Marseille - Günter Liehr - E-Book

Marseille E-Book

Günter Liehr

4,8

Beschreibung

Für 2013 hat sich Marseille herausgeputzt, und ein urbanistisches Erneuerungsprogramm soll Frankreichs älteste Stadt für ihre postindustrielle Karriere als Business Standort rüsten. Marseille jedoch spielte immer eine besondere Rolle unter Frankreichs großen Städten. Sie verteidigte ihre Eigenständigkeit und wehrte sich gegen Zugriffe des Zentralstaats. Dafür wurde sie auch mehrmals hart bestraft. Das Buch beschreibt die große Bedeutung des Marseiller Hafens als Durchgangsstation für Waren und Reisende, Ein und Auswanderer, Kolonialbeamte, Truppen und Fluchtbewegungen. Wellen von Immigranten haben das Bevölkerungsgemisch dieser Stadt hervorgebracht: Korsen, Italiener, Griechen, Armenier, Maghrebiner, Piedsnoir und Komorer. Auch Deutsche hatten mit dieser Stadt zu tun als neugierige Literaten wie Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky u.a., als antifaschistische Flüchtlinge oder als Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Dass die zentralen Viertel von Marseille noch heute von Immigranten und kleinen Leuten bewohnt sind, passt der aktuellen Stadtpolitik nicht ins Konzept. Ob aber die "Normalisierung" gelingt, ist nicht sicher in dieser Stadt, in der die Dinge selten liefen wie geplant.

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Günter Liehr

MARSEILLE

Günter Liehr

MARSEILLE

Porträt einer widerspenstigen Stadt

Farbfotos von Orlando Piña

© 2013 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfoto: © John Frechet, Iconotec / GraphicObsession

ISBN 978-3-85869-568-0

Inhalt

Eine Außenseiterin rückt ins Zentrum

Von der Marseillaise zur »Stadt ohne Namen«

Händlerelite und Seifenbarone – Aufbruch ins Industriezeitalter

Zweites Kaiserreich – wirtschaftlicher Aufschwung unter Louis Napoléon

Die Kommune – eine letzte Revolte des Südens

Tor zum Süden – Kolonialismus als Schicksal

Kosmopolis am Mittelmeer – der Erste Weltkrieg und die Folgen

Literarische Rauschzustände – rassistischer Taumel

Kampf um das Rathaus

Das letzte Tor zur Freiheit – Zweiter Weltkrieg und Vichy-Regime

Unter deutscher Besatzung

Nach der Befreiung

Die Ära Defferre

Aufstieg der extremen Rechten, Kulturboom und ein Fußballmessias

La Reconquête – das Programm der Rückeroberung

Mittelmeermetropole und Kulturhauptstadt

Zeittafel

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Eine Außenseiterin rückt ins Zentrum

Heftig wird an dieser Stadt zurzeit gearbeitet. Man hat ihr neuen Glanz verordnet, ein futuristischer blauer Turm beherrscht das Panorama, pittoresk ergänzt durch die schmucken weißen Korsika-Fähren. Vor das alte Fort Saint Jean hat sich ein kubisches Museum hingepflanzt. Hafennahe Zonen sind zu Riesenbaustellen geworden.

Ein Prozess der Transformation scheint Marseille erfasst zu haben. Es ist noch nicht lange her, da machten Touristen einen Bogen um diese Stadt. Jetzt wird die viel geschmähte Ganovenhochburg von Kreuzfahrtschiffen angelaufen. Man reibt sich die Augen.

Tatsächlich hatte Marseille lange einen chronisch schlechten Ruf, aber damit soll jetzt Schluss sein. Es präsentiert sich eine sonnenverwöhnte Mittelmeerstadt unter blauem Himmel mit üppigem Kulturangebot und hohem Freizeitwert. Mit der früheren Industrie- und Problemstadt gleichen Namens scheint dieses Marseille nicht viel gemein zu haben, auch wenn gelegentlich Rückfälle zu beklagen sind und Presse und Fernsehen sich über Vorkommnisse verbreiten, die dem neuen Bild nicht recht entsprechen wollen. Man erfährt dann von Schießereien, kriminellen Polizisten, Korruptionsskandalen, auf einmal ist da wieder dieses unmögliche, entsetzliche, unverbesserliche Marseille, und schon droht das Erreichte wieder zu zerbröckeln. Die Lage ist offenbar noch etwas instabil. Das ist schmerzlich für die Stadtväter und alle, die so angestrengt am Image arbeiten. Aber vielleicht ist die Stadt tatsächlich nicht so sonnig-heiter und mittelmeertouristisch-harmlos, wie man sie gerne hätte?

Wo immer in den französischen Medien von ihr die Rede ist, auch wenn es wieder irgendetwas Katastrophales zu vermelden gibt, taucht der Ausdruck »Cité phocéenne« auf. Journalisten benutzen ihn als Namensalternative für Marseille. Aber es scheint auch etwas wie Respekt dabei mitzuschwingen, fast als wäre es der Ehrentitel für die älteste Stadt Frankreichs. Als wäre dies keine Stadt wie jede andere. »La cité phocéenne« hat übrigens nichts mit den Phöniziern zu tun. Mit ihnen werden die »phocéens« von deutschen Autoren gern verwechselt, selbst Walter Benjamin erlag diesem Irrtum. Nein, die Phokäer waren die Bewohner des griechischen Phokäa in Kleinasien – heute heißt es Foça und ist eine kleine Stadt in der Türkei. Von da kamen 600 v. u. Z. die Gründer von Massalia. Sie entdeckten nicht nur einen idealen Naturhafen, den sie Lacydon nannten, sondern darüber hinaus geografische Verhältnisse, die für die weitere Karriere der Stadt entscheidend sein sollten: ein Territorium, das vom Hinterland durch eine halbkreisförmige Kette von Bergen abgeschirmt und nur zum Meer hin offen war. Von Anfang an bestanden engere Verbindungen zu anderen Mittelmeerufern und Häfen als zum Landesinneren. Lange Zeit hindurch drehte die Stadt dem Land im Norden den Rücken zu, blickte nach draußen, in die Fremde, die ihr aber nie besonders fremd war.

Gewiss, die Hafenstadt war dann durch die historische Entwicklung schicksalhaft mit Frankreich verbunden, aber die Beziehung blieb stets problematisch. Wiederholt rebellierte Marseille gegen die Pariser Zentrale, lehnte sich gegen Zugriffe und Reglementierungen auf, wollte in Ruhe den eigenen Geschäften nachgehen und sich möglichst auch selbst regieren. Das konnte nicht zugelassen werden. »Der französische Kapitalismus hatte dieser Stadt eine strategische Rolle zugedacht«, schreibt Alessi dell’Umbria, der in seiner großartigen Histoire universelle de Marseille die Geschichte einer fortschreitenden Unterwerfung erzählt.

Gebraucht wurde Marseille nicht zuletzt für die französischen Kolonialabenteuer, es erfüllte die Funktion einer Drehscheibe für Menschen und Waren, wovon seine Reedereien, seine Industrie, seine Bourgeoisie profitierten, solange das System funktionierte. Und die Hafenstadt erlebte auch das bittere Ende, die Dramen der kolonialen Endphase, bis hin zur massenhaften Ankunft der »pieds-noirs« nach dem Debakel der »Algérie française«.

Aber wer war nicht vorher schon alles gekommen! Das 19. und 20. Jahrhundert hindurch wurde die Bevölkerung laufend aufgefrischt durch neue Einwanderungswellen. Immigranten stellten den permanenten Nachschub für Industrie und Hafen, bildeten das Gros des Marseiller Proletariats, während andere Zuwanderer aus der Fremde in die oberen Etagen der Stadt aufstiegen. Griechen, Syrer, Italiener, Spanier, Korsen, Armenier, Afrikaner, Maghrebiner haben Anteil an diesem einzigartigen Menschenmosaik, in dem der Schriftsteller Henri Bosco eine Kompensation für das Fehlen alter Kulturbauten sah: »Es gibt da dennoch etwas in Marseille, ein außergewöhnliches Monument, das aber nicht besichtigt werden kann. Denn es ist kein steinernes Gebäude, es ist ein immenses Gebäude aus Fleisch und Blut; es ist die Bevölkerung die sich temperamentvoll und unermüdlich in Szene setzt.«

Die Faszination wurde nicht von allen geteilt. Die beispiellose Mixtur galt vielen als bedrohlich, für Rassisten jeder Provenienz wurde Marseille zum Schreckbild. Der kosmopolitische Bevölkerungsmischmasch, die Tradition der Revolte, politische Eigenwilligkeit, wiederholte Hafenarbeiterstreiks, kriminelle Subkulturen: das Ressentiment gegen diese Stadt speiste sich je nach historischer Phase aus unterschiedlichen Quellen. Und es ist auch heute keineswegs verschwunden.

Im Gegenzug hat sich in Marseille eine Haltung aus Trotz und Eigensinn mit einem Hauch von Selbstmitleid entwickelt. Man begreift sich als Opfer, führt Klage über Benachteiligung, Arroganz und Stigmatisierung. Marseiller können Beispiele aufzählen, wann und von wem ihrer Stadt in der Vergangenheit übel mitgespielt wurde. Die Empörung darüber und der damit verbundene Anti-Paris-Affekt sind geradezu Bausteine der lokalen Identität geworden, und die ist stark ausgeprägt: Trotz aller Krisen und Konvulsionen, oder vielleicht gerade deshalb, hat sich bei den Bewohnern von Marseille ein intensives Gefühl kollektiver Zugehörigkeit entwickelt, egal woher sie kommen und wie lange sie schon da sind.

Ein wenig konsterniert sind viele von ihnen angesichts der aktuellen städtebaulichen Veränderungen, die ihnen als Fait accompli vorgesetzt werden, ohne dass sie darauf hätten Einfluss nehmen können. Aber die Stadt hänge am Tropf, so sagt man ihnen, sie verharre schon zu lange in Stagnation, es fehle ihr an Dynamik, sie könne sich nicht für ewig in der Krise einrichten, brauche neue Perspektiven, müsse endlich wachgerüttelt und zukunfts-, das heißt konkurrenzfähig gemacht werden.

Vor einigen Jahren sind deshalb staatlich beauftragte Marseille-Verbesserer mit dem Milliardenprojekt »Euroméditerranée« auf den Plan getreten. Eine neue Ära soll für die Stadt beginnen, und sie zeichnet sich schon ab. Mit den Altlasten der industriellen Vergangenheit wird aufgeräumt. Wo Lagerhäuser waren, wachsen Bürotürme empor, von »Revitalisierung« ist die Rede, von internationalen »Events«, von Mittelmeer- und Tagungstourismus. Mit der neuen Karriere als mediterrane Dienstleistungsmetropole soll ein Schlusspunkt hinter die maritime Orientierung gesetzt werden, die vor 2600 Jahren mit den Phokäern und ihrem Lacydon begonnen hat.

Noch sind urbanistische Erneuerung und Imagewandel nicht vollendet. Und es ist auch nicht sicher, ob die Metamorphose so stattfinden wird wie gewünscht. Zweifellos aber ist Marseille – nach Blaise Cendrars »eine der geheimnisvollsten Städte der Welt« – an einem Wendepunkt angekommen. Jetzt, wo die ureigene und uralte Tradition der Hafen- und Industriestadt überwunden werden und auf ihren Ruinen etwas Gefälliges und Aseptisches hochgezogen werden soll, bietet es sich an, einen Blick in die aufregende Geschichte dieser Stadt zu werfen und sich vielleicht von ihr in Staunen versetzen zu lassen.

Von der Marseillaise zur »Stadt ohne Namen«

Am 30. April 1790 gegen drei Uhr morgens schleicht ein kleiner Trupp Nationalgardisten im Dunkeln den Hügel von Notre-Dame de la Garde hinauf, wo sich eines der drei Marseiller Forts befindet. Als bei Tagesanbruch die Ziehbrücke heruntergelassen wird, behaupten die Männer, sie seien gekommen, um der Frühmesse in der Kapelle beizuwohnen. Das will man den frommen Bürgern nicht verwehren, man lässt sie herein und sie überrumpeln die Besatzung. Der Kommandant des Forts zögert zunächst, aber als ihm die Eindringlinge weismachen, draußen warte eine zweitausend Mann starke Truppe auf ihren Einsatz, gibt er auf. Anstelle des königlichen Lilienbanners wird die Trikolore aufgezogen, unten in der Stadt können es alle sehen, und die Neuigkeit verbreitet sich in Windeseile.

Beim Marsch auf das Fort Saint Nicolas beteiligt sich dann schon eine größere, freudig erregte Menschenmenge. Auch hier gelingt die Einnahme recht problemlos und friedfertig. Der Kommandant der königlichen Garnison kapituliert nach einer Anstandsfrist. Und bald weht es auch hier blau-weiß-rot vom Turm.

Anders läuft es dann beim Fort Saint Jean: Hier wird Widerstand geleistet, was der Kommandant Calvet und der Major Louis de Beausset mit dem Leben bezahlen. Beider Köpfe werden im Triumphzug auf Piken durch die Stadt getragen. Der Fall der Marseiller Bastillen wird ausgiebig gefeiert. »Wir mussten diesen Brandherd der Konterrevolution löschen, der in unserer Mitte loderte und uns bedrohte. Indem wir uns der Forts bemächtigten, haben wir eine heilige Pflicht erfüllt«, teilen die Marseiller Patrioten der Nationalversammlung in Paris mit.

Es handelt sich hier nicht einfach nur um eine Imitation des Pariser Ereignisses vom Vorjahr. Diese Forts haben eine sehr eigene Bedeutung für Marseille, sie stehen für die demütigende Unterwerfung der Stadt durch Louis XIV, den »Sonnenkönig«, 130 Jahre zuvor.

Begleitet von dumpfem Trommelklang rückten am 22. Januar 1660 die königlichen Truppen in die Stadt ein. Marseille hatte sich unbotmäßig verhalten, hatte rebelliert gegen die Missachtung seiner städtischen Sonderrechte, sich gegen den Gouverneur der Provence aufgelehnt und Louis XIV den Gehorsam verweigert – für den jungen König Anlass, ein Exempel zu statuieren, schließlich war die Hafenstadt für sein Reich unverzichtbar. Die Besatzungstruppe demontierte die auf der Stadtmauer platzierten Kanonen, entfernte die Schlösser von den Toren und zerstörte die Porte Réale, das große Haupttor, wo alle Herrscher vor ihrem Eintritt in die Stadt bislang rituell gelobt hatten, deren Sonderrechte zu respektieren. Beidseits des Tores wurde eine Bresche in die Mauer geschlagen, durch die dann der König am 2. März 1660 demonstrativ in Marseille einzog. Die Botschaft war klar: Diese Stadt war nun niedergerungen und erobert, mit ihrer relativen Autonomie war es zu Ende.

Bis dahin konnte Marseille in den verschiedenen Phasen seiner Geschichte stets seine Freiheiten verteidigen, hatte im Mittelalter zeitweilig die Form einer Stadtrepublik angenommen, später die Grafen der Provence auf Distanz gehalten und seine Eigenständigkeit so deutlich manifestiert, dass diese es vorzogen, ihren Hof im freundlicheren Aix-en-Provence zu installieren. Als die Provence 1481 an den König von Frankreich fiel, wurden die Sonderrechte der Stadt vertraglich festgelegt und in der Folge wiederholt erneuert. Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich Marseille unter dem ersten Konsul Charles de Casaulx zeitweilig in eine diktatorisch regierte unabhängige Republik verwandelt und sich mit den Spaniern gegen den französischen König Henri IV verbündet. Selbst als dessen Macht wiederhergestellt war, bestätigte der Monarch die traditionellen Privilegien der Hafenstadt. Noch des »Sonnenkönigs« Vater und Vorgänger Louis XIII schwor, wie es üblich war, bevor er Marseille durch das Haupttor betrat, die Freiheiten der Stadt zu respektieren.

Mit der Unterwerfung durch Louis XIV wurde Marseille ins absolutistische Königreich eingegliedert, bekam ein neues Gemeindereglement und eine Garnison verpasst. Zwei Festungen, das Fort Saint Nicolas und das Fort Saint Jean, wurden an den Eingang des Hafens gebaut, nicht so sehr, um die Stadt vor äußeren Bedrohungen zu schützen, sondern vor allem, um ihre Bewohner in Schach zu halten und ihnen täglich die Präsenz einer übergeordneten Autorität vor Augen zu führen. »Louis le Grand hat diese Zitadelle bauen lassen in der Sorge, dass sich Marseille dem Überschwang der Freiheit hingeben könnte«, so stand es dort eingemeißelt.

Der große Mittelmeerhafen wurde für die wirtschaftlichen und militärischen Interessen des Zentralstaats in Dienst genommen. Am Südufer des Lacydon entstand – als Stadt in der Stadt – das Arsenal der königlichen Galeeren. Mit über 12 000 Galeerensträflingen, dazu 6000 zugehörigen Seeleuten, Soldaten, Offizieren und Schreibern bekam Marseille eine sehr spezielle neue Bevölkerung. Bis 1748 sollte diese Einrichtung funktionieren. Eine beträchtliche Auswirkung auf das Hafengeschehen hatte die Colbert’sche Wirtschaftspolitik. Jean-Baptiste Colbert, der Finanzminister von Louis XIV, musste die absolutistische Maschinerie in Gang halten, die Finanzierung des luxuriösen Hofstaats und der Kriegszüge des Königs sicherstellen. Es galt, Manufakturen und Handel zu stimulieren, die Hafenstädte zu fördern. Marseille wurde Freihafen und bekam das Monopol für den Levantehandel, was Macht und Bedeutung der bourgeoisen Elite verstärkte.

Während sich der Reichtum der Händler-Oligarchie mehrte, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der kleinen Leute kontinuierlich im Laufe des Jahrhunderts. Die Steuern auf Konsumprodukte wie Mehl, Salz, Wein wurden immer drückender, die Lebensmittelpreise stiegen in unerträglichem Maße. Händler horteten Getreide, um den Preis zu treiben. Gewaltsame Proteste, Streiks und Hungerrevolten waren die Folge.

Revolutionäre Avantgarde

120 000 Einwohner hatte Marseille im Jahr 1789, doppelt so viele wie 1660. Der dicht besiedelte Kern lag wie schon zur Zeit der Antike am Nordufer des tief ins Land schneidenden Naturhafens, im Lacydon der Phokäer, die sich dort um 600 v. u. Z. angesiedelt hatten. Auch wenn die Stadt in der Vergangenheit mehrfach gebrandschatzt, zerstört und wieder aufgebaut wurde, entsprach die Straßenführung noch weitgehend dem antiken Stadtplan – ein ungefähres Schachbrettmuster, angepasst ans hügelige Terrain und an die lokalen Witterungsbedingungen, mit engen gewundenen Gassen, die vor der heißen Sonne schützten und den kalten Mistral draußen hielten.

Die untere Stadt, das Quartier Saint Jean, bestand aus etwa dreißig parallelen Gassen, die von der Höhe zum Ufer hinunterführten. Sie wurden von mehreren Querstraßen durchschnitten, die parallel zum Kai verliefen. Von der auf drei Hügeln gelegenen Oberstadt ist heute das Panier genannte Viertel übrig, mit dem ältesten Platz der Stadt, der Place de Lenche, am Ort der griechischen Agora und des römischen Forums.

In der Altstadt waren die religösen Traditionen lebendig, 28 Klöster gab es und wie überall in der Provence diverse Büßer-Bruderschaften mit ihren Kapellen, dazu mehrere Hospitäler und das von dem genialen Architekten Pierre Puget errichtete Armenasyl, die Charité. Nach seinen Entwürfen hatte sein Bruder Gaspard das Rathaus unten am Kai gebaut, in dessen Erdgeschoss die Börse untergebracht war, und auf Pugets Planungen ging auch der Cours zurück, damals die »gute Stube« von Marseille. Heute heißt er Cours Belsunce, aber von der großzügigen barocken Anlage ist kaum mehr etwas zu ahnen. Pugets Cours war die Nahtstelle zwischen der alten Stadt und dem neueren Teil, der nach dem Abriss der Stadtmauern entstanden war – zugleich ein Ort der Promenade und des Marktes, ein öffentlicher Raum par excellence, wo sich alle Bevölkerungsschichten begegneten. Hier und in den anderen gleichförmigen Straßen des Erweiterungsgebiets aus der absolutistischen Ära lebte inzwischen die Elite aus Aristokraten und Händlern, wobei die Bourgeoisie deutlich dominierte. Die Adligen waren in Marseille nicht sehr zahlreich, im Unterschied zur Provinzhauptstadt Aix, wo sich die großen Institutionen der Provence befanden. Typisch für die neue Wohngegend, die sich Richtung Osten und Süden erstreckte, war das Drei-Fenster-Haus, das sich später als Stil-Merkmal der Marseiller Architektur überallhin ausbreiten sollte.

Der dritte Stadtteil war aus dem früheren Galeerenarsenal entstanden. Am Südufer des Hafens, Rive Neuve, waren auf dem Terrain dieser »Stadt in der Stadt« Wohn- und Lagerhäuser gebaut worden. Rund um den Canal de l’Arsenal, den man im 20. Jahrhundert zugeschüttet hat (und der heute zum Cours d’Estienne d’Orves geworden ist), konzentrierten sich die Warenlager der Import-Export-Händler. Rund 700 »négoçiants« zählte die Stadt am Vorabend der Revolution.

Der quirlige Hafen bot Besuchern ein faszinierendes Schauspiel. »Es sind in diesem Moment ungefähr 550 Schiffe im Hafen«, schrieb 1787 der reisende Poet Laurent-Pierre Bérenger. »Die Bewegung, die ein solcher Handelsbetrieb hervorruft, ist grandios. Überall sieht man Packen, Tonnen, Träger beladen mit Kisten und Kästen, überall Gespanne, Karren, Tragegestelle; ein starker Geruch von Essenzen und Gewürzen kommt in Schwaden aus den Lagerhäusern. Produkte aus allen Himmelsrichtungen, Menschen sämtlicher Weltgegenden in ihren verschiedenen Trachten, alle Flaggen, die die Meere befahren, sind hier zusammengekommen.«

Die großen Händler waren die Herren des Marseiller Wirtschaftslebens, sie kontrollierten auch Teile der handwerklichen Produktion sowie die aufkeimende Industrie – Tuchwebereien, erste Seifenmanufakturen und Zuckerraffinerien –, in der bereits Lohnarbeiter beschäftigt wurden, als Nachfolger der Galeerensträflinge, die vorher als billige Arbeitskräfte zur Verfügung gestanden hatten.

Von Anbeginn war Marseille eine Hochburg der Revolution, ein Herd der Avantgarde. Schlechte Ernten, spekulierende Händler, ein ungerechtes Steuersystem, das die Grundnahrungsmittel verteuerte – all dies schuf schon zu Beginn des Jahres 1789 eine explosive Situation, die in einem Revolutionsvorspiel mündete. Es begann am 23. März, als eine Volksmenge die Häuser des leitenden Steuerbeamten und des Bürgermeisters plünderte und verwüstete. Als Nächstes schienen die Warenlager der Rive Neuve an der Reihe. Das wäre der Handelsbourgeoisie an die Substanz gegangen; eine ad hoc aufgestellte Bürgermiliz verhinderte gerade noch das Schlimmste. Aber der Stadtrat sah sich genötigt, nachzugeben, senkte die Preise und setzte das Steuersystem außer Kraft. Zu seinen bisherigen, vorwiegend aristokratischen und großbourgeoisen Mitgliedern stießen über 150 Angehörige des Dritten Stands, darunter Handwerker und Bauern, die nun den Ton angaben. Zwei Monate lang regierte dieses illegale Gremium die Stadt in einem Klima wiedergefundener Autonomie, weder der Intendant noch sonst ein höherer Provinzoder Staatsbeamter wagten sich in dieses gefährliche Rebellennest. Schließlich rückte der Graf von Caraman, Kommandeur der königlichen Truppen der Provence, mit einer ganzen Armee an, um den Aufstand zu beenden.

Mit Euphorie wurde dann in Marseille auf die Kunde vom Sturm auf die Bastille reagiert. Der rebellische Charakter dieser Stadt, der sich auch in der Folge immer wieder manifestierte, veranlasste auch die misstrauischen neuen Autoritäten in Paris, als Hauptort des im März 1790 neu gegründeten Départements Bouches-du-Rhône das aristokratisch gesittete Aix-en-Provence vorzuziehen.

Im April desselben Jahres entstand als treibende Kraft und revolutionäre Pressure-Group nach dem Modell des Pariser Jakobinerclubs die »Patriotische Gesellschaft der Freunde der Verfassung«. Man bezeichnete sie auch als »Volksgesellschaft« oder einfach »Club«. Ihr Versammlungslokal befand sich in der Rue Thubaneau, einer Seitenstraße des Cours. Zu den profiliertesten Mitgliedern zählten der Lehrer François Isoard und der Anwalt Charles Barbaroux, der 1791 als Abgeordneter der Gesetzgebenden Versammlung nach Paris geschickt wurde. Marseille ergriff deutlich Partei gegen die Vertreter des Ancien Régime, verstand sich als Hüterin der neuen Institutionen, ließ Truppen der Nationalgarde nach Avignon und Arles marschieren, um die Konterrevolutionäre zu verjagen, die sich dort breitgemacht hatten. Außerdem veranstalteten die Jakobiner vom Thubaneau-Club revolutionspädagogische Reisen in die Provence. Auf seinem Missionzug im Frühjahr 1792 gelangte Isoard bis Sisteron. Die neuen Verhältnisse waren immer noch bedroht, mussten überall gefestigt und erklärt werden. Es galt, die lokalen Patrioten in ihrem Kampf gegen Aristokraten und revolutionsfeindliche Priester zu unterstützen, sie zum Entfernen feudaler Symbole von Gebäuden zu ermutigen. Noch in den kleinsten Nestern wurde die Gründung patriotischer Vereine betrieben. Marseille exportierte seine Revolution in eigener Regie, preschte immer wieder voran und forderte noch vor den Parisern die Absetzung des Königs.

Kampf den Despoten

Seit Louis XVI versucht hatte, außer Landes zu fliehen, standen er und seine Familie unter Aufsicht im Pariser Tuilerien-Palast. Er machte sich zusätzlich verdächtig, als er per Veto die Ausnahmemaßnahmen für den Krieg gegen Preußen und Österreich verweigerte. Der Abgeordnete Barbaroux appellierte an den Marseiller Bürgermeister, er möge kampfesmutige Männer in die Hauptstadt schicken, um die Pariser Revolutionäre gegen die monarchistischen Intrigen zu unterstützen. Ein Bataillon von 517 Freiwilligen zog am 2. Juli 1792 los. Auf dem Weg sangen sie mit schmetternder Inbrunst ein neues Kampflied von Rouget de Lisle, das überall sehr gut ankam. Man nannte es »das Lied der Marseiller« beziehungsweise »la Marseillaise«. Nach einem Monat Fußmarsch wurden sie in Paris begeistert empfangen und als »die tapferen Marseiller« gefeiert.

Es gab freilich auch Leute, die sie weniger schätzten, wie der spätere napoleonische General Paul Thiebault, der ihrem Einzug beiwohnte und korrektes militärisches Auftreten vermisste: »Es war an 30. Juli, als diese scheußlichen Verbündeten, der Auswurf von Marseille, in Paris ankamen. Das Eindringen der Briganten entfesselte den Pöbel und das Verbrechen vollends. Ich glaube, man kann sich nichts Abscheulicheres vorstellen als diese fünfhundert tollen Menschen, die zu drei Vierteln betrunken sind, fast alle in roten Mützen, mit nackten Armen und zerlumpt …«

Jedenfalls hatten die Marseiller entscheidenden Anteil am Angriff auf den Tuilerien-Palast am 10. August, der das Ende der Monarchie einleitete. Am 20. September unterlagen die preußischen Truppen bei Valmy. Zwei Tage später schaffte der Nationalkonvent, die neu gewählte Verfassungsgebende Versammlung, das Königtum ab, und es war erstmals von der »einen und unteilbaren französischen Republik« die Rede.

In Marseille – wohin als Dank für die aktive Beteiligung am 10. August die Direktion des Départements Bouches-du Rhône transferiert worden war – forderten wieder vor allen anderen sämtliche Instanzen das Todesurteil für den abgesetzten König. Die Hinrichtung am 21. Januar 1793 war Anlass für ein mehrtägiges Fest. Man kann nicht sagen, dass Marseille lau gewesen wäre in Sachen revolutionäre Entschlossenheit.

Der Club war nicht die einzige Repräsentation des revolutionären Marseille: Es gab außerdem die 32 Sektionen, die Basisversammlungen der Quartiers, die sich ebenfalls in die öffentlichen Angelegenheiten einmischten. Teilnehmer waren potenziell sämtliche Bewohner des Viertels, woraus sich ein breites Spektrum der städtischen Gesellschaft ergab. Über längere Zeit waren die Sektionen der politischen Linie des Clubs gefolgt. Aber im März 1793 entwickelte sich ein Konflikt, der in der Folge dramatische Formen annehmen sollte. Unter Beteiligung der Sektionen war ein Volksgericht entstanden, das sich bemühte, willkürliche, angeblich revolutionäre Gewaltakte und Lynchjustiz zu verhindern. Nun aber beschlossen Stadrat, Distrikt und Département auf Betreiben des Clubs anstelle dieses Tribunals die Schaffung eines von Isoard geleiteten Revolutionskomitees mit zwölf Mitgliedern. Die Sektionen weigerten sich, die Abschaffung des Volkstribunals zugunsten eines institutionalisierten Komitees zu akzeptieren. »Wir haben den Tyrannen und die Despoten gestürzt; die natürliche und unantastbare Souveränität liegt einzig beim Volk«, heißt es in einem Sitzungsprotkoll, und in einem anderen wird klargestellt: »Die Souveränität des Volkes, die einzig legitime, liegt bei den Sektionen, das heißt bei den Basisversammlungen.« Sie beharrten auf dem Prinzip der direkten Demokratie, wohingegen der Club Funktionen wie die des Gerichts von Repräsentanten übergeordneter Instanzen ausgeübt sehen wollte, wie es den Direktiven des Pariser Konvents entsprach.

Die Entsendung zweier Missionsbeauftragter des Konvents, die die Marseiller Jakobiner unterstützen sollten, radikalisierte die Situation noch weiter. Die beiden versuchten, auf die Sektionen Einfluss zu nehmen. Sie wollten die Teilnahme an den Versammlungen reglementieren, »unsichere« Mitglieder ausgrenzen, was heftig zurückgewiesen wurde: Jeder Citoyen habe das Recht, ohne spezielle Genehmigung an den Basisversammlungen teilzunehmen und seine Stimme abzugeben. Die Sektionäre entzogen auch dem clubnahen Bürgermeister und dem Stadtrat das Vertrauen, empörten sich über die »Diktatoren, die sich im Schatten der vom Volk verliehenen Funktionen erheben«.

Der Graben vertiefte sich. Der Club der Rue Thubaneau erschien den Sektionen als Transmissionsriemen des Konvents und als Verkörperung der »Tyrannei der Exekutivmacht«. Den beiden Emissären wurde es mulmig, sie zogen es vor, sich diskret nach Montélimar abzusetzen. In ihrem Bericht an die Assemblée denunzierten sie die verwerfliche Orientierung der Stadt.

Das Volkstribunal setzte seine Arbeit fort und verurteilte die, die von der revolutionären Situation profitierten, um sich zu bereichern oder Gewaltakte zu verüben, wie die Brüder Savon, die in eigener Regie reiche Bürger an Laternen aufgeknüpft hatten. Sie wurden auf der Plaine Saint Michel guillotiniert. Die 32 Sektionen bildeten nun ein Generalkomitee, das erklärte, es werde die Dekrete des Konvents und seiner Exekutive, des Wohlfahrtsausschusses, nicht anerkennen. Isoard, der Vorsitzende des Clubs, ging noch einmal in die Gegenoffensive, rief auf zur Einigkeit von Club und Sektionen und warnte vor der konterrevolutionären Gefahr. Die Sektionen, die in Marseille eindeutig Oberwasser hatten, beschlossen nach intensiven Debatten am 3. Juni, die Volksgesellschaft in Marseille wegen despotischer Tendenzen zu schließen. Das Tribunal verfügte die Verhaftung der Verantwortlichen. Isoard verließ Marseille und brachte sich nach Paris in Sicherheit.

Die Bewegung der Sektionäre war nicht konterrevolutionär, sie bekannte sich auch durchaus zur einen, unteilbaren Republik. Aber als deren Grundlage betrachtete sie die lokalen Versammlungen. Sie wehrte sich gegen das autoritäre Gebaren der Pariser Zentralmacht und begehrte auf gegen deren mit unbegrenzten Befugnissen ausgestatteten Repräsentanten.

Drei Tage nach der Auflösung des Clubs erfuhren die Marseiller vom Ausgang des Konflikts im Pariser Konvent: vom Sturz der Girondisten und vom Triumph der Bergpartei (Montagnards), die so genannt wurde, weil ihre Anhänger die oberen Plätze innehatten. Zu den Girondisten, die gemäßigtere Positionen eingenommen und die großen Handelsstädte repräsentiert hatten, war auch der Marseiller Abgeordnete Charles Barbaroux gestoßen, der zuvor den Club der Rue Thubaneau frequentiert hatte. Zwar gelang es ihm, den Verfolgungen in Paris zu entkommen, aber ein Jahr später wurde er in Bordeaux hingerichtet.

Auf den Sturz der Girondisten im Juni 1793 folgten die Hegemonie der Montagnards über den Konvent und die föderalistischen Aufstände in verschiedenen Teilen des Landes. Anfang Juli verfügten die Marseiller über eine eigene Armee, die im gesamten Département Bouches-du-Rhône rekrutiert worden war. Sie besetzte Avignon und drang bis Orange vor, wurde dann aber von den Truppen des Konvents unter General Carteaux zurückgeworfen. Angesichts des drohenden Debakels infiltrierten royalistische Elemente das Zentralkomitee der Sektionen. Sie gingen so weit, mit den verfeindeten Engländern über die Öffnung des Hafens zu verhandeln. Wie es zu dieser Kontaminierung der bis dahin republikanischen Sektionen kommen konnte, bleibt rätselhaft, auch die Historiker sind sich nicht recht klar darüber. Am 25. August zog Carteaux siegreich in Marseille ein, womit die royalistische Gefahr gebannt war.

Es folgte die Bestrafung der royalistischen und föderalistischen Frevler. In einer ersten Phase war damit das Kriminalgericht des Départements betraut, in dem Mitglieder des wiedereröffneten Clubs das Sagen hatten. Es arbeitete zügig, aber einigermaßen gewissenhaft: Bloße Denunzierung genügte nicht, verurteilt wurde nur, wem reale Taten nachzuweisen waren. Immerhin wurden 162 Todesurteile gefällt. Die Guillotine stand weiter auf der Plaine Saint Michel, also am Stadtrand.

Mit anderen Marseiller Jakobinern war auch François Isoard zurückgekehrt und hatte seinen Platz als Präsident des Clubs wieder eingenommen. Sogleich machte er sich höheren Orts unbeliebt: Für den Oktober organisierte er einen »republikanischen Kongress« sämtlicher Volksgesellschaften aus den südlichen Départements. 1500 Teilnehmer strömten in Marseille zusammen. Es wurde die Forderung erhoben, solche Versammlungen jedes Jahr abzuhalten. Damit wäre eine vermittelnde Instanz zwischen der Pariser Exekutive und den lokalen Komitees und Gemeinden geschaffen worden, die eine starke Beteiligung der Bürger am politischen Prozess ermöglicht hätte, etwa bei der Vorbereitung von Gesetzen. Dies rief heftige Ablehnung bei den Pariser Montagnards hervor, nach deren Vorstellung alle Macht in den Händen des Konvents und seiner Ausschüsse konzentriert werden musste. Ausgangspunkt der politischen Initiative konnte nur die Hauptstadt sein, die Provinz hatte zu folgen. Isoard wurde föderalistischer Neigungen bezichtigt, der Kongress als »infam« und »subversiv« angeprangert und im November per Dekret vom Konvent wegen Infragestellung des »legislativen Zentralismus« verboten. Ein Rundschreiben begründete das Verbot: »Der politische Körper, wie der menschliche Körper, wird zu einem Monster, wenn er mehrere Köpfe hat. Die einzige Autorität, die alle seine Bewegungen steuert, ist der Konvent: außerhalb der von ihm umschriebenen Sphäre ist Leere und unendliches Chaos.«

Nicht nur die Sektionen, auch deren lokale Gegner wurden also föderaler Neigungen verdächtigt. Zwar schreibt der Historiker Jacques Guilhaumou: »Den beiden Varianten des Marseiller Föderalismus ging es darum, eine egalitäre und demokratische Beziehung zwischen Paris und der Provinz herzustellen, und nicht darum, die eine und unteilbare französische Republik in einen Föderalstaat zu verwandeln.«

Aber die Stadt stand nun unter Generalverdacht. Noch ein Jahr zuvor war Marseille als Avantgarde der Revolution bewundert und verherrlicht worden. Im Herbst 1793 verblasste in den Diskursen der Pariser Jakobiner das heroische Bild des Marseiller Revolutionärs. An seine Stelle trat eine unter dem Einfluss versengender Sonnenstrahlen politisch verirrte Gestalt. Häufig wurden nun die Auswirkungen des Klimas angeführt, um die Neigung der Marseiller zum Föderalismus zu erklären. Guilhaumou: »Es ist dort heißer als anderswo, und diese Hitze kann, wenn sie gut gesteuert wird, der Freiheit nützlich sein; sie kann auch den gegenteiligen Effekt haben und ihren Feinden dienen. Marseille ist der Beweis dafür.«

Im Konvent empfand man das Marseiller Strafgericht als zu milde und schickte zum entschlossenen Aufräumen vier Kommissare, von denen sich besonders Louis-Marie-Stanislas Fréron hervortat. Er beschuldigte die lokalen Jakobiner, bei ihrer Strafverfolgung zu schonend mit den Sektionären und den reichen Kaufleuten umgegangen zu sein – »Die Reichen zittern nicht, der Föderalismus ist dort nur eingeschlafen« –, und setzte die Terreur auf die Tagesordnung. 80 Mitglieder des Thubaneau-Clubs wurden des Föderalismus beschuldigt und verhaftet. Fréron setzte die Rathausmannschaft ab – auch alles Föderalisten! Isoard, den er besonders im Visier hatte als Initiator des infamen Marseiller Kongresses, sah sich erneut gezwungen zu fliehen (1795 sollte auch er unter der Guillotine enden). Für Fréron war diese Stadt mitsamt ihren Jakobinern zutiefst infiziert. Er sah dafür geografische Gründe: »Der Marseiller betrachtet sich von seiner Natur her als ein eigenes Volk. Die geografische Situation, die Berge und Flüsse, die ihn vom Rest Frankreichs trennen, seine spezielle Sprache, alles nährt diese föderalistische Meinung. Die besten hiesigen Patrioten sehen nur Marseille, Marseille ist ihr Vaterland, Frankreich ist nichts.«

Nun begann die zweite Phase der Bestrafung: Das Revolutionsgericht wurde aufgelöst und durch eine Militärkommission ersetzt, die sehr viel flotter und unbekümmerter war, was die Todesurteile anging. Die Hinrichtungen – 123 in knapp zwei Monaten – fanden sofort nach dem Urteilsspruch statt, das Schafott war jetzt demonstrativ auf der Canebière aufgebaut. Verurteilt wurden nun auch Bürger, die nichts weiter getan hatten, außer vielleicht ihre Ablehnung des Pariser Zentralismus zu artikulieren, darunter einige der bekanntesten Marseiller Reeder.

Fréron beschränkte sich aber nicht auf die Bestrafung von Menschen, er demolierte auch Monumente. So ließ er alle Gebäude zerstören, in denen sich die Sektionsmitglieder getroffen hatten. Mehrere Kirchen wurden dem Erdboden gleichgemacht, darunter die Eglise des Accoules. Nur der Kirchturm blieb stehen und steht da bis heute.

Frérons Fazit zu dieser Stadt, die sich gegen den Geist des zentralistischen Nationalstaats versündigt hatte: »Ich glaube, Marseille ist für immer unheilbar, es sei denn, man deportierte alle seine Bewohner und ersetzte sie durch Menschen aus dem Norden.«

Das war nun nicht möglich, aber immerhin fiel ihm eine besonders demütigende Strafmaßnahme ein: Die Aberkennung des Namens der Stadt. Marseille wurde zur »Ville sans nom«. Auch wenn diese Maßnahme wenig später wieder aufgehoben wurde, so zeigte doch die Verurteilung zur »Stadt ohne Namen« die Entschlossenheit, jede Spur der kommunalen Freiheit auszulöschen.

Die Gemeinde Marseille wurde aufgesplittet in drei Verwaltungseinheiten unter der Autorität eines Zentralbüros. Unter dem Vorwand des kriegsbedingten Ausnahmezustands wurden die verbliebenen Reste eigenständiger lokaler Handlungsmöglichkeiten liquidiert, alle Instanzen, die Beamten, die Polizei der Autorität der zentralstaatlichen Exekutive von Wohlfahrtsausschuss und Sicherheitskomitee unterworfen, regionale Zusammenschlüsse untersagt. »Über ganz Frankreich hinweg mussten die Kommunen und mit ihnen zugleich ihre Volksgesellschaften, ihre Revolutionskomitees mit ansehen, wie jede direkte Verbindung unter ihnen verboten wurde, jede zentrale Versammlung, die mehrere Ortschaften oder Départements vereinigte«, schreibt der Historiker Daniel Guérin.

Die im Ancien Régime entwickelten Strukturen des staatlichen Absolutismus erlebten ihre Wiederauferstehung in neuem Gewande. Das Prinzip der Einheit und Unteilbarkeit wurde zum Dogma erhoben, alles war zu beseitigen, was der heiligen Fiktion einer einheitlichen Nation zu widersprechen schien. Die kulturelle Diversität, die viele Städte und Regionen charakterisierte, war von Übel und musste homogenisiert werden. In der »einen und unteilbaren Republik« sollte es auch nur eine Sprache geben. Eine Untersuchung des Abbé Grégoire, Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung, kam zu dem schockierenden Ergebnis, dass von 83 Départements nur 15 komplett frankofon waren. Eine Vielzahl von Sprachen wurde in Frankreich gesprochen: Bretonisch in der Bretagne, Baskisch im Baskenland, Deutsch im Elsass, Flämisch in Flandern, Korsisch in Korsika, Katalanisch im Roussillon und Okzitanisch im weiten Süden. Die offizielle Amtssprache Französisch im Ancien Régime hatte daran wenig geändert – ein Missstand, dem der Abbé Grégoire abhelfen wollte: »Es ist wichtiger, als man denkt, diese Verschiedenheit von groben Idiomen auszulöschen, die nur die Kindheit der Vernunft und das Alter der Vorurteile verlängern.« Grobe Idiome? Über den okzitanischen Sprachraum, zu dem die Provence gehört, schrieb Friedrich Engels: »Die südfranzösische, vulgo provenzalische Nation […] hatte zuerst vor allen anderen Nationen eine gebildete Sprache. Ihre Dichtkunst diente sämtlichen romanischen Völkern, ja den Deutschen und Engländern zum unerreichten Vorbild.« Aber was scherte es die Gleichmacher. Im Juli 1794 wandte sich der Konventsabgeordnete Barère de Vieuzac an die Citoyens mit der Aufforderung: »Bürger, ihr hasst den politischen Föderalismus, schwört nun auch dem der Sprache ab. Die Sprache muss einheitlich sein wie die Republik.«

Der Marseiller Jakobinerclub, immerhin, war zweisprachig und hatte bei seinen patriotischen Missionsreisen ohne Hemmungen das Provenzalische benutzt, um die Menschen auf dem Lande zu erreichen und für die Revolution zu gewinnen. Aber nachdem der Montagnard-Konvent Marseille nach dem föderalistischen Aufstand zurückerobert hatte, verboten die Autoritäten die Benutzung des Provenzalischen bei Theateraufführungen. Französisch zu sprechen wurde zur patriotischen Pflicht.

Dennoch lebte die angestammte Sprache des Südens noch lange fort: Weitere hundert Jahre hindurch herrschte Zweisprachigkeit. Während die Bourgeoisie das Französische als die obligatorische Sprache der Aufsteiger und Gebildeten übernahm und sich auch sonst kulturell zur Hauptstadt hin orientierte, blieb das Provenzalische in Marseille die Sprache der kleinen Leute. In dem Volkspoeten Victor Gelu hatte sie einen eminenten Repräsentanten. Man machte sich lustig über prätentiöse Mitbürger, die sich betont französisierten: »Faire le Francïot«, wurde das genannt, den Franzosen markieren. Die »Kindheit der Vernunft« dauert noch eine ganze Weile fort, wie François Mazuy, Autor eines Essays über Marseiller Sitten und Gebräuche Mitte des 19. Jahrhunderts, anmerkt: »Der Provenzale ist vielleicht nicht perfekt im Französischen, aber er beherrscht es genügend, um sich verständlich zu machen. Würde man allerdings behaupten, dass er es gerne spricht, dann würde man lügen: Die französische Sprache ist für uns eine durch das Recht des Siegers aufgezwungene Sprache.«

Händlerelite und Seifenbarone – Aufbruch ins Industriezeitalter

Mit der napoleonischen Herrschaft, die der Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. Oktober) 1799 einleitete, wurde das System des Zentralstaats noch weiter perfektioniert. Bonaparte behielt die Innovationen der Revolutionsadministration bei, beseitigte aber alle gewählten Instanzen auf den Niveaus von Départements, Kantonen und Gemeinden, entledigte sich jeder möglicherweise rivalisierenden Macht auf lokaler Ebene. Das Gesetz vom Februar 1800 führte die vom Ersten Konsul und später vom Kaiser ernannten Präfekten ein, die den Départements vorstanden. Von der Staatsspitze eingesetzt wurden auch die Chefs der Unterpräfekturen und die Bürgermeister der größeren Städte, die der kleineren Gemeinden wurden von den Präfekten ernannt. Die gesamte Verwaltungshierarchie war damit abhängig vom Chef der Exekutive, also von Bonaparte. Der direkte Einfluss der Zentralmacht bis in den letzten Winkel des Landes war so garantiert, Ausdruck eines autoritären Herrschaftswillens, von dessen Prinzipien spätere französische Republiken wesentliche Teile übernahmen. Nicht verwunderlich, dass man in Marseille, dieser Stadt mit ihrem tief verwurzelten Unabhängigkeitsgeist, einer solchen Verschärfung des Zentralismus wenig Sympathien entgegenbrachte.

Der neue, von oben ernannte Bürgermeister war ein angeheirateter Verwandter der Bonaparte-Familie. Aber immerhin wurde damit der seit 1793 als Reaktion auf den föderalistischen Aufstand geltende Ausnahmezustand beendet, der die Stadt als Verwaltungseinheit zerschlagen und in drei Sektoren aufgeteilt hatte.

Vielleicht musste man ja doch nicht alles so negativ sehen? Der erste Präfekt Charles Delacroix war durchaus bemüht, sich mit den Notabeln gutzustellen; so verlegte er etwa die Verwaltungshauptstadt des Départements wieder von Aix nach Marseille, das wurde mit Genugtuung aufgenommen.

Und nach der 1793 begonnenen Blockade der Straße von Gibraltar durch die Engländer mit ihren üblen Folgen für die Marseiller Wirtschaft gestattete der Friedensschluss von Amiens im März 1802 endlich ein Aufatmen. Die Handelsbeziehungen zu den Antillen konnten wiederbelebt, die traditionellen Kontakte im Mittelmeerraum wieder aufgenommen werden. Die Kaufleute witterten Morgenluft, trauerten aber manchen alten Privilegien nach und hätten gern wieder einen Freihafen gehabt, wenngleich unter Beibehaltung gewisser Schutzmaßnahmen. Schroff wurden sie von Bonaparte abgekanzelt: »Die Marseiller können nicht gleichzeitig Franzosen und Ausländer sein.« Und basta.

Der Aufschwung war von kurzer Dauer. Nach einem Jahr war es wieder vorbei mit der wirtschaftlichen Aufheiterung, denn ab Mai 1803 wurde der Krieg gegen die Engländer wieder aufgenommen. Einige Monate später lieferte ein Kommissar des Départements seinen Stimmungsbericht, in dem es hieß: »Im Allgemeinen ist der Einwohner von Marseille nicht glücklich. Seine physische und moralische Existenz hängt vom Handel ab. Er leidet, weil dieser zusammengebrochen ist.«

Was scherte es den Feldherrn? Der neue Präfekt Antoine Claire Thibaudeau, der auf Delacroix folgte, machte sich rasch unbeliebt, indem er die zur Kriegsführung nötigen Steuergelder eintrieb und die allseits gefürchtete Soldatenaushebung überwachte. Außerdem unterdrückte er energisch jede Art von missliebiger Meinungsäußerung.

Das Regime Bonapartes, der sich im Mai 1804 zum »empereur« gekrönt hatte, büßte durch seine Kriege beim Handelsbürgertum bald die letzten Sympathien ein, es führte die Marseiller Wirtschaft schlichtweg in den Ruin. Mit der im November 1806 verfügten Kontinentalsperre, die jeden Handel mit den Britischen Inseln verbot, verschärfte sich die englische Seeblockade der französischen Küsten. Der Marseiller Fernhandel kam fast ganz zum Erliegen. Die Überwachung durch die Engländer verhinderte selbst eine bescheidene Küstenschifffahrt. Die Schiffe blieben im Hafen und verrotteten. Die Blockade warf Marseille in seiner Bedeutung als Handelsplatz weit zurück und begünstigte die Konkurrenzhäfen am Mittelmeer. Durch das Ausbleiben der Lieferungen von Baumwolle brach die lokale Textilproduktion zusammen. Als Ausgleich ließ Napoléon 1811 eine der sechzehn nationalen Tabakmanufakturen in Marseille installieren. Vor allem Frauen fanden Arbeit in dieser Fabrik, die immerhin bis 1989 funktionierte.

Aber das war völlig unzureichend, um das Absterben der Hafenaktivität zu kompensieren. Armut und Hunger grassierten, Volkssuppenküchen mussten eingerichtet werden, die Bevölkerungszahl schrumpfte. In Massen verließen die Menschen diese Stadt, in der es keine Arbeit gab.

In der Misere hielt Thibaudeau mit drakonischen Maßnahmen die Ordnung aufrecht. Aufrührerische Elemente hatten keine Chance gegen seine brutale Polizei. Als im April 1814 die Nachricht vom Sturz Napoléons und der Machtergreifung von Louis XVIII kam, wurden Freudenfeuer entzündet, kaum jemand weinte dem Empereur eine Träne nach. Der Mann und seine Politik waren Gift für Marseille gewesen. Zu Fuß und als Jäger verkleidet floh der Präfekt Thibaudeau aus der Stadt. Als ein Jahr darauf Napoléon aus Elba zurückkam, wurden seine Repräsentanten außerordentlich kühl empfangen. Die Niederlage von Waterloo im Juni 1815 war für Marseille eine Erlösung. Die Wiedereinsetzung des Königs wurde mit Erleichterung aufgenommen.

Dynamische Kräfte von auswärts

Man arrangierte sich recht gut mit den im zweiten Anlauf zurückgekehrten Bourbonen, erhoffte sich friedliche und dem Geschäftsleben zuträgliche Zeiten, Ordnung und Wohlstand. Es war ja keine Rückkehr zum Ancien Régime, die fürs Handelsbürgertum wichtigen Ergebnisse der Revolution blieben beibehalten. Und der neue Bürgermeister Marquis de Montgrand war ein besonnener, den Extremen abgeneigter Mann, ebenso wie der Präfekt Villeneuve-Bargemon, der sich bis zu einem gewissen Grad dem Fortschritt aufgeschlossen zeigte.

Die Monopolstellung, die Marseille vor 1792 im Levantehandel hatte, war freilich dahin, daran ließ sich nicht einfach wieder anknüpfen. Zwanzig Jahre Seeblockade hatten den Hafen marginalisiert und aus dem internationalen Geschäft verdrängt. Die Lieferanten von einst hatten inzwischen andere Kunden gefunden. Im östlichen Mittelmeer waren die Marseiller mit der Konkurrenz von Engländern, Italienern, Österreichern oder Russen konfrontiert. Es galt, den geografischen Handelshorizont zu erweitern.

In diesen Jahren formierten sich die Händler- und Reederdynastien, die für lange Zeit das Marseiller Wirtschaftsleben dominieren sollten. Selten nur stammten ihre Gründer aus alteingesessenen Marseiller Familien, die meisten waren von außerhalb zugewandert. Manche hatten sich schon gegen Ende des Ancien Régime in Marseille installiert, wie die aus Lyon stammenden Gebrüder Bergasse. Sie waren zunächst auf den Weinhandel spezialisiert. Bis nach Südamerika exportierten sie ihre Fässer, die folgenden Generationen importierten dann auch Weizen aus Russland, später war die Familie Bergasse an Reedereien beteiligt sowie im Bankwesen aktiv und blieb bis weit ins 20. Jahrhundert fester Bestandteil der Marseiller Bourgeoisie. Ein Henry Bergasse war bis 1965 Abgeordneter im Marseiller Stadtrat.

Auch die Familie Pastré, die aus dem Languedoc stammte, war schon kurz vor der Revolution gekommen. 1825 eröffnete Jean-Baptiste Pastré, der gute Beziehungen zum ägyptischen Vizekönig Mehmet Ali unterhielt, ein Kontor in Alexandria. Die Pastré waren auch sehr präsent in Tunesien und pflegten engen Kontakte zum Bey von Tunis Ahmed I. und seinem Finanzminister Mustafa Khaznadar. Die Pastré sollten für lange Zeit zum inneren Zirkel der großen Marseiller Notabeln gehören. Während des Zweiten Weltkriegs tat sich Lily Pastré damit hervor, dass sie in ihrem noblen Anwesen verfolgte Künstler beherbergte.

Ein anderes Beispiel dynastischen Erfolgs ist die Familie Rocca, deren Familienstammsitz sich im ligurischen Loano befand. 1811 eröffnete sie ein Kontor in Marseille, das sich wenig später zu einem bedeutenden Handelshaus entwickelte und lange verflochten blieb mit anderen Teilen der Familie und deren Niederlassungen in Neapel, Tarent, Bari, Triest und Odessa. Und wenn anfangs die Firma Rocca frères ihre Aktivitäten aufs Mittelmeer beschränkten, sollte sie bald mit ihren über 45 Seglern auch New Orleans, Hongkong und Schanghai anlaufen. Durch Eheschließungen und Betriebszusammenschlüsse entstand 1892 mit Rocca, Tassy & de Roux die größte Marseiller Speiseölfirma.

Viele der von außen Gekommenen waren Protestanten. Zu ihnen gehörten die Fraissinets, die ursprünglich in den Cevennen beheimatet waren. Marc Fraissinet fing mit bescheidener Küstenschifffahrt nach Italien, Spanien und Portugal an, um zu einem der ganz Großen unter den Marseiller Reedern aufzusteigen. Anderthalb Jahrhunderte lang blieb die Compagnie Fraissinet präsent.

Protestanten waren auch die meisten in Marseille ansässigen Deutschen. Einer, der es in die oberen Kreise schaffte, war Emil Schloesing aus Pirmasens. Er kam gegen 1820 nach Marseille, arbeitete sich hoch, heiratete eine Seifenfabrikantentochter und eröffnete das Handelshaus Schloesing frères & Cie. Es war erst spezialisiert auf den Import von Sesamkörnern aus Südindien, später gründeten die Schloesings eine Chemiefabrik und produzierten Kunstdünger. Ihrer Bedeutung entsprechend ehrte man die Sippe mit einem Boulevard Schloesing.

Das Hauptkontingent der protestantischen Unternehmer bildeten die Schweizer. Zu den Erfolgreichsten gehörten die Gebrüder Imer sowie die Vettern Charles und Auguste Bazin, die eine langlebige Dynastie begründeten. Über mehrere politische Regime hinweg gehörte sie zur Marseiller Geschäftselite. Die Schweizer Kolonie, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach den Italienern mit bis zu 3000 Familien die zweitstärkste ausländische Bevölkerungsgruppe stellte, dominierte die reformierte Kirchengemeinde der Rue Grignan und entwickelte ein reges Vereinsleben. Die reichen Notabeln finanzierten den Bau eines protestantischen Krankenhauses und gründeten zur Unterstützung notleidender Landsleute den Wohltätigkeitsverein Société de Bienfaisance.*

In besonderem Maße trugen zur Wiederbelebung des Geschäftsverkehrs zwischen Okzident und Orient die griechischen Kaufleute bei, die sich in großer Zahl um 1822 in Marseille ansiedelten. Auslöser dafür war das Massaker von Chios, mit dem die Türken auf einen griechischen Aufstand reagierten. Viele dieser Neuankömmlinge unterhielten familiäre und geschäftliche Beziehungen mit Hafenstädten wie Konstantinopel, Odessa, Smyrna, Saloniki, Triest oder Livorno. Durch sie wurde Marseille in ein weitverzweigtes Netz integriert.

Familien wie die Mavrogordato, Zygomalas, Rodocanachi, Zafiropulo oder Zarifi wurden zu festen Bestandteilen der Wirtschaftsbourgeoisie. Zeugnisse aus der Anfangszeit der Marseiller Griechen sind die griechisch-katholische Kirche in der Rue Edmond Rostand und die griechisch-orthodoxe Gemeinde in der Rue de la Grande Armée.

Die Clans der Händler und Reeder bildeten eine geschlossene Gesellschaft mit ritualisierten Lebensformen. Familienzusammenhalt wurde großgeschrieben, man blieb möglichst unter sich, heiratete in den eigenen Kreisen, das mehrte den Reichtum und stärkte die Dynastien. Zahlreiche Nachkommenschaft war die Regel, was wieder neue Allianzen durch zweckmäßige Eheschließungen begünstigte.

Mit Vorliebe residierte diese Elite südlich der Canebière, wo sich neue, in klassizistischer Ordnung rechtwinklig angelegte Quartiers ausdehnten. Das alte am nördlichen Ufer des Hafens gelegene Stadtzentrum, in dessen verwinkelten Gassen Aristokraten, Bürger und Plebejer jahrhundertelang dicht beieinander gelebt hatten, war von den führenden Kreisen schon seit Längerem aufgegeben und den kleinen Leuten, den Fischern, Handwerkern und Tagelöhnern überlassen worden.

Zwei Städte waren entstanden, die ein amerikanischer Reisender gegen Ende der Restaurationszeit beschreibt: »Die erste Stadt ist unregelmäßig und schlecht gebaut; die Straßen sind eng und gewunden; und die Ausdünstungen machen sie unangenehm und ungesund. […] Dies ist die alte Stadt. Aber in dem Moment, wo man sie verlässt und die neue betritt, atmet man eine ganz andere Atmosphäre. Hier sind die Straßen breit, sauber, regelmäßig, gut gepflastert, die Gebäude sind großzügig und elegant […], alles strahlt Luxus, Glanz und Heiterkeit aus.«

Auf dem großzügigen, baumbestandenen und gut beleuchteten Cours Bonaparte, der mittlerweile Cours Pierre Puget heißt, wie in der Rue Saint Ferréol oder der Rue Grignan reihten sich hinter nüchternen aber noblen Fassaden die Familien- und Firmensitze der Bergasse, Fabre, Bazin, Fraissinet, Pastré auf.

Ein wichtiger Teil des Familienlebens fand allerdings draußen in den »bastides« statt, den ländlichen Dependancen an den grünen Hängen des Umlands. Der Wechsel von Stadt zu Land gehörte zur spezifischen Lebensweise der Marseiller Oberschicht. Einige dieser Bastiden ähnelten wahrhaften Schlössern. Wenn bei den Stadthäusern ostentative Schmuckelemente nach Möglichkeit vermieden wurden, legte man sich bei den Bastiden keinen Zwang auf, sparte nicht mit Säulen, Statuen, Balustraden und Ziertreppen. Zu den besonders spektakulären Landhäusern zählten die Anwesen der Familie Pastré in Montredon oder die Domäne des Reeders Cyprien Fabre in Luminy mit ihrem Terrain von über tausend Hektar. Heute breitet sich auf diesem Gelände am Rand des Calanques-Massivs der Marseiller Universitätscampus aus.

Auf manchen Bastiden wurde auch etwas Landwirtschaft betrieben, es gab Weinreben, Gemüsegärten und Federvieh. In erster Linie jedoch dienten sie familiären Vergnüglichkeiten. Dorthin, wo das Leben so viel entspannter ablief, brach man regelmäßig zum Wochenende auf, worauf eine Bemerkung des Marseille-Besuchers Stendhal hinweist, der sich in seinen Reisenotizen beschwerte, dass just am Wochenende in der Stadt nichts los war: »Die Bastiden stellen die dominierende Leidenschaft der Marseiller dar, und dies ist der Grund, warum es am Samstag keine Theatervorführungen gibt.«

Die Landhäuser dienten jedes Jahr als Refugien für die heißen Sommermonate. Und manchmal zog man sich auch in anderen Jahreszeiten in die Bastiden zurück, zum Beispiel wenn in der Stadt Choleraepidemien wüteten, wie das 1834, 1865 und 1884 der Fall war.

Vom Spekulanten zum Industriellen

In der Geschäftswelt der Marseiller Händler, der »négociants«, herrschte traditionell das Import-Export-Prinzip. Ihre Tätigkeit bestand nicht darin, einen Markt mit Konsumprodukten zu versorgen, sondern mit dem Wert der Waren zu spekulieren. Sie importierten mit dem einzigen Ziel, im günstigsten Moment zum bestmöglichen Preis wiederzuexportieren. Die Stätten für die Lagerung zwischen Import und Export waren die meist am südlichen Ufer des Hafens gelegenen »entrepôts«. Wenn der Wiederverkauf nicht rechtzeitig gelang oder kein akzeptabler Preis zu erzielen war, wurde die Ladung, beispielsweise Getreide, notgedrungen vor Ort verarbeitet, wie Pierre Rastoin, Nachfahr einer alten Kaufmannsfamilie, erläutert: »Man brauchte einfache Verarbeitungsmethoden, um diese Ergebnisse misslungener Transaktionen zu verwerten, aber das, worum es wirklich ging, das grundlegende Gewerbe, bestand darin, Schiffsladungen zu kaufen und wieder zu verkaufen.«

Diese rudimentäre Form der Industrie war also zunächst nicht viel mehr als eine Ergänzung des spekulativen Handels. Allmählich aber entwickelte sich die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte zu einem eigenständigen Sektor. Eine Weile existierten die beiden Bereiche der Hafenwirtschaft, Handel und Fabrikproduktion, nebeneinander, wobei der industrielle Aspekt im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewann.

Entscheidende wirtschaftliche Belebungen versprachen sich die Marseiller Geschäftsleute von den aufregenden Ereignissen des Jahres 1830. Die Aufregung betraf weniger die Pariser Julirevolution und den Regimewechsel, mit dem man sich relativ rasch arrangierte. Ohne größere Bauchschmerzen wurde die weiße Fahne der Monarchie gegen die Trikolore ausgetauscht. Das System des Bürgerkönigtums schien, was für den Kommerz entscheidend war, Ordnung und Stabilität zu gewährleisten, das Zensuswahlrecht, nach dem nur Vermögende wählen konnten, hielt allzu unruhige Kräfte aus den politischen Gremien fern.

Nein, wichtig war das Jahr 1830 vor allem wegen der Einnahme von Algier, die in Marseille enthusiastisch begrüßt wurde. Mit seinem Eroberungskrieg wollte der kurz danach abgesetzte Bourbonenkönig Charles X von den sich zuspitzenden inneren Schwierigkeiten ablenken und sein königliches Prestige aufpolieren. Als ein Vorwand dienten die Piratenübergriffe auf französische Schiffe durch algerische Korsaren.

Die Marseiller Kaufleute, die tatsächlich unter den Korsaren zu leiden hatten, sahen in der französischen Niederlassung an der algerischen Küste eine Kompensation für den Verlust des Levantehandels und der Antillenkolonie Saint Domingue, die jetzt unabhängig war und Haiti hieß. Im Übrigen schien ihnen der Zugriff auf Algerien schon aus geografischen Gründen gerechtfertigt. Lag nicht Algier, als wäre es das Pendant zu Marseille, gleich drüben auf der anderen Seite? Die Zeitung Le Sémaphore machte geltend, dass doch zwischen Marseille und Algerien »bloß ein bisschen Wasser« sei, als gehöre man irgendwie naturgemäß zusammen.

Dass die Eroberung von Algier durch die Marseiller Wirtschaftskreise befürwortet wurde, stellte allerdings eine Ausnahme dar, denn sie waren im Allgemeinen keine Anhänger von kolonialen Territorialstrategien. Ihr konkretes Interesse beschränkte sich in der Regel auf die Freiheit des Handels und den Zugang zu den Rohstoffen anderer Weltgegenden. Ein gutes Beispiel hierfür liefern die Gebrüder Régis, experimentierfreudige Kaufleute mit der Nase im Wind, die auf mehreren Erkundungsfahrten die Möglichkeiten ausloteten, die sich für sie in Westafrika boten. Als aufmerksame Marktbeobachter hatten sie festgestellt, dass die Engländer bei der Seifenherstellung bedeutendere Gewinne machten und größere Mengen produzierten als die Marseiller, weil sie Palmöl und Erdnussöl benutzten, während die heimischen Produzenten ausschließlich teures Olivenöl verwandten.

Und so bemühte sich das Handelshaus Régis, Stammesfürsten an der westafrikanischen Küste, die just zu jener Zeit unter dem Rückgang der Einnahmen aus dem Sklavenhandel zu leiden hatten, zum Anbau von Erdnüssen und der Gewinnung von Palmöl zu bewegen. Unter anderem schlossen sie einen Vertrag mit König Guézo von Dahomey, der ihnen die Exklusivität beim Kauf von Palmöl und bei der Versorgung seines Königreichs mit europäischen Waren einräumte. Optimale Bedingungen! An einer französischen Kolonie konnten sie kein Interesse haben, denn dann wäre es mit der Exklusivität für ihr Handelshaus vorbei gewesen.

Die politische Protektion durch lokale Stammeschefs verschaffte den Marseiller Kaufleuten Monopolstellungen und sicherte ihnen außerordentlich hohe Profite, daher ihre ablehnende Haltung gegenüber der kolonialen Expansion in Westafrika.

Durch die veränderte Zusammensetzung der Seife ließen sich die Produktionskosten senken und die Quantität steigern. Eine bemerkenswerte Dynamik wurde durch die Importe neuer Ölsaaten freigesetzt. Zwischen 1832 und 1842 stieg deren Einfuhr von 430 Tonnen auf rund 37000 Tonnen. Neben Seifenfabriken entwickelten sich Zuckerraffinerien und Getreidemühlen. Diverse Händler, die ukrainischen Weizen importierten, verwandelten sich in Fabrikherren und begannen, Teigwaren herzustellen. Seifenwürfel, Nudeln und Zuckerhüte wurden zu typischen Marseiller Produkten.

Die Schornsteine beginnen zu rauchen

Die Denkweise, die den nordeuropäischen Industriekapitalismus hervorbrachte, war den meisten Marseiller Geschäftsleuten allerdings fremd. Auch wenn viele »négociants« de facto zu Industriellen geworden waren, blieben sie der Logik des Import-Export-Händlertums verpflichtet, das den schnellen Gewinn suchte und langfristige Verpflichtungen wie kostspielige Investitionen mied. »Konsequenz: Wenn man Geld verdient hatte, dann – anstatt es ins Unternehmen zu investieren, Fabriken mit immer höherem Standard zu bauen – legte man es auf sichere Weise an. Man kaufte also Immobilien und große Aktienportefeuilles; man investierte in Zweitresidenzen, in Landhäuser, in ›Bastiden‹«, schrieb Pierre Rastoin in Marseille quai d’avenir.

Die industriellen Aktivitäten beruhten auf sehr rudimentären Techniken. Die Verarbeitungsvorgänge in der Fabrik waren relativ schlicht, es schien also unnötig, Geld in teure Maschinen zu stecken, zumal Arbeiternachschub aus den nahen Berggebieten und Italien reichlich zur Verfügung stand.

Worauf man dann allerdings trotz anfänglichen Zögerns nicht verzichten konnte, war der Erwerb einer Dampfmaschine. Wie rapide die Marseiller Industrie wuchs, ist ablesbar am Einsatz dieser neuen Produktivkraft: 14 Maschinen waren 1835 installiert, 1843 waren es schon 80, nur zwölf Jahre später erhöhte sich ihre Zahl auf 200, und weitere zehn Jahre darauf schickten schon 450 ihren Qualm in den blauen Marseiller Himmel. Das Handelskammermitglied Jules Julliany freute sich 1842 in seinem Essai sur le commerce de Marseille über die hohen Fabrikschlote, »deren schwarzer Rauch von Weitem ankündigt, dass unsere Stadt nun dem kommerziellen Genie das industrielle Genie hinzufügt.«

Ein weiteres Indiz für das rapide Wachstum der Marseiller Industrie ist die Zahl der Arbeiter: Um 1830 waren es sie rund 18 000, zwanzig Jahre später wurden schon an die 40 000 beschäftigt.

Allerdings gab es ein Hemmnis für die weitere industrielle Entfaltung, das unbedingt beseitigt werden musste: der Wassermangel. Es existierte im Bereich der Stadt bloß das bescheidene Flüsschen Huveaune, das für den ständig sich steigernden Bedarf der dampfgetriebenen Fabriken nicht mehr hinreichte. Auch die Versorgung mit sauberem Trinkwasser für die stetig wachsende Bevölkerung war zum Problem geworden, worauf die wiederholten Choleraepidemien in drastischer Weise hinwiesen. So setzten Rathaus und Handelskammer große Hoffnungen auf den Bau eines Kanals, der aus dem 80 Kilometer entfernten Fluss Durance Wasser nach Marseille leiten sollte. 1838 begannen die Arbeiten an diesem ingenieurtechnischen Großprojekt. »Wenn der Durance-Kanal fertig ist, wird die industrielle Bedeutung von Marseille genauso groß sein wie seine Bedeutung als Handelsplatz«, prophezeite Jules Julliany. Vollendet wurde der Kanal dann 1849 und speist seither die Marseiller Wasserleitungen.

Für weitreichende Veränderungen sollte die Dampfmaschine auch in der Seefahrt sorgen. Im November 1818 lief der Schaufelraddampfer »Ferdinando 1er« aus Neapel kommend im Marseiller Hafen ein – eine echte Sensation. Die führenden Kreise der Stadt konnten an Probefahrten bis zum Château d’If teilnehmen. Die Marseiller Reeder waren zwar fasziniert, zögerten aber vorerst, sich in das neue Abenteuer zu stürzen. Ebensowenig wie die Fabrikbesitzer gehörten sie zur voranstürmenden Avantgarde, was technische Neuerungen betraf. Mit Segelschiffen kannte man sich aus, da wusste man, was man hatte. Und es war ja auch nicht unklug, erst einmal abzuwarten, bis das neue Antriebsverfahren seine Kinderkrankheiten überwunden hatte.

Den Anfang machten dann Charles und Auguste Bazin: 1830 ließen sie zwei Schiffe des neuen Typs bauen und eröffneten mit ihnen die Linie Marseille–Neapel. 1841 kam eine regelmäßige Dampfschiffverbindung zwischen Marseille und Algier hinzu.

Auch Marc Fraissinet & Cie begann bescheiden mit zwei kleinen Dampfern aus Holz. Es war damals kaum zu ahnen, dass aus dieser Firma eine der ganz großen Marseiller Reedereien werden sollte.