Martin Heidegger - Peter Trawny - E-Book

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Peter Trawny

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Beschreibung

Eine Einführung in die Philosophie Martin Heideggers ist nach der Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ ein Wagnis. Heideggers Äußerungen über das „Weltjudentum“ und seine politische Hartnäckigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg belasten sein Denken schwer. Wie kann man in diese Philosophie einführen, ohne gleichzeitig den Boden zu bereiten, auf dem diese inakzeptablen Ideen wachsen können? Peter Trawny versteht seine kritische Einführung als eine Darstellung auch und gerade des Problematischen von Heideggers Denken. Zugleich versucht sie allerdings, seine außergewöhnliche Bedeutung im Kontext der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu erfassen.

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Peter Trawny

Martin Heidegger

Eine kritische Einführung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 · Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.

Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISSN 1865-7095

ISBN 978-3-465-24261-1

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Die »Faktizität des Lebens«

Phänomenologie und Hermeneutik

Die »urchristliche Faktizität des Lebens«

Anfänge mit Aristoteles und Platon

Der »Sinn von Sein«

Die Analytik des »Daseins« oder »Existenz« als »Sein zum Tode«

Die »ontologische Differenz«

Die »Geschichtlichkeit« des »Daseins«

Die »Geschichte des Seins«

Hitler und der »andere Anfang«

»Hölderlin und die Deutschen«

Philosophie und Antisemitismus

Zur Struktur des »Ereignisses«

Die Kunst und der »Streit von Welt und Erde«

Die »Überwindung der Metaphysik«

Sprache als »Haus des Seins«

Gott und »die Götter«

Das »Wesen der Technik«

Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger

»Machenschaft« und »Ge-Stell«

Ankunft im »Geviert«?

Wirkungen

Biographische Daten im historischen Kontext

Literatur für das weitere Studium

Siglen-Verzeichnis

Register wichtiger Begriffe

Buchempfehlungen

Fußnoten

Einleitung

»Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben.«1

Friedrich Nietzsche

»Wege – nicht Werke« (GA 1, IV)2, schreibt Martin Heidegger am Beginn seiner sich auf über hundert Bände auswachsenden Gesamtausgabe und will damit auf den offenen und performativen Charakter seines Denkens hinweisen. Holzwege (GA 5), Wegmarken (GA 9) sind seine Texte. Unterwegs zur Sprache (GA 12) ist seine Philosophie. Der Feldweg (GA 13, 87 ff.) ist dem Denker besonders lieb. Der Plural »Wege« weist darauf hin, dass sein Denken nicht den einen und einzigen Weg kennt, der sich in einem »Werk« vollendet.

Für Heidegger hat das Denken einen »Wegcharakter«3, d. h. es besteht mehr in seinem Vollzug als in der Produktion eines »Werks«: »Ich habe keine Etikette für meine Philosophie – und zwar deshalb nicht, weil ich keine eigene Philosophie habe […].« (GA 35, 83), sagt Heidegger einmal in einer Vorlesung. Für Heidegger ist Philosophie nichts, was man »haben« könnte. Sie ereignet sich: Philosophie – denkend die Welt erfahren, sie »be-wëgen«, d. h. mit »Wegen versehen« (GA 12, 186). Für diese Auffassung der Philosophie gibt es nicht die Gewissheit, dass ihre Wege zur Wahrheit führen. Im Gegenteil, eine Philosophie, die unterwegs ist, kann sich verirren.

»Holzwege« sind eine Art »Irrwege«; sie enden ziellos im Wald. »Wegmarken« sind Orientierungspunkte auf solchen Wegen. Seinen Weg zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Deshalb geht Heideggers Denken mitunter in die Irre und begibt sich auf Abwege. Es gehört zum eigentümlichen Pathos dieser Philosophie, das Falsche, das Entlegene, auch das Obskure nicht zu scheuen. Dieses problematische Pathos, im Denken irren zu können, weil es keine Gewissheit gibt, stets auf dem »richtigen Weg« sein zu können, ist eines der Ärgernisse, die Heideggers Philosophie immer wieder erregt. Auf der einen Seite einer der wenigen wirklich bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts – für den Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker ist er »vielleicht der Philosoph des 20. Jahrhunderts«4 –, wird er von vielen Kritikern massiv abgelehnt. Diese Ablehnung geht nicht zuletzt auf Heideggers heillose Verirrung in den Nationalsozialismus zurück.

»Der Tiefgang einer Philosophie bemißt sich – falls das ein Messen ist – nach ihrer Kraft zum Irren« (GA 95, 16), schreibt Heidegger in den Überlegungen VII, einem seiner sogenannten Schwarzen Hefte. Die Veröffentlichung einer Anzahl dieser Aufzeichnungen im Frühjahr 2014 hat einen Erdrutsch in der Rezeption von Heideggers Denken verursacht. Wenn auch schon lange bekannt war, dass Heidegger sich am Beginn der dreißiger Jahre dazu entschied, sich für den Nationalsozialismus zu engagieren, wusste niemand, dass ein im privaten Rahmen sporadisch geäußerter Antisemitismus für ihn auch philosophische Bedeutung erlangte. Genau das aber belegen die zwischen 1938 und 1948 entstandenen Aufzeichnungen der Schwarzen Hefte.

Eine Einführung in die Philosophie Martin Heideggers führt demnach notwendig in seinen Antisemitismus mit ein. Ist das nicht ein Grund, eine solche Einführung besser erst gar nicht zu schreiben? Müsste nicht vielmehr vor einer solchen »Philosophie« gewarnt werden? Müssten wir sie nicht in den »Giftschrank« der Geschichte verbannen und nur denen einen Zutritt zu ihr erlauben, die in ihrer Bildung reif genug sind, die Verirrungen auch zu erkennen?

Die antisemitischen Äußerungen, die in Heideggers Denken auftauchen, müssen – was den Kern der Aussagen betrifft – klar und deutlich dargestellt werden. Bereits diese Darstellung wird eine gewisse Interpretation enthalten, die jedoch noch einmal gesondert akzentuiert werden muss. Die Deutung wird das in mehreren Hinsichten höchst Problematische und Abwegige von Heideggers Aufzeichnungen über die Juden festhalten. Ich bin im Gegensatz zu anderen Interpreten nicht der Ansicht, dass Heideggers gesamtes Denken als antisemitisch zu bezeichnen ist. Ich habe meine Einführung von 2003 stark überarbeitet, weil ich sie nach Kenntnis der Schwarzen Hefte nicht mehr unverändert lassen konnte.

Das Ärgerliche und Provozierende in Heideggers Denken lässt sich jedoch nicht auf seine politischen und weltanschaulichen Irrwege reduzieren. Es hat viele Quellen, und es scheinen dieselben Quellen zu sein, die glühende Verehrung und bittere Verachtung für diesen Denker hervorgebracht haben und immer noch hervorbringen. Einer der einflussreichsten Schüler Heideggers, Hans-Georg Gadamer, bekennt 71-jährig in einem Brief, dass er seinem Lehrer zu Dank verpflichtet sei. Dann fügt er vielsagend hinzu: »[…] und ich weiß auch recht gut, daß gerade meine Neigung zur Moderation, eine letzte, fast bis zum (hermeneutischen) Prinzip erhobene Unentschiedenheit mich eingängig und zulässig macht, wo Ihr originaler Einsatz unzugänglich ist und als unzulässig gilt.«5 Heideggers Denken ist alles, nur nicht »moderat«. Der Philosoph kennt die Extreme und nimmt kein Blatt vor den Mund, indem er das Äußerste zum Maßstab für die Norm erklärt und andersherum nicht denken möchte. Immer wieder thematisiert er die »Entscheidungen« und »Brüche«, die tiefen Einschnitte und Schrecken der Existenz, aber auch das Heilende, das jedes Leben kennt. Und war das Leben in beiden Hälften des 20. Jahrhunderts nicht von Kriegen und Völkermorden auf extreme Weise betroffen? In der Tat: Die Einzigartigkeit des 20. Jahrhunderts lag in den Augen der Philosophen und Philosophinnen auch darin, dass sie notwendig auf seine Ereignisse – die Weltkriege, die Shoah, die Revolutionen – antworten mussten. Es gibt kein anderes Jahrhundert der europäischen Geschichte, das so unausweichlich die Philosophie in den Bann seiner Katastrophen geschlagen hätte. Auch Heideggers Denken hat sich den Katastrophen dieses Jahrhunderts gestellt und ist dadurch eine Art Äußerung dieser Zeit geworden.

Das bedeutet freilich nicht, dass Heideggers provozierendes Denken sich allein auf konkrete Ereignisse beziehen lässt. Man kann die wenig verhohlene Lust an der Provokation spüren, wenn Heidegger in einem Vortrag aus dem Jahre 1952 die skandalösen Worte ausspricht: »Die Wissenschaft denkt nicht.« (GA 7, 133) Wusste er nicht, dass er damit viele Wissenschaftler vor den Kopf stößt? Ahnte er nicht, wie er damit die akademischen Philosophiegelehrten brüskiert, die sich nicht einem ständigen Selbstwiderspruch aussetzen wollen? Doch so provokant dieser Satz zu sein scheint, so verständlich wird er, wenn man ihn im Kontext versteht. Wieder einmal evoziert er mit gesteigertem Pathos eine »Entscheidung« und bringt zum Ausdruck, dass Indifferenz nicht geduldet werden kann. Ist die Philosophie eine Wissenschaft im modernen Sinne oder nicht? Heidegger hat von Anfang an erklärt, dass sie entweder im aristotelisch-hegelschen Sinne die Wissenschaft aller Wissenschaften oder keine Wissenschaft sei. Aber wie soll heute eine sich wissenschaftlich auslegende Philosophie mit einem Denken umgehen, das jede Forderung für unannehmbar hält, es müsse sich vor einer ihm überlegenen – auch moralischen – Instanz oder gar Institution rechtfertigen?

»Denken ist Danken« (GA 8, 149 ff.), sagt Heidegger in einer Vorlesung vom Anfang der fünfziger Jahre. Das Denken sei keine Wissenschaft, sondern ein »Danken« – eine scheinbar pathetische Übertreibung. Auch diese Äußerung weckt immer noch Befremden und wird zuweilen dem für kitschig gehaltenen Stil des Philosophen zugeschrieben. Dabei schwingt in diesem Gedanken nur das mit, was auch im Wort »Vernunft« anklingt, dass nämlich das Denken kein spontanes Vermögen ist, sondern auf das angewiesen ist, was es »vernimmt«. Wieder scheint es um eine »Entscheidung« zu gehen: Macht sich das Denken seine Gedanken selbst oder empfängt es sie – hat sich der Mensch die Sprache selbst erfunden oder entspringt der Mensch der Sprache?

Doch der Spruch »Denken ist Danken« kann noch anders verstanden werden. Auch wenn viele Kritiker vor dem gar nicht »moderaten« Ton und einem tatsächlichen esoterischen Moment in Heideggers Denken zurückschrecken, wenn sie hier eine prophetische Pose vermuten, dann darf man doch nicht übersehen, dass kein anderer deutscher Philosoph des letzten Jahrhunderts so viele bedeutsame Schüler hatte und sich auf so viele und unterschiedliche Gesprächspartner einließ wie Heidegger. Unter den Schülern sind Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith, Hans Jonas oder auch Herbert Marcuse zu nennen. Hannah Arendt hat unübersehbar von ihrem Lehrer und Geliebten gelernt. Mit Ernst Jünger trat er in eine philosophische Auseinandersetzung ein. Mit den Philosophen Max Scheler und Karl Jaspers führte er einen intensiven Gedankenaustausch. Mit dem ehemaligen Psychoanalytiker Medard Boss begründete er die »Daseinsanalyse«. Die Freundschaften mit der Pädagogin Elisabeth Blochmann und der Witwe des verehrten Hölderlin-Editors Norbert von Hellingrath Imma von Bodmershof dokumentieren ausführliche Briefwechsel. Der Theologe Rudolf Bultmann lernte von ihm in seiner Marburger Zeit. Die Germanisten Max Kommerell, Emil Staiger und Beda Allemann erkannten sein hermeneutisches Genie. Paul Celan suchte im schmerzhaften double bind von Anziehung und Abstoßung seine Nähe. Nach dem Krieg knüpfte er Beziehungen in Frankreich mit Jean Beaufret und dessen Schülern, er begegnete dem Dichter René Char. Viele andere wären noch zu nennen. Wenn das »Denken« ein »Danken« ist, dann wird damit auch gesagt, dass die Philosophie ein Gespräch ist und der Philosoph die Fähigkeit haben muss, sich etwas sagen zu lassen, also mehr zu hören und zu antworten, statt sich im Monolog abzuschließen. Man muss dem Anderen dankbar sein, weil er (und für Heidegger vor allem sie) uns denken lässt.

Heidegger hat häufig betont, dass jeder Philosoph nur eine einzige Frage habe. Seine war die »Frage nach dem Sinn von Sein«. Sie ist nur zu verstehen aus dem Anfang der europäischen Philosophie bei Platon und Aristoteles. An diese Denker lehnt sich Heidegger an, wenn er vom »Sein selbst«, vom »Seienden« und vom »Seienden im Ganzen« spricht. Doch es darf nicht verkannt werden, dass Heidegger in seinen ersten phänomenologisch-hermeneutischen Vorlesungen als Privatdozent in Freiburg zunächst die »Faktizität des Lebens« thematisiert, d. h. die Lebenswirklichkeit des Menschen. Ohne den Blick auf das gelebte Leben ist die »Seinsfrage« nicht zu verstehen. Als man daher Heideggers Denken zunächst als »Existenzphilosophie« rezipierte, traf man in der groben Verkürzung etwas Richtiges. Die »Seinsfrage« ist sozusagen die Existenz-, die Lebensfrage. Das »Faktische« blieb immer im Spiel, auch wenn sich Heideggers Denken in den dreißiger Jahren in die »Geschichte des Seins« begibt.

Als das erste Hauptwerk Heideggers gilt das Fragment gebliebene Sein und Zeit aus dem Jahr 1927. Ohne ein genaues Studium dieser Schrift bleibt Heideggers gesamtes Werk unzugänglich. Hier präsentiert sich sein Denken als »Daseinsanalytik«, im Grunde als eine Analyse des »faktischen Lebens«. Doch nach seiner eigenen Interpretation hat er dabei das Fragen nach dem »Sein selbst« zu sehr aus der Perspektive des je eigenen »Daseins« initiiert, zu sehr aus der Perspektive des Menschen. Eine Modifikation des Denkens wurde nötig.

Diese Modifikation wird zumeist mit dem Begriff der »Kehre« zu fassen versucht. Im Denken nach Sein und Zeit soll das Fragen nicht mehr beim »Dasein«, sondern beim »Sein selbst« beginnen, um von dort auf das Leben des »Daseins« zurückzukommen. Aber die Einteilung von Heideggers Philosophie in ein Denken »vor« und »nach« der »Kehre« ist schief. Vielmehr muss gesehen werden, dass Heidegger stets »in« der »Kehre« denkt, das heißt, dass er das Verhältnis von »Sein« und »Dasein« betrachtet. Wenn er in wenigen Texten betont, einzig und allein das »Sein selbst« denken zu wollen, dann weiß er um die extreme Schwierigkeit dieses Versuchs.

Um die Mitte der dreißiger Jahre findet Heidegger zu einer besonderen Interpretation des »Seins«. Das »Sein« sei in Wahrheit »das Ereignis«. Bereits in seinem ersten Hauptwerk hatte er auf den Zusammenhang von Sein und Zeit aufmerksam gemacht. Für Heidegger stellt sich der »Ereignis«-Gedanke als eine Radikalisierung dieses Zusammenhangs dar. Diese Radikalisierung betrifft besonders ein bestimmtes Moment der »Zeitlichkeit«. Für uns geschieht Zeit als »Geschichte«. Im Denken des »Ereignisses« wird die Geschichte zu einem wichtigen Element. Es ist offensichtlich, dass auch diese Betonung der Geschichte einen Anhaltspunkt im »faktischen Leben« hat – wurde es für Heidegger doch immer deutlicher, dass die politischen Geschehnisse seiner Zeit nicht vom Himmel fielen. Sie kamen aus ihrer Welt und waren deshalb durch eine Besinnung auf ihre Herkunft in der europäischen Geschichte zu verstehen.

Wenn daher der Philosoph in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, animiert durch eine immer wichtiger werdende Interpretation von Hölderlins Dichtung, den Gedanken fasst, bestimmte Leitmotive der europäischen Philosophie »überwinden« zu müssen, dann darf an der Koinzidenz dieser Absicht mit der sich immer stärker totalisierenden Herrschaft der Nationalsozialisten nicht vorbeigesehen werden. In der Tat steht der Gedanke der »Überwindung der Metaphysik«, der auf den schon in den frühen zwanziger Jahren entwickelten Begriff der »Destruktion« zurückgeht, mit dem »faktischen Leben« im totalen Staat des »Dritten Reichs« und den sich daraus ergebenden Schrecken in einer Verbindung. Die Frage nach der Technik und ihrer Macht wird jetzt immer brennender.

Nun aber brechen in seinem Denken auch die bereits angesprochenen antisemitischen Affekte aus, um sich in kruden Thesen über das Judentum auszuwachsen. An dieser Stelle bekommt Heideggers Zeitgenossenschaft mit dem Nationalsozialismus eine erschreckende Ambivalenz, aus der auch die Hölderlin-Interpretation nicht unbeschadet hervorgeht. Mit ihr will sich der Philosoph in ein epochales Geschick einschreiben, in dem »die Griechen« und »die Deutschen« die Hauptrolle spielen. Ein »erster Anfang« (bei »den Griechen«) wird von einem »anderen Anfang« (bei »den Deutschen«) beantwortet. Mit dem Ausstieg aus einer das »Sein« vergessenden Welt werden »die Deutschen« beauftragt, noch einmal ganz anders mit der Geschichte selbst anzufangen. Als dieser Auftrag durch die verheerende Politik Hitlers zu scheitern droht, verliert sich Heideggers Denken in Angriffe auf alles, was dieses Scheitern befördert. Neben die militärischen Feinde des Deutschen Reichs sowie die »das Deutsche« missinterpretierenden Nationalsozialisten tritt das »Weltjudentum«. Die Passagen, die Heidegger ihm widmet, gehören zum Schrecklichsten, aber auch zum Dümmsten, was der Denker je geschrieben hat.

Nach dem Krieg wird das »Ereignis«-Denken durch zwei neue Begriffe erweitert. In den dreißiger Jahren hatte Heidegger das »Wesen der Technik« sehr problematisch als »Machenschaft« charakterisiert. Jetzt fasst er es als das »Ge-Stell«. Dem »Ge-Stell« korrespondiert der Begriff des »Gevierts«, der eine spezifisch vierfach gegliederte Weltstruktur entfaltet. In dieser Zeit beschäftigt sich Heidegger beinahe ausschließlich mit der Frage, wie der Mensch in einer sich immer intensiver technisierenden Welt zu leben vermag. Dabei ist einerseits deutlich, dass Heidegger nicht glaubte, nach 1945 hätten sich die fundamentalen, Politik und Ethik bestimmenden Ideen wirklich geändert. Andererseits überwindet Heidegger in der Erörterung des »Ge-Stells« eine fatale Einseitigkeit im Verständnis der »Machenschaft«.

***

Eine Einführung in die Philosophie Martin Heideggers ist mit einem besonderen Problem der Sprache konfrontiert. Heideggers Begrifflichkeit sieht auf den ersten Blick sehr einfach aus. Der Philosoph verwendet kaum Spezialtermini, er spricht ein zuweilen eckig-expressives, dann wieder schlichtes, knorriges Deutsch. Dabei kommt es vor, dass er Worte, die wir alltäglich verwenden, in einem ganz eigentümlichen Sinne gebraucht. Das beginnt schon mit den Wörtern »Leben« oder »Ereignis«. Wenn das aber so ist, wird die Frage nach dem Gebrauch von Anführungszeichen akut. Sie werden im vorliegenden Text rigoros verwendet. Das Denken über und auch mit Heidegger muss von seinem Denken frei bleiben. Es darf sich weder von der Kraft seiner Sprache verführen lassen, noch darf es sich seine Sprache und seine Begriffe aneignen. In der Philosophie geht es darum, dass der Leser philosophischer Texte frei bleibt sowohl in der Zustimmung als auch in der Ablehnung. Das ist keineswegs einfach, doch substanziell.

Eine Einführung in Heideggers Denken sieht sich vor das Problem gestellt, dass der Philosoph eine unerschöpfliche Quelle der Begriffsbildung ist. Zuweilen verändert er von Vorlesung zu Vorlesung seine Terminologie, er kommt zu neuen Formulierungen von Manuskript zu Manuskript. Eine Bedeutung kann auf mannigfaltige Weise ausgesagt werden. Diese Bewegungen von Wort zu Wort hängen mit dem »Wegcharakter« des Heideggerschen Denkens zusammen. Eine Einführung muss dem Rhythmus dieser Schöpfungen folgen, ohne dem Anspruch auf Vollständigkeit genügen zu können. Ich habe mich von Fall zu Fall bemüht, dem Leser Hilfestellung zu leisten.

Der vorliegende Text ist eine kritische Einführung. Kríno heißt im wahrsten Sinne des Wortes »scheiden«, »trennen«, d. h. Unterscheidungen machen, die auf eine Entscheidung hinauslaufen. Die Frage ist aber: Was ist das Kriterium? Das ist schwer zu sagen. Vermutlich gibt es nicht nur eines. Gewiss geht es um die universelle Vernunft, die um ihre eigenen Schwächen und Gefahren weiß. Die Philosophie muss – bei allen Schwierigkeiten – an diesem Kriterium festhalten. Darüber hinaus und vor allem aber ist es »der Andere«, wie er sich besonders in der Dichtung Paul Celans bezeugt.6 Die größten Probleme hat Heideggers Denken dort, wo es »den Anderen« vernichtet, indem es ihn dem »seinsgeschichtlichen« Narrativ opfert. Die Kritik an Heidegger ist in sich ein Eintreten für »den Anderen«. Sie hört auf die »lautlose Stimme« (GA 8, 161) der Toten – der Shoah. Sie hören uns sehr genau zu, wenn die Ereignisse des 20. Jahrhunderts diskutiert werden. Sie wissen, was wir niemals wissen werden. Sie sind der Ursprung des Gewissens dieser Zeit. Ich bin der Ansicht, dass wir vor allen ihnen die moralische Deutlichkeit in Sachen des Antisemitismus und der Shoah schuldig sind.

Diese Einführung ist für Leser geschrieben, die bereit sind, ein wenig mitzuarbeiten. Die Philosophie verlangt, obwohl sie einfache, alle Menschen angehende Fragen stellt, freie Zeit, Muße, um sich mit ihr zu beschäftigen. Die Muße schließt Anstrengung nicht aus. Doch diese Anstrengung gehört zu den besten Investitionen, die uns möglich sind. Denn wir beschäftigen uns in der Philosophie mit uns selbst, mit unserem Dunkel, das wir zu lichten versuchen. Möglich, dass besonders Philosophie Studierende, die auf Heidegger stoßen, von diesem Buch profitieren können. Es wäre aber schön, wenn in ihm auch die Liebhaber und Liebhaberinnen der Philosophie Anregungen finden könnten.

In der »Gesamtausgabe« der Schriften Heideggers sind bislang 89 Bände von 102 vorgesehenen erschienen. Bei dieser Menge von Texten kann eine Einführung unmöglich alle Themen berücksichtigen, die Heidegger behandelt hat. Eine Auswahl und Entscheidung war also nicht zu vermeiden. Wer das eine oder andere Moment des Heideggerschen Denkens in dieser Einführung nicht findet, der wird von ihr hoffentlich angeregt, selbständig weiterzugehen.

Nietzsche behauptet, dass das Beispielhafte des Philosophen darin liege, »ganze Völker nach sich ziehen« zu können. Das beweise besonders die »indische Geschichte«. Dabei sei es wichtig, dass das Beispiel »durch das sichtbare Leben und nicht bloss durch Bücher gegeben« werde. Es gehe um die »Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte«, nicht so sehr um das »Sprechen oder gar Schreiben«. Der Philosoph soll gesehen werden, er soll seinen Schreibtisch verlassen, er soll leben. Und Nietzsche schließt die Überlegung resignativ: »Was fehlt uns noch alles zu dieser muthigen Sichtbarkeit eines philosophischen Lebens in Deutschland.«

Hat uns Heidegger das »Beispiel« eines »philosophischen Lebens in Deutschland« gegeben? Oder wurde ihm gerade dieses Leben in einem Deutschland verwehrt, das sich mit unerklärlicher Energie dem Tod verschrieben hatte? Oder hat er diese Energie mit seinem Denken verstärkt? Vielleicht ließe sich behaupten, dass sich die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts in Heideggers Denken wie in kaum einem anderen manifestierte. Wer Heideggers Denken kennenlernen will, wird unweigerlich den Abgründen dieser Geschichte auf abgründige Art und Weise begegnen.

Die »Faktizität des Lebens«

»Da war kaum mehr als ein Name, aber der Name reiste durch ganz Deutschland wie das Gerücht vom heimlichen König.«1

Hannah Arendt

Phänomenologie und Hermeneutik

Martin Heideggers philosophischer Anfang lässt sich nicht einfach bestimmen. In einer Vorlesung sagt er einmal: »Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt.« (GA 63, 5) Jede dieser Figuren hat Spuren im Denken Heideggers hinterlassen. Doch es wäre zu kurz gedacht, wollte man es bei diesem Quartett belassen. So wären auch Wilhelm Dilthey und Oswald Spengler oder Hegel und Nietzsche oder Dostojewskij und die Philosophie des Mittelalters zu nennen. Der Neukantianer und Lehrer Heideggers, Heinrich Rickert, schreibt in seinem Gutachten zur Habilitationsschrift seines Schülers, dass dieser sich in der Erforschung des »›Geistes‹ der mittelalterlichen Logik« »große Verdienste erwerben« könne. Mit anderen Worten: Heideggers philosophischer Beginn speist sich aus vielen Quellen, und es wäre verfehlt, sein Philosophieren aus nur einer Tradition ableiten zu wollen.

In einer Aufzeichnung aus den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts erwähnt Heidegger »beiläufig« die Wichtigkeit seiner »Habilitationsschrift über die Kategorien und Bedeutungslehre bei Duns Scotus«1 (GA 97, 287 f.). In der »Bedeutungslehre« sei das »Wesen der Sprache«, in der »Kategorienlehre« das »Wesen des Seins« bedacht worden. »Alsbald« habe er die »Erfahrung der Seinsvergessenheit« gemacht und Sein und Zeit wurde »auf den Weg gebracht«. Dieser »Fahrt« sei dann »die Denkart Husserls zur Hilfe« gekommen. Aber in solch einem Rückblick ist die Absicht spürbar, eine Geschichte zu erzählen. Der Anfang erscheint gleichsam nur nachträglich. Und doch nennt Heidegger die zwei wohl wichtigsten Quellen seines Denkens.

Es ist möglich, den Anfang von Heideggers Denken mithilfe zweier philosophischer Methoden zu kennzeichnen. Es sind zwei methodische Entscheidungen, die der Philosoph bereits in seinen ersten Vorlesungen exerzierte und die seine Philosophie wiederholt mit immer neuen Anstößen belebt haben. Früh, am Beginn der zwanziger Jahre, hat er sich auf die beiden philosophischen Methoden und Schulen der »Phänomenologie« und der »Hermeneutik« eingelassen. »Schulen« lassen sich diese beiden Denkmethoden nur insofern nennen, als man in der Schule lernt, wie gedacht werden kann. Unter Phänomenologie und Hermeneutik sind also keine besonderen Denkinhalte zu verstehen, sondern Weisen, wie philosophische Fragen gestellt und beantwortet werden können.

Heidegger hat angegeben, bereits als Student in seinem ersten Semester im Winter 1909/​10 Edmund Husserls Logische Untersuchungen von 1900 bearbeitet zu haben. Dieses Werk gilt als das Stiftungsdokument der »Phänomenologie«, einer philosophischen Methode, die es sich zum Ziel gesetzt hat, nicht die Theorien über die »Sachen«, sondern die »Sachen selbst«, die Art und Weise, wie mir die »Sachen« gegeben werden, wie sie erscheinen, zu ihrem Thema zu machen. Das Erscheinende heißt griechisch phainómenon. So ist die »Phänomenologie« ein Denken, das sich mit dem Erscheinenden und seinem Erscheinen beschäftigt.

Schon Heideggers erste Vorlesungen zeigen eine eigenständige Ausprägung und eine unabhängige inhaltliche Orientierung dieser Methode. Das Thema dieser Vorlesungen, die Grundfrage seines Denkens zu jener Zeit, ist das »faktische Leben«. »Leben« bedeutet hier einen zumeist unthematischen Bezug des Menschen zu sich selbst. Es sei eine Art von »Selbstgenügsamkeit«. Ich lebe von mir selbst aus auf mich selbst zu. Die »Faktizität des Lebens«, d. h. seine Tatsächlichkeit bzw. Gegebenheit, besteht im alltäglichen Vollzug des Existierens und seiner Motivationen. Das Leben geschehe jederzeit gleichsam von selbst uns selbst. Heidegger bringt das mit einer Redeweise zum Ausdruck: »So ist nun einmal das Leben, so gibt es sich.« (GA 58, 35) Eine Philosophie des »faktischen Lebens« habe es mit dessen »Gegebenheitsweisen« zu tun. Ein Phänomen stelle sich als eine unvordenkliche »Phänomengabe« (GA 61, 89) dar. Die Phänomenologie ist ein zurückhaltendes Denken, weil sie betrachtet, was »es gibt«.

Dabei hält Heidegger das Grundphänomen seines frühen Denkens, seinen Begriff vom »Leben«, nicht ganz unproblematisch von allen biologischen bzw. leiblichen Nuancen frei. Die Phänomenologie ist »absolute Ursprungswissenschaft des Geistes überhaupt« (GA 58, 19, Hervorh. P. T.). Es ist also nicht das Leben des Leibes, sondern das Leben des »Geistes«, das den jungen, theologisch gebildeten Philosophen interessiert. Der Einfluss früher Lektüren von Werken Georg Wilhelm Friedrich Hegels (vgl. GA 1, 410 f.) und Wilhelm Diltheys (vgl. GA 56/​57, 164 f.) ist spürbar. In seiner Phänomenologie des Geistes z. B. hatte Hegel das »Leben des Geistes« in seinen ihm eigenen Metamorphosen auseinandergelegt.

Das Leben liegt nie als isolierter Gegenstand vor. Es hat jeweils seinen eigenen Ort und seine eigene Zeit. »Unser Leben ist unsere Welt« (ebd., 33), schreibt Heidegger und meint damit, dass das Leben sich auf vielfältige Weisen in undurchdringlichen Verhältnissen zu den Mitmenschen und den Dingen entfaltet. Eine Phänomenologie des Lebens hat es mit den »Lebenswelten« (GA 61, 146) zu tun, in denen sich der Mensch auf seine jeweilige Art und Weise praktisch und theoretisch verstrickt.

Der Begriff »Welt« oder »Lebenswelt« – von Husserl schon früher verwendet – korrespondiert mit diesem Begriff des »Lebens« vorzüglich. Er bietet Möglichkeiten zu einer Differenzierung, die der »Lebens«-Begriff zu seiner Bereicherung fordert. So ist »Welt« immer »Umwelt«, »Mit-welt« und »Selbstwelt« (GA 58, 33). Wir leben in konzentrisch ineinander übergehenden »Welten«, die möglicherweise schließlich eine einheitliche »Welt« bilden. Ich lebe mit meinen Freunden, Geliebten und Feinden etc., und ich lebe in einer je »personalen Rhythmik«. Auf der Basis eines so differenzierten »Welt«-Verständnisses führt Heidegger seine phänomenologischen Analysen durch. Wir werden sehen, inwiefern er auf dem gesamten Weg seines Denkens das von ihm sehr ernst genommene »Weltproblem« immer wieder untersucht.

Das Leben, das Heidegger in seinen Vorlesungen am Beginn der zwanziger Jahre thematisiert, ist ein »faktisches« »Existieren«. Zur »Existenz« gehört eine fundamentale Unsicherheit und Endlichkeit. Es gebe »irregeleitetes Leben«, wie es »echtes Leben« (ebd., 22) gebe. »Leben«, das in die »Irre« geht, und »echtes Leben« schließen sich nicht aus. Beide Tendenzen finden sich in der Unsicherheit des »Lebens« zusammen. Das »Leben« hat einen »Fraglichkeitscharakter«, dem es sich nicht entziehen kann. Die Realisierung des »faktischen Lebens« besteht gerade darin, diese »Fraglichkeit« immer wieder zu erfahren. Es bildet einen »faktischen Erfahrungszusammenhang«. »Erfahrung« ist der primäre Ausdruck des »faktischen Lebens« so, wie sie der Zugang zu ihm ist. Diese »Erfahrung« hat nichts oder nur wenig mit einem empiristischen Begriff von Erfahrung zu tun. Heideggers Verständnis von »Erfahrung« ist stets eingebettet in ein bestimmtes Pathos. Eine »Erfahrung« wird nicht »gemacht«, sondern erlitten. Sie ist immer eine pathische »Erfahrung«, sozusagen eine passive Aktivität.

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich schon für den frühen Heidegger ein Problem, das ihn bis zuletzt beschäftigen wird. Wenn »Erfahrung« der eigentliche Zugang zum Grundphänomen der Philosophie ist, wenn der Philosoph nur dann über sein Thema sprechen kann, wenn er dieses Thema »lebt«, dann muss die Frage nach der »Wissenschaftlichkeit« von Philosophie überhaupt gestellt werden. Für gewöhnlich halten wir die Philosophie für eine »Wissenschaft«. Letztere charakterisiert Heidegger als »erkennendes, rationales Verhalten« (GA 60, 8). Doch das »Leben« besteht nur am Rande in einem solchen »Verhalten«. Zumeist erfahre ich das »Leben« gerade nicht »erkennend«. Deshalb macht Heidegger früh darauf aufmerksam, dass »das Problem des Selbstverständnisses der Philosophie« »immer zu leicht genommen« wurde.

Ist das »Leben« das Thema der Philosophie, und ist dieses Thema nur dadurch zu erreichen, dass auch der Philosoph seinem »Leben« nicht aus dem Wege geht, dann kann geschlossen werden, »daß die Philosophie der faktischen Lebenserfahrung entspringt«. Für Heidegger ist die Philosophie von Anfang an eine endliche Tätigkeit des Denkenden – so endlich das »Leben«, so endlich ist auch das Denken, das dieses volle Leben thematisiert. Die Philosophie, die der »faktischen Lebenserfahrung entspringt«, »springt […] in diese selbst zurück«. Daraus ergibt sich eine Verstrickung des Denkens in das Leben, die es schwierig macht, das »Ideal der Wissenschaft« für die Philosophie aufrecht zu erhalten. Zugleich wird damit offenbar, dass eine später von Heidegger selbst behauptete Trennung zwischen der Biographie und dem Denken fragwürdig ist.

Diese anfängliche Einsicht in die Verstricktheit von Denken und Leben hat Heidegger schon früh dazu getrieben, über das Verhältnis von Philosophie und Universität nachzudenken. Bereits im Kriegsnotsemester 1919 bespricht Heidegger die Möglichkeit einer »echten Reform im Bereich der Universität« (GA 56/​57, 4). Drei Jahre später befragt er noch einmal den »lebendigen Lebenszusammenhang« »Universität« und denkt darüber nach, »ob die Universität weiter auf Bedürfnisse zugeschnitten werden soll« (GA 61, 70). Wenn Heidegger im Jahre 1933 auf die »Selbstbehauptung der deutschen Universität« zu sprechen kommen wird, greift er auf einen Themenkomplex zurück, der ihm schon am Beginn seines Philosophierens am Herzen lag. Wenn das »Leben« der Anfang der Philosophie ist – muss dann nicht die »Universität« ihr Ende sein?

»Faktizität« ist der Titel für die Verstricktheit von Denken und Leben. Wenn Heidegger an diesem Titel im Verlauf seiner Karriere auch nicht festhalten wird, so können wir dennoch sehen, dass er dem Phänomen »Faktizität« treu geblieben ist. Das philosophische Denken ist in seiner Endlichkeit in die welthaften Verflechtungen des jeweils Philosophierenden dermaßen eingewoben, dass es eine von diesen Verflechtungen vollkommen befreite Erkenntnis nicht geben kann. Zwei wesentliche Momente der Verstrickung in die »Faktizität« sind die Phänomene »Sprache« und »Geschichte«.

Bereits Aristoteles bezeichnet den Menschen als ein Lebewesen, das die Sprache hat (zôon lógon échon). Menschliches Leben ist dadurch ausgezeichnet, dass es sich selbst über sich verständigen kann. Für den Menschen ist charakteristisch, dass »das Leben immer in seiner eigenen Sprache sich anspricht und sich antwortet« (GA 58, 42). »Leben« und »Sprache« sind für den Menschen keine unabhängigen Phänomene, sondern gehören von vornherein zusammen. Die Betonung dieser Zusammengehörigkeit weist auf eine wichtige Tendenz von Heideggers Denken. Das Leben, das er in den Blick nimmt, ist das poetische oder praktische Leben, das ich arbeitend und handelnd mit den Anderen führe, in dem ich mich in einem ständigen Gespräch befinden. Obgleich Heidegger sich gerade für die scheinbaren Randbereiche dieses Gesprächs und des Sprechens, d. h. für das »Schweigen« oder die »Stille« interessiert, steht er den vermeintlich sprachlosen Instinkten und Trieben des Lebens skeptisch gegenüber.

Eine Phänomenologie des »Lebens« hat damit zu tun, dass sich dieses Leben ausspricht. Leben geschieht in einem Spielraum von Bedeutungen oder »Bedeutsamkeiten«. Unser Handeln ist zweckhaft, wir verfolgen Ziele. So lebe ich »im Faktischen als einem ganz besonderen Zusammenhang von Bedeutsamkeiten, die sich ständig durchdringen« (ebd., 105). »Bedeutsamkeiten« verweisen aufeinander, widersprechen, durchkreuzen sich. Wenn man das »Leben« betrachtet, muss man sich diesem ständigen Erscheinen von »Bedeutsamkeiten« zuwenden.

Die »Bedeutsamkeiten« des »Lebens« zeigen sich dem handelnden Menschen einerseits in der »Wahrnehmung«. Sie »erscheinen« und bilden als »Erscheinungen« den Gegenstand der »Phänomenologie«. Doch sie rufen danach, »ausgelegt« zu werden. Das faktische Handeln besteht in einem unentwegten Auslegen von verschwindenden und neu auftauchenden Zielen und Zwecken. Darum ist die »Phänomenologie« ein auslegender Umgang mit dem Erscheinenden. Die Phänomenologie Heideggers ist von Anfang an eine »phänomenologische Hermeneutik« (GA 61, 187).