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Ost-Berlin, Anfang der 60er-Jahre: Als ihr Bruder Dieter wegen Staatsverleumdung zu vier Jahren Haft verurteilt wird, ist Maria geschockt und hilflos. Dann lernt sie Paul kennen. Die beiden werden ein Paar – und Marias Ahnung bestätigt sich: Paul war als Richter verantwortlich für den Schuldspruch ihres Bruders. Manfred Bieler erzählt aus der Perspektive der zwanzigjährigen Maria von ihrer Zerrissenheit zwischen Loyalität ihrem Bruder gegenüber und Liebe zu dem systemtreuen Paul. Eine literarische Auseinandersetzung mit der DDR-Strafjustiz – und zugleich eine wunderbar erfrischende, witzige und zugleich bewegende Geschichte über Liebe in einem totalitären Staat. Der DEFA-Film Das Kaninchen bin ich nach dem Drehbuch von Manfred Bieler wurde 1965 in der DDR berühmt, weil er sofort verboten wurde. Vier Jahre später erschien der Roman in der Bundesrepublik.
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2025
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MANFRED BIELER, geboren 1934 in Zerbst (Anhalt), studierte Germanistik an der Humboldt-Universität Berlin. Seine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Schriftstellerverband der DDR verlor er wegen seines Protests gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes. 1964 zog er nach Prag, 1968 siedelte er, durch seine Frau inzwischen tschechoslawakischer Staatsbürger, in die Bundesrepublik über. Er ließ sich in der Nähe von München nieder, wo er 2002 starb. Bieler hinterließ ein umfangreiches Werk an Hörspielen, Drehbüchern und Romanen, mit denen er in den 70er- und 80er-Jahren in der Bundesrepublik große Erfolge feierte.
Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich
Roman
von
Manfred Bieler
Mit einem Nachwort von Stefan Wolle
Jaron Verlag
Zu dieser Ausgabe: Grundlage des Textes ist die 1969 im Biederstein Verlag, München erschienene Erstausgabe. Die Rechtschreibung wurde größtenteils der heute üblichen angepasst, offensichtliche Fehler verbessert, manche Eigenarten aber auch beibehalten.
1. Auflage 2024
Jaron Verlag GmbH, Berlin
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin
Satz und Layout: Prill Partners|producing, Barcelona
Lithografie: Bild1Druck GmbH, Berlin
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
ISBN 978-3-95552-082-3
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Nachwort
Anmerkungen
Ich heiße Maria Morzeck.
Wenn ich einen Roman schreiben wollte, würde ich anders anfangen. Aber ich brauche mir ja nichts aus den Fingern zu saugen. Ich schreibe einfach, was ich selber erlebt habe und worüber ich mit keinem reden kann, weder mit Edith noch mit Tante Hete, obwohl die die einzigen wären, mit denen es vielleicht ginge. Aber denen fehlt da anscheinend ’ne Antenne.
Wenn ich mir’s richtig überlege, schreibe ich eigentlich bloß für mich. Damit ich nicht wahnsinnig werde. Wenn ich früh, so um viere rum, nach Hause komme, stelle ich mich vorn Spiegel und sehe mir mein Gesicht an. Im Winter ist es noch zu dunkel, da muss ich meine Nachttischlampe anknipsen, aber im Sommer, so wie jetzt, ist es schon hell genug. Und auf einmal kriege ich keine Luft mehr, mir wird schwindlig, ich kann kaum noch atmen, als ob ich ’n Korken im Hals hätte – ich renne ans Fenster und reiße es auf. Aber so geht’s ja nicht weiter, nicht ewig.
Jetzt habe ich einen Bogen in die Schreibmaschine gespannt und schreibe. Mal sehn. Vielleicht hilft’s. Vielleicht wird’s besser davon. Wenn das jemand anders zu lesen kriegt, kommt ihm wahrscheinlich alles ganz albern vor, weil’s ja doch nichts weiter ist als ein bisschen Liebe und ein Haufen Ärger, ich will mal sagen: kein Buch mit Sonnenaufgang oder -untergang, mit Natur und Wolken und wie der Wind über die Heide pfeift, wo ich mich immer frage, wer sich dafür interessiert. Ich jedenfalls nicht. Das ist nicht mein Bier. Bei sowas blättere ich immer gleich weiter, denn Himmel und Sterne lassen mich verhältnismäßig kalt. Ich möchte lieber wissen, was sich die Leute zu sagen haben, wenn sie im Bett liegen und das Drumunddran vorher und nachher, oder so Sachen aus dem Krieg oder wenn einer den andern umbringen will, denn das sind Lagen, in die man selber kommen kann, wenn man nicht aufpasst. Oder eben von Sitten und Gebräuchen fremder Völker – da lernt man nie aus. Edith, meine Nachbarin, die kringelt sich immer vor Lachen, wenn sie darüber was liest. Dabei hat es doch sicher seinen Sinn, wenn anderswo die Leute sich die Schädel rasieren oder sich eine Blume aufs Knie tätowieren lassen. Nur erwarte niemand vom Rest der Welt, dass er auch jeden Morgen in eine Textilbude nach Lichtenberg saust, weil der Quartalsplan an Herrensakkos vorfristig erfüllt werden muss. Oder etwa als Kellnerin in so einem Bums arbeitet wie ich.
Habe ich eigentlich schon gesagt, dass ich am Oranienburger Tor wohne? Nein? Also das ist wichtig. Nicht weil das die Ecke ist, wo aus der Friedrichstraße die Chausseestraße wird, rechts biegt die Wilhelm-Pieck-Straße ab, frühere Elsässer, und links die Hessische, sondern weil ich da wohne und weil ich da sogar geboren bin. Und zwar genau vor einundzwanzig Jahren: am zehnten Mai neunzehnhundertzweiundvierzig. Über meine Eltern brauche ich nicht lange zu reden, weil sie beide tot sind. Ich weiß nur Gutes über sie, und das lockt keinen hinterm Ofen vor. Mein Vater war Vertreter, meine Mutter war Verkäuferin, und mein Vater blieb mit seinem Musterkoffer so lange vor der Drogerie stehn, wo meine Mutter arbeitete, bis sie verlobt waren. Mein Vater wusste, was er wollte. Zwei Jahre später wurde Dieter geboren, mein Bruder, dann kam ich und dann Antje. Die ist jetzt im Westen, hat’n reichen Kerl geheiratet mit’m weißen Sportwagen und’m Autoverleih in Stuttgart (»Vom Baum in den Cadillac«); leider kuckt ihm das Knie schon durch den Kopf, und auf dem einen Auge schielt er, doch auf den Fotos erkennt man nie, ob auf dem rechten oder auf dem linken, aber das macht meine Schwester alles wieder wett: Oberweite achtundneunzig und Taillenweite zweiundsechzig. Ich hatte immer das Gefühl, als wäre ich ein bisschen intelligenter als sie, aber nach klugen Frauen drehen sich die Männer nun mal nicht um. Damit will ich nicht etwa sagen, ich sei ein hässlicher Vogel. Ich komme nach meiner Mutter, und hinter der waren sie alle her. Sie wusste selber nicht warum. Vielleicht deswegen. Meine Mutter spielte sehr schön Klavier, und wenn sie besonders gute Laune hatte, nur auf den schwarzen Tasten. Was andere davon halten, ist mir schnuppe, für mich wird das, solange ich lebe, eine Glanzleistung bleiben. Ich stellte mich immer neben sie, und wenn sie fertig war, legte sie den Arm um mich rum, und ich fiel mit dem Gesicht auf ihre Schürze. Sie trug so rotblaukarierte Schürzen, die rochen nach Leberwurst und Zwiebeln. Wenn meine Mutter wollte oder wenn sie ’n Kleinen getütert hatte, klappte sie zwischendurch den Klavierdeckel zu, schlug mit den Fingern aufs Holz und sang die Melodie weiter, bis der Deckel plötzlich hochflog und der alte Kasten wieder dröhnte, dass die Nachbarn an die Wand bummerten.
Mein Vater ist gefallen, und als meine Mutter gestorben war, zog Tante Hete zu mir. Tante Hete hieß eigentlich Hedwig, aber alle sagten Hete zu ihr, bloß ich musste, genau wie mein Bruder und meine Schwester, »Tante« davorsetzen. Tante Hete war seit ihrem dreißigsten Geburtstag immer dicker und dicker geworden, aber nicht vor Glück wie andere Frauen, sondern vor Kummer und weil sie Torte aß. Sie war mit einem Bruder meiner Mutter verheiratet gewesen oder vielleicht war sie’s noch – jedenfalls, der wanderte eines schönen Tages nach Amerika aus, nahm Tante Hete aber nicht mit. Er schrieb zweidreimal, er wolle sich eine neue Existenz gründen und Hete nachholen. Dann schrieb er überhaupt nicht mehr.
Tante Hete sagte später mal zu Mama: »Dass er abgehauen ist, war nicht das Schlimmste. Bloß diese dusslige Briefeschreiberei hätte er sich schenken können. Das war doch so ’ne Art Rückzieher, und ich habe ’ne Weile wirklich geglaubt, ich fahre nach Amerika.«
»Was wolltest du denn in Amerika?«, fragte Mama.
»Na eben!«, sagte Hete und lachte, aber wohl war ihr nicht dabei, denn sie marschierte gleich in die Küche und fuhrwerkte mit solcher Gewalt im Geschirr herum, dass zwei Abendbrotteller zu Bruch gingen. Aber zwei Teller gegen Amerika – was ist das schon?
Als Mama beerdigt wurde, war ich siebzehn, und Tante Hete kaufte mir, als wir vom Friedhof nach Hause gingen, meinen ersten Lippenstift. »Bist ja nu balde ’ne Frau«, sagte sie.
Antje, die damals erst fünfzehn war, kriegte das große Heulen, weil für sie nur ein Paar Zopfhalter abfielen. Zu Hause setzten wir uns um den gelben Kacheltisch, Tante Hete hatte sich unterwegs mit einer Flasche Himbeergeist versorgt und goss sich ab und zu was in ihren Stamper. Antje und ich hatten in den letzten drei Tagen so viel geweint, dass wir keine Träne mehr rausbrachten, aber Tante Hete, während sie auf dem grünen Sofa in ihrem schwarzen Kleid saß, holte alles nach. Natürlich weinte sie hauptsächlich, weil Mama gestorben war, weil wir beide nun Waisen waren, Antje und ich (mein Bruder zählte für sie irgendwie nicht richtig mit), weil sie sich nun um uns kümmern musste, sonst hätte uns die Fürsorge geholt, aber bestimmt weinte sie auch, weil sie so dick war und weil Onkel Gustav sie verlassen hatte und weil man vom Himbeergeist, wenn er nicht gut destilliert ist, Sodbrennen kriegt und auch weil schon Winter war, und Mama immer im Sommer sterben wollte, denn der Sommer war ihre liebste Jahreszeit, meine auch.
Dabei sagte Tante Hete überhaupt nichts, aber soweit war ich mittlerweile, dass ich wusste: Wenn man um einen einzigen Menschen weint, heult man gleich alles mit weg, was einem gerade einfällt.
Mit Puppen spielte ich schon ein paar Jahre nicht mehr, und Antje wollte es mir nachmachen, aber sie wusste überhaupt nicht, was sie mit ihrer Zeit ohne Puppen anfangen sollte. Deswegen spielte sie immer heimlich mit ihnen und versteckte sie, wenn ich nach Hause kam. Ich tat natürlich so, als ob ich es überhaupt nicht merkte, aber als Antje dann mitkriegte, dass ich es merkte, es mir aber bloß nicht merken ließ, nahm sie übel und zerriss mir aus Versehen ein Paar Strümpfe, die gut und gerne ihre acht Mark gekostet hatten (Kunstseide).
Nach Mamas Tod hätte ich ja am liebsten mit der Schule aufgehört, aber Tante Hete bestand darauf, dass ich das Abitur machte – eben weil Mama es so gewollt hatte. »Du wirst mal Doktor«, sagte Tante Hete.
»Ich heirate lieber ’n Doktor«, sagte ich. »Den Doktoren blasen se den Zucker in’n Arsch.« Das hatte ich von Herrn Liebold, vom Lebensmittelgeschäft in der Novalisstraße.
»Na, nimm dir bloß nicht zu wenig raus«, sagte Tante Hete philosophisch.
Inzwischen, bis es soweit war, ließ ich mir die Haare weiter wachsen, bis sie dahin reichten, wo ich sie hinhaben wollte. Die Augenbrauen über der Nasenwurzel zupfte ich weg, denn man sagt ja, dass Menschen, denen die Brauen zusammenwachsen, unglücklich enden, und ich wollte niemandem einen Schreck einjagen. Dass ich nicht ganz ohne war, merkte ich zum ersten Mal richtig im Russisch-Römischen Bad. Ich war mit Brigitte hingegangen. Alleine hätte ich mich nie getraut. Damals war ich erst fünfzehn oder sechzehn. Brigitte war mit ihrer Mutter dagewesen, die hatte es vom Arzt verschrieben gekriegt, und Brigitte sagte, das macht Spaß, wenn man aus dem heißen Dampf ins kalte Wasser springt.
Also – hinein! Das Stadtbad Mitte war ja gleich um die Ecke. Ich hatte mir extra frische Wäsche mitgenommen, damit ich nachher nicht wieder in die getragenen Sachen musste. Der Eintritt war für meine Verhältnisse zu teuer, aber Brigitte zahlte. Ihr Vater hatte einen Laden, wo Hunde getrimmt werden, und in den kamen die Schauspielerinnen vom Deutschen Theater und die Sänger von der Staatsoper mit ihren Pudels und Drahthaars, und die schmissen mit den Fuffzigmarkscheinen bloß so rum. Guten Morjen, Herr Kammersänger, Auf Wiedersehn, gnädige Frau, dann rollte der Rubel.
Wir waren beide in Hochhackigen gekommen, und ich wurde erst gleich mal ein paar Zentimeter kleiner, als ich in die kalten und nassen Holzlatschen treten musste. Ich dachte, man könnte wenigstens, bis man im Wasser ist, die Hosen anbehalten, aber nitschewo. Wir hängten unser bisschen Garderobe in die Blechspinde, hakten uns das Schlüsselkettchen um die Handgelenke und knallten mit unseren Pantinen über die Fliesen, in der linken Hand das Handtuch, in der rechten die Seife.
Auf den Bänken rings um das Kaltwasserbecken saßen drei oder vier nackte Frauen, aber ich traute mich nicht richtig hinzusehen. Dafür schrubbte ich Brigitte den Rücken und fand sie traumhaft, denn was bei mir noch ziemlich knochig war, war bei ihr schon rund, und ihre Brüste waren richtig groß und zum Anfassen. Bei mir spielte sich noch nicht viel ab. Zwei Esslöffel voll, bestenfalls. Allerdings ging Brigitte auch an den Hüften sehr in die Breite, während ich schmal war und geblieben bin, was Paul ja auch sehr gefiel, aber was heißt hier Paul? Damals gab’s noch gar keinen Paul, höchstens einen Heinz, der mich ab und an vom Kino nach Hause schleifte und sich mit mir im Hausflur so lange kabbelte, bis ich ihm endlich einen Kuss gab. Das war die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden, denn danach ließ er mich immer sofort stehen, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Gute Nacht, Märeia!« Er wollte nie fummeln und an richtig Körpern war bei ihm überhaupt nicht zu denken. Er hatte was davon, wenn er meinen Namen englisch aussprach, und wahrscheinlich dachte er sogar, dass er dadurch bei mir ankam, aber von mir aus konnte er’s auch chinesisch sagen: Er hatte einfach zu viel Pickel.
In der Dampfkammer dachte ich, ich sterbe.
»Durch die Nase atmen«, zischte Brigitte, weil sie den Mund nicht aufmachen wollte. Ich presste die Lippen zusammen und sog den ganzen nassen Qualm ein, der aus irgendeinem Loch in der Wand kam. Dann setzte ich mich neben Brigitte auf ein Holzbrett und gewöhnte mich langsam daran, dass ich keine Luft mehr kriegte. »Der Mensch jewöhnt sich an allem«, sagt Herr Kleeberg immer, »sojar am Dativ.«
Jeder kann sich vorstellen, wie’s in so einer Art Sauna aussieht, wenn da zehn nackte Frauen drinsitzen und schwitzen. Jeder. Bloß eine Fünfzehnjährige kann das nicht. Ich dachte: Die sind gar nicht von hier. Solche Menschen wie die gibt’s gar nicht, vielleicht in Strausberg oder in Bernau, aber doch nicht in Berlin, Berlin-Mitte!
Bis ich unsere Briefträgerin erkannte, Frau Fentzke. Die winkte mir rüber, während sie sich kaltes Wasser auf die Waden spritzte. Ich wollte sie gar nicht wiedergrüßen, aber dann habe ich doch genickt. Ich stieß Brigitte an, der das Wasser von der Stirn in die Augen und von den Augen auf die Nase lief, und wir gingen raus. Noch einmal unter die Dusche, und dann ins kalte Wasser. Alle Achtung – das war prima. Wir setzten uns auf den Rand und plantschten mit den Beinen, bis uns zwei Großbusen verwarnten, da rissen wir die Arme hoch und schmissen uns ins Wasser, dass es überschwappte.
In der trockenen Hitzekammer saß Frau Fentzke direkt an der Heizung und las die Wochenpost. Ich hätte mich am liebsten gleich wieder verkrümelt, denn immerhin war sie doch unsere Briefträgerin und man hätte vielleicht später so’n komisches Gefühl, wenn sie wieder mal Post von Dieter brächte, aber sie winkte mich und Brigitte zu sich ran, und wir mussten uns neben sie setzen.
»Wieviel willst du denn noch abnehmen?«, fragte sie mich.
»Ich?«, sagte ich. »Ich will doch gar nicht abnehmen. Ich bin dünn genug.«
»Russisch-Römisch ist für dicke Weibers«, sagte Frau Fentzke, »wie für mich.«
»Aber Frau Fentzke«, sagten Brigitte und ich aus einem Mund.
»Steh mal auf!«, sagte Frau Fentzke.
Ich stand auf und faltete die Hände überm Bauch. Hätte ich einen Badeanzug angehabt, wäre mir wohler gewesen, so schämte ich mich fürchterlich und wusste nicht, wohin mit meinen Fingern.
»Du wirst mal ganz gut«, sagte Frau Fentzke, »dir fehlt bloß noch’n bisschen Hüftspeck.«
Was mir sonst noch fehlte, sagte sie nicht, aber ich konnte es mir denken, wenn ich Brigitte ansah. Ein bisschen beleidigt war ich auch. Wenn sie schon was an mir rumzumeckern hatte, dann sollte sie wenigstens aufhören, mich zu duzen.
Mein Bruder Dieter wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Zur Verhandlung fuhren wir mit dem Neuner-Bus in die Littenstraße. Tante Hete und ich saßen im Oberstock, weil man da die Fenster aufmachen konnte. Der Wind trocknete einem wenigstens das Gesicht ab, aber der Rücken blieb klatschnass, wohl auch vor Aufregung, denn wir wussten, dass Dieter einiges bevorstand. Wenn bei uns einer länger als ein halbes Jahr in Untersuchungshaft bleibt, riecht das nicht grade nach Freispruch.
Dieter war ein fixer Junge, für die hiesigen Verhältnisse aber ein bisschen zu fix. Er hatte Fernsehmonteur gelernt und war von uns weggezogen, weil er es in dieser Weiberwirtschaft, wie er sagte, nicht länger aushielt. Grundsätzlich hatte er natürlich gar nichts gegen »Weiber«, ganz im Gegenteil, aber wir, Antje und ich, waren eben »Zicken« und Tante Hete seine »Olle«. Eigentlich wussten wir nicht viel mehr von ihm, als dass er in Schöneweide arbeitete und da auch eine Bude hatte, und als ich ihn mal besuchte, unangemeldet, hatte er grade Besuch von Hella. Dass sie so heißt, erfuhr ich erst später. Er stellte sie mir damals überhaupt nicht vor. Sie lag auf dem Sofa, las die Constanze und klapperte bloß zweimal mit den Augendeckeln: einmal, als ich kam und das andere Mal, als ich wieder ging. Nach seiner Verhaftung kamen zwei Männer zu uns. Tante Hete in ihrer Unschuld dachte, die kämen von der Kommunalen Wohnungsverwaltung und wollten die Miete kassieren. Natürlich kamen die beiden direkt aus der Normannenstraße, und während Hete immer noch nach den alten Quittungen suchte, sagte der eine, ganz höflich: »Fräulein Morzeck«, sagte er, »können Sie uns sagen, mit wem Ihr Bruder befreundet war?«
Nun wusste ich ja aus’m Kino, dass es erstmal das beste ist, wenn man im Umgang mit der Polizei sagt, dass man gar nichts weiß, keinen kennt und nirgendwo was gesehen hat. Aber im Kino sagt sich das eben viel leichter.
So nach und nach nannte ich den beiden ein paar Namen, die ich aus Dieters Schwimmverein kannte und wo ich wusste, die Jungens waren sauber. Aber die mussten sie wohl alle schon kennen, denn sie schrieben sich nichts auf, obwohl der eine ’n kleinen Notizblock auf’m Knie hatte.
»Was ist denn mit meinem Bruder?«, fragte ich.
Sie sahen sich an, als überlegten sie, ob sie mir so’n großes Geheimnis anvertrauen dürften. Endlich sagte der mit’m Block:
»Wir mussten ihn verhaften.«
»Hat er geklaut?«
Der ohne Block schüttelte den Kopf.
»Achso, politisch«, sagte ich.
»War Ihr Bruder häufig in West-Berlin?«, fragte der andere, ohne auf meine Anspielung zu reagieren.
»Weiß ich nicht.«
»Sie wollen uns also nicht helfen?«
Nachtigall, sagte ich mir, die scheinen noch nicht allzuviel zu wissen. Das Dumme ist bloß, dass ich auch nichts weiß. Absolut nichts. »Sehen Sie mal«, sagte der mit dem Block und legte seine Stirn in Falten, »Ihr Bruder ist erst zwanzig Jahre. Er hat noch das ganze Leben vor sich. Aber er ist in eine dumme, in eine sehr dumme Geschichte – wie soll ich mal sagen –»
»Verwickelt«, schlug der ohne Block vor.
»Ja«, sagte der mit dem Block, »oder sagen wir mal: reingerutscht, bildlich gesprochen. – Uns interessiert doch nicht nur, was ihn belastet. Wir wollen auch erfahren, was er überhaupt für ein Mensch ist. Was er verbrochen hat, wissen wir sowieso. Sonst hätten wir ihn ja nicht eingesperrt.«
Was war mein Bruder »überhaupt für ein Mensch«? Für sein Alter ein bisschen klein, schwarze Haare, wie ich, konnte Radios reparieren, war nie sitzengeblieben und schwamm hundert Meter Kraul in einer Minute eins Komma vier Sekunden. Das war damals schon ein Rekord. Er ging oft in West-Berlin ins Kino, aber in die guten Sachen, Die Caine war ihr Schicksal, Die Nackten und die Toten und sowas. Einmal hatte er mir mit ’ner Luftdruckpistole ’ne Stecknadel in den Arm geschossen, und als er sie wieder rausziehen wollte, brach er sie ab und ich musste in die Charité, wo mich der Unfallarzt tranchierte wie ’ne Weihnachtsgans. Davon habe ich heute noch eine Narbe, ganz schön, sieht aus wie ein Seeigel, die Lieblingsnarbe von Paul … aber was sollte ich denn bloß über meinen Bruder erzählen?
»Er war voriges Jahr Aktivist«, sagte ich.
»Das wissen wir«, sagte der mit dem Block.
»Er hat uns außerdem immer geholfen.«
»Wieviel hat er Ihnen monatlich gegeben?«
»Er gab’s immer unserer Tante … Frau Hentig.«
»Tja, Fräulein Morzeck«, sagte der ohne Block, »dann werden wir mal wieder gehn.«
Er stand auf, der andere steckte seinen Block ein, und beide setzten ihre grauen Hüte auf. Jetzt sahen sie gar nicht mehr freundlich aus, und man konnte ihnen schon auf hundert Schritt anmerken, woher sie kamen. Sie waren sich ähnlich wie zwei Mäuse.
»Können wir ihn wenigstens mal besuchen?«, fragte ich.
»Ihren Bruder?«, fragte der ohne Block mit solcher Betonung, als käme er jetzt erst wieder drauf, warum er eigentlich hier war.
»Ja«, sagte ich, »meinen Bruder.«
»Das ist leider nicht möglich«, sagte er. »Aber wenn Sie uns etwas mitzuteilen haben, hier ist unsere Telefonnummer. Rufen Sie da an und verlangen Sie einfach den Genossen – äh – Herrn Bartsch.«
Er gab mir eine kleine Karte. Sie hoben beide ihre Hüte an und gingen raus, ohne mir die Hand zu geben. Von Tante Hete verabschiedeten sie sich auf die gleiche Weise, verbeugten sich aber ein bisschen dabei.
Ich weiß nicht, wie man heute ein Gericht baut. Vielleicht ein bisschen freundlicher. Früher machten sie es jedenfalls so, dass jeder, der bloß mal reinkam, gleich das Gefühl haben musste, er wird zum Tode verurteilt.
Antje war zu Hause geblieben. Tante Hete hatte sich wieder ihr schwarzes Kleid angezogen, diesmal aber den weißen Kragen drangelassen. »Man muss ihm doch Mut machen«, hatte sie gesagt, als sie ihn plättete. Ich trug eine weiße Bluse und einen blauen plissierten Glockenrock. »Die Strafsache Morzeck«, sagte der Pförtner, nachdem wir ihm unsere Ausweise gezeigt hatten, »zweiter Stock!«
Er sagte uns die Saalnummer, aber die habe ich vergessen. Tante Hete fragte nach’m Fahrstuhl, doch entweder gab’s wirklich keinen oder der war reserviert für die Angestellten – wir mussten zu Fuß in die zweite Etage, und Tante Hete machte auf jedem Absatz halt, weil ihr die Puste ausging.
Natürlich waren wir eine halbe Stunde zu früh gekommen, aber der Wachtmeister war so freundlich und ließ uns schon in den Saal gehn. Tante Hete langte eine Flasche Kölnisch Wasser aus der Tasche, kippte sich was ins Taschentuch und wischte sich und mir die Stirn damit ab. Über dem Richtertisch hing das Bild des Präsidenten mit ’ner Perle im Schlips. Er sah uns ernst, aber nicht unfreundlich an, und trotzdem waren wir so beklommen, das wir nicht miteinander sprachen, Tante Hete und ich. Dabei musste ich so dringend auf die Toilette. Nach fünf Minuten hielt ich es nicht mehr aus.
»Ich gehe mal raus«, sagte ich leise zu Tante Hete. Der Wachtmeister zeigte mir, wo die Damentoilette war, und ich verduftete. Als ich wieder rauskam, hörte ich einen Doppelschritt vom anderen Flurende her und blieb stehn. Dieter kam mit einem Polizisten, der ihn an der Handschelle hatte. Als sie vorm Fenster in die Sonne kamen, sah ich, wie blass er war. Der Polizist wollte mit ihm an mir vorübergehn. Dieter hielt ihn mit einem kurzen Ruck an und lächelte.
»Na, Kleene«, sagte er, aber das war dem Grünen schon zuviel.
»Nicht sprechen!«, schnauzte er und zog Dieter weiter.
»Dieter!«, rief ich ihm hinterher, aber da nahm mich der Wachtmeister bei der Hand und brachte mich in den Saal zurück.
Ich musste heulen, als ich neben Tante Hete saß, und mir war es ganz egal, dass inzwischen ein paar Leute gekommen waren, die alle miteinander so aussahen, als ob sie immer dabei sind, wenn andere verknackt werden, so ne Art Zuschauer vom Dienst.
»Er sieht schlimm aus«, sagte ich zu Tante Hete.
»Das ist ganz normal«, sagte Tante Hete, »das macht die Luft. Er war lange nicht im Freien. Hat er sich wenigstens gefreut, wie er dich gesehn hat?«
»Ja«, sagte ich, und ich konnte es selber kaum glauben, dass sich Dieter gefreut haben sollte, als er mich sah. Tante Here gab mir wieder ihr Taschentuch, und es kamen noch mehr Leute, die sich plötzlich alle für meinen Bruder interessierten.
Dann kam der Staatsanwalt, nach ihm der Verteidiger, ein Offizialverteidiger, weil wir uns keinen Rechtsanwalt leisten konnten, und schließlich mein Bruder. Ganz zuletzt kam das Gericht, ein Richter und zwei Beisitzer, wir standen alle auf, und die Verhandlung wurde eröffnet. Der Richter war ein bisschen größer als die beiden Beisitzer und schien so Ende Dreißig. Er setzte eine Brille auf und sagte, dass wir den siebenundzwanzigsten hätten und Dieter Morzeck wegen Staatsverleumdung und planmäßiger Hetze angeklagt sei. Tante Hete versuchte, Dieters Blick auf sich zu ziehn, indem sie ihre Handtasche ein paarmal auf- und zumachte und, als alles nichts half, laut in ihr Taschentuch blies, aber Dieter sah uns nur einmal eine Sekunde lang an und starrte dann auf den Vorsitzenden.
Ich glaube, Tante Hete freute sich am meisten darüber, dass Dieter nicht geklaut hatte, dass er nicht wegen irgendeiner krummen Sache, sondern wegen Staatsverleumdung angeklagt war. Das war für sie so was wie Spionage, und Spionage war ein Kavaliersverbrechen, was Besseres. Spione beziehungsweise Spionierer, wie Tante Hete sagte, trugen einen Frack, tanzten mit Diplomatenfrauen und schoben sich gegenseitig chiffrierte Meldungen unter die Kompottschalen, bis sie irgendwann in ein Geheimfach ihres Sekretärs griffen, eine Mauserpistole herausnahmen und sich eine Kugel in die Schläfe donnerten. In den meisten Fällen gelang es dann dem von Mata Hari herbeigerufenen Arzt, die Patrone mit wichtiger Miene aus der Großhirnrinde zu ziehen, und während die Dame in Ohnmacht fiel, gab der scheinbar Verblichene die ersten Lebenszeichen, etwa: »Ich tat es nur für dich«, oder: »Ich liebe meine Heimat über alles, über alles, über alles in der Welt.«
Denkste. Spion ist ein mieser Beruf und wird schlecht bezahlt, wenn man nicht zu den großen gehört. Deswegen machen ja die meisten kleinen Spione heute auch doppelte Arbeit, und wird einer erwischt, geht’s nach der Devise: Haust du meinen Agenten, hau ich deinen Agenten, und diese armen Figuren haben so viele Decknamen, dass sie sich nicht mal mehr darauf besinnen können, wie ihr eigener Vater geheißen hat. Aber Dieter war ja gar kein Spion. Das dachte bloß Tante Hete. Der Staatsanwalt erhob sich und verlangte, im Interesse der Geheimhaltung von Staatsgeheimnissen die Öffentlichkeit von der weiteren Verhandlung auszuschließen.
»Ganz richtig«, flüsterte Tante Hete, »sonst wird’s bloß unter die Leute getragen …«
Dem Antrag des Staatsanwalts wurde stattgegeben, und der Grüne, der an der Tür stand, winkte uns beiden, mir und Tante Hete, damit wir den Saal verließen.
Tante Hete drehte sich um, ob jemand anders gemeint war, aber der Wachtmeister schüttelte den Kopf, zeigte auf uns und wedelte wieder mit der rechten Hand. Wir waren ganz perplex, nickten Dieter zu und segelten ab. Komischerweise waren wir die einzigen, die rausmussten. Alle andern durften sitzenbleiben. Es gab also doch eine ganze Menge Leute, die in die Staatsgeheimnisse eingeweiht werden durften. Tante Hete und ich gehörten jedenfalls nicht dazu.
Tante Hete fragte den Grünen, ob wir zwischendurch, bis man mit den Staatsgeheimnissen fertig war, mal was essen gehen könnten, aber der Polizist meinte: »Sie brauchen überhaupt nicht wiederzukommen. Hier darf keiner mehr rein.«
»Augenblick mal«, sagte Tante Hete, »was sind denn das für Leute, die da drin sitzen? Ist das vielleicht keine Öffentlichkeit?«
»Nein«, sagte der Grüne, »die haben Einladungen.«
»Und wo gibts die Einladungen!«
»Liebe Frau«, sagte der Polizist.
»Ich habe Sie gefragt, wo’s die Einladungen gibt!«
»Ich –«, setzte der Polizist an.
»Woher wissen Sie denn überhaupt, dass die mit den Einladungen die Staatsgeheimnisse nicht weitererzählen! Was? Bei mir sind sie sicher. Ich sage nischt weiter. Ich kann schweigen wie’n Friedhof. Aber die da … !?«
»Wenn Sie keine Einladung haben, kriegen Sie auch keine. Und nu gehn Sie mal schon immer. Wir können hier nich so’n Krach machen.«
Tante Hete holte tief Luft, ließ ihren großen Busen wachsen und öffnete den Mund, aber der Grüne, ein netter, alter Opa, der so aussah, als wäre er schon beim Kaiser Gerichtsdiener gewesen, ahnte wohl, was kommen sollte.
»Sagen Sie’s nicht!«, warnte er. »Auf Beamtenbeleidigung steht Strafe.« Tante Hete ließ die Luft langsam, beinahe zögernd, wieder ab, drehte sich um, und wir gingen die schiefen Treppen hinunter zum Ausgang. An diesem Tage spendierte sie mir den ersten Kognak meines Lebens, und ich muss sagen, dass er mir gut bekam.
Im Herbst wurde ich in die elfte Klasse versetzt, obwohl ich keine große Lust hatte, weiter in die Schule zu gehn. Aber Tante Hete und Brigitte redeten mir so lange zu, bis ich schließlich ja sagte. Dass ich mich inzwischen schon bei Moden Barth um eine Stelle als Laufmädchen beworben hatte, verriet ich nicht – weil ich abgelehnt worden war. Die Chefin hatte die Lippen zusammengekniffen, mich zwanzig Sekunden lang angesehn und dann gesagt, ich wäre nicht der Typ für ihren Laden. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass meine Vorgängerin mit dreitausend Mark durchgebrannt war, nachdem sie bei fünf Pankower Damen Kleider abgegeben und gleich kassiert hatte. Später ließ ich mir dort – auf Pauls Rechnung – ein Kostüm machen, und die gleiche Chefin rutschte beim Abstecken des Saums um mich rum, hatte den Mund voller Stecknadeln und zischelte: »Ach, was ham Sie schöne Beine, Frolleinchen.« Tempora mutantur et nos mutamur in illis, sagte unser Lateinlehrer.
Dass ich an der Schule blieb, hatte aber auch noch einen anderen Grund. Wir bekamen nämlich einen neuen Sportlehrer. Ich will ihn mal »UIli« nennen, damit ich nicht etwa, wenn ihm das hier in die Hände kommen sollte, eine Verleumdungsklage an den Hals kriege – Sportlehrerverleumdung ist zwar sicher nicht so schlimm wie Staatsverleumdung, aber wer weiß Käse. Paul erklärte mir später mal, dass es in der Kriminalistik so was wie eine »schwarze Liste« gibt, oder besser gesagt: Es gibt Verbrechen, die nie aufgedeckt werden, weil sie keiner zu Gesicht bekommt. Auf dieser schwarzen Liste verdient Ulli einen Sonderplatz. Die Psychologen und die Anthropologen, die Soziologen und die Pädagogen sagen, dass es bei der heutigen Jugend die sogenannte Akzeleration gibt, so ’ne Umständlichkeit für Frühreife, womit das Problem der Entjungferung irgendwie aber immer noch nicht aus der Welt ist. Die alten Knacker stehn auf’m Katheder und predigen Aufklärung und Antikonzeptionsmittel, aber was man nun eigentlich machen soll, wenn einem jemand die Zunge ins Ohr steckt und dabei an der Hose zieht, sagen sie nicht.
Ulli wurde von den Mädchen bewundert und von den Jungens beneidet. Er hatte eine Figur wie Marlon Brando, ein Lächeln wie Burt Lancaster, eine Stimme wie Frank Sinatra und war von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. In der ersten Stunde, die wir bei ihm hatten, ließ er uns antreten, Jungen und Mädchen getrennt, und ging unsere, die Mädchenreihe, ab. Er hatte weiße Leinenhosen an und trug ein dunkelblaues Charmeusehemd mit Reißverschluss. Er hatte blondes kurzes Haar, und sein Gesicht war so braun, als ob er ein halbes Jahr unter der Höhensonne gelegen hätte. Seine Augen waren ganz hell. Ich glaube, wir kamen uns alle so’n bisschen wie auf’m Sklavenmarkt vor, und er hätte uns alle haben können, wenn er bloß mal mit den Fingern geschnippst hätte.
Aber er kommandierte nur: «Rechts um! Im Gleichschritt – marsch!« Und ließ uns das Lied »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« singen. Was er sich dabei dachte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was ich dachte, und ich kann mir ungefähr denken, was die andern dachten, denn unsere Bewegungen auf die Turnhalle zu waren alles andere als sportlich. Wir hatten eher einen etwas wiegenden Gang, aber unsere Jungens waren Gottseidank zu doof, um das zu merken, und Ulli marschierte uns voran. Die Jungens mussten am Barren und am Reck turnen, während er uns Grätschen üben und über den Bock springen ließ. Es war fürchterlich, es war schauerlich, unter seinen Augen auf diesem ekelhaften lederbezogenen Kasten sitzenzubleiben wie ein Spiegelei auf einem Filet à la Mayer. Aber er verzog keine Miene, sondern gab einem die Hand und half einem runter, dass man das Gefühl hatte, aus einer Hochzeitskutsche zu klettern.
Auf dem Nachhauseweg fragte mich Brigitte:
»Na, wie findest du ihn?«
»Och, naja«, sagte ich.
»Turnlehrer sind meistens etwas blöde«, sagte Brigitte. »Turnlehrer wird man doch bloß, wenn man zu dusslig ist, Mathematik zu geben.«
»Dafür sieht er allerdings besser aus als Doktor Ortlepp«, sagte ich, und wir mussten beide plötzlich so lachen, dass ein paar Leute auf der Straße stehenblieben. Doktor Ortlepp war nämlich schon sechzig und hatte eine Glatze wie ein Eierkuchen. Außerdem kämmte er sich die Nasenhaare in den Schnurrbart, was Brigitte und ich für das Unappetitlichste auf der Welt hielten und woran ich auch heute noch nicht ohne Gänsehaut denken kann. Doktor Ortlepp war nicht nur einfach kein Mann, er war ein Neutrum, er war durch und durch sächlich.
Zur nächsten Turnstunde erschienen alle Mädchen in tadellos FEWA-gewaschenen Trikots und auf Hochglanz gebügelten Hosen. Regine hatte sich ihre Shorts sogar um eine Handbreit kürzer gemacht, was leider sehr gut aussah.
Diesmal durften wir an den Barren; ich machte eine Welle rückwärts, dass ich selber den Atem anhielt. Allerdings war ich puterrot dabei geworden, meine Haarschleife war aufgegangen, und mir hingen die schwarzen Zotteln nach allen Seiten herum. Ich strich die Haare einfach nach hinten und stellte mich ans Ende der Reihe. Aber der Herr Turnlehrer hob die Schleife vom Boden, knotete sie auf und gab sie mir. »Es ist vielleicht besser«, sagte er, »wenn Sie sich das Haar vorläufig wieder zusammenbinden.«
»Ja, danke«, sagte ich.
»Vorläufig« hatte er gesagt. Nanu?
Im Oktober wurde Antje krank und hatte irrsinniges Fieber. Tante Hete und ich lösten uns ein paar Nächte lang ab und machten ihr kalte Umschläge. Wenn ich dachte, sie schliefe endlich fest, fing sie an zu brüllen, und ich musste wieder aus dem Bett und ihr kalte Wickel anlegen. Manchmal fantasierte sie auch, rief nach Mama und nach Dieter, aber da konnten wir ihr ja nun wirklich nicht helfen. Dabei wäre ein Mann im Haus ’ne Erlösung gewesen, denn wir kriegten uns ziemlich heftig in die Haare jetzt.
Der Arzt, den sie uns vom Rettungsamt schickten, sagte, es sei eine schwere Erkältung. Das hatten wir auch schon vorher gewusst. Nach Mitternacht, wenn Antje anfing, von Mama zu reden, dachte ich, sie sei verrückt geworden. Sie unterhielt sich mit ihr, als säße sie am Fenster und könnte alles hören und sehn. Ich hielt mir die Ohren zu und drückte den Kopf ins Kissen. Diese vierzehn Tage werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich hatte richtig Angst um die Kleine, denn immerhin war sie meine einzige Verwandte, denn Hete war doch nur angeheiratet, und Dieter saß in Brandenburg, und wenn sie sich jetzt mit ihrem Autoverleiher in Saint Tropez oder Capri rumlümmelt, dann sollte sie ruhig mal an mich denken. Nicht dass ich irgendwas von ihr brauche – nein! Bloß so. Mir ist überhaupt immer noch schleierhaft, wie aus dieser Göre ein Fotomodell werden konnte – mit diesen Segelohren und Mausezähnen! Aber so weit sind wir ja noch gar nicht.
Klar, dass ich in dieser Zeit mit Schularbeiten nicht nachkam. Ich schrieb also von Brigitte ab und sah aus wie der Retorten-Mensch in dem amerikanischen Film Die grüne Spinne, mit dem Unterschied, dass ich kein Mann, sondern eine Frau war, naja, schön: ein Mädchen.
Ich hatte schwarze Ringe um die Augen, aber das war zu der Zeit noch nicht modern, das kam von meinen Nachtwachen. Einer von den Jungens fragte mich, wie lange ich so im Durchschnitt auf’n Freier warten muss, am Oranienburger Tor. »Ich schaffe zehne in der Stunde«, antwortete ich. »Bei mir macht’s die Menge, nicht die Qualität!« Er wurde rot und drehte ab, aber ich hab mir das gemerkt. Auf die Weise wird man die Brüder am besten los: wenn man sie übertrumpft. Hätte ich sagen sollen: Ich muss die ganze Nacht bei meiner kleinen Schwester sitzen, damit sie meiner Mutter nicht Gesellschaft leistet …? Nee. Er hätte meine Mutter und meine Schwester auch noch in’n Dreck gezogen. Gleich Saures und eins übers Maul, und fertig. Penner.
Gottseidank sind nicht alle so. Ulli zum Beispiel war anders. Er nahm mich in einer Turnstunde beiseite, und während wir beide zusahen, wie die anderen in den Ringen schaukelten, fragte er:
»Was ist denn mit Ihnen los, Maria? Mit Ihnen stimmt doch was nicht?« Ich dachte, er könnte an meinem Turnhemd sehn, wie mir das Herz schlug, aber ich stotterte tapfer:
»Ich musste mich die letzten Tage immer um meine Schwester kümmern. Die war so krank. Ich hab kaum geschlafen.«
»Und? Ist sie wieder gesund?«
»Ja.«
Plötzlich spürte ich seine Hand auf meinem Rücken, und ich dachte, ich kippe aus den Latschen. Seine Hand lag genau unter meinen Schulterblättern. Ich wollte einen Schritt nach vorn machen, aber ich konnte meine Füße nicht anheben. Ich kam mir vor wie mein eigenes Standbild.
»Heute abend, acht Uhr, in der Derby-Diele?«, fragte er.
»Das ist zu spät«, sagte ich leise. »Lieber um sechs. Wir könnten ja ins Kino gehn.«
»Gut«, sagte er, »um sechs, am OTL.«
Er drehte sich ab, nahm seine Hand mit und knöpfte sich am andern Ende der Turnhalle die Jungens vor, die zu fünft am Reck schaukelten und die Beine ineinander verhakt hatten.
Ich versuchte meinen ersten Schritt. Es ging. Ich ging. Ich konnte wieder laufen. Wie durch ein Wunder musste ich in dieser Stunde nicht nochmal über den Bock springen. Ich glaube, ich wäre drauf liegengeblieben und hätte mich von ihm wegtragen lassen, auf seiner rechten Hand. Am Nachmittag, zu Hause, fiel mir ein, dass ich zu weit gegangen war. Viel zu weit. Er hatte mich ja nur gefragt, ob er sich mit mir in der Derby-Diele treffen könnte. Vielleicht hatte er mit mir über meine Schwester reden wollen. Vielleicht hatte er mir nur sagen wollen, dass die anderen Lehrer anfingen, sich wegen meiner Leistungen bei ihm zu beschweren. Vielleicht wollte er … Aber ich musste ihm natürlich gleich das Kino anbieten. (Du kriegst nie’n Hals voll, hatte Dieter immer zu mir gesagt, als er noch bei uns wohnte.) Und selbst wenn er mit mir ins Kino wollte, der Vorschlag musste doch von ihm kommen. Ach, war ich doof. Die dreihundert Meter von unserer Wohnung bis zum OTL schlich ich hin wie beidseitig gelähmt. Auf den Gedanken, ihn sitzenzulassen, kam ich gar nicht, dazu gefiel er mir zu sehr, und schließlich war er mein Lehrer. Ich musste ja nicht damit rechnen, nächste Woche als Pökelfleisch im Konsum zu stehn wie die Bräute von Denke und Haarmann. Ich machte vor jeder Auslage halt, bekuckte meine geschminkten Lippen und hob die Beine nach hinten, ob die Naht gerade war. Meine Haare hatte ich hochgebunden. Und da kam er mir schon entgegen. Ich weiß nicht mehr, wie der Film hieß, ich erinnere mich nur, dass wir in der letzten Reihe saßen und uns knutschten, bis ich geschwollene Lippen hatte. Es war noch gar nicht richtig dunkel, da hatte er schon den Arm um mich gelegt. Er flüsterte mir ins Ohr:
»Machst du dir was aus Kino?«
»Nein«, sagte ich und drehte ihm das Gesicht zu. Und in dieser Haltung blieb ich auch zwei Stunden, nur nach dem Vorfilm und dem Augenzeugen setzten wir uns ein paar Minuten brav hin und sahen geradeaus, als hätten wir überhaupt nichts miteinander zu tun. Wir küssten uns bloß mit den Knien. Als es dunkel wurde, fielen wir wieder übereinander her.
Um ganz ehrlich zu sein: So wie an diesem Abend habe ich nie wieder geküsst, und schon gar nicht im Kino. Vielleicht kommt das auch daher, dass ich später mit einem andern gar nicht gern ins Kino gegangen bin, weil ich Angst hatte, er könnte an mir rumtatschen, ehe er mir einen Kuss gab, und dann hätte ich an Ulli denken müssen, und dann wäre sowieso schon Feierabend gewesen.
Ich weiß gar nicht, worüber ich mit Ulli eigentlich geredet habe. Er war einer von denen, die eine Frau nicht ins Bett quasseln, sondern ins Bett legen. Paul war da ganz anders, aber das kann man wieder nicht vergleichen. In Ulli war ich verknallt, auf den flog ich, der konnte mich haben gekocht und gebraten und als Nachtisch dazu. Paul, den habe ich wahrscheinlich richtig … Wegen Ulli wäre ich keine zwanzig Minuten mit der Straßenbahn gefahren, aber für Paul hätte ich einen Fußmarsch nach Leipzig und wieder zurück gemacht. Ulli brauchte mir bloß den Rücken zu streicheln, und ich sah mich gleich nach irgendwas um, wo ich mich drauflegen konnte. Paul – das passt eben nicht in denselben Topp. Auf Ulli war ich scharf, aber den andern hatte ich sowieso immer unter der Haut. Man kann’s auch so sagen: Der eine war stramm, und der andere war stark. Vielleicht so. Aber Paul war eben auch schwach.
Am nächsten Tag kam ein Brief von Dieter. Tante Hete gab ihn mir ohne ein Wort. Sprach den ganzen Tag nicht mit mir. Ich war erst gegen eins nach Hause gekommen. Sie hatte auf mich gewartet. Als ich mich hinlegte, ging sie nochmal in die Küche, bloß um mir klarzumachen, dass sie noch nicht geschlafen hatte. Offengestanden: Ich weiß auch nicht, was ich an Ihrer Stelle getan hätte. Hätte sie mich geohrfeigt, wäre ich sofort aus’m Haus gegangen, und das ahnte sie wohl. Hete war ja nicht dumm. Manchmal hatte sie einen sechsten und siebten Sinn.
Über Dieters Brief musste ich wieder heulen, weil er »liebe Maria« und »liebe Antje« und »liebe Tante Hete« schrieb. Ich wäre am liebsten nach Brandenburg gefahren mit Feile und Strick und hätte ihn rausgeholt. Er schrieb auch, dass wir ihn bald besuchen und ihm zum Geburtstag ein Päckchen schicken könnten. Es ginge ihm, den Verhältnissen entsprechend, gut, er hätte sich nie im Leben vorgestellt, dass er jemals nach uns Sehnsucht haben könnte, aber nun wäre es so weit. »Könnt Ihr Euch noch daran erinnern«, schrieb er, »wie Antje damals in Karolinenhof schwimmen gelernt hat?« (Er hatte sie nämlich vom Bootssteg einfach ins Wasser geschmissen.) »In gewisser Weise bin ich froh, dass Mama nicht mehr lebt. Es wäre, glaube ich, alles zu viel für sie. Solltet Ihr manchmal an mich denken, dann denkt nicht nur an den verfluchten Hund, der Euch so furchtbar hat sitzenlassen, sondern denkt auch an mich wie an Euren Bruder, der Euch liebt und alles wieder gutmachen will. Dieter«
Schleusen auf! Ach, du Rindvieh! Worauf hast du dich denn bloß eingelassen? Du hattest doch zwei Schwestern, die, wie Pfarrer Ewald an Mamas Grab sagte, »zu den schönsten Hoffnungen berechtigen!« Wenn du in der Klemme warst, warum bist du nicht zu mir gekommen, du Esel! Zu deiner kleinen Schwester, die damals vielleicht schon mehr von der Welt verstand als du mit deinem Getue und deinen komischen Weibern, die sich in ’ner Ruine oder auf’m Treppengeländer vernaschen lassen, aber nichts weiter als ihre doofen Illustrierten im Kopf haben. Unser Antwortbrief fiel natürlich ganz anders aus. Wir saßen zwei Abende dran, Tante Hete, ich und Antje, die es aus irgendeinem Grunde irre schick fand, dass ihr Bruder im Zuchthaus saß, weil er »dagegen« war. Als sie später in der Möwe verkehrte, durfte Dieter allerdings nicht mehr erwähnt werden. Inzwischen war sie nämlich »gedämpft fortschrittlich« geworden. Woher sie diesen Ausdruck hatte, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich von irgendeinem dieser Schauspieler, die für ihren wohltemperierten Fortschritt bekannt sind, der auch »gedünstet« oder »gegrillt« sein kann, Hauptsache die Kohlen stimmen.
Soweit ich mich erinnere, schrieben wir an Dieter:
»Lieber Dieter! Wir haben uns sehr über Deinen Brief gefreut, obwohl wir natürlich alle furchtbar geheult haben. Dass wir bei Deiner Verurteilung nicht dabei sein konnten, war ja wirklich schade. Aber wir haben alles aus der Zeitung erfahren. Maria geht jetzt in die elfte Klasse, Antje will Schneiderin lernen, und Tante Hete kocht nach wie vor die beste Bohnensuppe der Welt, wenn’s weiße Bohnen gibt. Wir versprechen Dir, dass wir immer fest an Dich denken, und wir verzeihen Dir alle Deine Sünden, wenn Du uns liebbehältst.
Deine Tante Hete, Maria und Antje.«
So etwa. Aber vielleicht auch ein bisschen anders, zum Beispiel ohne »wenn’s weiße Bohnen gibt«, stattdessen eher was über Gesundheit und Zukunft und Glück.
Sollten wir ihm denn schreiben, dass wir langsam anfingen, den Kitt aus’m Fenster zu kratzen? Oder dass Antje dauernd marode war? Dass Tante Hete Wasser in den Beinen hatte? Dass ich mit meinem Sportlehrer schlief? Na also. Ein Gefangener braucht frohe Botschaft, und das ist sein gutes Recht, selbst wenn … Aber das kommt später.
Mädchen in der Oberschule erzählen sich keine Bettgeschichten, ganz gleich, ob sie schon mal oder nicht. Im Allgemeinen ist es so, dass sie’s nie zugeben würden, selbst wenn man’s beweisen könnte. Wenn eine plötzlich anfängt, sich herauszuputzen, dass sie auf einmal einen schwarzen BH unter ’ner weißen Bluse trägt oder sich die Augen schminkt, spricht mehr für’s Gegenteil, das bedeutet eher: Ich bin auf der Jagd, aber der Hirsch schreit in einem andern Revier.
Nach der ersten Nacht mit Ulli ging ich völlig normal in die Schule, klemmte mich hinter meine Bank, stand auf, wenn ich gefragt wurde, antwortete mit soviel Verstand, wie mir übriggeblieben war, setzte mich wieder und strich den Rock glatt. Ich kam nicht im Traum auf die Idee, mich plötzlich anzumalen oder vor den andern wichtig zu tun, als hätte ich Amerika entdeckt, die Neue Welt. Manchmal merkte ich aber den Abstand zu den andern, und ich kapierte auf einmal, warum die Männer manche Siebzehnjährige so zickig finden. Wenn sie sich in den Pausen wie die Wahnsinnigen bekicherten, weil Doktor Ortlepps lange Unterhosen über die Socken schlappten, konnte ich bloß die Achseln zucken. Oder auch, wenn wir ’ne Klassenarbeit schrieben und die meisten mit verschwitzten Gesichtern über Aufsatz oder Ableitung hockten … dann dachte ich: Mensch, Leute, seid ihr zurück! Wie kann man sich darüber aufregen, dass Effi Briest nicht gleichberechtigt war, wenn ihr nicht mal ahnt, was der Herr Major mit seinem Schnurrbart alles für Kunststückchen auf ihr gemacht hat! Oder interessiert das wirklich jemanden, ob der Brigadier Knackstiefel das Parallelogramm der Kräfte bedachte, als er die Kneifzange auf’n Kohleneimer statt neben den Schraubstock legte? Wie kann man nur …
Wenn man nachmittags zwischen drei und vier zum Monbijou-Platz trudelt, »mon bijou« heißt: mein Köstliches, meine Kostbarkeit, hat mir Paul später erklärt; wenn man dann vier Treppen hochsteigt und in eine Wohnung kommt, außer Atem, in ein Zimmer, in dem das wichtigste Möbel zwei mal anderthalb Meter groß ist …
Vielleicht ist es sogar schlecht, gleich zu Anfang an einen Mann zu kommen, der so gut im Bett ist; denn alle anderen, die nachher kommen, misst man doch an diesem, weil man das, was er macht, für normal und selbstverständlich hält, denn er ist der erste und in gewissem Sinne auch der einzige. Deswegen finde ich ja, dass Frauen, die in ihrem Leben nur mit einem Mann schlafen, gar nicht so dumm sind. Ob der nun gut oder schlecht ist, ist völlig egal; sie werden weder überrascht noch enttäuscht, sie pegeln sich ein: Das macht sie ruhiger und ausgeglichener, vielleicht sogar glücklicher als die andern. Darüber habe ich nächtelang mit Edith gesprochen, obwohl sie da eigentlich gar nicht mitreden darf, denn leider hat sie schon mit sehr vielen Männern geschlafen, aber das hat mit Moral nichts zu tun, und die monogamen Typen sollten aufhören, eine Achtzehnjährige für eine Nutte zu halten, weil sie schon bei drei Männern gelegen hat. Ich glaube, das ist eine Frage des Temperaments und nicht des Charakters. Hauptsache: Man bleibt man selber, und ich war nahe dran – aber was rede ich denn …
»Wollen wir was trinken?«, fragte Ulli.
»Hmhm« (Verneinung), sagte ich.
»Ich hab Durst«, sagte Ulli.
»Soll ich Tee machen?«, fragte ich.
»Ja. Aber komm nochmal her!«
Nach einer Weile: »Du wolltest doch Tee – oder nicht?«
»Ja. Mach mal Tee!«
»Wo is’n der Tauchsieder?«
»Weiß ich nicht.«
»Im Ausguss!«
»Vielleicht.«
»Oder wo?«
Nach einer Weile: »Ist er fertig?«
»Nein. Kocht ja noch gar nicht.«
»Komm her!«
Nach einer Weile: »Jetzt!«
»Tee? Ach ja, bitte.«
»’s kein Wasser mehr drin.«
»Wie?«
»Alles weggekocht.«
»So.«
»Ich kann ja nochmal aufsetzen.«
»Jetzt hab ich keinen Durst mehr.«