Marcus Tullius Cicero: Über die Kunst der überzeugenden Argumentation - Marcus Tullius Cicero - E-Book

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Marcus Tullius Cicero

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Beschreibung

Immer wieder gilt es beruflich und privat andere zu überzeugen. Da hilft es, die grundlegenden Techniken der Rede, die Rhetorik, zu beherrschen. Und was könnte da lehrreicher sein als die Werke des wohl größten Redners der Antike, Cicero? In diesem Band sind die besten Beispiele seiner Redekunst zusammengetragen. Neben der Übersetzung der lateinischen Originaltexte enthält das Buch informative Einführungen, eine Kurzbiografie Ciceros, ein Glossar sowie im Anhang die lateinischen Originaltexte. »Über die Kunst der überzeugenden Argumentation bietet einen sehr guten, praktischen Überblick über die antike Rhetorik – klar und gut durchdacht strukturiert, gut übersetzt, mit hervorragenden kurzen Einführungen. Zudem verbindet es auf wunderbare Weise alte und moderne Praxis. James May's breites Wissen zum Thema ist durchweg spürbar.« Ann Vasaly, Boston University »Dieses Buch bringt in meisterhafter Weise die Grundprinzipien der Rhetorik auf den Punkt. James May's Schreibstil ist gut verständlich und charmant, ansprechend für ein großes Publikum wie Studenten, Lehrer und allgemein interessierte Leser."« Robert N. Gaines, The University of Alabama

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Seitenzahl: 249

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Marcus Tullius Cicero

ÜBER DIE KUNST DER ÜBERZEUGENDEN ARGUMENTATION

Alte Weisheiten für eine vollendete Rhetorik

ÜBER DIE KUNST DER ÜBERZEUGENDEN ARGUMENTATION

Alte Weisheiten für eine vollendete Rhetorik

Marcus Tullius Cicero

Ausgewählt und herausgegeben von James M. May

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2019

© 2019 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe © 2016 by Princeton University Press

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Marcus Tullius Cicero: How to Grow Old. Ancient Wisdom for the Second Half of Life. bei Princeton University Press, 41 William Street, Princeton, New Jersey 08540. In the United Kingdom: Princeton University Press, 6 Oxford Street, Woodstock, Oxfordshire OX20 1 TR.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fo.tokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung aus dem Lateinischen: James M. May

Übersetzung aus dem Englischen: Nicole Hölsken

Redaktion: Friederike Thompson

Korrektorat: Manuela Kahle

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagfoto: © David Gee 4/Alamy Stock Photo

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95972-190-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-350-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-351-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

EINLEITUNG

Ciceros Leben: Ein kurzer Abriss

ÜBER DIE KUNST DER REDE

Die Ursprünge eloquenter und überzeugender Rede

Natur, Kunst, Übung

Rhetorik und Wahrheit

Die Teile der Rhetorik oder die Aufgaben des Redners

Die Stoffauffindung: Die Problematik gemäß der Ausgangslage einer Debatte identifizieren, klassifizieren und Beweise sichern

Gliederung (dispositio)

Stilisierung (elocutio)

Einprägen (memoria)

Vortrag

Der Nutzen der Imitation von guten Rhetorik-Vorbildern

Der Vorteil der Schriftlichkeit als Vorbereitung auf wirkungsvolles Reden

Die Erziehung und die Anforderungen an einen idealen Redner

DER CICERONISCHE SPICKZETTEL FÜR DIE WIRKUNGSVOLLE REDE

ÜBER DIE KUNST DER REDE (Lateinische Texte)

Die Ursprünge eloquenter und überzeugender Rede

Natur, Kunst, Übung

Rhetorik und Wahrheit

Die Teile der Rhetorik oder die Aufgaben des Redners

Die Stoffauffindung: Die Problematik gemäß der Ausgangslage einer Debatte identifizieren, klassifizieren und Beweise sichern

Gliederung (dispositio)

Stilisierung (elocutio)

Einprägen (memoria)

Vortrag

Der Nutzen der Imitation von guten Rhetorik-Vorbildern

Der Vorteil der Schriftlichkeit als Vorbereitung auf wirkungsvolles Reden

Die Erziehung und die Anforderungen an einen idealen Redner

GLOSSAR

BIBLIOGRAFIE

EINLEITUNG

Seit wir Menschen die Fähigkeit zur Kommunikation besitzen, versuchen wir, einander zu überzeugen. Ob um zu überleben oder um unsere Lebensumstände im Griff zu haben oder um jemanden von unserer Denkweise zu überzeugen oder auch nur eine Auseinandersetzung zu gewinnen, immer haben wir uns auf eine Form der Überredungskunst verlassen – entweder durch körperliche Gewalt oder durch das, was wir für »zivilisiertere« Mittel halten, nämlich durch Sprechen oder Schreiben –, um unsere Ziele und Absichten zu erreichen. Die Kunst der verbalen Überzeugung, mit einem Wort »Rhetorik«, wurde im Westen in den Demokratien von Syrakus und Athen während des fünften Jahrhunderts vor Christus entdeckt. Von den Bürgern in demokratischen Gesellschaften erwartete man, dass sie sich in einer Versammlung artikulierten, sich vor Gericht selbst vertraten und andere öffentliche Funktionen wahrnahmen. Um den Menschen ein Werkzeug in die Hand zu geben, damit sie in der Gesellschaft erfolgreich funktionieren konnten, versuchte man, wirkungsvolle Mittel verbaler Überredungskunst zu beschreiben. Ein theoretisches System entwickelte sich, dass die Bürger in die Lage versetzte, eine erfolgreiche Rede in der Öffentlichkeit zu planen und zu halten – mit anderen Worten: in einer Debatte oder einem Streitgespräch zu gewinnen.

Einige Jahrhunderte später sicherte sich Roms größter Redner und eigentlich einer der größten Redner aller Zeiten, Marcus Tullius Cicero, das höchste Amt Roms, das Konsulat, wobei er sich durch seine Kunst der verbalen Überzeugung einen Namen in der römischen Gesellschaft gemacht hatte. Seit seiner Kindheit war er in den Formalia der Rhetorik ausgebildet und tat sich nicht nur als wirkungsvoller öffentlicher Redner hervor, der die Mehrheit der Streitgespräche, an denen er teilnahm, gewann, sondern auch als Theoretiker in der Kunst verbaler Überzeugung. So verfasste er zu Lebzeiten etliche Abhandlungen, deren Hauptgegenstand die Rhetorik ist. Und obwohl er den typischen rhetorischen Handbüchern jener Zeit außerordentlich kritisch gegenüberstand, war er dennoch ihren Lehren verhaftet und stützte sich auf ihre Methoden. Tatsächlich blieb die rhetorische Unterweisung zur Wahrung der Bürgerpflichten, die von den Griechen überliefert und von den Römern übernommen worden war, der Kern in der Ausbildung sämtlicher gebildeter Menschen, auch noch im Mittelalter, in der Renaissance und sogar bis in die Moderne.

Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle der Rhetorik oder Kunst der verbalen Überzeugung in der Tradition der westlichen Welt präsentiere ich hier eine kurze Anthologie aus Passagen der Schriften Ciceros. Es handelt sich vornehmlich um seine Abhandlungen, die die Essenz dieses alten rhetorischen Systems wiedergeben, eines Systems, das Cicero und unzählige andere Redner in die Lage versetzte, Menschen zu überzeugen und Streitgespräche zu gewinnen. Ich hoffe, dass die Leser diese Auswahl an und für sich schon interessant finden, aber auch nützlich, wenn sie über ihre eigenen Versuche, andere zu überzeugen, nachdenken. Ob man mit einem Freund über ein unwichtiges Thema spricht oder vor dem Obersten Gerichtshof ein Plädoyer hält, das Ziel des Sprechers besteht immer darin zu überzeugen. Wer die effektivsten Mittel der Überredungskunst in jeder beliebigen Situation kennt, wird dieses Ziel erfolgreich erreichen. Es ist ein seltsames Paradoxon unserer modernen Gesellschaft, dass wir in einer Zeit, in der viele Schulen und Universitäten sich ernsthaft mit der Förderung der Sprachkompetenz und guten Kommunikationstechniken von Schülern und Studenten befassen, doch sehr wenig effektive öffentliche Redner in Aktion erleben, weder an unseren Gerichtshöfen noch in unseren Gemeinden oder auf dem öffentlichen Feld des politischen Lebens. Dieses Buch verfolgt nicht die Absicht, diesen Missstand zu beheben, dennoch hoffe ich, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit reden oder Streitgespräche gewinnen möchten, es ansprechend finden. Vielleicht freuen sie sich an der Erkenntnis, dass die Techniken für eine effektive Überzeugung durch Sprache, die vor Jahrtausenden entdeckt und formuliert wurden, immer noch sinnvoll sind und große Bedeutung für jene haben, die heutzutage überzeugend reden wollen.

Um die Dinge zu vereinfachen und einen gefälligeren Lesefluss zu gewährleisten, habe ich es vermieden, Namen und Begriffe mit Fußnoten zu versehen, die für Leser, die nicht vertraut mit den historischen Gegebenheiten oder mit der Thematik sind, eine Herausforderung darstellen könnten. Statt dieser Fußnoten findet der Leser am Ende dieses Bändchens ein Glossar von Namen und Begriffen, auf das er zurückgreifen kann, wenn er detaillierte Informationen oder Erläuterungen sucht. Zusätzlich wurde eine Liste für weitergehende Lektüre zu dem Thema angefügt, die sowohl aus Primärwerken Ciceros in Übersetzung besteht, als auch aus Sekundärwerken zu antiker Rhetorik, Redekunst und all seinen Werken. Sämtliche Übersetzungen, außer die von De oratore, stammen von mir, die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche für diese Ausgabe von Nicole Hölsken. Die Passagen aus letzterem Werk wurden gemeinschaftlich von meinem Kollegen Jakob Wisse und mir übersetzt und erschienen ursprünglich in unserer vollständigen Übersetzung der Abhandlung, die von Oxford University Press im Jahre 2001 herausgegeben wurde und den Titel Cicero: On the Ideal Orator trägt. Gelegentlich habe ich in den hier zitierten Passagen allerdings noch ein oder zwei Worte der Ursprungsübersetzung verändert.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei Mr. Robert Tempio bedanken, dem Cheflektor und Verleger von Humanities Group für Princeton University Press, weil er mir die Arbeit an diesem Band vorgeschlagen hat. Danke für seine Anleitung und Beratung auf dem Weg zur Veröffentlichung; ich danke auch Sara Lerner, der Chefherstellerin. Außerdem schulde ich meiner Korrektorin Jennifer Harris Dank, ebenso wie den anonymen Gutachtern von Oxford University Press, deren Korrekturen, Beobachtungen und Vorschläge dem Manuskript sehr zugute kamen. Ich widme dieses kleine Büchlein Augustus James May in der Hoffnung, dass er, während er an Alter und Weisheit gewinnt, das Ideal Catos des Älteren verwirklicht und zum vir bonus dicendi peritus avanciert (zum »guten Mann, der der Sprache mächtig ist«).

James M. May

St. Olaf College

CICEROS LEBEN: EIN KURZER ABRISS

Marcus Tullius Cicero wurde am 3. Januar 106 vor Christus in Arpinum, einer Stadt etwa 70 Meilen südöstlich von Rom geboren. Seine Familie gehörte zwar nicht zum römischen Adel, aber dennoch zu den herausragenden in der Ortsgemeinschaft und verfügte über gute Beziehungen zur Hauptstadt. Marcus und sein Bruder Quintus waren noch Kinder, als die Familie nach Rom übersiedelte, ein Schritt, durch den man die Erziehung und die beruflichen Aussichten der Brüder voranbringen wollte; dort kamen die Jungen in Kontakt mit den beiden bedeutendsten Rednern der damaligen Zeit, Lucius Linius Crassus und Marcus Antonius, die später die beiden Hauptsprecher in Ciceros größten rhetorischen Abhandlung werden sollten, einem Dialog über den idealen Redner: De oratore. In einer solchen Umgebung konnte Cicero von Kindesbeinen an die führenden Redner und Politiker Roms täglich an den Gerichtshöfen und im Forum beobachten. Nach Crassus’ Tod im Jahre 91 vor Christus legte Cicero im Alter von 15 oder 16 Jahren die toga virilis an, die ihn als erwachsenen Mann kennzeichnete. Er wurde formal dem Auguren Quintus Mucius Scaevola vorgestellt, einem der bedeutendsten Rechtsgelehrten Roms (dem ebenfalls eine Stimme in De oratore zukommt); unter seiner Anleitung erwarb Cicero seinen riesigen Respekt vor und sein Wissen über das bürgerliche Gesetz.

Der junge Cicero war zweifellos ein frühreifer Schüler; zusätzlich zu seinen rhetorischen und juristischen Studien bei Crassus, Antonius und Scaevola fand er großen Gefallen an der Philosophie. Noch als Halbwüchsiger veröffentlichte er sein erstes rhetorisches Werk, De inventione oder Über die Auffindung des Stoffes. Später beschrieb er das Buch als »oberflächliches und schlichtes Werk, das geradewegs aus meinen Notizbüchern entsprang, als ich noch ein Junge oder besser ein junger Mann war« (De oratore 1.5). Doch sogar diese Arbeit beeinflusste rhetorische Abhandlungen vom Mittelalter bis in die Renaissance maßgeblich.

Nach einem kurzen militärischen Einsatz im Bundesgenossenkrieg kehrte Cicero in ein Rom zurück, das in den Achtzigerjahren vor Christus von inneren Unruhen, Blutvergießen und Verboten geprägt war, was auf den Konflikt zwischen den Diktatoren Marius, Cinna und Sulla zurückzuführen war. Nachdem die allgemeine Ordnung in weiten Teilen wiederhergestellt war und die Gerichtshöfe wieder regelmäßig tagten, übernahm Cicero seine ersten Zivilprozesse. Im Jahre 80 vor Christus folgte dann sein erster Strafgerichtsprozess, bei dem er Sextus Roscius aus Amelia verteidigte, der des Vatermordes angeklagt war. Kurz nach seinem beeindruckenden Sieg beschloss er, seine Erziehung zu vervollkommnen, indem er zwei Jahre auf Reisen ging. In Griechenland und Kleinasien traf er auf verschiedene renommierte Rhetoriker, Redner und Philosophen, pflegte mit ihnen Kontakt und studierte bei ihnen. Im Jahre 77 vor Christus kehrte er als energischerer und raffinierterer Redner zurück.

Cicero war nun beinahe 30 Jahre alt, das Mindestalter, das man für das Amt des Quaestors innehaben musste, bei dem es sich um eine Art öffentlichen Schatz- oder Zahlmeister handelte. Wie bereits erwähnt, zählte seine Familie nicht zum römischen Adel – keiner von ihnen war vor ihm zum römischen Senator gewählt worden. Als sogenannter neuer Mann (novus homo) befand Cicero sich also in einer besonders nachteiligen politischen Position, da die Wahl zu den höheren Richterämtern in Rom eifersüchtig bewacht und im Allgemeinen auf Mitglieder der Adelsfamilien beschränkt war. Dennoch gelang es ihm, die Wahl zu gewinnen; er übertrumpfte sämtliche Mitbewerber, und das auch noch im ersten Jahr seiner Berechtigung zu diesem Amt und diente fortan als Quaestor in Sizilien. Die Verbindungen, die er dort knüpfte, gerieten ihm fünf Jahre später zum Vorteil, als die Sizilianer, die sich an seinen guten und redlichen Dienst erinnerten, ihn verpflichteten, den korrupten Gaius Verres, der zwischen 73 und 70 vor Christus Statthalter gewesen war, der Erpressung anzuklagen. Sein verblüffender Erfolg bei dem Prozess gegen die Macht des Senatsbeschlusses und gegen Hortensius, den berühmtesten Anwalt seiner Zeit, der Verres verteidigte, katapultierte Cicero ins Rampenlicht als Roms führender Redner und Advokat. Andere politische Ämter folgten – Cicero wurde Ädil, Prätor und schließlich Konsul, was das höchste Amt im republikanischen Rom war.

Während der letzten Monate des Jahres 63 vor Christus, in dem Cicero Konsul war, deckte er eine von einem revolutionären, bankrotten Senator adeliger Abstammung geplante Verschwörung auf, durch die die Regierung gestürzt werden sollte. Gemeint ist Lucius Sergius Catilina. Durch Ciceros Gewissenhaftigkeit, die Hilfe seiner Informanten und seine inspirierende Redekunst (Lateinlernende sind sicher vertraut mit den zu recht berühmten Reden gegen Catilina) gelang es ihm, die Intrige zu vereiteln und angesichts der weiterhin drohenden Gefahr auch gegen alle Einwände die Billigung des Senats zu erhalten, um die Verschwörer ohne Gerichtsverfahren hinrichten zu lassen. Im Anschluss wurde eine öffentliche Dankesfeier angesetzt, und Cicero wurde als Pater Patriae, als »Vater des Vaterlandes« bejubelt.

In diesem Augenblick des Triumphs, in dem es ihm scheinbar gelungen war, das römische Volk gegen die Bedrohung eines Umsturzes zu einen, hatte Cicero die Vision von Harmonie zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten Roms (concordia ordinum). Doch nur wenige Jahre später verbündeten sich Kräfte miteinander, die diesen Traum zunichtemachten und Ciceros Ruhm in lähmende Schande verwandelten. Im Jahre 60 vor Christus hatten verschiedene Manöver und politische Machenschaften eine Allianz zwischen drei mächtigen Männern begünstigt: zwischen Julius Caesar, dem großen Feldherrn Pompeius und dem reichen Marcus Crassus, einen entfernten Verwandten von Ciceros Jugendmentor. Obwohl man ihn zunächst aufforderte, sich der Koalition anzuschließen, brachte Cicero es nicht über sich, dieses sogenannte Erste Triumvirat zu unterstützen. Die drei Herrscher wiederum gaben seinen Gegnern nun jegliche Freiheiten, an erster Stelle seinem Erzfeind, dem Tribun Publius Clodius, dem es gelang, ihn im Jahre 58 vor Christus ins Exil zu verbannen, weil er römische Bürger ohne Gerichtsverfahren hatte exekutieren lassen. Cicero floh nach Griechenland und erlebte die schlimmsten anderthalb Jahre seines Lebens, in denen er an akuten Depressionen litt und sogar über Selbstmord nachdachte. Der Senat rief ihn im Jahre 57 vor Christus zurück, und seine Rückkehr war triumphal, aber die Triumvirn hatten in Rom noch immer die Macht inne und hatten Cicero (über seinen Bruder Quintus) gewarnt, keine politischen Aktivitäten zu verfolgen, die ihren Interessen zuwiderliefen; tatsächlich wurde er auf Betreiben der Triumvirn sogar gezwungen, gegen seinen Willen einige seiner früheren Feinde zu verteidigen. In dieser repressiven Umgebung wandte sich Cicero dem Schreiben zu und verbrachte die letzten Jahre des Jahrzehnts damit, einige seiner wichtigsten und bedeutsamsten literarischen Abhandlungen zu verfassen: De oratore (Über den Redner), De republica (Der Staat) und De legibus (Über die Gesetze).

Im Jahre 51 vor Christus wurde Cicero vom Senat als Prokonsul in die Provinz Kilikien in Kleinasien (heute im Südwesten der Türkei) entsandt, wo er seine Pflichten ehrenhaft erfüllte, die Ordnung wiederherstellte und sogar einen kurzen, aber sehr erfolgreichen Feldzug gegen ein paar kriegerische Bergstämme führte. Die politische Situation in Rom hatte sich derweil schon seit einigen Jahren verschlechtert. Der Triumvir Crassus war bei einem Feldzug in Parthien im Jahre 53 vor Christus getötet worden, und das Verhältnis der verbleibenden Triumvirn Caesar und Pompeius trieb schnell dem Zerwürfnis entgegen. Nur wenige Wochen nach Ciceros Rückkehr nach Rom von seinem Prokonsulat in Kilikien brach ein Bürgerkrieg aus (Januar 49 vor Christus). Nach einigem Zögern, intensivem Nachdenken und einem gescheiterten Versuch, Caesar und Pompeius zu versöhnen, schloss sich Cicero schließlich den republikanischen Streitkräften unter dem Oberbefehl des Pompeius in Griechenland an. Aber nach ihrer Niederlage in Pharsalos im Jahre 48 vor Christus kehrte er nach Italien zurück. Nach einer quälend langen Phase der Ungewissheit wurde er mit vielen anderen von Caesar begnadigt und man gestattete ihm, im Land zu bleiben; andere kämpften weiter für den Erhalt der Republik, so auch Cato der Jüngere.

Während der folgenden Diktatur Caesars musste Cicero erneut feststellen, dass seine Möglichkeiten, eine entscheidende Rolle in der öffentlichen Arena zu spielen, sehr begrenzt waren. Hinzu kam der tragische Tod seiner geliebten Tochter Tullia im Jahre 45 vor Christus, nach dem er sich noch mehr von der Welt zurückzog und beinahe verzweifelte. Wie er es zehn Jahre zuvor im erzwungenen Exil getan hatte, wandte er sich dem Schreiben als Trost zu. In dieser Phase verfasste er eine bemerkenswerte Anzahl an rhetorischen und philosophischen Werken. Dazu zählen Brutus, Orator (Die perfekte Rede), De finibus bonorum et malorum (Das höchste Gut und schlimmste Übel), Tusculanae disputationes (Die Prozessreden) und De natura deorum (Vom Wesen der Götter).

Cicero war zwar nicht direkt an der Ermordung von Julius Caesar in den Iden des März (15. März 44 vor Christus) beteiligt, betrachtete sie aber als Gelegenheit für die Republik, sich wieder aus der Asche zu erheben. Aber die darauffolgenden Aktionen von Marcus Antonius, eines engen Freundes von Caesar und sein Kollege als Konsul in jenem Jahr, ließen Cicero bald befürchten, dass Rom nur einen Tyrannen gegen den nächsten ausgetauscht hatte. So übernahm er seinen letzten und vielleicht mutigsten Fall, und es gelang ihm, durch ein paar Reden, die er als Philippische Reden bezeichnete, die Menschen und den Senat von Rom um sich zu scharen. Der Titel sollte an die Reden erinnern, die der große griechische Redner Demosthenes dreihundert Jahre vorher gegen Philipp II. von Mazedonien gehalten hatte. Aber letztlich wurden Ciceros Hoffnungen auf eine wiedererstehende Republik zerstört, als der junge und ehrgeizige Großneffe und Erbe Caesars, Octavian (später Caesar Augustus) sich mit Antonius und Marcus Aemilius Lepidus zu einem »Zweiten Triumvirat« zusammenschloss, das sich sofort daranmachte, die Opposition zu eliminieren, um den Staat voll und ganz zu kontrollieren. Ciceros Name stand ganz oben auf der Liste der Geächteten, und nachdem sie ihn bei Formiae gestellt hatten, wurden ihm von Antonius’ Schergen Kopf und Hände vom Körper abgetrennt und nach Rom zurückgebracht, wo sie öffentlich auf der Rostra, der Rednertribüne, zur Schau gestellt wurden, auf der Cicero so oft gestanden hatte, um sich ans römische Volk zu wenden.

Ciceros bis heute überdauerndes Erbe besteht größtenteils in seinen Schriften. Tatsächlich wissen wir mehr über Cicero als vielleicht über jeden anderen Menschen der Antike, was in weiten Teilen auf sein umfängliches Werk zurückzuführen ist, das bis heute erhalten ist. Beinahe sechzig seiner Reden liegen uns auch heute noch vor, ebenso wie eine Anzahl seiner philosophischen und rhetorischen Werke und beinahe eintausend persönliche Briefe. Diese Schriften werden damals wie heute hoch geschätzt und liefern uns das Porträt eines Mannes in seiner gesamten Dimension – als Redner, als Rhetoriker, als Politiker, Philosoph und Patriot.

ÜBER DIE KUNST DER REDE

DIE URSPRÜNGE ELOQUENTER UND ÜBERZEUGENDER REDE

NATUR, KUNST, ÜBUNG

Die genaue Definition eloquenter und überzeugender Rede war Gegenstand hitziger Debatten in der Antike. Ist die Rhetorik tatsächlich eine Kunst oder nur eine Fähigkeit, eine Gabe? Erfordert sie eine natürliche Begabung, oder kann sie durch die Aneignung bestimmter Techniken oder das Auswendiglernen eines gewissen Regelwerks oder bestimmter Grundsätze erworben werden? Im Allgemeinen sprachen die alten Theoretiker von drei erforderlichen Zutaten: der natürlichen Begabung oder des angeborenen Talents, der Beherrschung der Redekunst wie sie in den rhetorischen Abhandlungen dargelegt wurde (im Lateinischen artes genannt) und einer gewissenhaften Nutzung des eigenen Talents sowie regelmäßiger Übung durch Praxis. In seinem frühesten veröffentlichten Werk, De inventione oder Über die Auffindung des Stoffes, das er im Alter von 17 Jahren verfasste, bietet Cicero eine Erklärung der Ursprünge der Eloquenz.

Und wenn wir den Ursprung dessen, was Beredsamkeit genannt wird, erforschen wollen – ob sie eine Kunst oder ein Studium oder eine Art Fähigkeit oder Begabung, die uns von der Natur gegeben wurde, ist –, werden wir entdecken, dass sie aus den ehrenhaftesten Gründen entstand und sich aus den besten Absichten weiterentwickelte. Denn es gab eine bestimmte Zeit, in der die Menschen wie Tiere auf den Feldern umherstreiften und sich nur von nicht angebauter Nahrung ernährten; es gab noch keine vernünftige Verehrung der Götter und auch keine gesellschaftlichen Verpflichtungen; niemand kannte gesetzmäßige Eheschließungen, niemand blickte mit Wohlwollen auf Kinder, die gleichwohl sicher die eigenen waren. Auch hatten die Menschen damals noch nicht erkannt, welche Vorteile eine gerechte Gesetzgebung ihnen bringen konnte. Aufgrund ihres eigenen Irrtums und ihrer Unwissenheit, wurden sie von blinder und rücksichtsloser Leidenschaft getrieben, und missbrauchten, um sich selbst zu befriedigen, ständig ihre Körperkraft, jenen gefährlichsten aller Diener.

Zu dieser Zeit erkannte ein Mann – der mit Sicherheit groß und weise war – die dem menschlichen Geist innewohnenden Möglichkeiten und die endlosen Gelegenheiten zu großen Leistungen, wenn nur jemand sie hervorholen und sie durch Unterweisung verbessern konnte. Systematisch versammelte er die Menschen, die auf den Feldern verstreut oder verborgen in ihren Waldbehausungen lebten, an ein und demselben Ort. Er brachte sie zusammen und führte sie in jegliches vernünftige, zielgerichtete und ehrenhafte Streben ein. Zuerst war ihnen das neu, weshalb sie heftige Einwände erhoben; aber dann, als sie ihm ernsthafter zuhörten, verwandelte er sie durch Vernunft und die Rede, so dass sie bald nicht mehr wilde, unzivilisierte Kreaturen, sondern zahme und sanfte Menschen waren.

Mir zumindest erscheint es unmöglich, dass stumme Weisheit, die nicht in der Lage ist, sich zu artikulieren, plötzlich in der Lage gewesen sein soll, die Menschen von ihren Gewohnheiten fort und zu einer anderen Lebensweise hinzuführen. Überdies frage ich, wie konnte es, nachdem sich Städte gebildet hatten, geschehen, dass die Menschen lernten, den Glauben zu ehren und Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten. Wie konnten sie sich daran gewöhnen, anderen willig zu gehorchen und zu dem Urteil gelangen, dass sie nicht nur große Aufgaben zum Wohl der Allgemeinheit übernehmen, sondern sogar ihr Leben opfern mussten, wenn andere sie nicht vermittels ihrer Beredsamkeit von dem überzeugt hätten? Gewiss hätte sich niemand, der mit großer Körperkraft ausgestattet war, bereitwillig und ohne Anwendung von Gewalt dem Gesetz unterworfen und zugelassen, dass er auf gleicher Ebene mit jenen stand, über die er siegen konnte, womit er freiwillig auf eine höchst angenehme Gewohnheit verzichtet hätte – eine Gewohnheit, die durch den Lauf der Zeit bereits die Kraft eines Naturgesetzes hatte –, wenn er nicht durch eine ebenso machtvolle wie überzeugende Rede dazu bewegt worden wäre.

Die Beredsamkeit scheint also genau diesen Ursprung zu haben und dann weiterentwickelt worden zu sein und anschließend in den wichtigsten Angelegenheiten von Frieden und Krieg mit den höchsten Interessen der Mensch-heit verwoben worden zu sein. (De inventione 1.2-3)

Etwa dreißig Jahre später verfasste Cicero De oratore (Über den Redner), eine meisterliche Abhandlung, in der er das Porträt des idealen Redners zeichnet. Die Arbeit ist als Dialog zwischen verschiedenen führenden Rednern aus der Cicero vorangegangenen Generation verfasst; die beiden Hauptcharaktere des Dialoges sind Lucius Crassus und Marcus Antonius, Ciceros Lehrer aus Jugendtagen und damit die bedeutendsten Redner, die Rom zu dieser Zeit aufzubieten hatte. In der folgenden Passage bezieht sich der Gesprächspartner Crassus auf eben jene Ursprünge der Eloquenz; er preist die Fähigkeit zur Rede als eine der wirkmächtigsten menschlichen Gaben und ermutigt seine jungen Protegés, die Kunst der Beredsamkeit zu pflegen:

Ich halte tatsächlich nichts für bewundernswerter als die Fähigkeit, vermittels Rede den Geist der Menschen zu packen, ihre Neigungen zu beeinflussen, sie durch Sprache bewusst in eine Richtung zu treiben und aus der anderen zurückzuziehen. Es ist diese Fähigkeit, mehr als alles andere, die seit jeher die Oberhoheit in jeder freien Nation hatte und sich insbesondere in ruhigen und friedlichen Gemeinschaften entwickeln konnte. Was könnte wunderbarer sein, als wenn sich aus einer großen Menschenmenge einer erhebt, der – allein oder mit wenigen anderen – in der Lage ist, diese Fähigkeit wirkungsvoll zu nutzen, die wir alle als natürliche Gabe besitzen? Oder was ist dem Geist und dem Ohr angenehmer, als eine Rede, die von weisen Gedanken und eindrucksvollen Worten gekennzeichnet und verfeinert wird? Oder was ist so mächtig und so großartig, wie die Rede eines Mannes, die die Impulse der Menschen, die Bedenken der Geschworenen oder die Autorität des Senats verwandeln kann? Und noch einmal, was ist so königlich, so erhaben, so edelmütig, wie den Verzweifelten Hilfe zu leisten, die Geplagten zu erheben, den Menschen Sicherheit zu bieten, sie von Gefahren zu bewahren und vor dem Exil zu erretten? Was ist gleichzeitig wichtiger, als immer die Waffen zur Hand zu haben, mit denen man dich selbst schützen und die Bösen herausfordern kann, mit denen man Rache nehmen kann, wenn man angegriffen wird? Aber wahrlich, befassen wir uns nicht ausschließlich mit dem Forum, mit den Gerichtsbänken, der Rostra und dem Senat: Wenn wir unsere Freizeit betrachten, was kann angenehmer oder dem Menschen angemessener sein, als in der Lage zu sein, sich an eleganter Konversation zu beteiligen und als jemand zu erweisen, dem kein Thema fremd ist? Denn das eine, das uns den Tieren ganz besonders überlegen macht, ist die Art, wie wir uns miteinander unterhalten und dass wir unsere Gedanken durch die Sprache formulieren können. Wer also würde diese Fähigkeit nicht zu Recht bewundern und nicht denken, dass er die größten Anstrengungen unternehmen sollte, um andere Menschen in jeglicher Disziplin zu überbieten, die uns den Tieren überlegen macht? Aber wenden wir uns nun dem zu, was sicher der wichtigste Punkt von allen ist: Welche andere Macht hätte die verstreuten Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft an einem Ort zusammenbringen können oder hätte sie von der unzivilisierten Existenz in der Wildnis in dieses wahrhaft menschliche Gemeinwesen führen können? Und nachdem sich Gemeinschaften gebildet hatten, wer hätte Gesetze, rechtliche Prozeduren und bürgerliche Rechte aufstellen können? Und um nicht noch mehr Punkte aufzulisten (sie sind jetzt schon zahllos), lasst mich alles mit ein paar Worten zusammenfassen: Ich bekräftige, dass die Führungskraft und die Weisheit des perfekten Redners die Hauptgrundlage sind, nicht nur für seine eigene Würde, sondern auch für die Sicherheit der unzähligen Individuen des Staates in ihrer Gesamtheit. Deshalb, Ihr jungen Männer, fahrt mit euren gegenwärtigen Studien fort und widmet dem Ziel, das Ihr verfolgt, all eure Energie, damit Ihr Euch selbst zur Ehre gereicht, euren Freunden einen Dienst erweist und dem Staate nützt. (De oratore 1.3034)

Cicero war sich der Regeln, die die typischen rhetorischen Abhandlungen seiner Zeit verbreiteten, durchaus bewusst, stand dem bloßen »Lernen aus Handbüchern« allerdings kritisch gegenüber. Tatsächlich kritisiert er in De oratore immer wieder die abgedroschenen Grundsätze der Lehrwerke. Sie bieten vielleicht die Grundlagen, aber der ideale Redner muss, zusätzlich zur Kenntnis der rhetorischen Regeln, ein breites Wissen über die menschlichen Künste, einschließlich Geschichte, Literatur, Gesetz und Philosophie besitzen (siehe später, S. 197–208). Derlei Kenntnis, zusammen mit der natürlichen Begabung, dem Studium und der fleißigen Übung sind wesentlich, um ein Streitgespräch zu gewinnen.

… Es existieren gewisse Beobachtungen dessen, was beim Sprechen besonders wirkungsvoll ist; aber wenn das allein die Menschen schon eloquent machen würde, dann wäre es jedermann. Denn wer wäre nicht in der Lage, diese Grundsätze mit Leichtigkeit zu meistern, zumindest auf die eine oder andere Weise? Aber in meinen Augen sind derlei Regeln mächtig und nützlich, nicht weil die Kunst uns hilft, das zu entdecken, was wir sagen müssen, sondern weil Regeln, wenn wir sie richtig anwenden können, uns die Stichhaltigkeit unserer Argumente vor Augen führen, uns die Schwächen dessen erkennen lassen, was wir durch unsere eigene natürliche Begabung, unsere Studien und unsere Ausbildung erreichen können. (De oratore 2.232)

RHETORIK UND WAHRHEIT

Die Macht, die ein geschickter Redner ausübt, der weiß, wie er durch kunstvolle Rede und den Appell an menschliche Gefühle andere zu überzeugen vermag, ist, wie später noch dargelegt, eine mächtige Waffe. Tatsächlich jedoch handelt es sich um ein zweischneidiges Schwert, eines, das sowohl zum Guten als auch zum Schlechten eingesetzt werden kann. Wir müssen nur an zwei außerordentlich effektive Redner des zwanzigsten Jahrhunderts denken, die in den gleichen Konflikt verwickelt waren: Winston Churchill und Adolf Hitler. Anhand beider lässt sich dieser Punkt hervorragend verdeutlichen. In diesem Zusammenhang wird klar, warum das Wort »Rhetorik« häufig eine negative Konnotation hat. Nachdem im antiken Griechenland eine rhetorische Schule ins Leben gerufen worden war, die sich vornehmlich auf den Prinzipien der Argumentation nach Wahrscheinlichkeit stützte, meldeten sich auch Rhetorik-Lehrer zu Wort, die die ideale Sphäre reiner Vernunft und absoluter Wahrheit zugunsten des Wahrscheinlichen und Relativen ablehnten. Sie priesen die Macht des Wortes und versuchten manchmal sogar, das Schlimme als das Bessere dastehen zu lassen. Im Gegensatz dazu suchten Philosophen wie Sokrates und Platon die letztendliche und absolute Lösung, bevorzugten die Wahrheit, die durch dialektische Fragen enthüllt werden sollte. Auf diese Weise entstand der sogenannte Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie, ein Streit, der in verschiedenen Ausprägungen und unterschiedlicher Intensität bis in Ciceros Zeit hineinreichte. Der einleitende Abschnitt von Ciceros De inventione enthüllt uns seine Gedanken zu diesem Thema.

Häufig und viel habe ich über die Frage nachgedacht, ob eine flüssige Sprache und eine allumfassende Hingabe an die Beredsamkeit den Menschen und ihrer Gemeinschaft mehr Gutes oder mehr Schlechtes gebracht hat. Denn wenn ich an die Verletzungen denke, die unserer Republik zugefügt wurden, und mir im Geiste das Unheil vor Augen führe, das in der Vergangenheit herausragende Staaten befiel, erkenne ich, dass es kein kleiner Teil ihres Unglücks war, der durch die Wirkung von Männern verursacht wurde, die befähigte Redner waren. Andererseits, wenn ich die Annalen der Literatur nach Ereignissen durchforsche, die aufgrund ihres Alters aus dem Gedächtnis unserer Generation getilgt wurden, stelle ich fest, dass viele Städte gegründet wurden, die Flammen vieler Kriege gelöscht wurden, die festesten Bündnisse und die heiligsten Freundschaften geknüpft wurden, nicht nur wegen der Macht des Geistes, Vernunft anzuwenden, sondern leichter noch durch die Rede. Nun, nachdem ich lange Zeit darüber nachgedacht habe, führt mich eben jene Vernunft dazu, mir in erster Linie einmal folgende Meinung zu bilden: Weisheit ohne Beredsamkeit bewirkt für das Gute in Gemeinschaften zu wenig, aber Beredsamkeit ohne Weisheit ist in den meisten Fällen extrem schädlich und niemals vorteilhaft. Wenn also jemand seine ganze Energie auf das Erlernen und Üben der Redekunst verwendet, dabei aber das höchste und ehrenhafteste Streben nach Vernunft und moralischem Verhalten vernachlässigt, wächst er zu einem Bürger heran, der für sich selbst nutzlos und für sein Land schädlich ist; der Mensch aber, der sich mit Beredsamkeit bewaffnet, dergestalt, dass sie ihn befähigt, das Wohl seines Landes nicht zu gefährden, sondern ihm zu dienen, dieser Mann ist meiner Meinung nach ein sehr hilfreicher Bürger, der nicht nur seinen eigenen Interessen, sondern auch denen der Allgemeinheit hervorragend zugutekommt. (De inventione 1.1)

Einige Jahrzehnte später spricht Cicero in seiner Schrift De oratore