Marie des Brebis - Christian Signol - E-Book

Marie des Brebis E-Book

Christian Signol

4,8

Beschreibung

Marie des Brebis hat das Leben einer einfachen Frau gelebt, geprägt von der Sorge um ihre Familie, um Haus, Hof und Tiere, unter den harten Bedingungen auf dem Lande im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts. Ihre Geschichte, aufgezeichnet von dem französischen Bestsellerautor Christian Signol, lässt uns staunen, wie reich dieses Leben war, getragen von Weisheit und Vertrauen und einem Gespür für das, was hinter und in den alltäglichen Dingen des Daseins webt. Inmitten einer traumhaften Landschaft, an der Grenze zur Dordogne, wurde Marie des Brebis als Säugling von einem Schäfer unter einem Wacholderbusch gefunden. Die Natur war von Anfang an ihr Lehrmeister, der sie in die Weisheiten des Lebens einweihte. Voller Hingabe hat Marie für ihr kleines Glück gearbeitet. Und obwohl sie manch schwere Zeit überstehen musste, hat sie das Vertrauen in das Schicksal und in einen Sinn auch der schweren Erfahrungen des Lebens nie verloren. Der Verlust ihres ersten Kindes, die harte Arbeit ihres Mannes im Steinbruch, die ihn schließlich seine Gesundheit kostete, die Angst um den Sohn, der sich im Zweiten Weltkrieg den Widerstandskämpfern anschloss, das schwere Los der geliebten Tochter im fernen Paris - Marie des Brebis hat es verstanden, aus all diesen Prüfungen ungebrochen hervorzugehen und Kraft zu schöpfen aus der Liebe zu allen Dingen und zur Natur.

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Christian Signol

Mariedes Brebis

Der reiche Klangdes einfachen Lebens

Aus dem Französischenvon Corinna Tramm

Das Gebiet der Causses du Quercy – heute ein Nationalpark

All denjenigen gewidmet, die wie Marie die Zeit der Waschplätze und der Johannifeuer noch erlebt haben.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

1. Kapitel

Man hat mich inmitten einer Schafherde gefunden, schlafend, dort oben, an einem Sonntag, am Fuße eines Wacholderstrauches. Es war im Herbst des Jahres 1901. Oft habe ich mich gefragt, wer mich da wohl hingelegt hatte, auf ein Bett aus weißem Moos, umgeben von wilden Beeren, und nie habe ich den genauen Tag meiner Geburt erfahren. Ein Blatt Papier war zwischen die Wolldecke und meine Haut geschoben, auf welches jemand geschrieben hatte: »Sie heißt Marie.« Deshalb wurde ich lange Zeit auch »die Schafmarie« genannt: »Marie des Brebis«.

Derjenige, der mich entdeckte, hieß Johannes. Er war der Hirte von Maslafon, einem kleinen Weiler, verloren im Eichenwald, dort hinten auf den Hügeln, drei Meilen entfernt von Rocamadour. Die Weide – la grèze, ein Landstück mit Büschen und Stoppelgras – lag mindestens eine Meile vom Weiler entfernt, dort ließ er seine Herde weiden. Auch kam er nur alle zwei bis drei Tage in den Ort zurück, um sich Proviant zu besorgen. Er behielt mich bei sich und ernährte mich mit Schafmilch. Ich habe nie erfahren, warum er das tat.

Es stimmt, er war ein wenig sonderlich, der Johannes: Er sprach zum Mond, in der Nacht. Vielleicht brauchte er auch Gesellschaft und die seines Hundes genügte ihm nicht. Auf jeden Fall hat er mich zum Schafstall gebracht, mitten zwischen die Schafe. Bei uns auf der wasserarmen Hochebene, den Causses de Quercy, sagt man zu den Schafen »brebis«, und nicht »moutons«. Ich finde, es klingt viel schöner, auch heute noch, nach achtzig Jahren, während mein Leben sich dem Ende nähert und ich ein wenig Sonne in mich aufnehme, hier auf meiner Bank, und den ewigen Schlaf erwarte, aus dem man nur in den Armen Gottes erwacht. Was den Schlaf angeht: Nie habe ich so gut geschlafen wie auf dem Stroh im Schafstall, umgeben vom warmen Geruch der Tiere. Zweifellos deswegen, weil ich genau dort meine ersten Nächte verbrachte, bewacht von Johannes und seinem schwarzen Hund mit den weißen Pfoten.

Es war ein wenig so, als wäre ich noch im Bauch derjenigen, die mich ausgesetzt hatte. Nie habe ich es ihr nachgetragen, der guten Frau; nie habe ich in meinem ganzen Leben jemandem Schlechtes gewünscht. So bin ich eben. Von mir sagte man: »Marie ist eine gute Seele.« Und es ist wohl wahr. Vielleicht, weil ich trotz allem glücklich gewesen bin in jenen ersten Tagen meines Lebens, in denen Johannes mich immerzu auf dem Rücken trug, in einem um seine Schultern gebundenen Sack, so wie ich es heute oft sehe, bei Frauen wie bei Männern ... Als er dann zum Bauernhof zurückkam, sagte ihm der Bauer: »Die Kleine gehört ins Waisenhaus. Man darf sie nicht einfach so behalten.«

»Ich behalte sie.«

»Wenn du sie bei dir behältst, bist du entlassen.«

»Gut, dann gehe ich«, sagte Johannes.

Am nächsten Tag zogen wir los, er, ich und sein Hund. Aber nicht weit weg.

Er war ein Mensch, zu dem man Vertrauen hatte, von allen geschätzt, ein guter Hirte, der die Causses in- und auswendig kannte: die Stellen, wo der Blitz einschlug, die seltenen Wasserquellen, die Pflanzen, mit denen die Tiere behandelt werden konnten. Er war groß und stark, bärtig und hatte schwarze Augen, so schwarz wie Brunnenwasser, aber seine Stimme war ruhig und sanft. Er war schon alt, vielleicht in den Siebzigern, dennoch rüstig und selbstsicher. Er sprach wenig. Er liebte unser Hochland, so wie ich es mein Leben lang geliebt habe: die Schluchten, die Hochebenen, die typischen Weiden, die Wiesen mit den wilden Kaninchen und die Hügelketten, die den blauen Himmel zu berühren schienen. Er stellte in den Schluchten Fallen für die Rebhühner und die Hasen auf, die er dann über dem Feuer eines Steinofens röstete, um ab und zu auch etwas anderes als Käse und Brot zu essen. Nachts redete er oft mit dem Mond, kniend, mit ausgebreiteten Armen, wie ein Gekreuzigter: »Mond, Mond, Väterchen Mond, gib mir Mondwasser und segne mich!« Oh Gott, was für eine Angst hat er mir damit eingeflößt. Es war mir, als wenn uns von dort oben große Augen betrachteten und jemand käme, um uns zu holen. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, und als ich älter wurde, habe ich begriffen, dass es seine eigenen, von ihm erfundenen Gebete waren.

Eines Abends trafen wir bei Einbruch der Dunkelheit auf dem Hof »Mas del Pech« ein, er liegt auf dem Gipfel eines Hügels, ungefähr einen Kilometer von Fontanes-du-Causse entfernt. Johannes kannte den Besitzer, einen gewissen Monsieur Bonneval, bei dem er einst als Knecht gearbeitet hatte.

»Was hast du da bei dir?«, fragte ihn der Mann.

»Meine Tochter.«

»Du hast eine Tochter?«

»Sie heißt Marie«, sagte Johannes, »niemand kann sie mir wegnehmen.«

Die Frau von Monsieur Bonneval kam dazu und drückte und herzte mich. Sie hieß Augustine und liebte Kinder über alles, konnte aber selbst keine bekommen. Da der Winter Einzug hielt, gab es nicht viel Arbeit, vor allem nicht für einen Hirten.

»Schlaft heute Nacht hier, morgen sehen wir weiter«, sagte ihr Mann, er hieß Alexis.

Am nächsten Tag haben sie lange und viel mit Johannes geredet, um von ihm zu erfahren, wer meine Mutter sei. Ihm genügte es, dass er mein Vater war, und wenn man ihn als Hirten wollte, musste man mich ebenso nehmen. Augustine konnte ihren Mann schließlich überzeugen – für sie war ich ein Geschenk des Himmels. Also blieben wir bei ihnen, und sie waren meine erste richtige Familie. Heute bedaure ich es, dass ich sie so früh verloren habe. Mein Gott, wie lange ist das alles her!

Von Mas del Pech aus, das auf einem steinigen und von Wacholdersträuchern bedeckten Hügel lag, erblickte man Fontanes, einen hübschen Ort, dessen Häuser sich eng um eine kleine Kirche drängten, an der Straße von Figeac nach Montfaucon. In der Umgebung gab es Zwergeichenwälder, einige Buchweizenfelder, steinige Böden, soweit das Auge reichte, und Südhänge mit runden Steinhütten, Gariottes genannt. Man brachte die Schafe auf die unbewaldeten Flächen, auf die Weiden mit ihrem von der Sonne verbrannten Gras. Auf der Hochebene liefen die Rebhühner auf die Weinberge zu, die einen Wein gaben, der nach Steinen schmeckte, rau auf der Zunge war und der im Munde den Geschmack von Veilchen hinterließ.

Zu dieser Zeit brauchte man wenig zum Leben, hauptsächlich Brotsuppe und Crêpes aus Buchweizenschrot oder – seltener – aus Weizenmehl. Man sparte an allem, außer an Arbeit und Mühe. Für den Fleischbedarf hatte man ein Schwein, das im Januar geschlachtet wurde, ein Lamm aus der Herde und Wild. Alle Häuser waren gedrungen und etwas plump, mit einem Taubenschlag, rotbraunen Dachziegeln und nur wenigen Fenstern. Die Winter waren sehr kalt, im Sommer herrschte große Hitze. Das Wasser holte man aus dem Brunnen, manchmal auch aus einer Zisterne. Mithilfe eines Schöpfgefäßes beförderte man es vom Eimer in ein Waschbecken aus Stein. Im Kamin verbrannte man Eichenholz, das wunderbar nach Moos und Herbstblättern duftete. An Schlechtwettertagen saßen wir entspannt vor dem Kamin, vorn durchglüht, hinten halb erfroren, aber mit dem Kopf voller Träume und verklärten Augen.

Noch vor Weihnachten desselben Jahres wollte mich Augustine in der Gemeinde anmelden und taufen lassen. Johannes weigerte sich zunächst, aus Angst, man könnte mich ihm wegnehmen. Und außerdem war er nicht gläubig; wenn überhaupt, glaubte er an seine Schafe, an das Gras und an den Mond.

Augustine wurde so ärgerlich, dass er schließlich doch einwilligte. Sie hat dann dem Pfarrer von Fontanes meine Geschichte erzählt, und da er ein gutes Herz hatte, nahm er mich in seine Gemeinde auf und ich erhielt das Sakrament der Taufe. Johannes hat sich stets geweigert, mit mir zum Gemeindeamt zu gehen und mir so seinen Namen zu geben. Er hätte mich lieber bis ans Ende der Welt mitgenommen, als zu riskieren, dass er mich verlor. Also wurde ich weiter »Marie des Brebis« genannt. Mir war das ganz gleich, und ich war noch viel zu klein, um zu begreifen, dass man nicht einfach ohne Namen leben konnte. Ich hatte es gut und warm, und ich bekam zu essen, wenn ich hungrig war – ich fühlte mich rundherum wohl.

Als ich meine ersten Zähne bekam, rieb Augustine mein Zahnfleisch mit Hasenhirn ein – sie hat es mir später einmal erzählt –, damit es weich wurde und ich keine Schmerzen hatte. Das war damals so Brauch. Sie hat es auch möglichst vermieden, meine Windeln im Freien zu waschen, sodass kein Vogel über sie hinwegfliegen konnte. Nur so konnte man nämlich verhindern, dass die Kinder eine gefährliche Krankheit mit hohem Fieber und Pusteln bekamen, l’ ouselado genannt, die man nur schwer wieder loswurde. Augustine beachtete alle Sitten und Gebräuche der Zeit mit der ihr eigenen Gewissenhaftigkeit. Sie war an einem Karfreitag geboren und war bekannt dafür, dass sie Unterleibsleiden zu heilen vermochte. Ich glaube schon, dass es so war. Die Leute kamen von weither auf ihren Karren: aus Séniergues, Caniac-du-Causse, Lauzès oder Livernon. Sie hatte diese Gabe, und dennoch konnte sie selber keine Kinder bekommen.

So gibt Gott uns Gutes und weniger Gutes, und es liegt an einem selbst, es anzunehmen, wenn man glücklich sein möchte.

Ich konnte kaum laufen, da habe ich schon gelernt, mich unter den Bauch der Mutterschafe gleiten zu lassen und direkt aus den Eutern zu trinken. Sie wiesen mich nicht zurück und nie habe ich auch nur den kleinsten Stoß erhalten. Sie haben mir diejenige ersetzt, die mir so sehr gefehlt hat, ein wenig später, als ich erfuhr, dass ich ein Findelkind war. Lange Zeit hatte ich weder Appetit noch Durst, doch dann hat das Leben mich wieder mit sich fortgetragen. Immer wusste ich, was Glück bedeutet: Dass man zufrieden ist mit dem, was man hat, und sich selbst so akzeptiert, wie man ist. Und was Johannes betrifft, er ist und bleibt mein wahrer Vater, denn ohne ihn wäre ich nicht am Leben.

Ich blieb immer in seiner Nähe und folgte ihm überall hin. Er zog mich an der Hand hinter sich her, gab mir Milch zu trinken, später Brot und Käse zu essen. Er zeigte mir die Sterne: den Großen Bären, Orion, Beteigeuze, Atair und den Stern, der allen Hirten bekannt war, da er zeigte, wo Norden war, den Polarstern.* Er kannte die Namen der Gräser, der Pflanzen, der Insekten, der Vögel. Da es ihm schwerfiel, mich in der Obhut von Augustine zu lassen, kam es oft zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden. Doch im Winter war ich hauptsächlich drinnen im Haus, und sie nutzte diese Zeit. Sie sang und begleitete die Verse der Lieder mit Fingerspielen:

Ainsi font, font, font, les petites marionettes,

Ainsi font, font, font trois petits tours

Et puis s’en vont.

So machen die kleinen Marionetten,

so machen sie drei kleine Runden,

und dann sind sie weg.

Oder, um mir die Namen der einzelnen Teile des Gesichts beizubringen, sprach sie mir vor und berührte gleichzeitig mit den Fingern die Augen oder das Kinn:

Menton fourchu – bouche d’argent – nez de clinquant – petite joue – petit œillet – grand œillet – croque croque millet.

Kinngrübchen – Silbermäulchen – Goldnäschen – kleine Wange – kleines Äuglein – großes Äuglein – Kernbeißerchen.

Oh, wie waren sie schön, die Stunden am Feuer, die langsam dahinzogen, wenn der Schnee die Welt mit seinem weißen Mantel umhüllt hatte! Wenn ich die Augen schließe, erinnere ich mich gerade an die Weihnachtsabende am allerbesten.

Ein Sprichwort sagt bei uns: »Wenn Weihnachten der Mond nicht scheint, wird von hundert Schafen nicht eines gerettet.« Das war die große Sorge von Alexis und Augustine, der Mond am Weihnachtsabend. Und wir hatten Zeit genug, den Himmel zu betrachten, auf dem vereisten Weg, wenn wir zur Mitternachtsmesse gingen. Johannes trug mich auf dem Arm. Auf allen Wegen des Hochlands brannten Lichter. Es war kalt, aber ich spürte nur den Duft der Wolle und die Wärme von Johannes. Alexis und Augustine liefen vor uns her mit heißen Steinen in den Manteltaschen. Die Kälte ließ den Boden unter unseren Stiefeln knirschen, und über uns wachten immer neue Sterne über dem Planeten Erde. Rot glühende Wolken schoben sich vor den Mond, der uns folgte und sich dabei hin und wieder versteckte. Im Dorf angekommen, nahmen wir ganz hinten in der kleinen Kirche Platz, die von Lichtern erhellt war, und alle begannen zu singen. Das war ein Gesang, diese Messen! Sie atmeten Glück, reine Freude und Liebe. Der Herr hatte uns Seinen Sohn gesandt, und alle, die unter dem gelbblauen Gewölbe Seines Hauses versammelt waren, dankten Ihm aufrichtig von ganzem Herzen. Aus den Augen dieser Männer und Frauen strahlte ein Vertrauen, das sie von innen her verwandelte und schön erscheinen ließ.

Am Ende der Messe nahmen mich Alexis, Johannes und Augustine mit, um mir die kleine Krippe mit dem Jesuskind zu zeigen. Wie war sie doch hübsch, mit dem Esel, den Schafen, die fast so groß waren wie die echten, mit Josef und der Jungfrau Maria, die sich über den Kleinen beugte. Wir sprachen das Hirtengebet. Alexis und Johannes begannen wie folgt:

Herr, ich gebe Dir meinen Mantel,

auch wenn er nicht so schön ist!

Mein Mantel ist nicht aus Tuch,

nur aus einfachem Stoff.

Er wird Dich aber wärmen

und gegen Kälte schützen.

Natürlich sprachen wir Dialekt, die Alltagssprache, denn Französisch war kaum gebräuchlich.

Augustine antwortete mit mir zusammen:

Ich danke dir, Hirte,

behalte deinen Mantel.

Der Sohn Gottes

wird sich an dein

Opfer erinnern.

In der Stunde der Ewigkeit

wirst du dafür belohnt werden.

Anschließend küssten und umarmten mich alle drei. Ich wäre gern noch länger geblieben, doch die Kirche leerte sich und die Lichter erloschen. Wir mussten zurück nach Hause, durch die Kälte, die Nasen und Ohren schmerzen ließ. Nun war Augustine an der Reihe, mich zu tragen. Ich suchte die Heiligen Drei Könige am Himmel. Ich glaubte, sie führen mit dem Großen Wagen. Die Sterne erschienen mir so nah, dass ich dachte, ich könnte sie mit meinen Händen berühren.

Augustine sang mir ins Ohr:

Les anges, dans nos campagnes,

Ont entonné l’hymne des cieux,

Et l’écho de nos montagnes

Redit ce chant mélodieux.

Engel haben Himmelslieder

Auf den Feldern angestimmt

Echo hallt vom Berge wider,

dass es jedes Ohr vernimmt.

Die Lampen am Wegrand erloschen. Es war, als gäbe es nur uns vier auf der Welt. Manchmal knirschte der Schnee unter unseren Schuhen, und es war mir, als schnitt mir die kalte Luft in die Haut wie Glas.

Wieder auf dem Hof angekommen, erwarteten wir unsere nächsten Nachbarn, die Augustine eingeladen hatte. Sie wohnten auf der anderen Seite der Schlucht, gegen Montfaucon in der kleinen Ortschaft, die »La Pierre-Levade« genannt wurde, denn es gab dort einen Menhir in der Nähe ihres Hofes. Sie hießen Ravel, wie der Komponist, den ich später so oft hörte, bis in meine letzte Zeit. Sie hatten zwei Töchter: Elodie und Marguerite, die nur ein wenig älter waren als ich. Alexis schürte das Feuer und Augustine wärmte die Zwiebelsuppe auf. Wie herrlich schmeckten doch dieses Roggenbrot und diese gerösteten Zwiebeln!

Es ist nun über achtzig Jahre her, doch wenn ich daran denke, habe ich sofort wieder den Geschmack auf der Zunge, als säße ich zwischen Johannes und Augustine am Tisch.

Nach der Suppe folgte eine Viertel-Ente mit in der Asche gebratenen Äpfeln, manchmal – nur für die Kinder – auch eine in Seidenpapier eingewickelte Orange. Oh, diese Weihnachtsfeste meiner Kindheit, wie könnte ich sie je vergessen? Johannes trug mich später in mein Bett, und ich suchte Schutz unter meiner Daunendecke, wie in einem Königreich.

Nach den Feiertagen wurde es normalerweise noch einmal sehr kalt bis zur Karnevalszeit. Wir verließen selten das Haus, nur um abends die Tiere zu versorgen. Danach aßen wir und saßen beieinander. Johannes erzählte dann Geschichten und Märchen von früher, von Feen und Werwölfen, die im Mondenschein tanzten, und auch von Irrlichtern. Er kannte einen Wald, bei den Mohrenschluchten, in denen die Feen am Sabbat zusammenkamen; bei einer Wegkreuzung warteten sie auf Reisende, um sich von ihnen auf dem Rücken tragen zu lassen, wobei sie sich an ihren Schultern festhielten.

Johannes behauptete, Werwölfen begegnet zu sein, mit Fellen bekleideten Männern, die mit dem Teufel im Bunde waren und die kein Gewehr zu töten vermochte.

Aber wovor ich am meisten Angst hatte, waren die Irrlichter, die urplötzlich anfingen, auf den Wegen herumzutanzen. Johannes versicherte mir, das seien die Seelen der Menschen, die im Fegefeuer schmorten und einen hochheben und wegtragen könnten wie Getreidegarben. Wie oft bin ich geflohen, wenn ich allein unterwegs war, auf einsamen Wegen oder in einer verlassenen Schlucht, nur weil ich glaubte, Irrlichter zu erblicken. Ich war damals wohl wirklich noch nicht sehr groß, und zart bin ich bis heute geblieben, leicht wie eine Feder im Wind.

Alexis konnte Rätsel erzählen:

»Welches Taschentuch kann man nicht falten?«, fragte er mit seinem typischen Lächeln und seinen schelmischen Augen. Wenn wir die Lösung nicht herausbekamen, antwortete er triumphierend: »Den Himmel!«

So war einmal die Sonne der Apfel, den man nicht sehen konnte, und ein anderes Mal waren die Sterne die Taler, die man nicht zählen konnte. Guter Alexis! Wie waren seine Rätsel doch kindlich und liebevoll. Er erfand sie, um mich abzulenken, wenn er mich auf seinem Schoß hüpfen ließ.

Wie habe ich das Strahlen seiner blauen Augen vermisst, als er mich verließ, gefolgt von Augustine, schon zwei Monate später. Mit Johannes und den Schafen stellten sie für mich meine ganze Welt dar, dort oben auf dem Hof, so nah am Himmel und den Sternen, und nicht einen Moment lang bin ich bei ihnen unglücklich gewesen. So verlief mein Leben, bis ich sechs Jahre alt war, und in all dieser Zeit kannte ich kein Unglück.

Ich habe es vom einen auf den anderen Moment kennengelernt, an dem Juniabend, als Johannes starb. Ich erinnere mich, als wäre es gestern. Es war sehr heiß, und der Himmel färbte sich grünlich über den Hügeln. Wir brachten die Herde zurück zum Stall. Ich lief voraus, um etwas zu trinken. Ich hörte, wie er vor der Tür des Schafstalls hinfiel. Im ersten Moment hatte ich keine Angst: Ich wusste nicht, dass man so plötzlich einfach sterben konnte. Ich ging zu ihm hin und trieb die Schafe auseinander, die ihn umringten. Sein Blick war zum Himmel gerichtet, er sah mich an und schien mich doch nicht wahrzunehmen. Alexis und Augustine kamen herbei. Augustine nahm mich mit ins Haus und sagte zu mir, während sie meine Wange streichelte:

»Er ist tot, Kleine.«

Danach sah und hörte ich nichts mehr, es war, als wäre ich selber gestorben, da ich diesen Mann so liebte; vielleicht noch mehr, als wenn er mein richtiger Vater gewesen wäre. Ich bin erst in meinem Zimmer wieder zu mir gekommen, wo ich die ganze Nacht weinte, bewacht von Augustine und Alexis. Da sie nicht wussten, wie sie mich trösten sollten, und im Glauben, meinen Kummer ein wenig zu stillen, erzählten sie mir am nächsten Morgen ganz vorsichtig, dass Johannes nicht mein Vater sei und ich ein Findelkind. Die Guten, sie haben meinen Kummer nur noch vergrößert, aber vielleicht haben sie bei allem doch gut daran getan, mir genau in diesem Augenblick die Wahrheit zu sagen; besser so, als wenn ich es aus dem Munde eines Kindes oder einer anderen Person erfahren hätte, die es nicht gut mit mir meinte. Die Tatsache, dass ich Fragen nach meiner Herkunft stellte und mich Gedanken um meine Zukunft beschäftigten, hat mich sicherlich davor bewahrt, in den Abgrund zu versinken, der sich in diesem besonderen Abschnitt meines Lebens vor mir auftat.

Ich erinnere mich an den Leichenwagen, der über die Steine auf dem Weg dahinholperte, die Pferdehufe, die ich darunter erblickte, die Männer und Frauen in ihrer schwarzen Trauerkleidung auf dem Platz in Fontanes, an den kleinen Friedhof, umgeben von vier Mauern aus Schieferplatten, an das schlichte Grab von Johannes, auch an die Erde und die warme Hand von Augustine, die meine fest in der ihren hielt, auf dem Rückweg.

Es ist nun über zwanzig Jahre her, dass ich in Fontanes-du-Causse war, aber das ändert nichts: Mit Johannes spreche ich, wie ich heute mit all denen spreche, die ich geliebt habe und die nicht mehr da sind, aber doch irgendwo noch existieren und über mich wachen.

* Auf Französisch wird er »l‘étoile du berger«, Hirtenstern, genannt.

2. Kapitel

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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