Marine - Das Wispern der Zeit - Tanja Kloibhofer - E-Book

Marine - Das Wispern der Zeit E-Book

Tanja Kloibhofer

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Beschreibung

Marine ist auf den ersten Blick ein normales Mädchen, das in die Schule geht und gerne so viel Zeit wie möglich im Wasser verbringt. Trotzdem hat sie schon länger das Gefühl, dass sie etwas von den anderen Kindern in ihrem Alter unterscheidet. Als sie schließlich einen alten Brief mit ihrem Namen auf dem Dachboden entdeckt, erhält sie eine Einladung, die ihr Leben schlagartig auf den Kopf stellt. Denn sie hat besondere Male an den Händen und Füßen, ungewöhnliche Augen und Hinweise auf vergangene Geschichten jenseits der normalen Welt. Und Marine ist ihrer außergewöhnlichen Rolle selbst gewahr: "Mir war es unangenehm – gar zu peinlich, obwohl ich sie schon mein Leben lang besaß und sie insgeheim liebte."

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Seitenzahl: 357

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-488-4

ISBN e-book: 978-3-99146-489-1

Lektorat: Lucas Drebenstedt

Umschlagabbildungen: Mythja, Roman Samokhin | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildung: Tanja Kloibhofer

www.novumverlag.com

Zitat

„Das Leben ist wie ein Buch.

Jeden Tag blättert das Schicksal eine Seite um.“

– Zitat (Autor unbekannt)

Kapitel 1: Schwerelos

Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier …

Ich schwebte gerade. Es war immer wieder wie ein Eintauchen in eine andere Welt.

MeineWelt.

Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier …

Ich hörte dumpf, wie mir die Menschen von draußen zujubelten.

Marine, Marine, los geht’s!

Ich zog noch ein wenig kräftiger, strampelte noch ein wenig schneller und schon fand ich mich selbst an der Kante des Beckens wieder. Ich hatte allerdings noch erstaunlich viel Luft, deswegen entschied ich mich auf die Schnelle, umzudrehen und zurückzutauchen.

Ich merkte, wie die Menge sprachlos war. Sie ließ keinen Mucks von sich hören. Dies wiederum stachelte mich an und ließ mich noch schnellere Bewegungen machen.

Aber ja nicht den Takt verlieren! Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier …

Ich mochte diese Augenblicke. Alles war so ruhig hier unten. Ich sah meine Sorgen, Probleme, Ängste, Freuden und Leiden wie durch eine durchsichtige Glasscheibe. Genauso wie das Wasser hier. Glasklar.Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier … komm, schneller!

Ich sah sie. Die Kante, auf die ich zusteuerte. Sie war wie ein Ziel – ein sehr großer Wunsch, den ich erreichen wollte. Ich fühlte, dass ich nun kaum mehr Luft hatte – ich war schon einmal in solch einem Moment gelandet. Das bekannte Gefühl stieg in mir hoch.

Panik.

Doch dieses Mal ließ ich sie nicht über mich kommen. Ich würde nicht noch einmal den gleichen Fehler begehen.

Deswegen tauchte ich weiter, ohne Luft zu holen.

Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier …

Mit dem Kopf durchbrach ich die Wasseroberfläche.

Ich keuchte. Zitternd hielt ich mich an der Kante fest und zwinkerte langsam mit meinen Augen, um das stechende Gefühl des Chlors herauszubekommen.

Es war still.

Keiner war hier.

Keiner hatte mir je zugejubelt.

Keiner war für mich da gewesen.

Ich schwamm ganz allein in diesem Becken.

Ich hatte es mir nur eingebildet.

Ein Seufzer kam mir bei dieser Erkenntnis über meine Lippen. Jedoch konnte er mein Lächeln nicht wegwaschen.

Ich hatte mein langlebiges Ziel erreicht. Schon seit Monaten hatte ich auf diese Kante hingearbeitet und nun – nun klammerte ich mich an sie, als wäre ich ein hilfloser Delfin.

Zehn Strecken habe ich geschafft! Zehn! Zehn mal fünfzig Meter! Das ist der Wahnsinn!

Allzu schnell kamen mir allerdingssiein den Sinn. Meine Stimmung wurde getrübt.

Ich konnte mich nicht ewig hier festhalten, sonst würde es jemand erfahren – es würde sicherlich jemandem auffallen, was ich sichtbar an den Händen hatte, und dann würde ich mich um ein größeres Problem kümmern müssen als all die, die ich jetzt schon in meinem Leben hatte.

Die Leute, die davon wussten – na ja, eigentlich nur einer – fanden, dass ich mir das nur einbildete. Dass es nichts zum Fürchten war – nichts Grauenvolles. Doch ich sah das anders. Mir war es unangenehm – gar zu peinlich, obwohl ichsieschon mein Leben lang besaß undsieinsgeheim liebte.

Ich schüttelte meinen Kopf. Meine Gedanken waren stark und kräftig und trieben mich somit oft in eine Phase, in der ich nichts von der Außenwelt mitbekam.

Mit meiner letzten Kraft stieß ich mich in die Höhe und kletterte aus dem Becken heraus. Ganz schön kühl war die Luft, die mich umgab, und mich fröstelte es ab der ersten Sekunde. Auch wenn es Anfang September war – heute war einer der kalten Tage. Die Wolken dominierten den Himmel, doch manchmal blendete durch die großen Fenster des Hallenbades die Sonne – es fühlte sich ein wenig mystisch an.

Viele fanden, dass ich zu viel Zeit in Fantasybüchern und meinem Kopf verbrachte, jedoch war dies eine Grundlage meines Lebens, die mich glücklich machte. In die ich mich zurückziehen konnte – in der ich alles besaß, das ich benötigte.

Ich trottete zu meiner Liege, ließ mir allerdings nicht anmerken, dass sich die Härchen auf meiner Haut aufgestellt hatten. So schnell es ging, nahm ich mein Handtuch und trocknete mich ab – ich versteckte meine Hände und Füße wie von selbst. Es war eine Art Gewohnheit.

Einen Bademantel streifte ich meinem Körper noch über und schlüpfte in meine Crocs, bevor ich meine Sachen zusammenraffte und in Richtung Umkleidekabine huschte. Ich kannte viele der älteren Frauen und Herren, jedoch nur vom Sehen. Ich konnte und wollte mit ihnen nicht sprechen, doch lächelten wir uns gerne hin und wieder zu.

Dieses Mal passierte es einmal wieder und ich nickte der winkenden Dame mit der rosaroten Bademütze zu. Ich hatte den Reflex, ihre Geste zu erwidern, allerdings entschied ich mich anderweitig. In letzter Sekunde unterdrückte ich das Gefühl, da ich wieder ansiedachte.

Die Schwimmerin besuchte immer mittwochs und freitags das Schwimmbad mit ihren zwei Freundinnen.

Woher ich das wusste? Ich bekam viel mit, obwohl die anderen glaubten, dass ich in meinem Geiste herumschwebte. Ich konnte schon regelrecht darin versinken, doch tat ich dies nicht mit wirklicher Absicht. Ich hatte mir gemerkt, wann, wo und mit wem jemand hier war, da ich selbst fast täglich einige Stunden in dem Schwimmbad verbrachte. Meine Jahreskarte, die ich immer am Anfang des Jahres kaufte, hatte ich dadurch schon viel öfter genutzt als irgendeinen anderen Ausweis in meinem Portemonnaie.

Ich öffnete den Spind mit dem dafür vorgesehenen Schlüssel. Ein weiterer Vorteil der Jahreskarte war dieses Ding hier. Der Schrank befand sich dadurch schon seit mindestens vier Jahren in meinem Besitz, deswegen lagerte ich dort auch private Dinge, die kein anderer in ein Schließfach eines Schwimmbades legen würde.

Ich stopfte meine marinefarbene Umhängetasche in das obere Fach und zog im Gegenzug ein frisches Badetuch und mein Seifenstück heraus. Ich verschloss meinen Spind erneut und begab mich um die Ecke. Die Duschen des Schwimmbades liebte ich. Sie waren – wie bei so vielen nicht – abgetrennt und absperrbar.

Ich begab mich in eine und verschloss sie. Von nebenan kamen leise summende Geräusche und ich erkannte das Lied in wenigen Sekunden. Nicht nur Bücher, sondern auch Musik rettete mich hin und wieder aus der Wirklichkeit.

Ich schob sofort ein wenig Groll auf mich selbst, da ich so spät aus dem Wasser gegangen war. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich liebend gerne laut gesungen, doch nun traute ich mich nicht. Ich konnte nicht vor anderen Leuten auftreten – das wusste ich schon lange.

Das Wasser tropfte nur so auf mich herab, rann über die einzelnen Strähnen meines welligen braunen Haares und meinen Rücken angenehm warm hinunter, bis es zu guter Letzt hin und wieder auf meine Füße fiel.

Ich spielte erneut mit meinen Zehen. Viele meiner Klassenkolleginnen konnten einige erstaunliche Dinge mit diesem Körperteil, doch war ich nicht fähig dazu. Nicht, da ich unsportlich oder faul war, nein – sondern aufgrund vonihnen.Sie hinderten mich meine Zehen weit auseinanderzustrecken und ich hasste es, wenn ich es bei den anderen sah. Sie hatten zu meinem Glück meine Füße noch nie erblickt. Sie hätten sich nur noch mehr über mich lustig gemacht.

Wieder einmal starrte ich hinab. Besser gesagt, sah ichsiean.

Meine Schwimmhäute.

Jeder Mensch besaß solche, doch meine – meine waren außerirdisch groß. Sie waren der Grund, wieso ich nicht in einem Schwimmverein, sondern nur bei manchen Wettbewerben mitgemacht hatte und bei diesen sogar nur so lange, bis diese Haut zwischen Finger und Zehen einfach zu unnormal groß gewesen war. Mit circa zehn Jahren hatten sie solch einen Schub bekommen, dass sie jetzt gigantisch waren.

„Unnormal … was ist denn schon normal?“, flüsterte ich mir selbst zu und drehte meine Hände. Ich lächelte über sie, versuchte, genügsam mit ihnen zu sein, denn es gab doch einige Menschen auf dieser Welt, die sie verloren hatten.

Doch dann fiel mir dieses Zeichen wieder auf. Es war nicht unbedingt groß oder auffällig. Es befand sich unter meinen beiden kleinen Fingern. Pro Hand stach mir ein Kreis, der ein zartes Dreieck mit der Spitze nach unten beinhaltete, ins Auge. Bei trockener Haut – die ich besaß, wenn ich mich gerade nicht im Wasser befand – bemerkte man diese Stellen kaum, allerdings waren sie so fremd, dass es wehtat.

Ich schüttelte meinen Kopf erneut, ließ mich von ihrer Ungewöhnlichkeit nicht irritieren und richtete meinen Kopf gen Himmel – besser gesagt, gen Duschkopf. Ein paar Sekunden später drehte ich den Wasserhahn ab und nahm meine feste Seife zur Hilfe. Ich ließ mich nicht noch einmal von der Fremdheit meiner Finger oder Füße beeinträchtigen und rieb mich mit einer genügenden Ladung Lavendelduft ein.

Dieser Geruch fühlte sich wie ein wohliges Heimkommen an. Ich hatte keinen wirklichen Bezug zu dieser Pflanze, doch erinnerte es meinen Körper an eine schöne und entspannte Zeit, die ich nicht kannte oder vergessen hatte.

Es kann ja sein, dass Mary solch ein Parfüm gehabt hat … oder?

Ich versuchte, mich an meine erste Adoptivmutter zurückzuerinnern. Dieser stechende Schmerz wurde mir in Zusammenhang mit diesen Gedanken immer wieder hinzugefügt. Als ich fünf war, starb die alte Dame an Herzversagen. Ich wurde damals wieder zurück ins Heim geschickt. Bis jetzt waren fünf Orte mein Zuhause gewesen. Ich hatte damals innerhalb von sechs Monaten dreimal die Familie gewechselt, bis ich wieder für eine Zeit lang für das Heim geplant worden war. Dort hatte ich allerdings nur ein paar Tage verbracht, bis meine jetzigen Adoptiveltern mit ihrem Sohn aufgekreuzt waren und mich abgeholt hatten. Von ihnen hatte ich auch die ganze Geschichte erfahren, da ich mich nicht mehr daran erinnern konnte.

Ich verbringe schon wieder viel zu viel Zeit mit Nachdenken.

Ich legte die Seife mit dem Lavendelduft in die dafür vorgesehene Schale zurück und ließ mich von dem aufsteigenden Geruch nicht irritieren. Das Wasser prasselte einige Momente später wieder auf mich herab. Bevor mein Kopf etwas anderes tun konnte, lenkte ich meine Gedanken auf meinen Erfolg, der gerade mal vor ein paar Minuten passiert war.

Ich wusste, dass ich die Luft sehr lange anhalten konnte. Meine letzte Messung betrug unglaubliche fünf Minuten und fünfundzwanzig Sekunden – das war für eine Fünfzehnjährige wie mich etwas geradezu Erstaunliches. Die fünfhundert Meter, die ich heute getaucht war, erfüllten mich mit Freude und ich dachte daran, dass ich als Nächstes elf Bahnen, also fünfhundertfünfzig Meter, knacken wollte. „Man darf sich auf seinen Lorbeeren nicht ausruhen“, hatte mir Mary immer eingetrichtert. Dieser Spruch war meine letzte und einzige Erinnerung an sie.

Ich merkte, dass der Schaum aus meinen Haaren verschwunden war, so drehte ich die Dusche ab und wickelte schnell mein Handtuch um mich selbst. Mir fiel erst jetzt auf, dass die Frau von nebenan schon längst verschwunden war und ich mich somit allein in der ganzen Umkleidekabine befand. Mir machte dies keineswegs etwas aus.

Ich trottete immer noch ein wenig nass zu meinem Spind, öffnete ihn und zerrte einen Haufen Kleidung heraus – eine dunkelblaue, lange Jeans, ein einfarbiges rotes T–Shirt, meine blauen Ringelsocken, Unterwäsche, dunkle Schuhe und natürlich meine schwarzen Lederhandschuhe, die abgeschnittene Finger besaßen. Am Morgen hatte die Sonne noch klar geschienen, deswegen hatte ich weder eine Jacke noch einen Pullover dabei. Hoffentlich würde ich nicht krank werden. Der Grund war nicht die Schule, sondern meine Adoptivmutter Sarah. Sie hasste es, wenn sie wegen mir etwas anders planen musste oder sich für mich ihre beschränkte Zeit nahm. Deswegen verbrauchte sie keinen Urlaub mehr für mich, seitdem ich zehn Jahre alt geworden war. Mir machte dies nichts aus, doch manchmal tat es schon weh. Zumindest ein klein wenig.

Ich zog mich in eine Umkleidekabine zurück. Auch wenn sich niemand außer mir in diesem Raum befand, wollte ich es nicht riskieren, entdeckt zu werden – dasssieentdeckt werden.

Ich hielt den Reflex, der als Erstes nach den Handschuhen greifen wollte, zurück. Normalerweise zog ich sie ausnahmslos sofort an – aber nur, damitsiekeiner zu sehen bekam. Zwischen dem Kleidungsstück und mir befand sich eine Hassliebe. Ich fand sie cool und sie verdeckten alles, was nötig war, doch tat es manchmal bei den Schwimmhäuten weh und im Sommer schwitzte ich schneller als vorstellbar. Somit zog ich mir zuvor meine Unterwäsche über. Ich konnte – die Handschuhe ausgenommen – keine dunkle Kleidung tragen, da ich sonst ungesund bleich aussah. Meine Haut nahm im Sommer nicht viel Farbe an und verlor somit im Winter auch keine.

Fertig angezogen blickte ich mir in dem vorhandenen Spiegel entgegen. Meine brustlangen Haare lagen feucht auf meinem T–Shirt – alles andere wirkte wie immer. Das Blau meiner Augen stach wie gewohnt hervor. Sie waren das Einzige, das ich an meinem Körper liebte. Ich war zu klein, zu hell, hatte Schwimmhäute, meine Haut besaß viele ausgetrocknete Stellen – manche bemängelten außerdem, dass ich zu dünn war. Doch meine Augen hatten noch nie Kritik abbekommen. Ich wusste nicht, ob das an Selbstliebe grenzte, doch meine Augenfarbe stach als mein persönlicher Favorit aus der Palette der farbenfrohen Welt heraus.

Ich seufzte und schüttelte den Kopf.

Was ist heute mit mir los? Reiß dich ein wenig zusammen. Du kannst nicht die ganze Zeit in deinen Gedanken hängen bleiben, Marine!

Nun waren die Zeichen unter meinen kleinen Fingern in der Haut versunken. Man sah sie gerade noch – als hätte man etwas mit leichtem Druck in die Rinde eines Baumes geritzt. Natürlich hatte ich im Internet schon nachgesehen, ob es dieses Zeichen gab und ob jemand diese „Krankheit“ auch besaß. Die erste Frage bejahte mir die Website. Das Symbol sagte nicht mehr und nicht weniger aus, als dass es zu dem Element Wasser gehörte. Mehr dazu konnte ich beim besten Willen nicht herausfinden.

Ich streifte mir meine Handschuhe über, bevor ich weiterdenken konnte. Es zog kurz an den Schwimmhäuten, da ich den linken zu weit nach unten bewegt hatte. Ich verstand nicht, wie ich dort Schmerz fühlen konnte. Man hatte keine Adern oder Nervenbahnen in dieser zusätzlichen Haut gefunden. Die Ärzte hatten sie mir sogar schon einmal abnehmen wollen, auch wenn es nicht gerade risikofrei gewesen wäre. Ich hatte mich in meiner Panik dagegen entschieden. Der wahrscheinlichste Grund war, dass ich Veränderungen nicht gerade mochte und Angst vor wirklichen Schmerzen hatte. Es konnte allerdings auch daran liegen, dass ich beim Schwimmen einen tatsächlichen Vorteil spürte. Wie auch immer – es fühlte sich mittlerweile wie ein Markenzeichen von mir selbst an, das jedoch nur wenige Menschen kannten.

Meine Schritte führten mich zu meinem Schrank zurück, aus dem ich nun meine wichtigsten Sachen herausnahm und in meine Umhängetasche packte. Morgen würde ich leider nicht hierherkommen. Bernd – der Sohn von Sarah und somit mein Adoptivbruder – war sechs Jahre älter als ich, doch unternahmen wir gerne etwas gemeinsam. Er hatte endlich Zeit, mit mir einen neuen Teil einer Fantasyreihe anzusehen. Sarah und Jonas – meine Adoptiveltern – hielten nicht viel von Kinos oder Filmen, aber mein Bruder war zum Glück anders gestrickt. Er war auch derjenige, der am meisten Veranstaltungen und Weiteres mit mir besuchte, der von mir am meisten wusste und sich mit mir am liebsten unterhielt oder anderen Blödsinn machte. Allerdings hielt die Zeit ihn zurück, da er ein eigenes Business von Jonas aufgedrängt bekommen hatte und somit die Geschäftsleitung von ganzen drei Betrieben innehatte.

„Ich brauche die Abwechslung mit dir. Weißt du, ich sitze den ganzen Tag mit wichtigen Leuten zusammen, die meinem Anschein nach nur Geld im Sinn haben. Die anderen aus meinem Alter wollen auch nur deswegen mit mir befreundet sein. Du bist da nicht so – mit dir kann man jeden Blödsinn anstellen. Außerdem muss ich bei dir keinen Anzug tragen“, erklärte er und ich konnte mir damals ein Lächeln nicht verkneifen.

Nach zweimaliger Überprüfung, ob ich wirklich alles mitgenommen hatte, machte ich mich auf den Weg zur Ausgangstür. Ich winkte noch Scherbert zu, der an der Kasse arbeitete. Seine Frau und er führten dieses Hallenbad und ich kannte sie um einiges besser als die alltäglichen Besucher.

„Oh Mann, Regen“, seufzte ich, als ich mitten in der Tür stand. Ich mochte den Regen, allerdings nicht, wenn ich mit dem Rad circa zehn Kilometer fahren sollte. Das Wasser schleuderte in Tropfen herunter, dass man glauben konnte, die Welt ginge unter.

Sie ging auch unter. Na ja, mithilfe des Klimawandels und uns doofen Menschen. Deswegen fuhr ich mit dem Rad und bettelte nicht darum, dass mich Bernd mit dem Auto mitnahm. Die Bahn nützte mir für die Schule oder das Hallenbad nichts, somit war ich auf dem direkten Weg schneller. Ein wenig außerhalb von Hamburgs Ostseite zu wohnen, stellte sich manchmal als ein Graus dar.

Nun ja, da kann man nichts machen. Ich muss wohl oder übel mit dem Rad durch den Regen fahren.

Ich seufzte und drehte meinen Kopf noch einmal zurück.

Oder soll ich hierbleiben und noch einmal schwimmen gehen? Nein, besser nicht. Ich liege sowieso schon knapp in der Zeit … soll ich Bernd anrufen? Er würde mich sicherlich holen und wenn ich ihn bitten würde, Sarah und Jonas nichts zu sagen, würde er dies auch tun. Aber ist er nicht noch auf der Arbeit? Es ist … 16:28. Wahrscheinlich sitzt er noch angenehm in seinem Bürosessel, trägt einen schicken Anzug und wartet auf den nächsten Kunden.

Meine schnellen Schritte führten mich wie von selbst zum Unterstand, wo mein Fahrrad auf mich wartete. Ich schüttelte mich wie ein nasser Pudel, als ich dort im Trockenen zum Stehen kam. An meiner Fahrradkette fummelnd sah ich wahrscheinlich wie ein Dieb aus, jedoch ließen sich die Zahlen schon lange nicht mehr so einfach verdrehen und somit brauchte ich länger. Ich überprüfte, ob der Sitz auch wirklich nicht nass war, bevor ich mein Rad der Straße zuwandte und mich daraufsetzte. Meine Tasche ließ ich um meine Schultern hängen, klemmte sie allerdings auch hinten am Gepäckträger ein.

„Nun gut. Los geht’s. Hoffentlich lässt der Regen nach“, bat ich den Himmel leise. „Hätte ich zumindest einen Regenschutz!“, schimpfte ich mit mir selbst, bevor ich einen Fuß auf das Pedal setzte und ins kühle Nass fuhr.

Kapitel 2: Der Anfang

Ich powerte mich aus, allerdings waren die Tropfen noch immer schneller. Sie überfielen mich von jeder Seite, allerdings hauptsächlich von vorne aufgrund des Fahrtwindes, den ich selbst erzeugte. Das Wasser rann auch schon über meine Hände in meine Lederhandschuhe hinein. Ich merkte, wie sich meine Schwimmhäute anspannten – sie spürten es seltsamerweise, wenn sie nass wurden. Bei meinen Handgelenken rann ein kleiner Wasserfall heraus.

„Kannst du nicht aufhören? Kannst du nicht für eine Sekunde stoppen?“, schimpfte ich gen Himmel, allerdings war ich zornig auf mich selbst. Ich hätte Bernd anrufen sollen – es wäre mir sicherlich besser ergangen.

Ich drängte mein Rad, stehen zu bleiben. Ich war verwundert. Irritiert. Erstaunt.

Die Regentropfen standen in der Luft, als wären sie an den Wolken aufgehängt worden. Staunend rasten meine Gedanken los.

Das ist kein natürliches Ereignis, oder? Doch. Es muss etwas Natürliches sein. Ich habe nur zu viel Fantasy gelesen. Es kann irgendetwas mit dem Magnetfeld der Erde zu tun haben, nicht?

Meine Haut kribbelte, meine Augen fühlten sich ein wenig komisch an, doch taten sie nicht weh. Mein Herz wummerte in meinem Brustkorb, als wollte es herausspringen.

Alles glitzerte, als würde die Sonne scheinen. Jeder einzelne Regentropfen, der dort über meinem Kopf schwebte, schien eine eigene Persönlichkeit zu haben. Verschwommen nahm ich Farben in der Flüssigkeit wahr.

Das ist jetzt ein Scherz, oder?

Ich traute mich, mich wieder zu bewegen, als ich bemerkte, dass nichts Weiteres passierte. Vorsichtig berührte ich eines der Wassergebilde mit meinen zitternden Händen. Nach dem nächsten Augenzwinkern rann mir das kühle Nass wieder die Haarspitzen, die Nase und den Rücken hinunter. Die stehenden Tropfen waren gerade mal für ein paar Sekunden geblieben.

Waren sie das überhaupt? Oder hatte ich es mir nur eingebildet?

Langsam und mit einem unheimlichen Gefühl setzte ich erneut meine Füße auf die Pedale und fing an zu treten. Ich brauchte nur noch fünf Minuten, bis ich daheim angekommen war. Kein Zwischenfall dieser Sorte kreuzte erneut meinen Weg. Ich stellte mein Rad schnell unter der Veranda ab und lief zur Haustür.

„Bitte, dass ihr noch nicht zurück seid. Bitte!“, zischte ich mir selbst zu. Langsam und leise drehte ich den Schlüssel im Schloss. Nur einen Spalt breiter, als ich selbst war, öffnete ich die Tür und schob mich hindurch.

Im Haus herrschte Stille. Es fühlte sich so an, als wäre niemand da. Ich hechtete dennoch auf leisen Sohlen ins Badezimmer im Erdgeschoss und riss mir die Kleidungsstücke von der Haut. Als ich gerade dabei war, mich in eine neue Jeans zu zwängen, bemerkte ich, dass ein Auto unsere Einfahrt heraufkam. Ich fluchte leise vor mich hin, während ich mich weiter hastig umzog und die nassen Sachen in den Wäschekorb schmiss. Meine Füße kamen gerade noch vor der Haustür zum Stehen, als sie aufgedrückt wurde.

Ich atmete erleichtert auf.

„Wieso keuchst denn du so? Bist du mit dem Rad durch den Regen gefahren?“, fragte Bernd mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Ich erwiderte seine Fragen nur mit einem Nicken, bevor wir zur Begrüßung unseren Handschlag machten. „Du hast Glück gehabt. Pa ist heute später dran.“

„Wieso?“, erwiderte ich neugierig.

„Hat wahrscheinlich einen wichtigen Termin“, tat es mein Bruder ab, als wäre es nicht interessant. „Wie war es in der Schule?“

„Wie immer“, antwortete ich gelangweilt, während ich meine Haare mit einem Handtuch trocken rubbelte.

„Waren sie einmal nett?“, fragte er, doch ich konnte an seinem Grinsen erkennen, dass er die Antwort, die ich ihm gleich geben würde, schon kannte. Ich rollte – wie immer – einfach nur mit den Augen.

„Schau – Ma und Pa hätten sicherlich nichts dagegen, wenn du ihnen sagst, dass du Schule wechseln willst. Du hast die Noten dazu!“

„Außer in Mathe“, entgegnete ich ein wenig niedergeschlagen. Ich wusste, dass ich gar nicht so dumm war, aber ich besaß eher ein riesiges Sprachtalent als das Verständnis für Zahlen.

„Du hattest eine Drei! Fast eine Zwei! Und noch nie hast du eine Fünf geschrieben!“

„Nicht gut genug für Sarah“, seufzte ich und ließ mich auf einem Barhocker nieder, während Bernd sich ein Glas Orangensaft einschenkte. Mein Bruder war der Einzige, der wusste, dass ich die Schule seit Langem wechseln wollte. Nicht aufgrund der Lehrer oder der Fächer, sondern nur wegen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler.

„Du kannst fließend Französisch und belegst zusätzlich noch Spanisch, obwohl das keiner tut! Die Lehrer wollten dich zuerst nicht einmal gehen lassen, bis du es ihnen bewiesen hattest.“

„Oui je sais“, murmelte ich geschmeichelt mit roten Backen. Ich mochte es nicht, wenn man meine Stärken so deutlich heraushob.

„Oui madame?“, lachte Bernd verwirrt und ich stimmte mit ein.

„Ja, ich weiß“, übersetzte ich für ihn. Er nickte anerkennend.

„Sag ich doch. Eh so einfach.“

Ich grinste über seine gespielte Ignoranz. Offensichtlich gefiel ihm das.

„Morgen ist der letzte Tag für diese Woche, dann hast du es geschafft. Und zum Abschluss bekommst du noch einen Eintritt ins Kino! Was denkst du?“

„Es wäre mir lieber, wenn es der letzte Schultag dort überhaupt wäre“, grummelte ich. „Aber das Angebot hört sich auch schon gut an“, ergänzte ich, damit ich mich nicht undankbar anhörte. Ich freute mich nämlich schon riesig auf den Kinoabend.

„Und nachher – nachher gehen wir noch zumMaci, gut?“

„Du meinst die neue McDonald’s Filiale gleich neben dem Kino?“, fragte ich mit glänzenden Augen und er nickte mit einem Lächeln. Bernd hielt mir die Faust zum Handschlag hin – diese musste ich einfach annehmen.

„Danke.“

Er nahm einen Schluck von seinem Saft und starrte in die Ferne.

„Weißt du, warum ich gewusst habe, dass du im Regen gefahren bist?“

„Äh – nein?“, erwiderte ich ein wenig perplex auf diese komische Frage. „Vielleicht wegen meiner Haare?“

„Nein.“

„Vielleicht … vielleicht, weil ich andere Kleidung trage?“

„Nein“, erwiderte er mit einem Lächeln. Ich konnte dieses jedoch nicht übernehmen.

Was will Bernd von mir?

„Wieso dann?“, fragte ich ein wenig genervt. Er blickte mich lange an, bevor er den Mund aufmachte und eine Hand auf meine gefalteten Hände legte.

„Ich war mir sicher, weil du deine Handschuhe nicht trägst.“

Es stimmte. Auch wenn ich oft zum Schutz das Leder trug, fühlte ich mich, wenn ich allein war, ohne es um einiges besser. Doch nun – da sie nass gewesen waren – hatte ich sie wohl oder übel ausziehen müssen, auch wenn ich das nicht gerne vor Sarah oder Jonas tat. Bernd war mir in diese Richtung gesehen – wie bei anderen Sachen – ganz egal.

Er nahm sachte zwei meiner Finger und spreizte sie langsam auseinander, damit sich die Haut dazwischen anspannte.

„Kann es sein, dass sie immer größer werden? Dass sie immer mehr mit dir mitwachsen?“, fragte er langsam, als ich meine Hände seines Blickes entzog. Ich hasste es, wenn sie zu viel Aufmerksamkeit bekamen. Hier war auch mein Bruder keine Ausnahme.

„Das glaube ich nicht. Wenn sie nass sind, dann werden sie so oder so größer.“

„Sie wachsen, wenn sie nass werden?“, fragte Bernd und ich konnte ein genervtes Aufstöhnen nicht länger zurückhalten.

„Nein, nicht wachsen. Es ist eben wie bei den Fingern. Die werden schrumpelig und ein wenig dicker, wenn sie lange genug mit Wasser in Berührung kommen. So ähnlich ist es da auch.“

„Ich verstehe“, erwiderte er nachdenklich. Mein Bruder blickte schon wieder ein Loch in die Ferne. Wir verweilten in der Stille, bis ich es nicht mehr aushielt.

„Hast du … hast du etwas Komisches mit dem Regen bemerkt?“

„Was?“, erwiderte er hastig. Ich schien ihn gerade aus den Gedanken gerissen zu haben. Ich wiederholte somit meine Frage ein wenig standfester. Eine Verneinung kam zurück. Bevor er allerdings alles wieder hinterfragen konnte, stellte ich ihm gleich die nächste.

„Wieso bist du eigentlich schon so früh zu Hause?“

„Ma hat mich am Morgen gefragt, ob ich zu Abend kochen kann. Sie und Pa würden später dazustoßen, beziehungsweise erst sehr spät am Abend kommen.“

Der Tag wird immer besser!

Ich gab ihm ein lächelndes Nicken als Antwort. Bernd war nämlich nicht nur mein Adoptivbruder, sondern auch ein Spitzenkoch.

Ich machte die Wäsche und legte meine Lederhandschuhe auf den Heizkörper, damit sie trocken wurden. Ich hoffte einfach, dass ich sie schon tragen konnte, wenn Bernds Eltern zurück sein würden. Sie mochten es nicht, wenn ich mit nackten Händen am Tisch saß. Nicht, weil sie es ebenso taten, sondern wegen meiner Spezialität zwischen den Fingern. Auch ich mochte es nicht – Sarah warf beim Eintreten dieses Falles meinen Händen Todesblicke zu, als wären sie Schlangen und könnten sie jede Sekunde angreifen.

Jedoch waren die beiden bis zum Anrichten der Speisen noch nicht da, somit aßen Bernd und ich allein – ohne Handschuhe.

„Ich mache dir einen Vorschlag, Marine“, sagte er plötzlich, als im Fernsehen das Wetter vorbeigezogen war. Als ich zu ihm hinüberlugte, hatte er die Fernbedienung in der Hand. Nun betätigte er den roten Knopf und der Flachbildschirm reagierte sofort. Normalerweise durften wir nicht einmal in das rechteckige Ding gucken, wenn wir aßen.

„Hm?“, erwiderte ich nur mit vollem Mund, da ich nicht unhöflich sein wollte. Diese Manieren hatte mir Sarah wohl oder übel eingeprägt.

Mein Bruder schob seinen leeren Teller ein wenig von sich weg und faltete die Finger ineinander. Bernd schien es ernst zu meinen.

„Ich rede mit Sarah und Jonas … wegen dir … über die Schule …“, sagte er langsam und half somit meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Meine Augen wuchsen auf die Größe von Tennisbällen.

„Du … du willst …? Nein. Nein, das kann ich nicht annehmen. Sie würden es nicht verstehen …“

„Aber wir können es versuchen, Marine.“ Mein Bruder blickte mich mit ernster und strenger Miene an. „Es kann so nicht weitergehen. Sie können dich doch nicht die ganze Zeit niedermachen. Am Sonntag beim Abendessen reden wir mit ihnen. Ich mache den Vortritt. Wir erklären es ihnen sachlich. Am besten wäre es, wenn du schon eine andere Schule raussuchst.“

Ich antwortete nichts, sondern dachte kauend darüber nach. Ich hasste meine Mitschülerinnen und Mitschüler, beziehungsweise sie mich, doch die ganze Schule deswegen schmeißen?

Ach, reiß dich zusammen, Marine! Du kannst dich nicht ständig mobben lassen. Vielleicht findest du irgendwo anders bessere Kameraden – vielleicht sogar Freunde.

„Aber –“, fing ich zu widersprechen an. „Aber … du weißt doch selbst, dass es keine andere Schule in der Umgebung gibt! Ich … ich müsste in ein Internat!“

Bernds Gesicht verzog sich. Langsam fing er zu nicken an.

„Ja, das stimmt. Aber so wie jetzt kann ich es auch nicht akzeptieren. Sie manipulieren dich und spielen zum Spaß mit deinen Gefühlen.“

„Es ist nicht so schlimm“, wollte ich schon erwidern, doch ich ließ meinen Mund geschlossen, da er es mir sowieso nicht geglaubt hätte. Dies war meine einzige Chance, von hier wegzukommen.

Von meinen Klassenkameradinnen und -kameraden. Und auch von Sarah und Jonas.

Manchmal fühlte ich mich schuldig, sie nicht zu mögen, da sie mich ja vor dem Heim gerettet hatten. Jedoch hatte ich als kleines Kind immer bessere Vorstellungen von einer Familie gehabt. Ich fühlte mich bei ihnen eingezwängt. Es ging immer nur über das liebe Geld oder das wahnsinnige Geschäft, das sie mit ihrem gemeinsamen Baubetrieb jeden Tag machten.

Und das hatte ich nun mal beides nicht. Mit den zehn Euro Taschengeld, die ich im Monat bekam, konnte ich nicht weit hüpfen, deswegen sparte ich es. Irgendwann würde ich mir schon etwas dafür kaufen können. Erst letztens hatte ich mich um ein Viertel in meiner Sparbüchse für eine blaue Strickjacke gebracht, die im Angebot gewesen war. Ich liebte sie – erst gestern hatte ich sie das letzte Mal getragen.

Hin und wieder sehnte sich mein Herz zurück zu Mary – auch wenn sie oft diszipliniert gewesen war, hatte ich mich bei ihr wohl gefühlt. Das Gefühl war noch da – die Erinnerungen dazu nicht mehr.

„Nun? Was hältst du von der Idee?“, kam die tiefe Stimme meines Bruders zu mir hinübergeweht. Manchmal – so wie jetzt – bereitete sie mir eine Gänsehaut. Seine Stimmlage passte nämlich geradezu perfekt zu seinem Aussehen. Bernd war zwei Köpfe größer als ich, hatte immer ein wenig Bräune auf seiner Haut und besaß graue Augen. Außerdem sah er so oft einen Trainingsraum von innen wie ich das Schwimmbad. Fast alle der Mädels dort blickten ihm jedes Mal hinterher, als würde er ihr Befehlshaber sein. Bernd sagte jedoch selbst, dass er das zum Kotzen fand.

Ich verweilte noch ein wenig in meinen eigenen Gedanken und das Familienmitglied blieb geduldig.

„Versuchen wir es“, kam es plötzlich über meine Lippen. Es hörte sich für mich selbst so an, als würde es jemand neben mir in meiner Stimme sagen.

Es kann nicht mehr schiefgehen, als dass sie nein sagen …

Doch mein Herz hämmerte so stark, als würde es das Schrecklichste befürchten.

Kapitel 3: Der Brief

Bevor ich mich jedoch nach einer neuen Schule umsehen konnte, kam mir die jetzige in die Quere.

Ich wurde erneut nass, als ich am nächsten Tag in der Früh mit dem Rad fuhr. Dieses Mal trug ich allerdings einen langen Regenmantel, den ich in der Garderobe hängen ließ, bevor ich die Stufen der Lehranstalt hinaufwanderte. Ich ging noch zügig auf die Toilette, erst dann machte ich mich ins Klassenzimmer auf. Ich war immer die Letzte, die zur Stunde kam und verweilte nur so lange, wie es die Lehrerin oder der Lehrer tat. So versuchte ich, die Mobbingangriffe gegen mich einzugrenzen. Dieses Mal hatte ich allerdings Pech – Professor Strauß war noch nicht in die Klasse gekommen. Laut ging es zu, deswegen hatte ich die winzige Hoffnung, dass sie mich nicht bemerkten.

Heute war jedoch offensichtlich nicht mein Glückstag.

„Ohhh!“, kam es spitz von der Mädchenecke herüber. Ich spürte ihre Blicke auf mir, doch ich ignorierte sie gekonnt und setzte mich direkt vor den Lehrertisch. Am Anfang des Schuljahres suchte ich mir jedes Mal diesen Platz aus – hier saß zumindest keiner in meiner Umgebung. Außer der Streber Paul. Aber für den war ich Luft. Zum Glück.

Sie kicherten über irgendetwas – ich wusste im Vorhinein, dass es um mich ging. Ich rollte meine Augen, als ich ihnen den Rücken zuwandte.

„Na, Marie? Schon schwimmen gegangen?“, kam ein schlechter Witz von ihnen zu mir herüber. Meine Haare waren nämlich trotzdem nass. Sie nannten mich seit der ersten Klasse Marie. Wahrscheinlich waren sie zu doof meinen Namen mit dem richtigen französischen Akzent auszusprechen.

„Willst du nicht deine Handschuhe ausziehen? Die sind ja voller Wasser. Ach, vergessen! Du hast einen Fimmel für diese Dinger!“

„Wer in Gottes Namen trägt denn heutzutage noch Handschuhe, Mädels? Nur alte Damen und Irre wie du, Marie!“

„Ins Schwimmbad gehen auch nur die!“

Die Wut brodelte in mir. Sie konnten mich nicht in Ruhe lassen.

„Wie läuft es eigentlich mit dem Schwimmunterricht? Kannst du dich endlich über Wasser halten oder tauchst du immer noch ab?“

Mit einer ruckartigen Bewegung stand ich auf. Als ich zu ihnen nach hinten sah, bemerkte ich, dass sie vor Schreck schon ein wenig geschrumpft waren. In diesem Moment hätte ich gerne gelächelt, doch es fühlte sich so an, als hätte etwas in mir die Kontrolle übernommen.

Ich stampfte mit Absicht, als ich vor ihren Vierertisch ging. Meine Hände bewegten sich langsam aneinander. Ich bekam Panik, da ich dachte, dass ich nun meine Schwimmhäute offenbarte. Doch schien mein Körper etwas anderes vorzuhaben.

Das Leder rieb langsam aneinander und erzeugte ein wenig Wärme, die meine kalten Hände auftaute. Innerhalb von zehn Sekunden passierte nichts mehr, deswegen fanden die Mädels neuen Mut und griffen ihre vorherige Beschäftigung wieder auf.

„Was willst du? Uns zeigen, wie hässlich deine Handschuhe sind? Sieh mal, wie alt und aufgeschürft die sind. Ach ja, vergessen – du bekommst ja kein Geld von deinerAdoptivfamilie“, zischte mir die Erste – Alexa – zu. Ich wusste, dass sie mich mit meinem Familienstand runterziehen wollte, allerdings hatten meine Ohren auf taub umgestellt.

„Sind deine Finger kalt oder willst du uns mit deiner grässlichen Allergie anstecken?“

Als die Dritte den Mund aufmachen wollte, passierte etwas. Ich spürte, wie eine Art angenehme Wärme sich durch meinen Körper zog und nach vorne zu meinen Händen schoss. Sie wirkte sehr vertraut, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, sie jemals schon gespürt zu haben. Erneut prickelte meine Haut und meine Augen juckten ein wenig, allerdings konnte ich meine Finger nicht bewegen, um das blöde Gefühl loszuwerden.

Ein winziger Tropfen Wasser machte sich zwischen meinen Handflächen bemerkbar und rieselte langsam hinab. Schneller als ich hinsehen konnte, tröpfelte noch mehr Flüssigkeit von meinen Fingerspitzen herab, direkt auf das Buch von Alexa. Zuerst verwandelte sich die erste Seite in Pappmaché, dann die zweite, die dritte – immer so weiter, bis das ganze Buch durchnässt war. Meine Hände und Handschuhe blieben allerdings trocken.

Was zur Hölle passiert hier gerade?

Mit einer kurzen Bewegung meiner Hände hatte der Wasserfall ein Ende gefunden. Ich stützte mich mit ihnen an der Tischkante ab und blickte jedem Mädchen einzeln und deutlich in die Augen.

„Du brauchst einen Schwimmkurs, Alexa. Ich habe dich das letzte Mal gesehen. Du kannst nicht schwimmen. Deswegen war ich so freundlich und habe dir ein wenig Wasser zum Ausprobieren überlassen“, erklärte ich mit einem Lächeln, bevor ich wieder die Kontrolle über meinen Körper bekam. Das Mädchen starrte mit einem bösen Blick zurück, allerdings hielt ich ihm stand. Bevor sie jedoch den Mund aufmachen konnte, kam Professorin Strauß durch die Tür.

„Bonjour mes amours“, begrüßte sie uns und ich kehrte lächelnd zu meinem Platz zurück.

„Bonjour Professeur Strauss“, erwiderten wir im Chor, dann durften wir uns setzen.

„Professeur Strauss?“, kam es von Alexa herüber. Mir lief es heiß und kalt den Rücken hinunter. Sie konnte mich doch jetzt nicht verpetzen! Sie hatte mir schon öfters etwas angetan!

Na, wehe dir!

Ich fixierte sie mit einem Blick, als mir die Kontrolle meiner Hände schon wieder entrissen wurde. Dieses ungewohnte, aber nun bekannte Gefühl floss durch meinen Körper in die Spitzen meiner kleinen Finger, die sich unbemerkt auf meine Gegnerin richteten. Nun bekam ich eindeutig eine Gänsehaut und ich merkte, dass sich meine Finger so sehr anspannten, dass sie bebten. Angst schäumte in mir hoch, doch es gab kein Zurück mehr. Mein Körper hörte nicht mehr auf meinen Kopf, der dagegen ankämpfte.

Beim genaueren Hineinfühlen in mich selbst bemerkte ich, dass meine Finger auf mein Herz hörten.

„Madame Strauss, Marie … ich meine, Marine …“ Die Energie verließ abrupt meine Finger. Alexa verstummte und ihr Blick kehrte sich nach innen.

„Was ist denn, Alexa?“, fragte unsere Lehrerin ein wenig wütend, da sie es hasste, unterbrochen zu werden. Sie gab uns dafür die letzten zehn Minuten Zeit, um Fragen zu stellen.

Die Angesprochene fing erneut zu reden an – dieses Mal stotternd.

„Ich meine, ich … ich habe …“ Meine Finger spannten sich ein wenig mehr an, damit sie nicht so zitterten. „Ich meine, ich habe das Buch unabsichtlich in eine Pfütze fallen lassen.“

„Sie fahren doch gar nicht mit dem Rad, nischt wahr, Mademoiselle? Wie konnte es nass werden?“ Ich liebte den französischen Akzent unserer Professorin. Am ersten Tag hatte sie uns erzählt, wie schön es in Paris war, da sie selbst einige Jahre ihres Lebens dort verbracht hatte.

„Ich war … ich war tollpatschig“, stotterte meine Klassenkameradin zurück und ich lächelte breit, als ich meine Hände selbst wieder bewegen konnte. Professor Strauß schien allerdings nicht begeistert zu sein.

„Tut mir leid, Mademoiselle, aber ich muss Ihnen dafür ein Minus eintragen. Und Sie müssen sich eigenhändig ein neues Buch besorgen. Ohne dieses können Sie den Kurs nischt vorsetzen.“

„J–Ja, Madame“, erwiderte Alexa niedergeschlagen. Als sich die Erwachsene umdrehte, entstand ein leises Geschnatter rund um sie. Ihre Freundinnen – und sie selbst auch – konnten wohl nicht verstehen, wieso sie mich nicht verpetzt hatte.

Ich lächelte süffisant in mein Buch, um das Geschriebene dort zu lesen, doch meine Gedanken befanden sich ganz woanders. Wie hatte ich es geschafft, so viel Wasser aufzubringen? Wieso hatte mich Alexa gerade nicht verpetzt? Und wieso zur Hölle hatten meine Finger sich von selbst bewegt und meinen Kopf einfach ignoriert?

Als ich merkte, dass ich heute keine Antworten mehr bekommen würde, schob ich meine Gedanken beiseite und arbeitete im Unterricht mit. Ich ergatterte in dieser Stunde fünf Pluspunkte, die unsere Lehrerin mit einem breiten Lächeln in ihr Notizbuch hinzufügte. Es tat weh, wenn ich daran dachte, dass ich Professor Strauß eines Tages nicht mehr sehen würde.

Alexa sah das allerdings nicht so.

„Du kannst dich auf etwas gefasst machen, du abscheulichesMeermädchen“, zischte sie mir zu, bevor sie mir den Rücken zudrehte und davonstolzierte.

Meermädchen … Meermädchen … Meermädchen …

Ein langsames Echo ihrer Worte blieb in meinen Ohren, als wäre es mit Sekundenkleber festgemacht. Ich wusste nicht, ob sie mir Schmerzen bereiten sollten oder eher Fragen.

Merkten die anderen nun langsam, dass ich anders war?

Ich konnte mich von den vielen Fragen, die heute aufgekommen waren, erst befreien, als ich zu Bernd ins Auto sprang. Er hatte mein Rad schon in den Kofferraum geladen. Das Navigationssystem zeigte 33 Minuten an, da wir bis ins Innere von Hamburg fuhren. Wir sangen und tanzten – so gut es festgeschnallt ging – mit den Songs mit, die mein Bruder aufgelegt hatte. Wir konnten beide den Text der ausgewählten Lieder und ich liebte solch eine Zeit. Erst jetzt bemerkte ich, wie lange wir nichts mehr miteinander getan hatten.

Wir beruhigten uns erst, als wir an einer Ampel standen und ein ruhiges, langsames Lied spielte. Ich kannte es schon, seitdem ich ein kleines Kind gewesen war – mein Herz verband es mit Mary. Deswegen sang ich mit geschlossenen Augen mit.

Ich wollte mich wieder zurückerinnern.

Ich wollte wieder bei ihr sein.

Das Lied auf Französisch war für mich keine Schwierigkeit. Auch die Höhen und Tiefen konnte ich schon auswendig. Ich fühlte mich frei, dadurch dass ich meine Augen geschlossen hielt. Ich konnte mich überall auf die Welt hindenken.

Doch so sehr ich es mir auch wünschte, die Erinnerung kam nicht. Es war, als wäre sie hinter einem Gitter versperrt worden. Manchmal hielt ich es für eine Art komisches Klischee, dass es für mich ein Leben vor den Schmitts – also vor Bernd und Co. – gegeben hatte.

Ich blickte ein wenig traurig aus dem Fenster, als das Lied aufhörte. Wir fuhren schon wieder. Bernd hatte die ganze Zeit keinen Mucks gemacht.

„Du singst echt gut, Marine“, sagte er, doch ich nickte nur mit dem Kopf. Ich befand mich gerade erneut in meinem Gedankenmeer. Wieso hatten mich meine Eltern nicht gewollt? Wieso war ich adoptiert? Und wieso hatten die Schmitts mich aufgenommen? Sarah hasste mich und Jonas wirkte geradezu gleichgültig, wenn ich in der Nähe war. War ich wirklich so abscheulich?

„Komm, Marine. Wir sind da. In zehn Minuten beginnt der Film!“, rief Bernd mit einer mitreißenden, freudigen Stimmung und ich musste grinsen.

„Ich komme ja schon!“

Fast drei Stunden später liefen wir zum Auto zurück. Normalerweise war es um diese Zeit im September noch nicht dunkel, doch da es schon wieder heftig regnete, verdeckten die schwarzen Wolken den Himmel.

Ich liebte den Film vom Anfang bis zum Schluss, aber am allermeisten konnte ich mich bei Bernd bedanken, da wir ihn in 3D gesehen hatten. Dies hatte ihn nochmal um einiges verbessert.

Dadurch, dass wir schon beim Auto waren und es Eimer voll Wasser herunterschüttete, fuhren wir – wo ich insgeheim völlig dagegen war – mit dem Fahrzeug insMcDrive. Ich hatte mich schon schlecht gefühlt, da wir mit dem Auto bis nach Hamburg gefahren waren, obwohl wir einen Bahnhof in der Gegend hatten. Doch dann wären wir zu spät ins Kino gekommen und hätten den Film sowieso nicht mehr gesehen.

„Was magst du, Marine?“, holte mich Bernd erneut aus den Gedanken zurück. Ich konnte mich vor ihnen immer noch nicht retten.

„DenCaesar Salad Naturalund eine Sprite“, erklärte ich meinem Adoptivbruder, der dies weitergab. Ich war froh, dass wir nicht oft hier waren. Die Verpackung des Essens tat der Umwelt nicht gerade gut.

„Über was denkst du denn die ganze Zeit nach? Ist schon wieder etwas in der Schule passiert?“, fragte er und erinnerte uns beide somit an den einzigen körperlichen Angriff meiner Mitschüler. Ein paar Jungs aus meiner Klasse hatten mich eingekreist und hin und her geschubst. Ich konnte mich mit einem Lächeln noch daran erinnern, dass der Anführer der kleinen Gruppe beim Nachhausefahren in den Bach geradelt war.

„Nein, nein“, erwiderte ich schnell und drehte mich ihm nun zu. Er hatte gestern schon so komisch gewirkt, als ich ihn wegen des Regens gefragt hatte. Ich wollte ihn nicht noch mehr verunsichern. „Ich denke nur daran, dass ich jetzt die zehnte Kante im Tauchen geschafft habe“, erklärte ich ihm mit einem stolzen Ausdruck. Nun wirkte Bernd verdattert, doch machte er ein fröhliches Gesicht.

„Ernsthaft? Das ist voll cool! Wieso hast du es mir nicht erzählt? Du bist der Wahnsinn.“