Maria aus Magdala - Silke Petersen - E-Book

Maria aus Magdala E-Book

Silke Petersen

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Beschreibung

Maria aus Magdala, auch Magdalena genannt, ist im Laufe der Geschichte in sehr unterschiedlicher Weise dargestellt worden. Im Neuen Testament begegnet sie zunächst als Nachfolgerin Jesu und als Zeugin von Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung. In apokryph gewordenen Schriften des frühen Christentums ist sie Lieblingsjüngerin Jesu und empfängt von ihm besondere Offenbarungen. In späterer Zeit identifizierte man sie mit der salbenden Sünderin aus dem Lukasevangelium und schließlich wurde sie zum Inbegriff der reuigen Sünderin und Büßerin. In neuester Zeit mehren sich Spekulationen, sie sei die Geliebte oder Ehefrau Jesu gewesen. Das Buch geht den Verwandlungen der Magdalenengestalt durch die Zeiten nach, stellt aber auch die Rückfrage nach der historischen Maria aus dem galiläischen Ort Magdala und ihrer Rolle in der Jesusbewegung und als Zeugin der Osterereignisse.

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Biblische Gestalten

Herausgegeben von

Christfried Böttrich und Rüdiger Lux

Band23

Silke Petersen

Maria aus Magdala

Die Jüngerin, die Jesus liebte

Silke Petersen, Dr. theol., Jahrgang 1965, ist Privatdozentin für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Johannesevangelium, apokryphe Texte des frühen Christentums, feministische Exegese und Genderforschung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

3., korr. Auflage 2019

© 2011 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: behnelux gestaltung, Halle/​Saale

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-374-03550-2

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

A. Einführung

1. Maria Magdalenas Haare

2. Wiedergefundene antike Texte und die historische Wahrheit

3. Neutestamentliche Quellen

B. Darstellung

1. Maria aus Magdala im Neuen Testament

1.1. Jüngerinnen Jesu

1.2. Maria aus Magdala als Zeugin der Kreuzigung Jesu

1.3. Die Frauen am Grab

1.4. Maria begegnet dem Auferstandenen

1.5. Divergenzen neutestamentlicher Osterüberlieferungen

1.6. Maria nach Ostern?

2. Apokryph gewordene Texte des frühen Christentums

2.1. Nag Hammadi. Zu den Bezeichnungen »gnostisch« und »apokryph«

2.2. Marias apokryphes Profil

2.3. Die Jüngerin, die Jesus liebte

Exkurs: Küsse im frühen Christentum

2.4. Der Konflikt zwischen Petrus und Maria

2.5. Maria und die Weiblichkeit

3. Mutmaßungen über die historische Maria aus Magdala

C. Wirkung

1. Figurenkonstellationen: Maria aus Magdala, Petrus und die Mutter Maria

2. Maria, das Hohelied, Eva und die Apostelin der Apostel

3. Sünderin und Büßerin. Die Gebeine Maria Magdalenas

4. Noch einmal: Die Jüngerin, die Jesus liebte

5. Magdalena-Doppelgängerinnen und das Evangelium nach Maria

Epilog: Maria Magdalena als Zeitdiagnose

D. Verzeichnisse

1. Abkürzungen, Textausgaben und Übersetzungen der antiken Schriften

1.1. Übergreifendes

1.2. Einzelne apokryph gewordene Schriften

1.3. Weitere antike Quellen

2. Wissenschaftliche Monographien und Artikel

3. Romane, Filme, Gedichte, Populäres

4. Abbildungsverzeichnis

Fußnoten

VORWORT

Die neutestamentliche Gestalt der Maria aus Magdala hat im Verlaufe der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte einen bemerkenswerten Veränderungsprozess durchlaufen. Von der neutestamentlichen Jüngerin und Zeugin der Osterereignisse führt dieser Prozess unter anderem über die Gestalt der reuigen Sünderin und Büßerin bis hin zur Geliebten und Ehefrau Jesu in neueren Romanen. In der Neuzeit hat sich zudem durch wiedergefundene antike Texte unsere Quellenbasis erweitert. In diesen Quellen, darunter einem »Evangelium nach Maria«, begegnet Maria aus Magdala vor allem als bevorzugte Jüngerin Jesu, die von ihm geliebt wird und besondere Offenbarungen erhält.

Dieses Buch geht den vielfältigen Veränderungen und Verwandlungen der Magdalenengestalt durch die Jahrhunderte nach. Gleichzeitig stellt es auch die Rückfrage nach der historischen Maria aus dem galiläischen Ort Magdala am See Gennesaret und ihrer Rolle innerhalb der Jesusbewegung. Gerade die vielen Leerstellen in den frühesten Quellen über Maria aus Magdala haben einen Raum eröffnet, in dem sich in den folgenden Zeiten neue und zum Teil ganz andere Darstellungen der Magdalenengestalt ansiedeln konnten. Die zahlreichen Verschiebungen im Magdalenenbild zeigen dabei wie in einem Spiegel die jeweils aktuellen Zeitthemen und sind insofern auch da von Interesse, wo sie sich weit von den neutestamentlichen Ursprüngen entfernen.

Bücher entstehen immer auch in einem Austauschprozess. Für hilfreiche Rückfragen und Diskussionen danke ich den Norddeutschen Neutestamentlern und Neutestamentlerinnen, auf derem Treffen im Oktober 2009 in Ratzeburg ich Ausschnitte aus diesem Buch vorgestellt habe, sowie den Mitgliedern des neutestamentlichen Forschungskolloquiums der Universität Hamburg und den Neutestamentlerinnen der ESWTR (European Society of Women in Theological Research). Ganz besonderer Dank gilt darüber hinaus den Studierenden in meinen Lehrveranstaltungen zu Maria Magdalena in Gießen (Wintersemester 2008/​09), Hamburg (Sommersemester 2009) und Kiel (Wintersemester 2009/​10), die durch zahlreiche Fragen und in eigenen Beiträgen meinen thematischen Horizont beträchtlich erweitert haben.

Übersetzungen der antiken Texte sind, soweit nicht in den Anmerkungen anders angegeben, meine eigenen. In den Verzeichnissen am Ende dieses Buches findet sich unter anderem eine Zusammenstellung der apokryph gewordenen Quellen, die das Auffinden von Textausgaben und Übersetzungen in diesem zum Teil nicht ganz einfach zu überblickenden Literaturbereich erleichtern soll.

Hamburg, im Oktober 2010Silke Petersen

A. EINFÜHRUNG

1. MARIA MAGDALENAS HAARE

Die Gestalt der Maria Magdalena hat im Laufe der letzten zwei Jahrtausende bemerkenswerte Verwandlungen erfahren, die auch ihre Haare betreffen. Diesen besonderen Haaren wurde eine beachtliche Karriere in der (west-)europäischen Kunstgeschichte zuteil. Über die Jahrhunderte etablierten sie sich zu einem der zentralen Bestandteile in Darstellungen der Magdalenerin. Viele dieser Darstellungen zeigen Maria Magdalena als reuige Sünderin und Büßerin in einer Höhle, wobei sie oft mit einem Salbölgefäß ausgestattet ist. Weitere Attribute können ein Kreuz, ein Totenkopf oder ein aufgeschlagenes Buch sein – und auffallend sind zumeist ihre langen und oft üppigen Haare. Während sich frühere Darstellungen noch in erster Linie auf die Rolle Marias als büßender Sünderin konzentrieren, gewinnen die Abbildungen im Verlauf der Geschichte an erotischer Ausstrahlung, wobei gleichzeitig die Haare dazu tendieren, immer durchscheinender zu werden.

Abb.1: Antonio da Atri, Maria Magdalena, von zwei Engeln in den Himmel begleitet, um 1410/​1420

Abb.2: Donatello, Maria Magdalena, Statue, um 1455

Gleich zu Beginn sei es deutlich gesagt: Dieses Bild der Maria Magdalena hat keine Grundlage in den Schriften des Neuen Testaments, und es lässt sich auch nicht aus weiteren Texten aus der Frühzeit des Christentums ableiten. Die benannte Darstellung Maria Magdalenas ist vielmehr maßgeblich geprägt von der Identifikation verschiedener Frauengestalten des Neuen Testaments, die sich erst sukzessive ab dem 4. Jh. n. Chr. etablierte und in erster Linie durch Gregor den Großen (um 600n.Chr.) verbreitet wurde. Später kam noch eine ägyptische Maria dazu, eine Einsiedlerin, die dafür bekannt war, lediglich mit ihren Haaren bekleidet gewesen zu sein. Die erstgenannte Verschmelzung verschiedener Frauengestalten – also die der Frauen des Neuen Testaments – betrifft vor allem drei unterschiedliche Personen mit ursprünglich verschiedenen Geschichten, die zu einer Frauengestalt vereinigt wurden. Zwei der Frauen tragen den Namen Maria; eine ist ursprünglich namenlos. Die drei Frauen, deren Identifikation das Maria-Magdalena-Bild so nachhaltig prägen sollte, sind:

Abb.3: Tizian, Büßende Maria Magdalena, um 1533

1. Die tatsächliche Maria aus dem galiläischen Ort Magdala.1 Sie wird im Aufriss der neutestamentlichen Geschichte vor den Osterereignissen erstmals und ausschließlich in Lk 8,1–3 namentlich erwähnt. In den Personenlisten zu Beginn von Lk 8 ist Maria aus Magdala eine von mehreren Frauen, die von Jesus geheilt werden und ihm nachfolgen. Ihre Heilungsgeschichte ist insofern besonders betont, als Jesus nach der lukanischen Darstellung sieben Dämonen von ihr ausgetrieben haben soll. Man könnte sagen: Hier tritt eine Frau mit einer schwierigen Vergangenheit auf.

2. Zur Bereicherung dieser Vergangenheit wurde dann eine weitere Geschichte aus dem Lukasevangelium herangezogen: Direkt vor der eben genannten Notiz über die Frauen in der Nachfolge Jesu erzählt das Lukasevangelium nämlich die Geschichte einer »Sünderin«, die Jesu Füße mit ihren Tränen wäscht, mit ihren Haaren trocknet und schließlich salbt (Lk 7,36–50). Die Handlung der Frau stößt auf Kritik: Jesus sollte eigentlich wissen, dass die Frau, die ihn da berührt, eine Sünderin ist. Jesus jedoch verteidigt sie: »Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt.« Die lukanische Geschichte verwendet einen neutralen griechischen Begriff für die »Sünderin«. (hamartolos), die »Sünden« werden nicht explizit als solche charakterisiert, die auf dem Überschreiten sexueller Normen beruhen (für eine solche »Sünderin« würde das griechische Wort pornē stehen). Dennoch hat die spätere Rezeption dieses Textes die »Sünderin« primär sexualisiert gedeutet – eine Frau, die viele Sünden begeht und viel liebt, was kann sie anderes sein als eine Ehebrecherin oder Prostituierte? Durch die Kombination der beiden aufeinanderfolgenden Episoden aus Lk 7 und 8 bekam Maria Magdalena also eine sexuell »sündige« Vergangenheit. Die Salbungsgeschichte aus Lk 7 wurde quasi zur Berufungsgeschichte Marias. Unterstützend für diese Identifikation hat dabei noch eine dritte Frau gewirkt, nämlich:

3. Maria aus Bethanien, einem Ort in der Nähe Jerusalems. Sie wird mehrfach in den Evangelien erwähnt; entscheidend in unserem Zusammenhang ist die Parallele zur lukanischen Salbungsgeschichte in Joh 12,1–8. Dort ist jene Frau, die die Füße Jesu salbt und mit ihren Haaren trocknet, Maria aus Bethanien, die Schwester von Martha und Lazarus. In der johanneischen Version der Geschichte wird sie zwar nicht als »Sünderin« charakterisiert – aber eine kombinierende Lektüre der Salbungsgeschichten führt zu »Maria« als Namen der anonymen salbenden »Sünderin«. Damit ist ein weiterer Baustein zu Anreicherung des Maria-Magdalena-Bildes und zur zahlenmäßigen Reduzierung von neutestamentlichen Personen durch Identifikation gegeben.

Solche Identifikationen von anonymen und namentlich genannten Gestalten hat es in der Überlieferung und Rezeption neutestamentlicher Geschichten häufig gegeben. Ein Beispiel sind etwa die verschiedenen Versionen von der Gefangennahme Jesu: So erzählt die markinische Version dieser Geschichte, dass einer der Anhänger Jesu einem aus der gefangennehmenden Gruppe dabei das Ohr abschlägt (Mk 14,47). Im Lukasevangelium erfahren wird schon mehr: Es ist das rechte Ohr (Lk 22,20). Die johanneische Version dieser Notiz kennt schließlich sogar die Namen: Petrus schlägt das Ohr des Malchus ab (Joh 18,10). In der späteren Rezeption haftet die Geschichte dann weiterhin Petrus an. Das bedeutet aber: Es gibt jetzt eine Petrusgeschichte mehr als noch in den synoptischen Evangelien. Und gleichzeitig ist eine kleine Geschichte, die von einem anonymen schwerttragenden Anhänger Jesu handelt, zu einer Petrusgeschichte geworden – und der anonyme Schwerträger damit als eigene Person aus dem Fundus der erzählten Geschichten verschwunden.

Im Falle von Maria Magdalena spielen noch weitere Geschichten eine Rolle: Durch die Identifizierung mit der »salbenden Sünderin« werden auch die beiden anderen Salbungsgeschichten einbezogen (vgl. Mk 14,3–9 und Mt 26,6–13), auch wenn es dort nicht die Füße Jesu sind, die gesalbt werden, sondern sein Kopf. Und durch die Gleichsetzung von Maria aus Magdala und Maria aus Bethanien kann das Bild durch die weiteren Maria-aus-Bethanien-Geschichten angereichert werden (vgl. Joh 11,1–45; Lk 10,38–42). In der lukanischen Geschichte von der Konkurrenz zwischen Maria und Martha spielen auch wieder die Füße Jesu eine Rolle – diese Maria salbt die Füße Jesu zwar nicht, aber sie sitzt immerhin zu seinen Füßen. Noch weitere Querverbindungen ergeben sich, wenn man andere Einzelheiten der unterschiedlichen Geschichten zu einem Bild zusammenfügt. So spielen mehrere der genannten Geschichten in Bethanien: Nicht nur wohnen die Geschwister Maria, Martha und Lazarus ebendort (vgl. Joh 11,1; 12,1), sondern auch die Kopf-Salbungsgeschichte mit der namenlosen Frau spielt an diesem Ort (vgl. Mk 14,3; Mt 26,6). Dies lässt sich, ist man erst einmal auf einer solchen Fährte, als eine weitere Bestätigung der Einheitsgestalt lesen. Diese Gestalt konnte dann noch weiter angereichert werden: So wird etwa in manchen Versionen der (Vor-)Geschichte Maria Magdalenas auch die Erzählung von der Ehebrecherin aus Joh 7,53–8,11 hinzugezogen – passend zur Kombination von Frau, Sünde und Sexualität. Und so hat Maria Magdalena etwa in einigen neuzeitlichen Darstellungen ihren ersten Auftritt als Ehebrecherin, die von Jesus gerettet wird.2

Die Folgen dieser Identifikationen waren und sind zum Teil bis heute – auch wenn sich in den letzten Jahren ein Umbruch abzuzeichnen beginnt – von großer Tragweite für die Reputation Marias. Auch wenn die Anreicherung der Person »Maria aus Magdala« durch andere Erzählungen, die ursprünglich nicht von ihr handeln, insgesamt kein Ausnahmefall ist, so ist sie doch in diesem Falle besonders weitreichend: Die wohl wichtigste Jüngerin Jesu und eine zentrale Zeugin der Osterereignisse ist über viele Jahrhunderte primär als ehemalige Prostituierte und reuige Sünderin wahrgenommen worden. Im Zuge der beginnenden (deutschsprachigen) feministischen Exegese wurde hier schon früh Kritik geübt. So schreibt Elisabeth Moltmann-Wendel: »Maria Magdalena ist zum Monster und zum Musterbeispiel von Sünde und Sexualität geworden.« Und: »Biblische Männer haben eine Vergangenheit, wie Fischer und Zöllner. Die biblische Frauengestalt hat die Vergangenheit einer ›Sünderin‹.« – »Wie sähe unsere Tradition aus, wenn sie aus Petrus einen bekehrten Zuhälter gemacht hätten?«3

Die Gegenüberstellung von Maria und Petrus ist hier kaum zufällig; sie wird uns im Verlaufe dieses Buches noch häufiger begegnen. Sowohl Petrus als auch Maria werden in Namenslisten der antiken Texte fast durchgehend an erster Stelle genannt, Petrus in den Männerlisten, Maria in jenen Listen, die Frauennamen überliefern. Beide haben nach unterschiedlichen neutestamentlichen Zeugnissen Anspruch darauf, der bzw. die Erste gewesen zu sein, die eine Erscheinung des Auferstandenen erlebten. Auf diese Weise stehen beide Gestalten in einem indirekten Konkurrenzverhältnis zueinander, woraus in manchen Texten dann auch eine direkte Konkurrenz wird. Letzteres ist in einigen Schriften des frühen Christentums der Fall, die keinen Eingang in das Neue Testament gefunden haben. Wir wissen allerdings nicht, ob hinter diesem überlieferten Konkurrenzverhältnis noch eine historische Erinnerung steht, oder ob sich hier lediglich die Konkurrenz unterschiedlicher christlicher Richtungen im 2. und 3. Jh. widerspiegelt, in denen die beiden Gestalten jeweils als zentrale Symbolfiguren für eine bestimmte Richtung stehen. Im Zusammenhang mit der Diskussion der entsprechenden Texte werde ich auf diese Frage näher eingehen.4

Die Figur der Maria aus Magdala hat im Laufe der Geschichte einen langen und vielfältigen Wandlungsprozess durchlaufen, der nicht ohne Brüche und Widersprüche vor sich gegangen ist. Entsprechend ist es auch ein langer Weg zurück vom Bild der reuigen Sünderin und (ehemaligen) Prostituierten zur neutestamentlichen Jüngerin und Zeugin der Osterereignisse. Denn selbst wenn sich in der Wissenschaft inzwischen nahezu einhellig durchgesetzt hat, dass die verschiedenen oben genannten neutestamentlichen Frauen keinesfalls identisch sind, so wirkt doch das Bild der »Sünderin« und sexuell anrüchigen Frau weiterhin in populärer Literatur, in Romanen, Gedichten und Filmen. Nahezu jeder Besuch in einem (west)europäischen Museum führt erneut dieses Bild vor Augen, und auch wer im Internet Bilder Maria Magdalenas sucht, trifft mehrheitlich auf Darstellungen der reuigen Sünderin in den unterschiedlichsten Varianten.5

In neuerer Zeit ist diese Darstellung der Magdalenerin in der öffentlichen Wahrnehmung noch von einem weiteren Bild überlagert worden: dem der Geliebten oder Ehefrau Jesu. Einhergehend damit gibt es auch Spekulationen über ein oder mehrere gemeinsame Kinder von Jesus und Maria Magdalena. Populär geworden ist diese Variante in den letzten Jahren vor allem durch Dan Browns Thriller »The Da Vinci Code«, auf Deutsch mit dem zusätzlichen Titel »Sakrileg« erschienen, der im Jahr 2006 auch verfilmt wurde.6 Die Romanversion steht auf Platz fünf der meistverkauften Bücher in Deutschland in den letzten Jahren.7 Die Dan-Brown-Version lehnt die Sünderin/​Prostituierten-Identifikation explizit ab. Der Autor beruft sich für sein Maria-Magdalena-Bild, in dem Magdalena die Frau Jesu und die Mutter einer gemeinsamen Tochter ist, unter anderem auf antike Quellen, so auf die Evangelien nach Maria und nach Philippus. Diese beiden Evangelien gehören zu jenen Schriften, die in den letzten gut 100 Jahren wiederentdeckt wurden, und die ein anderes Maria-Magdalena-Bild zeichnen als das der reuigen Sünderin und zerknirschten Büßerin. Allerdings sind die genannten Texte bei genauerem Hinsehen nicht dazu geeignet, Dan Browns Hypothese zu stützen.

2. WIEDERGEFUNDENE ANTIKE TEXTE UND DIE HISTORISCHE WAHRHEIT

Seit Ende des 19. Jh.s sind eine Reihe von antiken Texten wieder aufgefunden worden. Viele dieser Texte waren zuvor unbekannt, in einigen Fällen wusste man zwar von ihrer Existenz, hatte aber keine oder kaum Informationen über ihren Inhalt. Für die Gestalt der Maria aus Magdala sind insbesondere zwei Textsammlungen von Bedeutung: zunächst ein Papyruscodex, der u.a. eine Schrift mit dem Titel Evangelium nach Maria enthält und in der Wissenschaft »Codex Berolinensis Gnosticus«. (= BG)8 heißt, da er vom Berliner ägyptischen Museum 1896 gekauft wurde und dort heute aufbewahrt wird. Daneben ist ein Zufallsfund von 13 Papyruscodices von besonderer Bedeutung, der sich im Jahr 1945 in der Nähe des oberägyptischen Ortes Nag Hammadi zutrug. Dieser Fund fand nahezu zeitgleich mit dem der Qumranrollen statt (beides wird oftmals vermischt oder verwechselt); es handelt sich bei den Nag-Hammadi-Schriften jedoch um gebundene Bücher und nicht um Schriftrollen, zudem sind die Texte koptische9 Übersetzungen griechischer Vorlagen. Und sie stammen im Gegensatz zu den Rollen aus Qumran aus einem christlichen und nicht aus einem jüdischen Umfeld. Die Abfassungszeit der meisten dieser Texte ist das 2. oder 3. Jh. n. Chr., die wieder aufgefundenen koptischen Codices sind im 4. Jh. angefertigt worden.

Mehrfach wurden und werden Funde wie die genannten jenseits wissenschaftlicher Solidität sensationell hochgespielt: Dabei wird gerne behauptet, jetzt käme endlich die »ganze Wahrheit« ans Licht, die zuvor unterdrückt worden sei. Unterdrückt vom Vatikan, von innerkirchlich oder außerkirchlich operierenden Geheimbünden oder Verschwörergruppen, die das Geheimnis hüten, tradieren und gleichzeitig vor Aufdeckung schützen. Solche Verschwörungstheorien funktionieren allerdings nur auf der Basis eines ungenauen Umgangs mit den Quellen, bei dem oftmals deren Entstehungszeit und -kontext nicht ausreichend berücksichtigt sind. So werden etwa mittelalterliche Legenden über den heiligen Gral und Spekulationen über die Geschichte der Tempelritter für historische Rückschlüsse auf die Antike herangezogen und wiedergefundene Evangelien aus dem 2. oder 3. Jh. n. Chr. kritiklos für die Historie des 1. Jh.s in Anspruch genommen. Fehlende Belege oder verzögerte Veröffentlichungen antiker Quellen sind in so gearteten Geschichtskonstruktionen Beweise für eine absichtliche und organisierte Unterdrückung des Materials. Tatsächlich allerdings liegt verzögerten Veröffentlichungen (die es durchaus gibt) oftmals eher eine Mischung aus Unkenntnis und zufälligen Umständen zugrunde – oder es handelt sich um die Konsequenzen daraus, dass zu wenige Personen einbezogen werden, um die mühsame Publikationsarbeit zügig voranzutreiben. Gelegentlich kann auch ein Wasserrohrbruch eine fatale Rolle spielen.

Letzteres geschah im Fall des Evangeliums nach Maria (gemeint ist Maria aus Magdala). Bei diesem Text dauerte es über 50 Jahre, bis endlich eine kritische Textausgabe mit Übersetzung der Öffentlichkeit zugänglich wurde, was neben dem Tod des Erstherausgebers, zwei Weltkriegen und dem zwischenzeitlichen Fund von Paralleltexten auch maßgeblich an einem Wasserrohrbruch lag, der 1912 im Keller einer Druckerei in Leipzig die gesamte, schon gedruckte Auflage vernichtete.10 Eine verschwörungstheoretische Erklärung dieser Ereignisse existiert meines Wissens bislang noch nicht – vielleicht wäre dies ein lohnendes Unterfangen für einen weiteren populären Thriller.

Zurück zu den wiederentdeckten Schriften: Maria aus Magdala tritt nicht nur im gerade erwähnten Evangelium nach Maria (EvMar) auf, sondern auch in einigen weiteren Texten. Zu nennen sind hier vor allem das Evangelium nach Thomas (Ev Thom), das Evangelium nach Philippus (EvPhil), der Dialog des Erlösers (Dial), die erste Jakobusapokalypse (1ApcJac), die Sophia Jesu Christi (SJC) und die Pistis Sophia (PS). Die meisten dieser Schriften sind mit einem Exemplar im Textfund von Nag Hammadi vertreten, mehrfach gibt es noch andere Textzeugen. Allen diesen Schriften ist gemeinsam, dass sie in der uns vorliegenden Form später entstanden sind als die neutestamentlichen Texte. Sie sind damit auch zeitlich weiter entfernt von der historischen Maria aus Magdala. Ob in ihnen dennoch Material enthalten sein könnte, das auf das 1. Jh. zurückgeführt werden kann, werde ich an gegebener Stelle diskutieren; sie direkt für eine Rekonstruktion der Verhältnisse im 1. Jh. heranzuziehen, ist jedenfalls nicht möglich.

Die genannten Texte zeichnen ein Bild der Maria aus Magdala, das mit dem der neutestamentlichen Texte in vielfältigen Beziehungen steht. Maria tritt in ihnen als bedeutende und paradigmatische Jüngerin Jesu auf. Ihre Beziehung zu Jesus ist die einer besonderen Nähe: Jesus bevorzugt Maria, er liebt sie »mehr als die anderen«, und sie erhält spezielle Offenbarungen von ihm. Im zweiten Abschnitt des Hauptteils dieses Buches werde ich die für Maria aus Magdala relevanten Texte diskutieren – verraten sei aber schon jetzt, dass es in ihnen um die geistige Beziehung von Jesus und Maria geht – nicht aber um Maria als Ehefrau Jesu und Mutter seiner Nachkommenschaft. Besonders Letzteres ist schon deshalb nicht plausibel, weil die genannten Texte eher asketische Tendenzen zeigen: Fortpflanzung gilt es zu vermeiden. Nachkommenschaft perpetuiert nur diese Welt, die letztlich als wenig gelungen angesehen wird und der es zu entkommen gilt.

Die Weltanschauung der genannten Texte ist keine durchgehend einheitliche. Vielfach werden sie in der Forschung der sog. »Gnosis« zugeordnet – was dies ist und warum der Begriff auch auf Irrwege führen kann, wird zu diskutieren sein. Zunächst aber möchte ich im Rahmen dieser Einführung noch einen kurzen Blick auf jene Texte werfen, die ihren Weg in den neutestamentlichen Kanon gefunden haben. In ihnen ist Maria weder eine bekehrte Sünderin noch die Ehefrau Jesu, sondern in erster Linie Zeugin von Kreuzigung und Auferstehung.

3. NEUTESTAMENTLICHE QUELLEN

Die neutestamentlichen Texte sind die ältesten erhaltenen Zeugnisse über Maria aus Magdala. In allen vier Evangelien hat Maria einen prominenten Platz bei den Ereignissen rund um Ostern. Nach übereinstimmender Aussage der vier Evangelien ist sie Zeugin von Jesu Kreuzigung. Darüber hinaus berichten die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) von ihrer Präsenz bei Jesu Grablegung, und alle Evangelien enthalten eine Geschichte, in der sie das Grab Jesu am Ostermorgen leer vorfindet. Zudem ist Maria aus Magdala nach dem Zeugnis dreier neutestamentlicher Texte (Mt 28,9f.; Joh 20,11–18; Mk 16,9–11) die Erste, die eine Begegnung mit dem Auferstandenen erlebt.

Eine genauere Analyse der Einzeltexte ergibt eine ganze Reihe von Widersprüchen und Schwierigkeiten, deren Lösung in der Forschung sehr unterschiedlich ausfällt. Entscheidend ist dabei u.a. das Gesamtbild vom Verhältnis der Evangelien untereinander. Es existiert eine relative Übereinstimmung in der neutestamentlichen Forschung, dass das Markusevangelium das älteste ist (um 70n.Chr. entstanden), und die Evangelien nach Matthäus und Lukas diesen Text als Vorlage genutzt haben. Beide verwendeten darüber hinaus noch einen weiteren Text, die so genannte Logienquelle (Q), die aus Mt und Lk rekonstruiert werden kann, aber nicht erhalten ist. Dieses relativ konsensfähige Modell der Forschung heißt Zwei-Quellen-Theorie; es liegt auch den Textanalysen im ersten Abschnitt des Hauptteiles dieses Buches zugrunde. Unerwähnt blieb bislang das Johannesevangelium: Hier gibt es keinen Konsens in der Forschung, wie das Verhältnis zu den drei anderen, synoptischen Evangelien einzuschätzen ist. Dieses Thema wird uns noch beschäftigen, da es für die Bewertung der Erscheinungserzählungen von Bedeutung ist.

Zwei weitere Probleme der Quellen seien hier noch vorläufig und als Vorschau angesprochen. Erstens: Der älteste Text, der eine Kurzfassung der Osterereignisse enthält, findet sich in einem Brief des Paulus (1Kor 15,3–8, geschrieben Anfang der 50er Jahre des 1. Jh.s). In ihm wird der Name der Maria aus Magdala im Zusammenhang mit den Osterereignissen nicht genannt; der erste benannte Zeuge der Auferstehung ist Petrus. Daraus ergibt sich die Frage, wie dieser Widerspruch zwischen Paulus und den Evangelientraditionen zu erklären sein könnte. In der Forschung gibt es unterschiedliche Theorien dazu, die u.a. um die Fragen kreisen: Hat Paulus den Namen Marias absichtlich unterdrückt? Wenn das Zeugnis des Paulus zuverlässig ist, wie kommen dann die Evangelien zu ihren andersartigen Erzählungen? Begründen die Erscheinungen apostolische Autorität oder setzen sie diese voraus? Ist die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes eine sekundäre Explikation der Erscheinungen? Oder verhält es sich gerade andersherum? Und: Lässt sich bei diesen Fragen überhaupt noch plausibel historisch argumentieren? Lösungsvorschläge für einige der genannten Fragen werde ich im Zusammenhang mit der Analyse der Einzeltexte vorstellen.11

Das zweite Problem betrifft die Vorgeschichte Marias: Drei der vier Evangelien erwähnen ihren Namen erstmals bei der Kreuzigung Jesu. (Eine Ausnahme ist nur Lk 8,1–3.) Wie aber kommt Maria aus ihrem ehemaligen Wohnort Magdala in Galiläa zur Jesusbewegung und nach Jerusalem? Ist sie bei allem zuvor Erzählten als anwesend zu denken? Wie ist ihre Partizipation in der Jesusbewegung als Frau vorstellbar? Ist es adäquat, sie als Jüngerin Jesu zu bezeichnen, obwohl sie im Neuen Testament nicht so genannt wird? Warum wird sie in drei Evangelien erstmals bei der Kreuzigung erwähnt und was bedeutet es, dass das Lukasevangelium ihr eine von den männlichen Nachfolgern Jesu abweichende Rolle zuweist?

Die genannten Fragen zeigen, wie eng die Suche nach der historischen Maria aus Magdala mit der Rekonstruktion der Jesusbewegung sowohl vor wie nach Ostern verbunden ist. Die Frage nach der Beteiligung von Frauen in dieser Bewegung führt nach wie vor eher ein randständiges Dasein in klassischen Monographien über den historischen Jesus und die Jesusbewegung. Wo diese Frage behandelt ist, wird sie zumeist nicht als Querschnittsthema analysiert, sondern in einen separaten Abschnitt ausgelagert und damit für die Gesamtsicht auf die Jesusbewegung tendenziell ausgeblendet.

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein klassisches Problem neutestamentlicher Forschung, das nicht nur im Hinblick auf die »Frauenfrage« aktuell ist: Unsere Quellen entstammen einer bestimmten Zeit und sind unter Voraussetzungen und in einem Umfeld geschrieben, das nicht (mehr) das unsere ist. Sie bewegen sich im Rahmen von Grundannahmen der antiken Weltsicht und sind auch deshalb in einer androzentrischen Sprache verfasst. Das heißt unter anderem: Wenn in den Quellen Gruppen von Personen auftreten, wird normalerweise nicht kenntlich gemacht, ob es sich um eine reine Männergruppe oder um eine gemischtgeschlechtliche Gruppe handelt (nur reine Frauengruppen werden anders benannt). So kann etwa der grammatisch maskuline griechische Plural adelphoi ebenso »Geschwister« meinen wie auch »Brüder«. Die Entscheidung, welche von beiden Übersetzungen die je angemessene ist, ist in vielen Fällen schwierig. Bei der Darstellung der Maria aus Magdala ist diese Frage dennoch wichtig: Sollen die Lesenden sich etwa vorstellen, dass Maria in Joh 20,17 vom Auferstanden zu ihren »Brüdern« oder zu ihren »Geschwistern« geschickt wird, um seine Botschaft mitzuteilen? Anders formuliert: Steht hier eine Frau einer Gruppe von Männern gegenüber, denen sie etwas mitzuteilen hat, was diese nicht wissen – oder ist Maria lediglich eine herausgehobene Gestalt aus der Gruppe der Anhänger und Anhängerinnen Jesu, ohne dass ihr Frau-Sein in diesem Falle relevant ist? Eine Entscheidung in dieser Frage lässt sich nicht allein von Joh 20,17 her treffen, und – wie auch immer sie getroffen wird – die Entscheidung ist abhängig vom Vorverständnis der interpretierenden Person, von ihrer oder seiner Sicht auf die Jesusbewegung sowie auf die johanneische Art und Weise, die Geschichte darzustellen. Dieser Frage aber überhaupt nachzugehen, ist erst im Kontext einer gewissen Sensibilisierung denkbar geworden, die in der neueren Exegese eingesetzt hat und durch hermeneutische Reflexion und präzisere Fragestellungen einen gewissen Erkenntniszugewinn verspricht und ermöglicht. Dabei lässt sich allerdings so etwas wie eine »endgültige Wahrheit«, eine Sicherheit, »wie es denn eigentlich gewesen ist«, prinzipiell nicht erreichen; anzustreben ist jedoch ein verantwortungsvoller Umgang mit den historischen Quellen unter Berücksichtigung ihres jeweiligen zeitgebundenen Kontextes.

Den sehr unterschiedlichen Texten (sowie Bildern und Filmen), um die es in diesem Buch gehen wird, liegt kein einheitliches oder zu vereinheitlichendes Maria-Magdalena-Bild zugrunde. Aussagen über die historische Maria aus Magdala lassen sich nur im Rahmen begrenzter Plausibilitäten treffen; vieles bleibt unerreichbar oder der Imagination überlassen. Die Faszination der Gestalt Maria Magdalenas erschöpft sich jedoch nicht in der historischen Rückfrage – die dennoch auch zu stellen ist –, überaus aufschlussreich ist diese Maria vielmehr als ein Spiegel, der in seinem Bild die Projektionen zurückwirft, die sich jeweils mit ihr verbunden haben. Ob Maria primär als Jüngerin, Osterzeugin und Empfängerin spezieller Offenbarungen, als reumütige Sünderin und Büßerin oder als Geliebte und Ehefrau Jesu konzipiert wird, sagt nicht in erster Linie etwas über Maria aus Magdala aus, sondern vielmehr darüber, welche Themen in einer je bestimmten Epoche der europäischen Geistesgeschichte diskutiert und debattiert wurden und prägend auf das Maria-Bild wirkten. An Maria Magdalena wird also mehr und oft auch anderes verhandelt, als es zunächst den Anschein hat. Im Anschluss an die Darstellung der unterschiedlichen Texte und Traditionen werde ich auf diese Rolle Maria Magdalenas als »Zeitdiagnose« zurückkommen.

B. DARSTELLUNG

1. MARIA AUS MAGDALA IM NEUEN TESTAMENT

1.1. Jüngerinnen Jesu

In den Evangelien des Neuen Testaments treten zahlreiche Frauen auf, mit denen Jesus redet, die er heilt, die ihn unterstützen und mit ihm diskutieren. Keine dieser Frauen wird dort allerdings explizit »Jüngerin«. (mathētria) Jesu genannt, auch nicht Maria aus Magdala.12 Von den im Neuen Testament auftretenden Frauen heißt nur Tabita in Apg 9,36 explizit »Jüngerin«. Auch in der Zeit nach Ostern wurden also noch weiterhin Personen so bezeichnet, die der (zunächst weitgehend innerjüdischen) Bewegung der Christusgläubigen angehörten. Rückschlüsse auf die Zeit vor Ostern erfordern einige detektivische Bemühungen und einen genaueren Blick auf die Formulierungen. In den meisten neutestamentlichen Belegen ist nämlich nicht von Einzelpersonen die Rede, die Jesus nachfolgen, sondern von einer Gruppe von mathētai im Plural. Wie ist dieser Plural zu übersetzen? Grammatisch handelt es sich um die maskuline Pluralform des Singulars mathētēs, »Jünger«. Diese Form kann sowohl eine reine Männergruppe wie auch eine gemischte Gruppe bezeichnen, nicht jedoch eine Gruppe, die ausschließlich aus Frauen besteht. Die Gruppenbezeichnung zeigt also, dass nicht ausschließlich Frauen Jesus nachfolgten, sie gibt aber keinen Hinweis darauf, ob auch Frauen an der Jesusbewegung in dem Sinne partizipierten, dass sie Herkunftsfamilie und -ort verließen, um sich Jesus anzuschließen.

Ergiebiger für die Frage von Frauen als Jüngerinnen sind Teile der sog. Logienüberlieferung. In einigen Worten Jesu werden nämlich Bedingungen der Nachfolge aufgestellt und dabei jene Familienmitglieder aufgezählt, die verlassen werden – woraus wir im Subtraktionsverfahren schließen können, wer diejenigen sind, die aktiv verlassen haben. In der bei Mt und Lk verarbeiteten Logienquelle (Q)13 findet sich so eine Liste der zu verlassenden Familienmitglieder. An der entscheidenden Stelle weicht diese Liste allerdings in den beiden Fassungen voneinander ab:

Mt 10,37f.

Lk 14,26f.

Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.

Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.

Und wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert.

Und wer sein Kreuz nicht trägt und mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein.

Der Vergleich beider Texte zeigt eine Reihe von Unterschieden. In der Forschung zur Logienquelle wird an solchen Stellen diskutiert, welche Fassung die jeweils ursprünglichere ist. Dabei ist bei jeder einzelnen Abweichung zu überlegen, ob eine Änderung durch Mt oder durch Lk plausibler ist; die jeweils andere Fassung entspricht dann der von beiden verarbeiteten Vorlage aus Q. Ein Beispiel: In Mt 10,37 ist vom »mehr lieben« die Rede, in Lk 14,26 jedoch vom »hassen« der Familienmitglieder. Welche Änderung ist nun wahrscheinlicher?

Die Forschung zur Logienquelle ist sich in diesem Fall einig,14 dass die lukanische Version die ursprüngliche ist: Es ist nämlich plausibler, dass die harte und anstößige Fassung (»hassen«) nachträglich abgeschwächt wurde, als dass die weniger provokative Variante (»mehr lieben«) die ursprüngliche ist und nachträglich verschärft wurde.

Nun unterscheiden sich beide Fassungen auch in Bezug auf die Verwandtenlisten: Bei Mt verlässt die mittlere Generation sowohl Eltern (»Vater oder Mutter«) als auch Kinder (»Sohn oder Tochter«), bei Lk werden nicht nur Eltern und Kinder (sowie Geschwister) verlassen, sondern auch die (Ehe-)Frau. Das bedeutet: In der lukanischen Version verlässt eine männliche Person alle anderen Mitglieder des großfamiliären Haushaltes, bei Mt jedoch ist es denkbar, dass sowohl Männer wie Frauen – oder auch Ehepaare gemeinsam – die Familie verlassen, um sich Jesus anzuschließen. Auch hier stellt sich wieder die Frage: Welche Version ist ursprünglicher? Hat Lk die Ehefrau ergänzt oder Mt sie gestrichen?

Um diese Frage zu beantworten, ist der Blick auf einen anderen, thematisch ähnlichen Logientext hilfreich. Bei dem nun folgenden Text existiert nämlich die Vorlage noch (es ist in diesem Falle der Text bei Mk), und wir können daher sehen, wie einerseits Mt und andererseits Lk mit ihrer Vorlage verfahren sind. Der Sprecher ist wieder Jesus:

Mt 19,29

Mk 10,29f.

Lk 18,29f.

Und wer Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird hundertfach emp- fangen und das ewige Leben ererben.

Es gib niemanden der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evange- liums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgun- gen - und in der kommenden Welt das ewige Leben.

Es gibt niemanden der Haus oder Frau oder Geschwister oder Eltern oder Kinder wegen des Reiches Gottes verlässt, der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der kom- menden Welt das ewige Leben.

Sowohl Mt wie auch Lk kürzen den Markustext, wohl um die Wiederholungen zu vermeiden (beide bemühen sich häufig darum, den markinischen Stil zu verbessern). Die Verwandtenlisten (hier noch erweitert um zu verlassende Häuser oder Äcker) stimmen in ihrem Personenbestand bei Mk und Mt überein, d.h. Mt hat den Text von Mk nahezu unverändert übernommen. Die lukanischen Liste jedoch ist verändert: Sie ist einerseits verkürzt (so werden etwa »Mutter oder Vater« durch »Eltern« zusammengefasst), andererseits aber erweitert: Hier begegnet uns die zu verlassende Frau wieder. Lk hat also den Text durch Hinzufügen der Frau so verändert, dass Männer die Subjekte der Handlung sind.15 Die Schlussfolgerung liegt nahe – und sie wird auch von der Q-Forschung einhellig gezogen –, dass Lk auch in dem zuvor zitierten Text (Lk 14,26) die »Frau« hinzugefügt hat. Das bedeutet aber, dass die verlassenen Frauen und damit auch die sie verlassenden Männer ein Bestandteil der lukanischen Redaktion sind. In der ursprünglichen Version wurden also (ebenso wie in Mk 10,29f.) Männer, Frauen und Paare gleichermaßen angesprochen und mit den Voraussetzungen für die Nachfolge konfrontiert.16 Den Angesprochenen wird dabei auch Lebensgewinn in Aussicht gestellt: Nach Mk 10,29f. gibt es nicht erst einen Gewinn für das ewige Leben, sondern schon »in dieser Zeit« neue Verwandte innerhalb der Jesusbewegung, die die alten (»leiblichen«) Verwandten ersetzen. Der Gedankengang erinnert an die Geschichte von den »wahren Verwandten« Jesu, die in allen drei synoptischen Evangelien überliefert ist. Dort lehnt Jesus es ab, mit seiner Mutter, seinen Brüdern und seinen Schwestern zu sprechen, und bezeichnet diejenigen, die bei ihm sind, als Bruder, Schwester und Mutter (Mk 3,31–35; vgl. Mt 12,46–50; Lk 8,19–21). Wieder sind gleichermaßen Frauen wie Männer als solche vorgestellt, die Jesus nachfolgen: Es gibt nicht nur metaphorische »Brüder« Jesu, sondern auch ebensolche »Schwestern«.17 Was hingegen hier, ebenso wie auch in der Liste der neu gewonnenen Verwandten in Mk 10,30, fehlt, ist ein »Vater« unter den neuen Familienmitgliedern: Diese Stelle ist in der Jesusbewegung Gott vorbehalten und kann deshalb nicht von einer irdischen Person besetzt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unterschiedliche Texte aus Q, Mk und Mt die aktive Teilhabe von Frauen in der Jesusbewegung bezeugen. Nur Lk ergänzt unter den zu Verlassenden die Ehefrau und zeichnet damit das Bild einer exklusiv männlichen Anhängerschaft Jesu. Wir haben es an den genannten Stellen also mit lukanischen Änderungen zu tun – und nicht mit einem zutreffenden Bild des historischen Jesus und der Jesusbewegung. Die ältesten erhaltenen Texte legen mithin Zeugnis ab von der Partizipation von Frauen in der Jesusbewegung, wobei ihnen keine spezielle oder andere Rolle zugesprochen wird als den Männern. Elisabeth Schüssler Fiorenza hat für diese Bewegung den Begriff der »Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten« geprägt, in der »die Rolle der Frauen nicht peripher oder trivial, sondern zentral und daher von höchster Bedeutung für die Praxis der ›Solidarität von unten‹« sei.18 In der Forschung gibt es inzwischen einen weitreichenden Konsens, dass Frauen zur Jesusbewegung gehörten,19 allerdings wird ihre Rolle dennoch oft in Abweichung von der der Männer beschrieben: Frauen werden eher unter den lokalen Sympathisanten und Sympathisantinnen Jesu gesucht und gefunden als im Kontext des sog. »Wanderradikalismus«.20 Man kann es sich anscheinend bei Frauen schwerer vorstellen, dass sie Familie und Haus verlassen haben, als bei Männern. Ein solchermaßen tradiertes Bild hängt u.a. mit der lukanischen Darstellung der Verhältnisse zusammen, in der männliche und weibliche Nachfolgende Jesu je unterschiedlich vorgestellt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang Lk 8,1–3, jener Text, in dem die Gestalt der Maria aus Magdala bei Lk eingeführt wird (die drei anderen Evangelien nennen ihren Namen erst später im Verlauf der Jesus-Geschichte, nämlich im Zusammenhang mit seiner Kreuzigung). Lk 8,1–3 besteht aus einem einzigen langen Satz, in dem die Bezüge der Satzteile aufeinander unterschiedlich deutbar sind:

»1 Und danach geschah es, dass er durch Städte und Dörfer wanderte, das Reich Gottes predigend und verkündigend, und die Zwölf mit ihm, 2 und einige Frauen, die geheilt worden waren von bösen Geistern und Krankheiten, Maria, genannt Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, 3 und Johanna, die Frau des Chuza, eines Verwalters des Herodes, und Susanna und viele andere (fem. pl.), die ihnen (mask. pl.) dienten / ​sie unterstützten (diakonoun) aus ihrem Vermögen / ​nach ihren Möglichkeiten (ek ton hyparchonton autais).«. (Lk 8,1–3)

Die am Ende verwendete, hier doppelt übersetzte griechische Formulierung kann sich auf Geldvermögen beziehen, aber auch in weiterem Sinne gebraucht werden. Ebenso hat auch das griechische Verb diakoneo ein breiteres Bedeutungsspektrum als das deutsche »dienen«, abgeleitet von diesem Verb existiert z.B. auch die frühchristliche Amtsbezeichnung diakonos, Diakon, ein Titel, der auch für Frauen belegt ist.21 Unklar ist dabei, auf welche Frauen sich der abschließende Relativsatz bezieht: Nur auf die »vielen anderen« oder auf alle zuvor genannten Frauen, also auch auf Maria aus Magdala? Ebenso bleibt undeutlich, ob wir uns vorstellen sollen, dass die Frauen ebenso wie die Zwölf22 mit Jesus herumwanderten: Hat Susanna ihren Ehemann verlassen? Wohnen die anderen Frauen noch an ihren angestammten Orten? Woher haben sie das Geld, wenn sie ihre Familien und Häuser verlassen haben? Und wie transportieren sie es, in einer Zeit ohne Geldautomaten und Reiseschecks? (Es kann sich bei dem »Dienen« nicht um eine einmalige Unterstützung handeln, da die griechische Verbform im Imperfekt steht und so eine wiederholte oder andauernde Handlung anzeigt.) Oder – sollte kein Geld gemeint sein – worin besteht dann die Unterstützung der Frauen? Und wer von den genannten Frauen ist geheilt worden? Gilt dies auch für Susanna, Johanna und die vielen anderen, oder nur für »einige« und Maria aus Magdala?

Alle diese Fragen beantwortet der Text nicht eindeutig und lässt so Spielräume für unsere eigene Interpretation.23 Er erweckt allerdings den Eindruck, als seien die Frauen, anders als die Zwölfergruppe, deshalb Anhängerinnen Jesu geworden, weil sie von ihm geheilt wurden. Und durch die abschließende Formulierung (»sie dienten ihnen …«) werden mindestens die zuletzt erwähnten Frauen nicht in direktem Bezug auf Jesus definiert, sondern in Bezug auf die zuvor genannte größere Gruppe, und damit in einer anderen Art von Nachfolge beschrieben als »die Zwölf«.

Es ist m. E. aussichtslos, aus der uneindeutig formulierten lukanischen Passage eindeutige Rückschlüsse auf die Verhältnisse in der Jesusbewegung zu ziehen. Vermutlich spiegelt diese Darstellung eher eine spätere Situation, in der es wohlhabende Frauen als Unterstützerinnen in den Lk bekannten hellenistischen Gemeinden gab. In den beiden zuvor besprochen Texten (Lk 14,26f. und 18,29f.) hatte sich zudem gezeigt, wie Lk ihm vorgegebene Texte dahingehend verändert hat, dass die direkte Jesusnachfolge auf Männer eingeschränkt wird, die Frauen jedoch bei Haus und Familie bleiben. Die lukanische Redaktion an diesen Stellen sollte auch gegenüber der sich in Lk 8,1–3 abzeichnenden Tendenz, zwischen männlicher und weiblicher Nachfolge abzustufen, skeptisch stimmen. (Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden uns noch weitere Texte begegnen, in denen Lk die Bedeutung der Jüngerinnen Jesu einschränkt, womit sich ein gewisses Misstrauen gegenüber der lukanischen Redaktion im Hinblick auf die Jüngerinnen Jesu nur bestätigen kann.)

Meine Skepsis hinsichtlich der lukanischen Darstellung betrifft auch die Art und Weise, wie Maria aus Magdala eingeführt wird. In Lk 8,1–3 ist zwar grammatisch unklar, ob auch sie zu den Frauen gehört, auf die sich der abschließende Relativsatz (»die ihnen dienten …«) bezieht, eindeutig ist aber, dass sie zu denjenigen gehört, die Jesus von »bösen Geistern und Krankheiten« geheilt hat, wobei die aus Maria ausgefahrenen »sieben Dämonen« die Schwere ihrer Erkrankung unterstreichen und in der Rezeptionsgeschichte u.a. zu Spekulationen über psychische Probleme Marias geführt haben. Nun ist aber diese Darstellung singulär bei Lk:24 Es gibt kein einziges von Lk unabhängiges Zeugnis für eine Erkrankung Marias. Die schon beschriebenen lukanischen Tendenzen im Hinblick auf Frauen legen zumindest den Verdacht nahe, dass Marias »Dämonen« eher der lukanischen Redaktion als der historischen Erinnerung entsprungen sein könnten. Auch wenn uns die Quellenlage keine endgültig sicheren Rückschlüsse erlaubt, so scheint es doch nicht angemessen, die singuläre Darstellung Marias in Lk 8,1–3 ins Zentrum des neutestamentlichen Bildes dieser Frauengestalt zu rücken. Aus den anderen bislang behandelten Texten konnten wir auf die aktive Partizipation von Frauen in der Jesusbewegung schließen. Dass Maria aus Magdala hier eine zentrale Gestalt war, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass ihr Name in den Frauenlisten der synoptischen Evangelien immer an erster Stelle steht; von ausschlaggebender Bedeutung für Marias Rolle im Neuen Testament sind dabei die Ereignisse rund um Ostern.

1.2. Maria aus Magdala als Zeugin der Kreuzigung Jesu

In drei von vier Evangelien des Neuen Testaments wird Maria aus Magdala erst spät im Ablauf der Ereignisse namentlich genannt. In den Kreuzigungsberichten bei Mt und Mk führt sie jeweils eine Liste von Zeuginnen des Todes Jesu an, mit der die Darstellung der Kreuzigung abgeschlossen wird:

Mk 15,40f.

Mt 27,55f.

Es sahen aber auch Frauen

von ferne zu,

unter ihnen Maria aus

Magdala

Es sahen aber dort viele

Frauen von ferne zu,

und Maria, die des Jakobus

des Kleinen

und die Mutter des Joses,

und Salome,

die ihm nachgefolgt waren

(Imperfekt),

während er in Galiläa war,

und ihm gedient hatten,

und viele andere Frauen,

die mit ihm hinauf nach

Jerusalem gezogen waren.

die Jesus aus Galiläa nach-

gefolgt waren (Aorist)

und ihm gedient hatten,

unter ihnen war

Maria aus Magdala

und Maria, die Mutter des

Jakobus und Josef,

und die Mutter der Söhne

des Zebedäus.

Maria aus Magdala und andere Frauen werden durch die Verben »nachfolgen«. (akolouthein) und »dienen«. (diakonein) näher charakterisiert. Beides sind Begriffe, mit denen Jüngerschaft beschrieben werden kann. Mk und Mt zeichnen allerdings ein je unterschiedliches Bild dieser Nachfolge: Mk verwendet eine Form des Verbs akolouthein im Imperfekt: Die Nachfolge ist also eine länger andauernde Handlung schon in Galiläa, die sich nur auf die namentlich gekennzeichneten Frauen bezieht. Zusätzlich werden noch weitere Frauen (»viele andere«) erwähnt, die Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem begleitet haben, von denen wir aber nicht wissen, ob sie schon zuvor in Galiläa mit ihm umhergezogen sind. Mt ändert die Verbform vom Imperfekt in den Aorist, ein Tempus, das im Griechischen im Gegensatz zum Imperfekt in sich abgeschlossene Handlungen der Vergangenheit beschreibt. Entsprechend ändert Mt auch das markinische »in Galiläa« zu »aus Galiläa«. Auf diese Weise verschiebt sich das Bild von einer andauernden Nachfolge der Frauen schon in der galiläischen Zeit zu ihrem einmaligen Mitziehen aus Galiläa nach Jerusalem und zur Kreuzigung. Die Dauer der Nachfolge Marias und der anderen namentlich genannten Frauen wird bei Mt potenziell begrenzt, allerdings fehlt eine eindeutige Aussage über die vorhergehende galiläische Zeit Jesu, womit auch hier wieder ein gewisser Interpretationsspielraum bleibt.

Nach beiden Darstellungen ist eine Gruppe von Frauen schon längere Zeit mit Jesus auf dem Weg, bevor einige von ihnen im Evangelium erstmals namentlich erwähnt werden; aus dem markinischen Text kann man sogar schließen, dass die Frauen nahezu über die gesamte Zeitspanne des im Evangelium erzählten Geschehens als Anwesende vorzustellen sind. Warum werden sie dann erst an dieser Stelle namentlich in die Erzählung eingeführt?

Die Antwort ist in diesem Falle eindeutig: Weil die männlichen Jünger abwesend sind. Petrus hat Jesus verleugnet, Judas ihn an die Römer ausgeliefert und die Jünger sind bei seiner Verhaftung geflohen (vgl. Mk 14,50; Mt 26,56). Nachdem Mk und Mt solches berichtet haben, bleiben ihnen nur die Frauen als Zeuginnen der Kreuzigung übrig; und jetzt erst wird – innerhalb des androzentrischen Sprachgebrauchs der Evangelien – die Namensnennung narrativ notwendig. Von der Logik der Erzählung her ist an dieser Stelle die Anwesenheit von Personen aus der Jesusbewegung von Vorteil, da sich ansonsten für die Lesenden das Problem stellen würde, woher denn die genauen Informationen über die Kreuzigung stammen sollten. Doch spricht einiges dagegen, die Abwesenheit der Jünger und die Anwesenheit der Frauen insgesamt für eine literarische Fiktion zu halten. Das Berichtete ist nämlich für die männlichen Jünger Jesu, die ja zum Teil nach Ostern ein wichtige Rolle in der Gemeinde spielten, so wenig ruhmreich, dass es auf historische Erinnerung zurückgehen dürfte: So lässt es sich etwa kaum vorstellen, dass die Geschichte von der Verleugnung Jesu durch Petrus erst nachträglich erfunden sein könnte.25