein Wort sehr genau halte, und ich zweifle nicht, daß Ihr in der Absicht hierhergekommen seid, auch Euer Versprechen zu erfüllen und mich zu dem glücklichsten Manne zu machen."

"Ich muß Euch offenherzig gestehen", versetzte die Prinzessin, "daß ich über diesen Punkt noch zu keinem festen Entschlusse gekommen bin und auch nicht glaube, daß er jemals nach Eurem Wunsche ausfallen wird."

"Ihr setzt mich in Erstaunen", erwiderte der Prinz.

"Ich glaube es Euch", war die Antwort, "und ich würde in großer Verlegenheit sein, wenn ich mit einem Manne von weniger Lebensart und Verstand zu tun hätte. Er würde mir sagen, daß eine Prinzessin ihr Wort halten müsse und daß ich verpflichtet sei, ihn zu heiraten, weil ich es ihm versprochen hätte. Aber da ich mit einem Mann von so vielem Verstande spreche, so bin ich im voraus überzeugt, daß er meine Gründe anhören wird. Ihr wißt, daß ich mich nicht entschließen konnte, Euch zu heiraten, da ich noch dumm war; wie könnt Ihr erwarten, daß ich bei dem Verstande, den Ihr mir mitgeteilt habt und der mich weit heikler gemacht hat, heute einen Entschluß fassen werde, den ich damals nicht fassen konnte? Wenn es Euer Ernst war, mich zu heiraten, so habt Ihr sehr übel getan, mich von meiner Dummheit zu heilen und mich einsichtsvoller zu machen, als ich damals war."

"Wohlan", sagte der Prinz, "wenn Ihr es einem Manne ohne Verstand verzeihen würdet, wenn er Euch, wie Ihr eben gesagt habt, Eure Wortbrüchigkeit vorhielte, warum solltet Ihr mir nicht diese Freiheit verstatten, da es jetzt auf das Glück meines Lebens ankommt? Soll ein Mann von Verstand übler daran sein als ein Dummkopf? Könnt Ihr das von mir verlangen, da Ihr selbst so viel Geist besitzt und es Euch so sehr wünscht? Erlaubt mir also, Euch einige Vorstellungen zu machen. Habt Ihr, außer meiner Häßlichkeit, etwas an mir auszusetzen? Seid Ihr unzufrieden mit meiner Geburt, meinem Verstande, meiner Aufführung und meiner Laune?"

"Nicht im geringsten", antwortete die Prinzessin. "Alles, was Ihr mir hier aufzählt, verdient meine Achtung und Liebe."

"Wenn das so ist", fiel Riquet ein, "so bin ich glücklich, denn es steht in Eurer Gewalt, mich zu dem liebenswürdigsten Manne zu machen."

"Wie ist das möglich?" versetzte sie.

"Nichts leichter", antwortete der Prinz, "wenn Ihr mich nur genug liebt, um diese Verwandlung zu wünschen; denn Ihr müßt wissen, daß dieselbe Fee, die mir am Tage meiner Geburt die Gabe verlieh, einer anderen Person, die mir gefallen würde, Verstand und Geist mitzuteilen, auch Euch das Talent gegeben hat, Eurerseits den Mann, welcher Euch liebt und welchem Ihr diese Gunst gestattet, schön zu machen."

"Wenn das wahr ist", sagte die Prinzessin, "so wünsche ich von ganzem Herzen, daß Ihr der liebenswürdigste Prinz von der Welt werden möchtet, und teile Euch die Gabe der Schönheit so sehr mit als nur irgend in meinen Kräften steht."

Kaum hatte die Prinzessin diese Worte ausgesprochen, als ihr Riquet mit dem Schopfe als der schönste, wohlgestaltetste und liebenswürdigste Mann erschien, den sie jemals gesehen hatte. Einige versichern, daß dies nicht so sehr die Wirkung des Feenzaubers war, sondern daß vielmehr die Liebe allein diese Verwandlung möglich machte. Sie behaupten, daß die Prinzessin über der Beharrlichkeit ihres Liebhabers, über seiner Bescheidenheit und allen guten Eigenschaften seiner Seele und seines Geistes die Ungestaltheit seines Körpers und die Häßlichkeit seines Gesichtes nicht mehr sah. Sein Buckel kam ihr vor wie das Achselzucken eines Mannes von Welt, und statt daß er sonst entsetzlich hinkte, so fand sie jetzt, daß er sich nur auf eine sehr liebenswürdige Art ein wenig nach der einen Seite neige. Auch seine schielenden Augen kamen ihr darum nur noch glänzender vor, und die kleine Unordnung, in die sie geraten waren, schien ihr ein Zeichen seiner heftigen Liebe zu sein, und seine große rote Nase endlich bekam in ihren Augen etwas Martialisches und Heroisches. Dem sei nun, wie ihm wolle, die Prinzessin versprach ihm ihre Hand auf der Stelle, wenn er die Einwilligung des Königs, ihres Vaters, erhalten könnte. Dieser kannte Riquet schon als einen Prinzen von großem Verstande, und da er nun noch erfuhr, daß seine Tochter so viele Achtung für ihn hegte, nahm er ihn mit dem größten Vergnügen zu seinem Schwiegersohne an. Die Hochzeit war den anderen Tag, so wie es Riquet vorgesehen und lange Zeit vorher angeordnet hatte.

Moral

Was man ersieht aus dieser Mär,

Ist nicht erlogen, sondern wahr:

Das, was man liebt, ist nie der Schönheit bar

Und hat auch Geist; was braucht es mehr?

Andere Moral

Gab einem Wesen die Natur

Viel Wohlgestalt und Farben nur,

Die unerreichbar sind des Malers Kunst,

Ward doch noch nie ein Herz gerührt.

Allein verborgner Tugend Gunst

Erst Amor zur Ergebung führt.

Die gewandte Prinzessin oder Die Begebenheiten der Finette

Zur Zeit der ersten Kreuzzüge zog ein König aus ich weiß nicht welchem Reiche Europas gleich anderen ins Gelobte Land wider die Ungläubigen in den Krieg. Ehe er diese weite Reise antrat, bestellte er alles in seinem Reiche so gut und übergab die Regierung einem so geschickten Minister, daß er in diesem Stück ohne alle Sorge sein konnte. Den einzigen Kummer machte ihm noch seine Familie. Nicht lange zuvor war ihm die Königin, seine Gemahlin, gestorben, und ob er wohl keinen Sohn hatte, so hatte er dagegen drei Prinzessinnen, welche schon mannbar waren. Die Chronik, aus welcher ich diese Geschichte habe, meldet ihre rechten Namen nicht; weil aber in den damaligen glücklichen Zeiten die Völker noch so natürlich waren, daß sie hohen Personen Beinamen gaben, welche ihre guten oder schlechten Eigenschaften anzeigten, so hatte man die älteste Prinzessin Nonchalante, die Nachlässige, die man heutigentages Indolente, die Träge, heißen würde, die mittlere Babillarde, die Schwatzhafte, und die jüngste Finette, die Scharfsinnige, genannt: und alle diese Benennungen schickten sich vollkommen zum sittlichen Charakter dieser drei Schwestern.

In der Welt ist vielleicht noch keine trägere und nachlässigere Person gewesen, als Nonchalante war. Jeden Mittag um ein Uhr schlief sie noch. Wie sie aus dem Bett kam, so schleppte man sie in die Kirche: Haar und Kopfzeug waren in Unordnung, das Kleid nicht geschnürt, auch zuweilen der eine Pantoffel rot, der andere grün. Den Tag lang sorgte man zwar dafür, daß sie einerlei Farbe haben mußten, aber daß Nonchalante jemals anders als in Pantoffeln hätte gehen wollen, dahin war sie gar nicht zu bringen, denn Schuhe zu tragen, das war für sie eine unerträgliche Last. Wenn sie mittags gespeist hatte, so setzte sie sich an ihren Nachttisch, und da blieb sie bis abends sitzen. Die übrige Zeit, bis um Mitternacht, spielte und soupierte sie. Hernach währte es wieder ebensolange, sie auszuziehen, als man sie angezogen hatte; und es war allemal schon heller Tag, wenn sie zu Bett ging.

Eine ganz andere Lebensart hatte Babillarde. Sie war sehr munter und wandte nur wenig Zeit auf ihre Person; aber sie hatte eine so unerhörte Begierde zu reden, daß sie von früh an, wenn sie erwachte, bis in die Nacht, wenn sie einschlief, den Mund nicht zutat. Sie wußte alle Geschichten aus Häusern, wo üble Wirtschaft geführt wurde, alle zärtlichen Liebschaften und Galanterien, nicht allein des ganzen Hofes, sondern auch der geringsten Bürgersleute in der Stadt. Sie führte Buch über alle Frauen, die ihre Dienerschaft bestahlen, damit sie größeren Staat machen konnten, und sie wußte aufs genaueste nachzurechnen, wieviel das Kammermädchen der Komtesse Sowieso oder der Haushofmeister des Marquis Sowieso jährlich verdiente. Um nun von allen diesen wichtigen Kleinigkeiten recht gründliche Nachricht zu haben, lauschte sie mit mehr Vergnügen dem Geschwätz ihrer Amme und ihrer Näherin, als sie einem Abgesandten zugehört hätte; und hernach plauderte sie mit diesen schönen Histörchen allen und jedem, vom König an bis auf die Lakaien, den ganzen Tag die Ohren voll, denn wenn sie nur reden konnte, so war es ihr einerlei, mit wem sie redete. Diese Plaudersucht hatte noch andere üble Folgen für sie. So hoch auch ihr Stand war, so machten doch ihre allzu gemeinen Manieren, daß ihr die jungen galanten Herren am Hofe verliebte Dinge vorschwatzten. Sie hörte alles ohne Umstände an, bloß damit sie ihnen antworten konnte, denn es mochte daraus entstehen, was nur wollte, sie mußte von früh an bis in die Nacht reden hören und plappern. Sie sowohl als Nonchalante dachte niemals, überlegte nichts, las auch nichts. Ebensowenig nahm sie sich einer häuslichen Sorge an, machte sich auch weder mit der Nähnadel noch mit der Spindel einigen Zeitvertreib. Kurz, sie und ihre Schwester lebten beide in einem beständigen Müßiggang und gaben weder ihrem Verstand noch ihren Händen einige Arbeit.

Die dritte und jüngste Prinzessin war von ganz anderer Art. Sie betätigte stets sowohl Geist als Körper. Sie besaß eine erstaunlich große Lebhaftigkeit und suchte sie zu einem guten Gebrauche anzuwenden. Sie tanzte schön, sang und spielte verschiedene Instrumente ungemein gut, sie besaß eine bewundernswerte Geschicklichkeit in allen kleinen Handarbeiten, die gemeiniglich dem Frauenzimmer zum Zeitvertreib dienen, hielt gute Ordnung im königlichen Hause und verhinderte mit ihrer scharfen Aufsicht viele Diebereien der geringeren Bedienten, denn sie pflegten schon damals Könige und Fürsten zu bestehlen.

Sie besaß außer diesen noch viele andere gute Eigenschaften. Sie hatte viel Urteilskraft und eine so wunderschöne Geistesgegenwart, daß sie sich aus allen Schwierigkeiten geschwind zu wickeln wußte. Sie entdeckte einst mit ihrem durchdringenden Verstande einen hinterlistigen Streich, welchen ein treuloser Abgesandter ihrem königlichen Vater in einem schriftlichen Vergleich zu spielen gesucht hatte, und fast in dem Augenblick, da der König denselben unterschreiben wollte. Um nun die Bosheit des Gesandten zu bestrafen, änderte der König diesen Artikel des Traktates so, wie es seine Tochter ihm eingab, und betrog den Betrüger selbst. Zu einer anderen Zeit entdeckte sie eine Schelmerei, welche ein Minister begehen wollte, und gab dem Könige einen so guten Rat dawider, daß der Minister durch seine Untreue selbst bestraft wurde. Sie gab noch bei verschiedenen anderen Gelegenheiten so viele Proben von ihrem durchdringenden und feinen Verstande, daß ihr das Volk den Namen Finette, die Scharfsinnige, beilegte. Der König liebte diese Prinzessin, wie billig, mehr als seine anderen Töchter und verließ sich so sehr auf ihren gesunden Menschenverstand, daß er sich bei seiner Abreise nicht den mindesten Kummer um sie machte, desto mehr aber um ihre beiden Schwestern. Damit er also, nachdem er sich seiner Untertanen sicher glaubte, auch wegen der Aufführung seiner Familie ohne Sorge sein konnte, tat er, was ich jetzt erzählen will.

Die Macht der Feen war zur Zeit der Kreuzzüge noch sehr groß. Der König reiste zu einer, welche seine gute Freundin war. Er entdeckte ihr, wie sehr er seiner Prinzessinnen wegen besorgt war. "Nicht etwa", sagte er, "als hätten meine beiden älteren Töchter, um die ich mir Kummer mache, schon irgend etwas wider ihre Ehre und Pflicht getan, aber sie sind so einfältig und unvorsichtig und gehen so müßig, daß ich nur fürchte, sie möchten sich vielleicht in meiner Abwesenheit, bloß zum Zeitvertreib, in törichte Liebeshändel einlassen. Was Finette anbelangt, so bin ich ihrer Tugend sicher; jedoch soll sie nicht mehr Freiheit als ihre Schwestern haben, damit es nicht scheint, als zöge ich sie den anderen beiden vor. Also bitte ich dich, weise Fee, drei gläserne Spinnrocken für meine Töchter zu machen, und zwar so künstlich, daß, sobald eine etwas wider ihre Ehre begeht, ihr Spinnrocken den Augenblick in Stücke springt."

Die Fee, welche keiner anderen an Kunst etwas nachgab, machte drei solche Spinnrocken, die sie aufs beste bezauberte und den Absichten des Königs gemäß einrichtete. Aber auch hiermit ließ es der König noch nicht bewenden. Er führte die drei Prinzessinnen in einen Turm, welcher in einer großen Einöde lag. Er befahl ihnen, die ganze Zeit, solange er abwesend sein würde, darinnen zu bleiben und keinen einzigen Menschen zu sich zu lassen. Er nahm ihnen alle ihre Bedienten, sowohl männlichen als weiblichen Geschlechts, er gab einer jeden einen bezauberten Spinnrocken und erklärte ihnen seine geheimen Eigenschaften. Zum Abschied umarmte er sie, schloß die Türen des Turmes fest zu, nahm die Schlüssel an sich und reiste bald hernach fort.

Vielleicht befürchtet man, die eingesperrten Prinzessinnen könnten verhungert sein? Nicht im geringsten. An einem Fenster war eine Winde mit einem langen Seil, an welchem die Prinzessinnen alle Tage einen Korb herabließen: darein legte man ihr Essen und Trinken, soviel sie täglich brauchten; und wenn sie den Korb hinaufgezogen hatten, so zogen sie sorgfältig das Seil in das Zimmer hinein.

Nonchalante und Babillarde führten in dieser Einsamkeit ein betrübtes Leben, denn die Zeit wurde ihnen unaussprechlich lang. Aber sie mußten sich in Geduld fassen, weil man ihnen ihre Spinnrocken so fürchterlich beschrieben hatte, daß sie befürchteten, sie möchten auch um der mindesten Kleinigkeit willen zerbrechen.

Was Finette betrifft, so wurde dieser die Zeit gar nicht lang. Ihre Spindel, ihre Nähnadel und ihre Musikinstrumente verschafften ihr den angenehmsten Zeitvertreib. Man legte auch auf Befehl des Ministers, der den König vertrat, fast täglich in den Eßkorb Briefe, aus welchen sie alles, was in und außer dem Reich vorging, ersehen konnten. Der König hatte dieses selbst befohlen, und der Minister kam seinem Befehle genau nach, um sich bei den Prinzessinnen in Gunst zu erhalten. Finette las diese Neuigkeiten mit vielem Vergnügen, aber ihre Schwestern sahen sie nicht an; sie gaben vor, sie wären viel zu verdrießlich, als daß sie sich an solchen Kleinigkeiten ergötzen könnten. Aber Spielkarten brauchten sie in großer Menge, um sich während der Abwesenheit des Vaters die Langeweile erträglich zu machen.

So brachten sie dann ihr Leben sehr mißvergnügt zu und beklagten sich über ihr Verhängnis. Ich glaube, daß sie gar oft gesagt haben, es sei besser, glücklich als fürstlich geboren zu sein. Sie lagen fast immer in den Fenstern, um wenigstens zu sehen, was in der benachbarten Gegend vorging. Eines Tages, als Finette in ihrem Zimmer fleißig arbeitete, lagen ihre Schwestern in den Fenstern und sahen unten am Turme eine arme Frau in zerrissenen Kleidern, welche ihnen ihr Elend sehr beweglich klagte. Sie bat mit gefalteten Händen, sie in ihr Schloß einzulassen, sie sagte, sie wäre eine unglückliche Fremde, die aber tausenderlei wüßte, und sie wollte ihnen recht gute Dienste leisten. Im Anfang erinnerten sie sich an ihres Vaters Befehl, daß sie keinen einzigen Menschen einlassen sollten; aber Nonchalante war so müde, sich selber aus- und anzuziehen, und Babillarde so überdrüssig, nur mit ihren Schwestern reden zu können, daß jene aus Begierde, sich bedienen zu lassen, und diese aus Verlangen, noch eine dritte Person zum Plaudern zu bekommen, miteinander einig wurden, die arme Frau einzulassen.

"Denkst du denn", sagte Babillarde zu Nonchalante, "daß der König solche armen, elenden Weiber im Sinne gehabt hat, da er uns niemand einzulassen befohlen hat? Ich bin versichert, wir können sie ohne alle Gefahr empfangen."

"Mache es, wie du willst", sagte die träge Nonchalante.

Babillarde war froh, daß ihre Schwester darein willigte, und ließ geschwind den Korb herunter. Die arme Frau setzte sich hinein, und die beiden Prinzessinnen zogen sie mit der Winde hinauf. Da das Weib vor ihnen stand, so ekelte ihnen nicht wenig vor ihrer unreinen Kleidung. Sie wollten ihr sogleich andere geben, aber sie bat, bis morgen damit zu warten, und unterdessen wollte sie die Prinzessinnen bedienen. Indem sie noch hiervon sprach, kam Finette aus ihrem Zimmer und war über die Maßen verwundert, da sie das fremde Weib bei ihren Schwestern sah. Sie sagten ihr, weswegen sie dieselbe zu sich genommen. Weil es einmal geschehen und nicht zu ändern war, so verbarg Finette den Verdruß, welchen sie über die Unvorsichtigkeit ihrer Schwestern empfand.

Unterdessen durchkroch die neue Kammerfrau der Prinzessinnen alle Winkel des Schlosses unter dem Vorwande, ihnen besser dienen zu können, in der Tat aber, um dessen ganze Lage und alle Zugänge kennenzulernen; denn meine Leser und Leserinnen werden schon fast erraten, daß ein Geheimnis hinter der Sache steckt. Es war dieses Bettelweib in dem Schlosse unserer Prinzessinnen ebenso gefährlich als der Graf Ory in jenem Kloster, in welches er sich in der Verkleidung einer vertriebenen Äbtissin einschlich.

Um Sie nicht länger im ungewissen zu lassen: Es war dieses lumpige Bettelweib der älteste Sohn eines benachbarten mächtigen Königs. Dieser junge Prinz, das arglistigste Gemüt seiner Zeit, regierte seinen Vater gänzlich, jedoch brauchte es hierzu eben nicht die größte List von der Welt, denn dieser König war so sanftmütig und willfährig, daß man ihm den Beinamen Herzensgut gegeben hatte. Den Erbprinzen aber, weil er in allen Dingen betrügerisch und hinterlistig verfuhr, hatte man Riche-en-cautèle, Fintenreich, oder wie man gemeiniglich die Namen abkürzt oder verändert, Riche-cautèle, Fintrich, genannt.

Er hatte noch einen jüngeren Bruder, welcher ebenso viele gute Eigenschaften als der ältere schlechte an sich hatte. Ob nun wohl diese Brüder so ungleichen Sinnes waren, herrschte doch eine so vollkommene Eintracht unter ihnen, daß alle Welt darüber erstaunte. Außer seinen schönen Gemütsgaben besaß der jüngere Prinz auch so viel Schönheit und Annehmlichkeit an seiner ganzen Person, daß man ihm den Namen Bel-à-voir, Augenlust, beigelegt hatte. Der Prinz Fintrich war der Erfinder des vorhin erwähnten betrügerischen Artikels in dem Traktat mit dem königlichen Vater der Prinzessinnen gewesen, welchen boshaften Streich aber Finettes Scharfsinn bemerkt und abgewendet hatte. Fintrich, welcher schon vorher dem Vater der Prinzessinnen nicht günstig gesonnen war, suchte sich nunmehr vollends an ihm zu rächen. Da er hörte, was für große Vorsicht dieser mit seinen Prinzessinnen gebraucht hatte, so machte er sich das boshafte Vergnügen, die Klugheit eines so argwöhnischen Vaters zu hintergehen. Er erhielt von seinem Vater die Erlaubnis, eine Reise zu unternehmen, wozu er mancherlei Ursachen vorwandte, und schlich sich auf die bereits erzählte listige Art in der Prinzessinnen Schloß ein.

Indem er nun alle Gelegenheiten darinnen auskundschaftete, so sah er, daß die Prinzessinnen die unten Vorbeigehenden hätten rufen können. Er schloß daraus, daß er den ganzen Tag verkleidet bleiben müsse, weil sie, wenn sie es so für gut befänden, leichtlich um Hilfe rufen und ihn für sein vermessenes Unterfangen strafen konnten. Er behielt also den ganzen Tag seine Lumpen an, aber abends, da die drei Prinzessinnen gespeist hatten und bald zu Bett gehen wollten, warf er sie weg und zeigte sich ihnen in seinen rechten Kleidern, welche von Gold und Diamanten blitzten. Die armen Prinzessinnen erschraken über diesen Anblick so sehr, daß sie sich eiligst durch Flucht zu retten suchten. Finette und Babillarde, weil sie hurtig waren, erreichten geschwind ihr Zimmer, aber Nonchalante, welche kaum ihre Füße zu gebrauchen wußte, wurde vom Prinzen ergriffen und festgehalten.

Er warf sich ihr zu Füßen. Er entdeckte ihr, wer er war, und sagte, er habe um ihrer Schönheit willen, welche er auf einem Bildnis betrachtet, allen Vergnügen seines Hofes den Rücken gewandt und sich, aus zärtlicher Liebe zu ihr, in ein elendes Bettelweib verkleidet, um ihr seine eheliche Treue anzubieten. Nonchalante war vor Erstaunen dermaßen außer sich, daß sie dem Prinzen im Anfang nichts antworten konnte. Er blieb beständig auf den Knien vor ihr, er sagte ihr unzählige verliebte Dinge vor und schwor dabei wohl hunderttausendmal; er bat sie endlich, sie möchte ihn, weil er sie gar so herzlich liebe, gleich auf der Stelle zu ihrem Gemahl annehmen. Aus ihrer angeborenen Trägheit mochte sie ihm nicht widersprechen. Sie antwortete nur ganz nachlässig, sie wolle ihm alles gern glauben und sein Eheversprechen hiermit annehmen. Mehr Umstände machte sie nicht, und die Ehe wurde auch allsobald vollzogen, aber ihr gläserner Spinnrocken sprang dabei in tausend Stücke.

Unterdessen waren sowohl Babillarde als auch Finette in größter Bekümmernis. Eine jede war in ihr Zimmer gelaufen und hatte sich darinnen eingeschlossen. Diese Zimmer waren ziemlich weit voneinander entfernt, und weil nun keine von beiden recht wußte, wie es um die andere stand, so taten sie die ganze Nacht kein Auge zu. Den folgenden Morgen führte der bösartige Prinz Nonchalante in einen Saal am Ende des Gartens. Hier sagte ihm die Prinzessin, wie sehr sie um ihre Schwestern besorgt sei, ob sie gleich auch nicht gern vor sie kommen wolle, weil sie befürchte, daß sie ihre Ehe tadeln möchten. Der Prinz Fintrich war geschwind mit der Antwort fertig, sie möchte ihn nur dafür sorgen lassen, er wolle schon alles so einrichten, daß sie nichts dawider einzuwenden haben sollten. Nachdem er noch ein wenig mit ihr gesprochen hatte, ging er fort und schloß die Nonchalante ein, ohne daß sie es gewahr wurde. Hernach suchte er die anderen Prinzessinnen überall.