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»Bist du bereit?«
Jenesis hat ihre Bestimmung noch nie infrage gestellt. Sie vertraut der Maschinenmacht, von ihr nur Mama genannt, vorbehaltlos – bis Jen die Sicherheit brutal entrissen wird. Zum ersten Mal zweifelt sie an der Sinnhaftigkeit ihrer Aufgabe, doch es gibt kein Entkommen: Die Mission muss abgeschlossen werden, einen Abbruch lässt das System nicht zu. Auf der Suche nach einem Ausweg taucht Jen immer tiefer in Mamas Vergangenheit ein und fördert dabei eine jahrhundertealte Geschichte zutage, die alles auf den Kopf stellt, was sie zu wissen geglaubt hat …
Der dritte Teil der Maschinenmacht-Reihe beleuchtet Jenesis Jade Pines Rolle im Geflecht der Geschehnisse. Er bietet einen Einblick in ihre Vergangenheit, bevor die Handlung dort weitergeht, wo sie in Band zwei geendet hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
E. V. Ring
In dieser Reihe bereits erschienen:
Maschinenmacht 1 – Cyan Zane Veil
Maschinenmacht 2 – Aarin Cirrus
Maschinenmacht 3 – Jenesis
Impressum
Maschinenmacht 3 – Jenesis
© 2025 E. V. Ring
https://evring.at
ISBN Paperback (tredition): 978-3-384-65786-2
ISBN eBook (tolino media): 978-3-819-45202-4
Covergestaltung: Nadine Wahl
unter der Verwendung von Bildmaterial von
Gregor Pfingstl (Coverartwork, Rendering: Christian Speiser),
Adobe Stock und POND5
Lektorat: Marieke Kühne, textzucker e. U., Wien
Korrektorat: Carsten Moll, Meier & Moll GbR
Sensitivity Reading: Jade S. Kye, JSK Lektorate
Buchsatz: CatherineStrefford, CS Design
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist E. V. Ring verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne E. V. Rings Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von E. V. Ring, zu erreichen unter:
E. V. Ring | c/o RA Matutis | Fürstenstraße 5 | 5400 Hallein | Österreich
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Für die Erstellung dieses Romans – Text wie Gestaltung – wurde keine generative KI verwendet.
Für Jen
Kernthemen
Sicherheitsverlust und Suche nach neuem Halt; Autismus, Anpassung und Erschöpfung; Trauma, PTBS und Panikattacken; Zurechtfinden in einer unbekannten Welt; Suche nach Zugehörigkeit; Familienbande; PMDS und Depression; tiefe Beziehungen; Überleben unter tödlichen Bedingungen; Selbstaufgabe für die Sicherheit anderer.
Darin enthalten (Kapitelangabe in Klammer)
Alkoholmissbrauch (erwähnt: 16, 29)Angst vor Schwangerschaftsabbruch/Fehlgeburt (29, 30)Blitzschlag (28)Dehydrierung, Unterernährung (25, 27, 30)Depressionsschübe (15, 30, 38, 39)Eingreifen in die Gehirnstruktur (ohne Konsens: 22, 28; mit Konsens [dauerhaft]: 31)Experimente an Föten (erwähnt: 31)Flashbacks (4, 5, 11, 18, 21, 22, 31, 33, 35)Fortpflanzungszwang (21, 29)Pflegeelternschaft und Adoptionsprozess (3 bis einschließlich 9)Geburt (30)Gewalt (physisch: 29 [Attackieren einer Schwangeren, Angriff mit schädigender/potenziell tödlicher Injektion]; erwähnt: 20, 29, 30, 35, 39)Medikamente (20, 21, 22 [Überdosis, Krampfanfall])Menstruationskrämpfe (15, 24)Miterleben von Mord/Tötung (2; Rückblick: 39)Miterleben von Suizidgedanken (9)Mobbing (15)Nadeln (Blutabnahme, Spritze: 6, 29, 32; erwähnt: 30)Operative Eingriffe zur Krebsentfernung (35; erwähnt: 37)Panikattacken (9, 11, 19, 21, 28, 31, 37; drohend: 13, 14, 18)PTBS-Symptomatik (30, 38)Rassismus (12, 15; erwähnt: 8, 9)Schwangerschaft (29, 30)Tier (Hund: 13; Fluginsekten, erwähnt: 22, 23)Tiertötung (erwähnt: 26)Tod von Angehörigen (erwähnt: 13, 18, 27, 29 [Ermordung], 31)Tod eines Tieres (Haustier, erwähnt: 16; aufgefundener Kadaver: 25)Trauer, Trennungs- und Verlustschmerz (12, 16, 19, 20, 21, 30, 31, 38, 39)Trennung von wichtigen Bezugspersonen (2, 11, 14, 20, 29, 31 [Trennung von den eigenen Kindern], 37; erwähnt: 33)Unfähigkeit zu sprechen aufgrund von Überforderung (temporär: 2, 3, 12, 14, 18)Übergeben (21, 22, 27)Verabreichung schädigender/potenziell tödlicher Substanzen (29; erwähnt: 22, 24)Verletzungen (22 [Schnittwunden, Platzwunde, Prellungen, Gehirnerschütterung], 31 [Platzwunde]; erwähnt: 23 [Brandwunden])Diese Auflistung wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt, erhebt allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
EINS
Die Mission steht an erster Stelle.
Die Mission darf nicht gefährdet werden.
Die Funktionstüchtigkeit der Maschinerie ist jederzeit aufrechtzuerhalten, um die Sicherheit der Mission zu gewährleisten.
Jede Gefährdung muss umgehend eliminiert werden.
Bist du bereit?, fragte Mama.
»Ich brauche noch einen Namen«, sagte sie. Ihre Antwort galt Mama und gleichzeitig Aarin, der versprochen hatte, ihr zum Abschied einen zu geben.
Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, ihre Wange auf dem rauen Stoff seines Anzugs. Vor wenigen Augenblicken hatte er sie überschwänglich in seine Arme gezogen und drückte sie seither fest an sich. Sie speicherte jedes Detail davon in ihren Erinnerungen ab, damit sie es später abrufen konnte, wenn er nicht mehr bei ihr war.
Aarin ließ sie los. Seine Emotionen taten das nicht. Sein Glücksgefühl überlagerte ihres, seine Erleichterung und sein Stolz legten sich um ihre Aufregung. Obwohl sie die Stärke seiner Emotionen fast überforderte, ließ sie ihre Verbindung zu ihm offen. Sie wollte ihren letzten gemeinsamen Moment ungefiltert wahrnehmen.
Aarin war stolz, weil sie gerade zur vielversprechendsten Anerkanntenanwärterin der gesamten Testreihe ernannt worden war. Glücklich und erleichtert war er, weil nach ihrem Status auch der seiner Tochter Hanna geändert worden war.
Er hatte ihr einmal gesagt, dass sie die Rettung seiner Tochter sein würde, aber nicht erklärt, warum. Jetzt wirkte es so, als hätte er damit Hannas Statusänderung gemeint. Hanna war ihm wichtig – vielleicht war sie für ihn sogar das Wichtigste überhaupt –, und ihm dabei geholfen zu haben, sie zu schützen, rief ein ähnlich gutes Gefühl hervor, wie Mamas größte Hoffnung zu sein.
Aarin strahlte sie an. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und tropfte zu Boden. »Was hältst du von Jenesis?«, fragte er.
»Jenesis«, wiederholte sie und sah, wie sich die Buchstaben dazu in seinen Gedanken formten. Ihr gefiel das Bild, das sie aneinandergereiht ergaben. »Ja«, sagte sie also und nickte. »Den Namen mag ich.«
»Dann also Jenesis.« Er wischte sich mit einer raschen Bewegung über die Augen. »Ich wünsche dir eine gute Reise.«
In ihrem Bauch kribbelte die Aufregung. »Danke.«
Bist du bereit?, fragte Mama erneut.
Und Jenesis antwortete: Ja.
Neben ihren eigenen Sinnen hatte sie drei Möglichkeiten zur Verfügung, um an Informationen zu gelangen.
Die erste war die, die sie bislang genutzt hatte: Mamas Netz. Darin fand sie alles, was zu Aufbau und Funktion des Maschinenkerns gehörte, sämtliche Protokolle und Befehlsketten, und die Basis, auf der Mama operierte: Kodex und Gesetz.
Die zweite war das Kronnetz. Es zeigte ausschließlich Kronvorkommen an und lieferte zugehörige Daten, zum Beispiel die Entfernung zum nächsten kronversetzten Objekt und welche Verbindungen das Kron darin eingegangen war.
Ihre dritte Informationsquelle war ihr Tracer und die einzige Möglichkeit, die sie an der Erdoberfläche gebrauchen konnte. Der Tracer wertete alles aus, was auf ihren Körper einwirkte. Wenn sie auf diese Informationen zugriff, konnte sie etwa erfahren, wie kalt oder warm es an der Stelle war, an der sie gerade stand, und auch, ob sich Schadstoffe in der Luft befanden. Der Tracer erfasste außerdem in einem Umkreis von etwa fünf Kilometern ihre gesamte Umgebung und kartografierte sie.
Jenesis hob den Kopf und blinzelte in den hellen Himmel. Hinter ihr machte sich ihr Titan auf den Rückweg in den Kern. Während er mitsamt dem Portal verschwand, griff sie auf ihre Tracerinformationen zu und las das Wichtigste aus.
Temperatur: 8 °C, Luftfeuchtigkeit: 81 %, Windstärke: 16 km/h, Windrichtung: Nordost.
Nichts davon bedeutete Gefahr. Sie kontrollierte noch die Zusammensetzung der Luft, und da auch die unauffällig war, widmete sie sich dem, was sie mit ihren eigenen Sinnen erfasste.
Die Sonne stand noch nicht ganz über ihr. Sie konnte sie durch die kahlen Äste der umstehenden Bäume sehen. Das Licht wurde durch die dichte Wolkendecke abgeschwächt, trotzdem war es greller als gewohnt.
Jenesis senkte den Blick und drehte sich langsam um die eigene Achse.
Von Aarin wusste sie, dass es verschiedene Jahreszeiten gab. Aufgrund der Temperaturen und der fehlenden Blätter, vermutete sie, dass Winter herrschte.
Das ist korrekt, hörte sie Aarin sagen. Wenn ich richtig gerechnet habe, müsste heute der vierte Januar sein. Merke dir das Datum. Es ist dein irdischer Geburtstag. Wenn sie dich fragen, wann du geboren bist, kannst du antworten: am vierten Januar 1985.
Vierter Januar 1985, vermerkte sie in ihrem persönlichen Protokoll.
Aus der Ferne drang ein unregelmäßiges Rauschen zu ihr, das sie nicht einordnen konnte. Ein Blick auf die kartografierten Daten gab keinen Aufschluss darüber, worum es sich handeln könnte, aber sie fand in knapp einem Kilometer Entfernung viele etwa gleich große Objekte, die sich in unterschiedliche Richtungen bewegten.
Wenn du den Geräuschen nachgehst, wirst du schneller auf Menschen treffen. Aarin war auf dem Rückweg in sein Labor, als er mit ihr sprach – sie verfolgte seinen Titanen im Netz. Was du da hörst, sind Straßengeräusche: Motoren und fahrende Reifen auf Asphalt. Wo Autos sind, sind auch Menschen.
Jenesis sah in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Soll ich sofort darauf zugehen oder erst die Umgebung erkunden? Sie stellte die Frage sowohl Aarin als auch Mama. Mama antwortete zuerst.
Deine Umgebungsdaten sowie deine Werte lassen darauf schließen, dass keine unmittelbare Gefahr durch Umwelteinflüsse besteht. Die Suche nach einem Unterschlupf hat daher nicht oberste Priorität.
Sieh dich ruhig um, meinte Aarin. Er war im Labor angekommen und aktivierte die Tanks. Wenn du erst auf Menschen gestoßen bist, wirst du für längere Zeit keine Möglichkeit haben, auf Entdeckungsreise zu gehen.
Jenesis musste nicht nach dem Grund fragen. Aarin hatte ihr die Einteilung in Kinder, Jugendliche und Erwachsene erklärt. Weil sie ein Kind war, würde sie in die Obhut von Erwachsenen kommen, die dann verpflichtet waren, für sie zu sorgen. Sie würden sie überwachen und zumindest in der ersten Zeit nicht allein lassen, was bedeutete, dass sie ausschließlich dorthin gehen konnte, wohin die Erwachsenen gingen.
Die Überwachung war nicht neu, aber Entdeckungsreisen hatte sie im Kern bereits ohne Begleitung gemacht. Trotzdem störte sie die kommende Einschränkung nicht. Aarin hatte ihr vieles beigebracht, aber bis sie sich hier eingelebt hatte, würde es eine Weile dauern. Eine Begleitung würde dabei eine große Hilfe sein.
Ihr erstes Ziel war es also, das zu finden, was Aarin eine Familie nannte – ein Kollektiv aus Menschen, die aufeinander aufpassten. Ein Zuhause.
Jenesis versuchte sich mehrere erwachsene Menschen auf einmal vorzustellen, aber weil sie bislang nur Aarin kannte, sahen sie alle aus wie er: ein Meter und dreiundsiebzig Zentimeter groß, beigefarbene Haut, blaue Augen und glatte weiße Haare, die bis zur Schulter reichten.
Ich mag die Luft, sagte sie und atmete tief ein. Sie schmeckt sehr gut.
Aarin antwortete nicht, und auch Mama sagte nichts dazu. Jenesis warf einen kurzen Blick zu ihnen und bekam mit, dass es wohl einen Fehler im Labortrakt gab, über den sie diskutierten. Weil die Problemlösung nicht Teil ihrer Aufgabe war, wandte sie sich wieder ihrer Umgebung zu.
Jenesis hockte sich hin. Sie zog den rechten Handschuh ab und legte ihre Handfläche auf den kalten Boden. Die Erde war zwar feucht, aber nicht so weich wie in der Grünen Zone. Und sie hatte eine hellere Farbe: Sie war dunkelbraun, nur ein klein wenig dunkler als Jenesis’ Handrücken. Jenesis entdeckte kleine Lebewesen in der Erde, beobachtete ihr Treiben eine Weile und speicherte alles ab, was sie sah. Dann stand sie wieder auf und trat einen Schritt tiefer in den Wald.
Du kriegst sie nicht!, schoss es plötzlich aus Aarins Richtung auf sie zu. Die Intensität seiner Worte ließ sie den Fokus auf ihn richten.
Aarin war wieder in den Fängen eines Titanen und auf dem Weg zum Portalraum.
Jenesis stutzte. Es war kein Transport vorgesehen. Warum flog er zum Portalraum?
Du kriegst sie nicht, sagte Aarin in Dauerschleife. Sie glaubte nicht, dass er mit ihr sprach. Du kriegst sie nicht. Du kriegst sie nicht. Du kriegst sie nicht!
Was meinst du?, fragte sie ihn verwirrt. Warum fliegst du zum Portalraum?
Warnung. Sicherheitsbruch.
Jenesis spürte es, bevor Mama die Warnung beendete: Eindringlinge in Sektor 01_11. Sektor 02_11. Sektor 03_11. Sektor 04_11.
Mit Entsetzen verfolgte sie den Sicherheitsbruch in den betroffenen Sektoren. Sofort rief sie das zugehörige Protokoll auf und las, dass vierundsechzig Ehemalige von der Außenzone über die Transportkanäle in den Zonenring gelangt waren.
Warum hatte sie das nicht eher gespürt? Der Kern gehörte zu ihrem Organismus wie ihr eigener Körper. War sie so von ihrer neuen Aufgabe abgelenkt gewesen, dass ihr der Einbruch nicht aufgefallen war?
Abwehr eingeleitet.
Während Mama die Eindringlinge einfing, fragte sich Jenesis, wie das weitere Vorgehen aussehen könnte. Eine solche Situation hatte es noch nie gegeben, somit gab es auch keine Erfahrungsberichte. Es waren nicht einmal so viele Isolationskapseln vorhanden. Vierundsechzig Ehemalige …
Sie griff auf die Tracerdaten zu, um mehr über sie zu erfahren. Darin las sie, dass die Eindringlinge aus allen vier Außenzonen kamen. Die jüngste Person war sechzehn Jahre alt, die älteste dreiunddreißig. Bei der ältesten blieb sie hängen – es war die einzige Person, zu deren Tracer ein Name verzeichnet war: Enver Veil.
Sie kannte den Namen. Aarin hatte oft an Enver Veil gedacht. Aarins Tochter trug einen Teil dieses Namens: Veil.
Sofort lenkte sie ihren Fokus wieder auf ihn. Aarin. Da ist eine Person unter den Eindringlingen, mit der du vielleicht …
Hoher, weicher Schnee bedeckte den Boden. Eine Person in ungewohnter Kleidung lachte und lief auf sie – auf Aarin – zu.
Aarin hatte das Portal genutzt. Er war an der Erdoberfläche.
Du kriegst sie nicht, sagte Aarin noch immer. Hanna Veil, sagten die Tracerdaten der Person, die er gerade ansah.
Dann stürzte Aarin auf Hanna, und Jenesis stürzte mit ihm.
Ein Gefühl, so groß und schmerzhaft wie nichts, was sie bislang empfunden hatte, packte ihr Herz und füllte ihren Brustkorb.
Aarins Hände umschlossen Hannas Hals. Scharfe, grelle Blitze zuckten durch sein Netz. Viele liefen in den Weiten aus, aber einige trafen wichtige Schnittpunkte zwischen ihm und Mama. Jenesis spürte die Einschläge, als würden sie ihren eigenen Körper treffen. Und dann traf ein Blitz Mama direkt im Knotenpunkt des operativen Systems.
Plötzlich waren Mama, Aarin und sie so stark miteinander verbunden, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Aarin drückte Hannas Hals zu, bis ihre Tracerdaten ihren Herzstillstand verzeichneten.
Mama versetzte den Gefangenen elektrische Impulse über ihre Tracer, bis deren Hirntod protokolliert wurde.
Jenesis tat nichts und war dennoch Teil jeder Aktion. Sie war Teil von Aarin, sie war Teil von Mama, sie war Teil der Titanen, die die toten Eindringlinge ohne Obduktion zu den Entsorgungskanälen brachten.
Jemand oder etwas stieß Aarin von Hanna fort. Jenesis erkannte nur einen Schemen. Aarin rappelte sich auf, orderte im Laufen ein Portal und kehrte zurück in den Kern. Was von ihm an Bildern und Emotionen auf sie überschwappte, erdrückte sie und ertränkte sie in tiefem Schwarz.
Jenesis schrie ihn innerlich an. Sie schrie seinen Namen, schrie aus Verzweiflung, schrie aus Schmerz. Statt einer Antwort explodierte das Schwarz um sie herum und verbrannte jeden aufkeimenden Gedanken zu Asche.
Dass sie die Verbindung zu ihm gekappt hatte, bemerkte sie erst, als das Tosen in ihrem Kopf der Stille gewichen war.
Mama. Ihre Beine gaben nach. Sie fiel zu Boden, fing sich mit den Armen ab. Mama!
Mama antwortete nicht.
Mama?
Da sah Jenesis sie: die Schutzhülle, mit der sich Mama ummantelt hatte. In sanftem Blau glomm sie im Netz und umfasste den gesamten Operativen Kern.
Mama hatte sich von ihr abgeschottet.
Ihre Arme zitterten, ihr Herz raste. Durch das Rauschen in ihren Ohren drangen Stimmen, die immer näher kamen. Gefahr, meldete ihr inneres Alarmsystem. Sie wollte aufspringen, aber ihr Körper reagierte nicht. Die Stimmen – zwei Stimmen – wurden lauter. Laufschritte, knackende Äste, Keuchen.
»Kind, was machst du denn allein hier draußen?«
»Geht’s dir gut? Wo sind deine Eltern?«
Jenesis erlangte endlich die Kontrolle über ihre Beine zurück und schoss in die Höhe. Alles drehte sich. Sie fixierte den Menschen, der sich vor sie stellte und sich zu ihr herabbeugte. Der zweite lief ein paar Schritte tiefer in den Wald und rief: »Hallo? Ihr Kind ist hier!«
Jenesis versuchte sich zu konzentrieren, zu protokollieren, was sie sah: Beide Menschen hatten eine hellere Haut als Aarin, trugen eng anliegende Kopfbedeckungen und unpraktisch dicke Oberbekleidung. Beide waren größer als Aarin, weshalb sie annahm, dass sie zu den Erwachsenen gehörten.
»Verstehst du mich?« Der Mensch vor ihr musterte sie, kam aber nicht näher. Jenesis konnte keine Angriffsabsicht erkennen.
Plötzlich war sie so erschöpft wie noch nie. Sie schaffte keine gesprochene Antwort, also nickte sie. Dann ging sie in die Knie und schrieb mit ihrem Finger in die feuchte Erde: Ich muss zur Polizei.
Bei der Polizei würde ihr Prozess zur Familienfindung beginnen. Das wusste sie von Aarin. Sie musste so schnell wie möglich dorthin. Sie musste an einen sicheren Ort.
Die Person vor ihr drehte sich ruckartig zur anderen, noch suchenden um und rief sie zu sich. Dann nahm sie Jenesis auf den Arm, versicherte ihr, ihr zu helfen, und verließ mit ihr den Wald.
Ihr Puls wollte nicht unter hundertvierzig fallen, und Mama reagierte nicht darauf. Mama reagierte auf gar nichts. Nicht auf ihre Werte, nicht auf ihre Rufe.
Jenesis saß in einem kleinen Raum auf einem Konstrukt, das der Mensch, der sie darauf abgesetzt hatte, Stuhl genannt hatte. Er selbst hatte sich mit dem Namen Tom vorgestellt und ihr erklärt, dass er Polizist sei. Ihm war sie von den beiden, die sie im Wald gefunden hatten, übergeben worden.
Vor einer knappen Minute war Tom nach draußen gerufen worden, Jenesis war allein. Es störte sie nicht. Sie konnte sich ohnehin kaum konzentrieren.
Im gewohnten Automatismus hatte sie alles bis hierher protokolliert: den Weg, die Menschen – die vielen unterschiedlichen Menschen in unterschiedlicher Kleidung –, die Gebäude und Fahrzeuge in ihren verschiedenen Farben und Formen, sämtliche Konstrukte aus ihr teils unbekannten Materialien und ein Cluster an Geräuschen und Gerüchen.
Innerhalb kürzester Zeit hatte sie so viele neue Dinge gesehen, die sie vor ein paar Stunden noch in positive Aufregung versetzt hätten. Aber alles, woran sie denken konnte, war Mama.
Anfangs war das Schlimmste gewesen, dass sie die Ehemaligen getötet hatte. Jetzt war das Schlimmste, dass sie nicht mehr mit Jenesis sprach.
Die Angst, dass etwas kaputtgegangen war und Mama nie wieder mit ihr sprechen würde, befeuerte das Herzrasen.
»Keine Angst. Alles wird gut.«
Jenesis schreckte auf. Vor ihr hockte ein Mensch, der ihr bisher noch nicht begegnet war. Dass sie nicht bemerkt hatte, dass sie nicht mehr allein im Raum war, trug nicht zur Beruhigung bei. Wenn ihre Sinne nicht richtig funktionierten, war das ein Sicherheitsrisiko.
»Hier kann dir nichts passieren«, kam es aus dem Mund, der mit dichtem braunem Haar umrahmt war und zu einem beigefarbenen Gesicht gehörte. »Wir helfen dir.«
Sie erinnerte sich daran, dass Tom etwas zu ihr gesagt hatte, bevor er den Raum verlassen hatte: Gleich kommt ein Mann zu dir, der sich mit dir unterhalten will. Er heißt Liam und er ist sehr nett, versprochen.
»Verstehst du mich?«, fragte der Mensch, der vielleicht Liam war.
Jenesis nickte mühevoll.
Der Mensch nickte ebenfalls. »Ich bin Liam. Wie heißt du?«
Sie öffnete den Mund, aber auch jetzt kam kein Ton heraus.
»Es ist okay, wenn du gerade nicht sprechen kannst. Hast du Schmerzen? Tut dir irgendetwas weh?«
Sie schüttelte den Kopf.
Wieder nickte Liam. Er öffnete etwas Viereckiges, Dunkelbraunes, das mit einem Gurt über seiner Schulter hing. Daraus zog er etwas hervor, das er ihr auf den Schoß legte.
Jenesis begutachtete das Ding, das dreißig Zentimeter lang und zwanzig Zentimeter breit war und aus vielen hauchdünnen Schichten bestand. Liam legte noch etwas obendrauf: eine zwanzig Zentimeter lange Holzstange mit abgeflachten Kanten, vielleicht sieben oder acht Millimeter im Durchmesser. Das Ende war angespitzt und bestand nicht aus Holz – etwas Blaues war in der Stange eingelassen.
Fragend sah Jenesis auf.
Liam musterte sie kurz, nahm beides an sich und bewegte die Spitze der Stange über das weiße Material. »Wenn du möchtest, kannst du alles vollmalen«, sagte er dabei. Dann legte er Jenesis beides wieder auf den Schoß.
Hallo, las Jenesis in der rechten oberen Ecke. Daneben befanden sich Kreise und Wellen, mit denen sie nichts anzufangen wusste.
Sie verstand nicht, was Liam mit »vollmalen« meinte – aber er hatte ihr ein Werkzeug gegeben, mit dem sie schreiben konnte.
Jenesis nahm die Stange in die Hand, wie Liam es getan hatte, und schrieb auf der linken Seite als Antwort: Hallo. Sie erinnerte sich an seine Frage. Ich bin Jenesis und mein Pronomen ist »sie«. Und weil sie irgendwo beginnen musste und Liam auf ihre dringlichsten Fragen keine Antwort wissen konnte, schrieb sie: Wie heißt dieses Material?
Sie gab Liam beides zurück und deutete erst auf das Ding, worauf sie geschrieben hatte, dann auf die Stange. Im Kern hatte sie mit zugespitzten Kreidesteinen auf Metallwänden geschrieben. Das, was sie von Liam zum Schreiben bekommen hatte, kannte sie nicht.
Liams Augen weiteten sich. Sie konnte nicht erkennen, welche Emotion dahinterstand. »Das ist ein Stift«, sagte er und hielt die Stange hoch. »Ein blauer Buntstift. Und das ist ein Block.« Er schrieb die Worte auf, Jenesis sah ihm dabei zu. Buntstift. Block. Liam gab ihr beides wieder in die Hand.
Jenesis nahm das Blatt, auf dem sie schrieben, zwischen ihre Finger und befühlte die Struktur. Dann setzte sie den Stift an. Woraus ist ein Block gemacht?
»Aus Papier«, antwortete Liam. »Und Papier ist aus Holzfasern gemacht.«
Von einem Block hörte sie zum ersten Mal, aber Stift und Papier waren Wörter, die sie aus Aarins Unterricht kannte. Er hatte ihr erklärt, worum es sich dabei handelte. Jenesis hatten bloß die Bilder dazu gefehlt. Hätte Aarin seine Gedanken nicht schon vor ihr verborgen gehabt, als sie mit dem Schreibunterricht begonnen hatten, wäre ihre Wörterdatenbank jetzt mit optischen Referenzen aus seinen Vorstellungen verknüpft.
»Wie alt bist du, Jenesis?«
Vier.
»Vier! Und da kannst du schon so gut schreiben? Wer hat dir das denn beigebracht?«
Aarin.
»Ist das dein Vater?«
Sie schüttelte den Kopf.
Aarin hatte sehr deutlich gemacht, dass er nicht ihr Vater war. Hätte er das nicht getan, hätte sie das nicht gewusst. Allerdings hätte sie ohne ihn auch nicht gewusst, was »Mutter« und »Vater« überhaupt bedeutete.
Er war jedenfalls der einzige Mensch gewesen, mit dem sie bis vor wenigen Stunden zu tun gehabt hatte. Er hatte sie begleitet und ausgebildet. Er hatte sie »meine Schöpfung« genannt, und er war stolz auf sie gewesen. Aber er war nicht ihr Vater.
Er war Hannas Vater.
Jenesis sah Hannas weit aufgerissene Augen vor sich.
Liam beobachtete sie. Sie war es gewohnt, beobachtet zu werden, aber nicht von Personen, die sie nicht kannte.
»Möchtest du erzählen, wer Aarin ist?«
Die Frage irritierte sie.
»Es ist okay, wenn du das nicht möchtest«, fügte Liam hinzu.
Warum fragst du mich, ob ich das möchte?, schrieb sie.
Liam antwortete nicht sofort. »Weil das wichtig ist«, erklärte er dann. »Ich werde dich nicht zwingen, etwas zu erzählen, wenn du das nicht möchtest. Es ist deine freie Entscheidung.«
Jenesis wiederholte die letzten Wörter für sich. Freie Entscheidung.
»Hat dich noch nie jemand gefragt, ob du etwas tun möchtest?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie kannte Anweisungen und die Frage, ob sie für das Bevorstehende bereit war. Mama hatte sie noch nie einer Situation ausgesetzt, ohne das vorab zu fragen. Jenesis hätte aber auch nie mit Nein geantwortet. Sie war immer bereit gewesen. Sie war dafür geschaffen worden. Mama baute auf sie.
»Möchtest du mir vielleicht deinen zweiten Namen verraten?« Liam legte sich die Hand auf die Brust. »Meiner lautet Henderson. Ich heiße Liam Henderson.«
Liam Henderson. Aarin Cirrus. Hanna Veil. Hatten alle Menschen zwei Namen? Jenesis spürte einen Stich in der Brust. Ich habe nur einen bekommen, schrieb sie.
»Wie heißt denn deine Mama mit zweitem Namen?«
Ich weiß nicht, ob Mama überhaupt einen Namen hat. Ich habe nie einen gelesen.
»Was meinst du damit, du hast nie einen gelesen?«
Er müsste mit ihrem operativen System verknüpft sein. Dort steht aber nichts. Ich habe auch in ihren Datenbanken keinen gesehen. Ich glaube, sie hat gar keinen Namen bekommen.
Liam drehte den Block etwas zu sich, um besser lesen zu können, was sie geschrieben hatte. »Möchtest du mir das erklären? Welche Datenbanken meinst du?« Er drehte ihr den Block wieder zu.
Mamas Datenbanken. Da ist alles über sie verzeichnet, seit sie erschaffen wurde.
»Erschaffen?«
Jenesis wusste nicht, weshalb er das Wort als Frage wiederholte. Unsicher nickte sie.
»Wer hat deine Mama denn erschaffen?«
Die Laarnen. Sie waren eine von mehreren Arten, die auf dem Wyerr gelebt haben. Der Wyerr ist ein Planet, fügte sie hinzu, denn Aarin hatte ihr erzählt, dass die Menschen auf der Erde den Wyerr nicht kannten.
»Ich verstehe«, sagte Liam. Seine Stimme war etwas weicher geworden. »Kannst du beschreiben, wie es dort aussieht, wo du zu Hause bist?«
Jenesis schüttelte den Kopf.
»Es ist okay, wenn du nicht viel weißt. Vielleicht erinnerst du dich an eine bestimmte Sache? Vielleicht, ob ihr einen Garten habt? Oder welche Farbe das Haus hat?«
Ich habe kein Zuhause, schrieb sie. Ich muss erst eines finden.
Liam sagte eine ganze Weile nichts. Als er wieder sprach, war seine Stimme tiefer und leiser als zuvor. »Wir helfen dir, okay? Wir finden ein Zuhause für dich.« Er tippte auf ihre Schrift auf dem Papier. »Hat dieser Aarin einen zweiten Namen?«
Jenesis schrieb ihn auf.
Liam wirkte plötzlich aufgeregt. »Kannst du ihn beschreiben? Wie sieht er denn aus?«
Sie betrachtete Liam. Dann schrieb sie: Er ist etwas kleiner als du und etwas schmäler. Seine Haut hat eine ähnliche Farbe wie deine. Seine Haare sind schulterlang und weiß. Seine Augen sind blau. Er ist dreiunddreißig Jahre alt.
»Das machst du sehr gut, Jenesis. Möchtest du erzählen, was er dir sonst noch beigebracht hat, außer Schreiben?«
Dinge, die er in seiner Zeit in Cornwall gelernt hat. Und ein paar Tricks, wie man besser durch die Zonen kommt, weil Mama das nicht weiß, weil sie kein Mensch ist.
Liam öffnete den Mund, im selben Moment, in dem die Tür aufgemacht wurde. Tom schaute zu ihnen herein. »Hast du etwas für uns?« Jenesis glaubte nicht, dass die Frage an sie gerichtet war, obwohl Tom sie ansah.
Liam stand hastig auf und war in drei Schritten bei der offenen Tür. »Ja«, sagte er sehr leise, aber Jenesis konnte ihn trotzdem hören. »Sie sagt, dass sie vier Jahre alt ist und kein Zuhause hat.«
»Oh«, sagte Tom und sah sie kurz an, ehe er sich wieder auf Liam konzentrierte.
»Sie hat einen Mann beschrieben, Weiß, dreiunddreißig, etwas kleiner als ich und dünner, lange weiße Haare, blaue Augen. Aarin Cirrus heißt er. Er hat ihr wohl einiges beigebracht und dürfte in Cornwall gelebt haben. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Jenesis verstand nicht, worin sie das weiterbringen sollte, und auch nicht, warum sie so leise sprachen.
»Ihr Vater?«, fragte Tom, der sich dabei etwas auf einem viel kleineren Block als dem, der auf ihrem Schoß lag, notierte.
»Sie sagt Nein«, sagte Liam. »Mehr weiß ich noch nicht. Aber ihre Auffassungsgabe, ihr Wortschatz und ihre Schrift sind weit über dem Durchschnitt für ihr Alter.«
»Ich brauche keine Diagnose, ich muss nur wissen, ob wir heute noch einen Hinweis auf die Eltern bekommen oder einen Pflegeplatz organisieren müssen.«
Liam sah über die Schulter zu ihr. Sie betrachtete ihn konzentriert, aber sie konnte nicht lesen, was sein Blick bedeutete.
»Sie hat gesagt, dass sie kein Zuhause hat«, flüsterte er und drehte sich Tom wieder zu. »Das kann alles bedeuten, aber für mich heißt das: Auch wenn sie eines hat, will sie dort vielleicht nicht wieder hin.«
»In Ordnung. Ich kümmere mich darum, dass sie jemand abholt.«
»Wir können sie für eine Weile nehmen. Abby und ich stehen im Register, und wir haben gerade einen Platz frei.«
Tom starrte ihn an. »Meinst du das ernst?«
»Es ist nur vorübergehend. Bis wir mehr wissen und sie entweder sicher nach Hause bringen können oder ein neues Zuhause für sie gefunden haben.«
»Ich höre andauernd wir. Du bist nicht zuständig. Zuständig bin aktuell ich und in weiterer Folge das Jugendamt. Ich bin dir ehrlich dankbar, dass du kurzfristig vorbeikommen konntest, aber eigentlich hätte ich dich gar nicht zwischenschalten dürfen.«
»Sag ihnen, dass sonst niemand erreichbar war …«
»Was auch stimmt.«
»… und du jemanden gebraucht hast, der sich in der Zwischenzeit um sie kümmert.«
»In der Zwischenzeit bedeutet aber nur ein paar Stunden und nicht, dass du sie mit nach Hause nimmst.«
»Ich biete ihr ein Dach über dem Kopf, bei einer Person, die sie schon kennt. Es ist der geringste Aufwand für alle und die beste Lösung für sie.«
Tom sagte eine ganze Weile nichts. »Ich rufe an und unterbreite ihnen deinen Vorschlag«, meinte er dann. »Aber ich werde nicht mit ihnen diskutieren. Wenn sie ablehnen, ist es so.«
»Danke«, sagte Liam und legte die Hände aneinander. »Darf ich dein Telefon benutzen? Ich muss Abby Bescheid geben.«
»Ach, sie weiß noch gar nichts von ihrem Glück? Dann mach das gleich, bevor ich nachfrage, obwohl ihr sie gar nicht nehmen könnt.«
»Abby sagt bestimmt Ja. Ich will nur sichergehen.«
»Dann mach schnell. Ich warte so lange.« Tom verließ den Raum.
Liam lief zurück zu Jenesis und beugte sich zu ihr herunter. »Ich muss nur kurz telefonieren, ich bin sofort wieder da, in Ordnung?«
Sie nickte, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Liam lief aus dem Raum, schloss die Tür hinter sich und ließ sie allein.
Vor ihrem inneren Auge glomm sanftblau Mamas Schutzhülle.
Zitternd drehte sie den Stift zwischen ihren Fingern. Sollte sie die Sperre zu Aarin aufheben? Vielleicht konnte er ihr Antworten geben.
Aber sie traute sich nicht. Sie hatte Angst vor seinen Blitzen.
Jenesis sah auf das Papier. Ich habe euch reden gehört, schrieb sie, aber ich verstehe nicht, was das bedeutet, was ihr gesprochen habt. Was passiert als Nächstes?
Sie dachte an Liams Worte, bevor er gegangen war: Ich muss nur kurz telefonieren.
Aarin hatte erzählt, dass Menschen an der Oberfläche Geräte brauchten, wenn sie miteinander sprechen wollten, aber nicht im selben Raum waren. In ihrer Vorstellung waren alle Räume mit solchen Telefonen ausgestattet gewesen.
Jenesis begann eine neue Zeile. An welchen Orten gibt es Telefone?
Sie hatte gerade das letzte Wort geschrieben, da öffnete Liam die Tür. »Da bin ich wieder«, sagte er, obwohl es offensichtlich war, dass er zurück war.
Liam steuerte den hellblauen Behälter neben der Tür an, der eine durchsichtige Flüssigkeit beinhaltete. Er nahm eines der kleinen weißen Gefäße, die daneben standen, befüllte es und kam zu ihr. Noch während er vor ihr in die Hocke ging, reichte er ihr das Gefäß. »Hier, bitte«, sagte er. »Du musst am Verdursten sein.«
Jenesis legte den Stift ab und deutete auf das, was sie geschrieben hatte. Während Liam den Block zu sich drehte, nahm sie das Gefäß in beide Hände, setzte es an ihre Lippen und kostete vorsichtig.
Es schmeckte wie Wasser, nur süßer, als sie es gewohnt war, und es fühlte sich auch anders an – weicher. Aber es schmeckte gut. Sie trank das Gefäß in einem Zug leer.
Liam nahm es ihr wieder ab. Dann sagte er: »Tom und ich haben darüber gesprochen, wie wir dir am besten helfen können. Ich habe vorgeschlagen, dass wir – meine Frau Abby und ich – dich erst mal bei uns aufnehmen könnten. Darum haben wir telefoniert.« Er deutete auf ihre Frage mit dem Telefon. »Telefone gibt es an vielen Orten. Normalerweise hat jedes Gebäude mindestens eines, und auch auf den Straßen gibt es welche.« Er lächelte sie an. »Möchtest du telefonieren? Oder soll ich jemanden für dich anrufen?«
Jenesis wünschte sich, dass sie Mama mit einem Telefon erreichen könnte. Ihre Sicht verschwamm. Sie blinzelte, bis sie wieder klar sehen konnte. Nein.
»Fällt dir eine Telefonnummer ein, vielleicht von dort, wo du gewohnt hast?«
Mama hat kein Telefon. Sie kommuniziert über ihr eigenes Netz.
Liam betrachtete ihre Worte eine Weile. »Erklärst du mir, was das bedeutet?«
Jenesis überlegte, wie sie das beschreiben sollte. Es ist eine gedankliche Kommunikation. Wir sprechen mit Zeichen. Ich lese Mama, und Mama liest mich.
Liam musterte erst ihre Antwort, dann ihr Gesicht. »Spricht sie jetzt gerade mit dir?«, wollte er wissen.
Jenesis liefen die Tränen über die Wangen. Nein. Sie hat die Verbindung zu mir getrennt. Ich weiß nicht, warum. Ich kann sie nicht erreichen.
Liam nickte langsam. Er wirkte nachdenklich. »Bist du schon lange ohne Zuhause?«
Mama hat mich erst vor zwei Stunden ausgesetzt.
Liams Augenbrauen hoben sich. Bei Aarin war das immer dann geschehen, wenn er von etwas überrascht gewesen war. »Sie hat dich ausgesetzt? Weißt du das sicher?«
Jenesis verstand nicht, warum er sie das fragte. Warum hätte sie das schreiben sollen, wenn es nicht stimmen würde?
Ja, antwortete sie also. Darum muss ich mir ein Zuhause suchen.
»Was hat Aarin dazu gesagt?«
Er hat mir erklärt, in welcher Richtung ich auf Menschen treffe.
Liam wirkte ernster als noch vor ein paar Minuten. Dann ging die Tür erneut auf, und Tom sah zu ihnen herein.
»Du hast das Okay«, sagte er.
»Darf ich sie gleich mitnehmen?«, fragte Liam.
»Ja. Sie haben eure Nummer und werden sich spätestens morgen melden, um alles Weitere mit euch zu klären.«
»Danke.« Liam wandte sich Jenesis zu und sah ihr in die Augen. Ihr Puls, der sich zwischenzeitlich halbwegs beruhigt hatte, schnellte wieder in die Höhe. »Ich weiß, das ist alles sehr viel auf einmal, aber ich verspreche dir, wir bekommen das hin, okay? Ich nehme dich jetzt mit, und du kannst so lange bei Abby und mir wohnen, bis wir ein passendes Zuhause für dich gefunden haben. Klingt das gut?«
Sie wusste nicht, ob das gut klang. Mama?, fragte sie überfordert in sich hinein, doch auch diesmal erhielt sie keine Antwort, und Aarin um Rat zu fragen, traute sie sich nach wie vor nicht. Sie musste allein eine Entscheidung treffen.
Jenesis schluckte schwer. Dann schrieb sie: Ja.
Liam warf das leere Trinkgefäß in ein etwas größeres Gefäß auf dem Boden, stand auf und hielt ihr die Hand hin. Aarin hatte das immer dann getan, wenn er sie hatte führen wollen. Block und Stift in der einen Hand, griff sie also mit der anderen nach Liams und folgte ihm zur Tür.
»Sie sagt, sie haben sie ausgesetzt«, flüsterte Liam Tom zu, als sie an ihm vorbeigingen. »Ihre Mutter und dieser Aarin. Wenn ich mehr erfahre, rufe ich dich an.«
»In Ordnung«, raunte Tom.
Jenesis zog die Schultern hoch, ihr Nacken verkrampfte sich, ihr ganzer Körper spannte sich in Alarmbereitschaft an. Obwohl niemand den Anschein machte, sie angreifen zu wollen, fühlte es sich so an.
»Mach’s gut, Jenesis«, sagte Tom und lächelte sie zum ersten Mal an.
Liam führte sie aus dem Gebäude und setzte sie in eine rote Maschine mit vier Reifen, von der sie – Aarins Beschreibung im Kopf – annahm, dass es ein Auto war.
Jenesis nahm alles in sich auf. Den süßlichen Geruch, der von dem flachen gelben Ding ausströmte, das neben Liam vom Rückspiegel baumelte. Die Haptik ihres Sitzes und der Innenwand des Autos. Und die Geräusche und Vibrationen des Motors, der das Auto antrieb.
Was die Menschen nicht geschafft hatten, schaffte der Motor: Er beruhigte sie. In einer laufenden Maschine zu sitzen, gab ihr etwas Sicherheit zurück. Aber sie hatte keine Verbindung zu ihr – zu nichts in ihrer Umgebung.
Sie kannte diesen Zustand nicht. Sie war von Geburt an mit ihrer Umgebung verbunden gewesen. Auch dann, wenn sie nicht aktiv Daten aus dem Netz abgefragt hatte, war sie von ihnen getragen worden. Der Maschinenkern gehörte zu ihrem Organismus.
Die Erdoberfläche nicht.
Alle Informationen, die ihr über diese Welt zur Verfügung standen, lagen starr in einer Datenbank und mussten von ihr gezielt gesucht, abgerufen und aktualisiert werden. Sie liefen nicht als permanenter Datenstrom im Hintergrund ab, der sich in Echtzeit aktualisierte, wie sie das von den Informationen über ihren menschlichen und Mamas maschinellen Körper gewohnt war.
Sie spürte diese Welt nicht. Ihr fehlte die Sicherheit, mit der sie sich im Kern bewegt hatte. Von dem Gefühl, gut vorbereitet zu sein, war nichts mehr übrig.
Als sie bereits eine Weile gefahren waren, fand sie ihre Stimme wieder. »Was bedeuten die Farben?«, wollte sie wissen.
Liam warf einen Blick zu ihr zurück. »Welche Farben meinst du?«
»Häuserfarben und Autofarben und Kleidungsfarben.«
»Oh.« Liam machte eine Pause. »Das ist sehr unterschiedlich. Wenn es Häuser und Autos und Kleidung von bestimmten Firmen oder Einrichtungen sind, dann signalisieren sie deren Zugehörigkeit. Im Privaten gibt es keine allgemeine Bedeutung.«
Jenesis nahm die Information auf, den Blick auf die vorbeiziehende Umgebung gerichtet. »Was bedeutet privat?«
Liam steuerte das Auto nach rechts auf einen neuen Weg. »Privat bedeutet, dass es nur eine Person oder einen kleinen, zur Person gehörigen Kreis betrifft, aber nichts mit der Öffentlichkeit zu tun hat. Das hier zum Beispiel«, er stoppte das Auto und deutete hinaus auf ein dunkelrotes Haus, »ist das Haus von Abby und mir. Es gehört uns, wir leben darin.«
Liam drehte den Motor ab und stieg aus dem Auto. Die abrupte Stille entriss ihr den wenigen Halt, den sie kurzfristig gehabt hatte.
Jenesis hatte nicht viel Zeit, um in die Angst zu stürzen. Liam öffnete ihre Tür, hob sie aus dem Sitz und stellte sie auf den Steinboden. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, hielt er ihr wie schon zuvor im Polizeigebäude die Hand hin. Wieder griff sie danach, und er führte sie ins Haus.
Neue Gerüche, neue Lichtquellen, neue … Dinge.
So viele neue Dinge.
Jenesis sah sich um und fand lauter Gegenstände, deren Zweck sie nicht erkennen konnte. In einem davon sah sie Liam – und sich selbst.
Sie hatte sich schon in den polierten Metallflächen im Kern gesehen, aber noch nie so klar. Noch nie hatte es so gewirkt, als würde es sie zweimal geben. Als würde sie sich selbst gegenüberstehen.
Jenesis löste sich aus Liams Griff. Sie zog ihren rechten Handschuh aus, ging auf die fast bis zum Boden reichende Spiegelfläche zu und berührte sie vorsichtig. Die Fläche war kühl und glatter als jedes Material, das Jenesis kannte.
Eine Bewegung in der Spiegelung lenkte ihren Fokus auf Liam. Er ging neben ihr in die Hocke und erwiderte ihren Blick über den Spiegel. Jenesis musterte ihn, um herauszufinden, ob er etwas von ihr wollte. Als er nichts weiter tat, als zurückzuschauen, konzentrierte sie sich auf ihr Spiegelbild.
Aufmerksam studierte sie ihre engen schwarzen Locken, die Aarin gestern wieder auf fünf Zentimeter gekürzt hatte, ihre dunkelbraune Haut, die einen starken Kontrast zu Liams sandfarbener bildete – und ihre Augen, die sie noch nie gesehen hatte. Ihre Iriden waren hellbraun, und Jenesis kam es so vor, als würden sie von innen heraus glimmen.
»Da seid ihr ja.« Eine schmale Person mit blassrosa Haut und glatten blonden Haaren, die ihr bis über die Schultern reichten, tauchte im Spiegel auf.
Jenesis fuhr herum. Für einen Moment blieb sie mit dem Blick an der weiten bunten Kleidung der Person hängen, dann verlagerte sie ihren Fokus auf deren Gesicht und Mimik.
Liam stand auf. Die Person lächelte, drückte ihre Lippen auf Liams Wange und sagte dann zu ihr: »Du bist Jenesis, richtig? Ich bin Abigail, Liams Frau. Aber du kannst sehr gern Abby zu mir sagen. Hast du etwas dagegen, wenn ich dich Jen nenne?«
Abby. Jen. Abgekürzte Namen. Hatte sie etwas dagegen? Sie schüttelte den Kopf.
»Dann also Jen.« Abbys Lächeln war einnehmend. »Hast du Hunger?«
Jetzt, als Abby fragte, setzte der Hunger wie auf Abruf ein. »Ja«, sagte Jen leise. »Und Durst.«
»Was möchtest du trinken? Wasser, Milch, Orangensaft?« Abby hatte sich schon während der Frage abgewandt und ging in den nächsten Raum. Liam hielt Jen erneut die Hand hin. Gemeinsam folgten sie Abby.
»Was sind Milch und Orangensaft?«, fragte Jen, schwindelig von den vielen Eindrücken, die auf sie einwirkten. Im neuen Raum entdeckte sie ein paar Dinge, die wie kleine Maschinen aussahen. Sie klammerte sich an die Vorstellung von maschineller Gesellschaft, um wenigstens ein bisschen Halt zu haben. Liam hielt zwar ihre Hand, aber Sicherheit empfand sie dadurch nicht.
»Hast du noch nie Milch getrunken?«, drang Abbys Stimme zu ihr durch.
Jen schüttelte den Kopf und löste ihren Blick dabei nicht von dem teils eckigen, teils runden hellgrünen Ding mit herausstehenden, gebogenen Metallstreben, das auf einer Holzplatte am Fenster stand.
Im Augenwinkel sah sie, dass Abby einen langen Blick mit Liam tauschte. »Möchtest du etwas davon probieren?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte Jen, überfordert davon, so oft gefragt zu werden, was sie wollte.
»Hey«, sagte Abby sanft. Sie strich mit ihrem Daumen über Jens Wange. »Deshalb musst du doch nicht weinen. Ich stelle dir einfach drei Becher hin und du kannst trinken, was du möchtest. In Ordnung? Setzt euch doch schon mal an den Tisch.«
Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie weinte. Damit hatte sie heute schon öfter geweint, als in ihrem ganzen letzten Ausbildungsjahr.
»Sitzt du lieber auf einem Stuhl oder auf einer Bank?«, fragte Liam, während er sie zum Tisch führte.
Jen musterte erst die beiden Stühle, dann das weiße Brett auf Beinen, das zwischen einer Längsseite des Tischs und der Wand stand. Die Stühle standen frei und konnten problemlos bewegt werden. Die Bank schränkte ihren Bewegungsraum ein. Sollte sie fliehen müssen, würde es sie kostbare Sekunden kosten, zwischen Tisch und Bank hervorzukommen.
»Lieber auf einem Stuhl«, sagte sie also. »Welchen der beiden darf ich nutzen?«
Hinter ihr lachte Abby kurz auf. Jen wandte ihr den Kopf zu.
»Bist du dir sicher, dass du erst vier bist?«, fragte Abby. Sie lächelte noch immer, aber ihre Augen hatten sich weiter geöffnet und ihre Brauen gehoben.
»Ja«, antwortete Jen. Sie zögerte kurz, dann fügte sie die Information hinzu, die Aarin ihr gegeben hatte: »Ich bin am vierten Januar 1985 geboren.«
»Am vierten Januar?«, fragte Liam und klang überrascht. Jen verstand nicht, warum er ihr Geburtsdatum als Frage wiederholte, und auch nicht, warum es ihn überraschen sollte. Verwirrt nickte sie.
»Dann hast du ja heute Geburtstag!«, rief Abby aus. Sie wandte sich einer leise summenden Maschine zu, die so groß war wie sie, und öffnete sie. »Hast du ein Lieblingsessen?«
Jen starrte in den ausgeleuchteten Innenraum der Maschine, in dem auf dünnen eingeschobenen Platten viele verschiedene Dinge standen. Kühle strömte daraus auf sie zu. »Nein«, murmelte sie, abgelenkt von der neuen Entdeckung, die sie wieder Ruhe spüren ließ. Sie machte einen Schritt darauf zu. »Was für eine Maschine ist das?«
Abby holte zwei Gefäße aus dem Innenraum und folgte Jens Blick. »Das?«, fragte sie mit höher wandernden Augenbrauen und deutete auf die Maschine. Als Jen nickte, antwortete sie: »Das ist ein Kühlschrank.«
Kühlschrank, wiederholte Jen für sich. »Was ist seine Aufgabe?«
»Seine …« Abby blinzelte. »Nun, seine Aufgabe ist es zu kühlen.«
»Wir bewahren darin Lebensmittel auf«, ergänzte Liam hinter ihr. »Durch die Kühlung halten sie länger.« Als Abby zu ihm sah, sagte er: »Ich glaube, Jen hat viele Dinge noch nicht gesehen. Ich zeige ihr nachher das Haus.«
Abby nickte langsam. Sie schloss den Kühlschrank, öffnete eine kleine Tür daneben, holte drei Becher hervor und füllte sie mit unterschiedlichen Flüssigkeiten. Die vollen Becher trug sie zum Tisch und stellte sie vor einem der beiden Stühle ab.
Jen kletterte auf den Stuhl davor und setzte sich.
»Das hier ist Milch«, erklärte Abby und deutete auf den Becher mit der weißen Flüssigkeit darin, »und das hier Orangensaft.« Ihr Finger wanderte zu dem Becher mit der gelben Flüssigkeit, ehe sie auf den letzten zeigte. »Und Wasser habe ich dir auch gebracht.«
Jen nahm den Becher mit der Milch in die Hände und roch daran. Der Geruch allein verriet ihr noch nicht viel, also kostete sie. Sie konnte den Geschmack nicht zuordnen. Die Konsistenz glich am ehesten der Flüssigkeit aus den Schwertblättern der Grünen Zone, aber der Geschmack war milder und fettiger. Jen wusste noch nicht, ob sie das mochte, stellte es erst einmal beiseite und versuchte den Orangensaft. Sie roch, kostete – und verzog sofort den Mund. Es war sauer, aber auch süß und schmeckte keinesfalls wie etwas, das ihren Durst stillen konnte. Sie schob es von sich fort und griff zum Wasser.
»Also kein Saft«, sagte Abby und lächelte. »Ist notiert.« Sie wandte sich ab, holte erneut etwas aus dem Kühlschrank und stellte es auf dem Holzbrett unter dem Fenster ab. Was sie dann tat, konnte Jen nicht sehen. Abby hatte ihnen den Rücken zugewandt.
»Was hast du denn bisher so getrunken?«, wollte Liam wissen.
Jen nahm einen großen Schluck und stellte den Becher wieder ab. »Wasser«, sagte sie.
»Sonst nichts?«
Sie wollte schon bestätigen, als sie sich erinnerte. »Als ich noch ganz klein war, habe ich etwas anderes bekommen. Aber ich weiß nicht, wie das heißt.«
»Hier, bitte.« Abby stellte ihr eine Scheibe hin, auf der etwas Viereckiges, Hellbeiges mit einer dünnen dunkelgelben Schicht lag. »Toast mit Marmelade, für den ersten Hunger. Ich koche uns gleich noch etwas, aber das dauert eine Weile.«
Jen griff danach. Es war warm. Sie nahm einen vorsichtigen Bissen, hörte das knackende Geräusch, fühlte die Konsistenz – ein Gemisch aus knuspriger Schicht, weichem Inneren und klebriger, süßer Substanz, unter die sich der Geschmack von Salz mischte. Von den Eindrücken gefangen genommen, kaute sie daran herum und schmeckte den unterschiedlichen Nuancen nach, ehe sie den ersten Bissen schluckte. »Das ist sehr gut.«
Abby und Liam lachten zeitgleich auf, was Jen zusammenzucken ließ.
»So soll es sein«, sagte Abby schließlich. »Lass es dir schmecken.«
Jen sah von ihr zu Liam, der ihr lächelnd zunickte. Dann machte sie sich über den Toast her, ohne weiter nachzudenken.
Als sie fertig gegessen hatte, führte Liam sie durchs Haus. Jen ließ sich erklären, wozu die verschiedenen Räume gedacht waren, lernte, dass es hier Gegenstände gab, die keine Funktion hatten, außer angeschaut zu werden – Dekoration nannte Liam das –, sah unterschiedliche Vorrichtungen, um sich zu waschen, und Gestelle mit einer weichen Schicht darauf, die für den Schlaf gedacht waren.
Der letzte Raum, in den Liam sie brachte, hieß Büro. Dieser Raum war auf den ersten Blick nicht so interessant wie die anderen, bis sie bemerkte, dass an der Wand lauter schmale beschriftete Dinge standen.
Sie kannte den Anblick. Etwas Ähnliches hatte sie vor langer Zeit einmal in Aarins Erinnerungen gesehen.
Jen deutete darauf. »Was ist das?«
Liam ging mit ihr gemeinsam näher heran. »Das sind Bücher. Darin stehen ganz viele Informationen. Hier zum Beispiel«, er deutete auf eines davon, »zur Geschichte der Psychologie. Oder hier zu Krankheiten. Und hier zu Sprachen. Und das hier«, er nahm das nächste Buch heraus, »ist ein Lexikon. Darin stehen Wörter und ihre Bedeutung.«
Informationen.Jens Puls beschleunigte wieder, doch diesmal vor Aufregung. Sie starrte auf das Buch in Liams Hand.
»Du kannst gern hineinschauen«, sagte Liam und hielt es ihr hin.
Jen nahm das Lexikon entgegen. Sie betrachtete es von allen Seiten, kniete sich hin und legte es vor sich auf dem Boden ab. Liam setzte sich zu ihr und öffnete es.
Schrift auf Papier – so viel mehr Papier als in dem Block, auf dem sie vorhin geschrieben hatte.
Jen legte ihren Finger auf das erste Wort in der ersten Zeile und las, las weiter, immer weiter, bis sie am Ende der Seite angekommen war. Allein auf dieser einen Seite waren Wörter, die sie noch nie gehört hatte, obwohl Aarin ihr schon sehr viele beigebracht hatte.
Ihr Puls raste. Aufgeregt sah sie hoch, an Liam vorbei zu all den anderen Büchern. »Beinhalten diese Bücher alle Informationen zu den Menschen?«
»Zu den Menschen?«, wiederholte er.
Vielleicht hatte sie ihre Frage nicht klar genug gestellt. »Wenn ich alle Bücher lese, weiß ich dann alles über die Menschen?«
»Was möchtest du denn über die Menschen wissen?«
»Wie sie funktionieren.« Aufgekratzt erwiderte Jen seinen Blick. »Ich meine nicht die Körper, ich meine ihre Art zu denken. Wie denken Menschen?«
Liams Augen waren immer größer geworden, während sie geredet hatte. »Das ist eine ausgezeichnete Frage«, sagte er. »Ich habe ihr mein ganzes Berufsleben gewidmet.«
»Was bedeutet das?«
»Ich bin Kriminalpsychologe. Ich analysiere das Verhalten von Menschen und versuche, daraus Schlüsse zu ziehen.«
Jen straffte den Rücken, ihre Haut kribbelte, ihr Magen hüpfte. »Dann kannst du die Frage beantworten?«
»Ich wünschte.« Liam lachte. »Aber ich fürchte, das ist eine der schwierigsten Fragen überhaupt, und es wird wahrscheinlich nie eine allgemeingültige Antwort darauf geben.«
»Warum?«
»Weil Menschen keine homogene Masse sind. Menschen sind verschieden, jeder Mensch ist anders. Es gibt Muster, je nach Region und Geschichte können sich ähnliche Denk- und Verhaltensweisen ausprägen, aber alle Menschen zu kennen, ist unmöglich.«
Jen dachte einen Moment darüber nach. »Weil ihr nicht miteinander verbunden seid«, vermutete sie. »Das macht es schwer, weil ihr ausformulieren müsst, was ihr denkt. Dabei können Missverständnisse passieren oder Übersetzungsfehler.«
Liam hörte nicht auf zu starren. »Ja. Genau.« Kurz blieb es still. Dann fragte er: »Wie ist das denn, mit jemandem verbunden zu sein?«
Jen sah hoch zur Decke und überlegte, wie sie das erklären sollte. »Mit Mama anders als mit Aarin. Mama und ich haben eine ähnliche Art zu denken. Ich verstehe ihre Entscheidungen, sie sind klar und folgen Regeln, die ich kenne. Die Verbindung mit Mama gibt mir Sicherheit.« Das auszusprechen schmerzte, jetzt, da sich Mama abgeschottet hatte. »Wenn ich mit Aarin verbunden bin, bin ich schneller überfordert. Aarin fühlt sehr stark, das überträgt sich auf mich. Und manchmal denkt er auf eine Weise, aber handelt auf eine andere.« Hannas aufgerissene Augen starrten sie aus dem Nichts heraus an. »Mit der Verbindung ist es mir leichter gefallen, ihn einzuschätzen, aber auch mit der Verbindung habe ich nicht vorhergesehen, dass er Hanna töten wird.« Dass das auch auf Mama zutraf, war sie nicht bereit, auszusprechen.
»Wer ist Hanna?«, fragte Liam. Etwas in seinem Tonfall hatte sich verändert.
»Aarins Tochter.« Jen nahm den Blick von der Decke, damit Hannas Augen sie nicht mehr von dort anstarren konnten. Jetzt starrten sie Jen aus dem Lexikon heraus an. »Ich verstehe das nicht«, brach es aus ihr heraus. »Alles, was er getan hat, hat er für Hanna getan. Hanna war seine Familie. Er wollte sie beschützen. Warum hat er sie getötet?« Warum hast du getötet, Mama?
»Das klingt, als hättest du es mitangesehen«, sagte Liam leise.
Jen nickte.
»Wann ist das denn passiert?«
»Vor sieben Stunden in etwa.«
»Heute?« Liam richtete sich auf. »Vor sieben Stunden … War das kurz, bevor du gefunden wurdest?«
»Ja.«
»Hat er dir auch wehgetan?«
Jen schüttelte den Kopf.
»Hat er dir gedroht? Oder deiner Mutter?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Ist deine Mutter noch bei ihm?«
Jen sah auf die Seiten des Lexikons, während ihr der Gedanke kam, dass Aarin vielleicht der Grund war, warum Mama nicht mehr mit ihr sprach. »Ja«, sagte sie heiser. »Sie können sich nicht trennen.«
»Weißt du, wo er jetzt ist?«
»Nein. Ich habe die Verbindung zu ihm gekappt. Ich habe Angst, sie wieder aufzumachen.«
»Ich möchte nicht, dass du Kontakt zu ihm herstellst«, sagte Liam hastig. »Wenn du mir sagen kannst, wo du ihn zuletzt gesehen hast, reicht das vollkommen.«
Jen rief die gefragten Sekunden aus ihrer Erinnerung ab. »Er war auf dem Weg zurück in den Kern.«
»In den Kern? Welchen Kern?«
»In den Maschinenkern.«
»Ich kenne keinen Maschinenkern. Kannst du mir erklären, wo der ist?«
»Im Erdkern. Ich habe die Verbindung zu Aarin getrennt, kurz nachdem er im Portalraum angekommen ist.«
Liam schwieg. »Okay«, sagte er dann leise. »Es ist okay, Jen. Alles wird gut. Du bist hier sicher. Okay?«
Sie fragte sich, warum sie das so oft zu hören bekam und woher Liam diese Sicherheit nahm. Aber sie hatte heute kaum noch freie Aufnahmekapazitäten. Sie musste ihre Fragen für morgen aufheben, um den verbliebenen Rest für Notfälle freizuhalten.
»Komm«, sagte Liam sanft, stand auf und nahm sie an der Hand. »Abby hat bestimmt schon gekocht.«
Während sie von Abby zu essen bekam – warmes, salziges Essen mit ungewohnter Konsistenz –, telefonierte Liam im Flur. Jen verstand seine dumpf hereindringenden Worte nur schwer, weil Abby sich zeitgleich mit ihr unterhielt, aber was sie hörte, klang wie eine Zusammenfassung von dem, was sie ihm erzählt hatte. Sie vermutete, dass er mit Tom sprach. Immerhin hatte er Tom gesagt, dass er ihn anrufen würde, sobald er mehr Informationen hatte.
Jen lag das Essen schwer im Magen. Es war auf eine ungewohnte Art sättigend und hinterließ den Eindruck, ihr Energie zu rauben, anstatt zu geben. Vielleicht lag es aber auch nur an der Menge, die sie gegessen hatte. Auch das war eine neue Erfahrung: mehr zu essen, als nötig war.
Jedenfalls wusste sie jetzt, dass sie bei Liam und Abby nicht hungern musste. Nahrung gab es hier im Überfluss.
Nach dem Essen brachte Abby sie ins Badezimmer, half ihr beim Waschen und gab ihr etwas zum Anziehen, was sie Nachthemd nannte. Jen konnte den Zweck hinter dem Kleidungsstück nicht erkennen. Schutz schloss sie aus, dafür deckte es viel zu wenig Haut ab. Aber vorerst fragte sie nicht weiter nach.
Liam begleitete sie daraufhin in einen kleinen Raum mit den meisten bunten Gegenständen des Hauses. »Das hier ist dein Zimmer«, erklärte er. Dann deutete auf ein schmales Schlafgestell mit einer weichen Schicht darauf. »Und das ist dein Bett.«
Jen tastete die weiche Schicht ab, unschlüssig, was sie davon halten sollte. Aber weil Liam wartete, zögerte sie nicht länger und legte sich darauf.
Liam griff nach einem zentimeterdicken, quadratischen Stoff, den er Decke nannte, und breitete ihn über ihr aus. »Hast du eigentlich Geschwister?«, fragte er.
»Was sind Geschwister?« Sie strich über die Decke, fühlte den glatten, kühlen Stoff an ihren nackten Händen und Füßen und schauderte.
»Geschwister sind andere Kinder, die mit dir gelebt haben, die auch deine Mutter zur Mutter haben oder deinen Vater zum Vater.«
Jen dachte an die vielen Testsubjekte und überlegte, ob sie auch Mamas Kinder waren. Aber wenn sie Aarin richtig verstanden hatte, dann waren deren Mütter die Personen, die sie geboren hatten. Mama hatte bislang niemanden außer Jen geboren.
»Dann habe ich keine Geschwister«, sagte sie also.
»Gibt es sonst irgendjemanden, den ich für dich kontaktieren soll, den du gern sehen würdest?«
»Nein.«
»Entschuldige.« Liam zog die Decke noch ein wenig höher. »Ich frage zu viel.«
»Fragen ist wichtig«, murmelte Jen.
Da lächelte Liam. »Das ist wahr.« Er musterte sie einen Moment lang. »Wenn du irgendetwas brauchst – wir sind im Raum nebenan. Du kannst jederzeit zu uns kommen oder nach uns rufen, ja?«
»Okay.«
»Soll ich das Licht anlassen?« Er deutete auf die Lampe neben dem Bett.
Jen sah hin. Es war eine kleine Lichtquelle, umgeben von grünem Metall. »Ich brauche kein Licht«, sagte sie.
»In Ordnung.« Liam nickte. »Gute Nacht, Jenesis.«
Aarin hatte ihr auch immer eine gute Nacht gewünscht. Jen schluckte. »Gute Nacht, Liam.«
Liam löschte das Licht und verließ das Zimmer. Weil er die Tür einen Spaltbreit offen ließ, sah Jen auch das Licht im Flur ausgehen und hörte, wie Liam den Nebenraum betrat. Was sie nicht hörte, war das Einrasten seiner Tür, also nahm sie an, dass er auch die offen gelassen hatte. Gedämpfte Stimmen drangen zu ihr. Liam und Abby unterhielten sich noch einige Minuten, aber zu leise, um die Worte zu verstehen. Dann wurde es still.
Zu still.
Jen starrte in die Dunkelheit, die heller war als im Kern. Der Untergrund, auf dem sie lag, war zu weich, der Stoff, der sie bedeckte, zu lose, und die Umgebungsgeräusche kaum vorhanden. Manchmal hörte sie draußen Motoren von vorbeifahrenden Fahrzeugen, aber das Haus selbst war still. Es gab kein Sirren, kein Wummern, es gab keine Vibration, die über den Boden in ihre Knochen drang und sie beruhigte.
Sie unterdrückte den Wunsch, einmal mehr nach Mama zu rufen. Sie wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde. Ihr Schutzschild umgab sie nach wie vor.
Ruckartig fuhr Jen hoch, schlug die Decke zur Seite und stand auf. Sie schlich aus ihrem Zimmer in das gegenüberliegende Bad, in dem Abby ihren Anzug in ein Gefäß mit Deckel geworfen hatte, auf dem in verzierten Buchstaben Laundry stand. Ohne die Lichtquelle zu nutzen und ohne ein Geräusch zu verursachen – beides hatte sie in ihrer Ausbildung gelernt –, holte sie ihren Anzug aus dem Gefäß, zog das Nachthemd aus und schlüpfte in den vertrauten anschmiegsamen Stoff. Dann huschte sie die Treppe hinab zu dem Platz, an dem sie noch am ehesten Schlaf finden würde.
Jen legte sich hin, spürte die Härte des Bodens an ihrer Seite, die Kühlschranktür in ihrem Rücken und die sachte Vibration, die sich auf sie übertrug. Endlich konnte sie durchatmen. Sie schloss die Augen und hörte dem leisen Summen des Geräts zu, bis die Erschöpfung sie in den Schlaf zog.
Im ersten Moment des Erwachens griff ihr antrainierter Reflex: Bauch-, Arm- und Beinmuskeln spannten sich zur Abwehr bereit an, ihre Sinne sondierten die Umgebung. Dann erinnerte sie sich, wo sie war – und was passiert war.
Rasch setzte sie sich auf, lauschte in die Stille des Hauses. Sie hörte leises Knarzen und schloss aus der Entfernung des Geräuschs, dass es aus Liams und Abbys Zimmer kam.
Jenesis.
Jen fuhr zusammen.
Mama?
Ich habe deine Protokolle gelesen. Du hast bereits viele Informationen gesammelt.
Mama!Jen musste sich am Kühlschrank anlehnen, weil ihr die Erleichterung jede Körperspannung raubte. Du bist wieder da!
Was meinst du damit?
Du warst abgeschottet. Ich konnte dich nicht erreichen. Ich hatte Angst, dass ich dich nie wieder erreichen kann.
Mama sagte nichts darauf, aber das störte Jen nicht. Wieder mit ihr verbunden zu sein, reichte, um die zwischenzeitlich verlorene Sicherheit zurückzuerlangen.
Ich habe eine Lücke in meinen Protokollen, sagte Mama. Ich habe keine Abschottung verzeichnet. Über welchen Zeitraum hast du meine Abschottung wahrgenommen?
Jen sah aus dem Küchenfenster. Es war noch nicht hell, aber die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Ich weiß es nicht exakt. Ich habe die Verbindung zu dir kurz nach meiner Aussetzung verloren, da stand die Sonne hoch. Jetzt geht sie gerade auf. Ein Erdentag hat vierundzwanzig Stunden, ich würde die Dauer also auf ungefähr zwanzig Stunden schätzen.
Weil Mama das Ereignis fehlte, dem sie die Information zuordnen konnte, legte sie einen separaten Protokollpunkt an. Jen sah ihr dabei zu und stellte fest, dass es nicht nur die Abschottung war, die Mama nicht protokolliert hatte.
Was ist das Letzte, was du aufgezeichnet hast?, wollte sie wissen, obwohl sie es lesen konnte.
Es gab einen Sicherheitsbruch, ausgehend von den Transportkanälen zur Außenzone. Erste verzeichnete eingedrungene Person: Enver Veil. Anzahl weiterer Eindringlinge: 63. Ich habe die Abwehr in Sektor 01_11, 02_11, 03_11 und 04_11 eingeleitet.
Mama lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Enver VeilsTracer und Jen las die Information gemeinsam mit ihr: Verstorben. Entsorgt.
Jen zog die Beine an und kauerte sich zusammen. Sie wollte die Bilder nicht erneut sehen, aber sie konnte es nicht verhindern, und während Mama jede einzelne Tracerinformation der Eindringlinge abrief, griff sie auch auf Jens Erinnerungen zu.
Ich brauche die Legitimation, sagte Mama. Ich kann sie nicht finden. Mit welcher Legitimation habe ich die Befehle zur Tötung gegeben?
Mama wirkte verwirrt. Aufgelöst. Jen hatte sie noch nie so erlebt. Unruhe mischte sich zu der eben erst wiedererlangten Sicherheit.
Es sollte gar nicht möglich sein, dass Mama keine Legitimation finden konnte. Sie brauchte für jeden Vorgang eine, weil sie im Sinne der Gesetze und des Kodex handeln musste.
Wenn Mama ohne Legitimation gehandelt hatte, bedeutete das, dass es Wege gab, Gesetz und Kodex zu umgehen. Jen war diese Option bislang unmöglich erschienen.
Plötzlich war ihr kalt. Wenn Mama sich den Gesetzen entziehen und Jen in einer solchen Situation nicht zu ihr durchdringen konnte, dann war es genauso gut möglich, dass Mama auch sie tötete.
Ich werde dich nicht verletzen. Deine Sicherheit hat oberste Priorität. Dein Schutz steht an erster Stelle. Die Mission muss abgeschlossen werden.
Jen umklammerte ihre angezogenen Beine. Ich konnte dich nicht erreichen. Ich hätte nichts tun können, wenn einer deiner Befehle mir gegolten hätte.
Dein Status lautet: aktiv/Anerkanntenanwärterin. Es ist unmöglich, dir Schaden zuzufügen. Deine Existenz ist entscheidend für die Mission. Deine Sicherheit hat oberste Priorität.
»Jen?«
Jen schnellte in die Höhe. Liams Ruf kam von außerhalb des Raumes, aus etwa zehn Metern Entfernung.
»Jen!«
Sie lief aus der Küche und sah die Treppe hoch, von wo seine Stimme kam. »Ja?«
Liam und Abby standen vor ihrem Zimmer und drehten sich zeitgleich zu ihr um. Sie wirkten gehetzt und außer Atem. Als Liam sie sah, schlug er die Hände vors Gesicht und atmete geräuschvoll aus.
»Gott sei Dank«, sagte er.
Jen wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Was bedeutete dieses Verhalten?
»Wo bist du gewesen?«, fragte Abby.
»In der Küche«, antwortete Jen.
»Oh, hattest du Hunger? Oder Durst?«
»Nein. Ich habe dort geschlafen.«
Liam nahm die Hände vom Gesicht. »Warum hast du in der Küche geschlafen?«
»Die Matratze ist zu weich, und im Zimmer war es zu leise. Ich mag das Geräusch, das der Kühlschrank macht. Es beruhigt mich. Und der Boden ist angenehm kühl und fest.«
»Du hast auf dem Boden geschlafen?«, fragte Liam
