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Düster, heiß – und sehnsüchtig erwartet: der Nachfolger zu Ali Hazelwoods fulminanter Paranormal Romance »Bride«: Eine wölfisch-wilde Paranormal Romance um Serena, Miserys vermisste Ziehschwester, und den Alphawolf Koen.
Serena Paris ist die Einzige ihrer Art: Als erste Mensch-Werwolf-Hybride der Geschichte steht sie im Kreuzfeuer des Konflikts zwischen den Wölfen, Vampiren und Menschen. Bald ist ihr eine ganze Horde blutrünstiger Feinde auf den Fersen, und ihr bleibt nur ein einziger Verbündeter – mit dem sie jedoch eine mehr als schwierige Beziehung hat: Alpha-Werwolf Koen hat in ihr seine Gefährtin erkannt. Ohne dass Serena diese Bindung erwidern würde. Doch als die Rätsel ihrer Herkunft sie einzuholen drohen, steht allein Koen zwischen ihr und einer tödlichen Katastrophe ...
»Ali Hazelwood hat mich direkt in meine Werwolfära zurückversetzt.« Hannah Grace.
Mit einem Wiedersehen mit Misery und Lowe aus »Bride – Die unergründliche Übernatürlichkeit der Liebe«!
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Seitenzahl: 640
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lang erwartet, unfassbar heiß: In dieser wölfisch-wilden Paranormal Romance führt uns Ali zurück in die Welt von »Bride« und lässt Serena, Miserys vermisste Ziehschwester, und den Alphawolf Koen gegen die Prüfungen des Schicksals antreten.
Ali Hazelwood hat unendlich viel veröffentlicht (falls man all ihre Artikel über Hirnforschung mitzählt, die allerdings niemand außer ein paar Wissenschaftlern kennt unddie, leider, oft kein Happy End haben). In Italien geboren, hat Ali in Deutschland und Japan gelebt, bevor sie in die USA ging, um in Neurobiologie zu promovieren. Mittlerweile ist sie sogar Professorin, was niemanden mehr schockiert als sie selbst. Ihr erster Roman »The Love Hypothesis – Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe« wurde auf TikTok zum Sensationserfolg und ist ein internationaler Bestseller. Zuletzt erschienen von ihr bei Rütten & Loening »Deep End« und »Problematic Summer Romance«. Mehr zur Autorin unter AliHazelwood.com; Instagram: @AliHazelwood
Anna Julia Strüh übersetzte ihr erstes Buch mit fünfzehn, Autorinnen wie Lily Lindon, Ali Hazelwood, Julie Soto u. a. folgten. Sie lebt in Leipzig und überträgt auch Lyrik ins Deutsche, etwa von Rupi Kaur.
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Ali Hazelwood
Mate – Die unzumutbare Unmöglichkeit von Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischen von Anna Julia Strüh
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog
Dank
Impressum
Für die LiveJournal-User tehdirtiestsock, the_miss_lv und pianoforeplay sowie alle anonymen Ideengeber. Ich hoffe, es geht euch gut, wo immer ihr seid.
Das Kind war gut geschult – wenn auch nicht von seiner Familie, sondern vom Leben.
In dem Moment, als die Tür aufbrach, rannte sie zu ihrer Mutter, nicht auf der Suche nach Geborgenheit, sondern um eben diese zu geben. Komm mit mir, wollte sie flehen, aber ihr Mund blieb stumm, also zupfte sie an ihrem Ärmel. Komm mit mir. So ist es besser.
Doch ihre Mutter machte sich los, sie würdigte das Mädchen keines Blickes, sodass es keine andere Wahl hatte, als sich allein nach oben zurückzuziehen. Im Schlafzimmer schlief ein Mann, ein grausamer, gehässiger Werwolf, der ihr fast genauso viel Angst machte wie die Einbrecher. Dennoch rüttelte sie ihn wach, um ihn zu warnen.
»Ich will endlich meine Ruhe haben«, brüllte er und stieß sie weg. Sie duckte sich, als er nach ihr schlug. »Wenn du nicht still sein kannst …« Er hielt inne, als ihm klar wurde, dass etwas nicht stimmte. Sie sah sich nach einem Versteck um und schlüpfte in den Schrank.
Für eine Weile war das alles. Sie schlang die Arme um die Knie und atmete den muffigen Geruch alter Kleidung ein. Dann setzte das Geheul ein, und sie begann zu zählen. Die Leute im Haus beschimpften sie immer als dumm, aber sie konnte bis tausend zählen, und die Zahlen in ihrem Kopf, eine nach der anderen, sorgsam aufgestapelt zu einer Schutzmauer, überdeckten die Schmerzensschreie, die geknurrten Beschimpfungen, das Geräusch brechender Knochen. Sie blieb still, selbst als der Lärm immer näher kam.
Zweihundertfünf. Zweihundertsechs. Zweihundert…
Blut sickerte unter der Tür hindurch, und das Mädchen konnte sich nicht mehr beherrschen. Ihr erschrockenes Keuchen hallte von den Wänden des vollgestopften Schranks wider, bevor sie sich den Mund zuhalten konnte. Sie wusste, dass sie so gut wie tot war.
Nein. Nein, nein, nein.
Zitternd biss sie sich auf die Lippe und betete zum alten Gott ihrer Mutter. In der Dunkelheit konnte sie die Farbe des Blutes nicht erkennen. Bleib ruhig, sagte sie sich und kauerte sich in einen Haufen uralter Decken. Die flehenden Stimmen waren vor einer ganzen Minute verstummt, aber sie hörte noch überall Bewegung im Haus. Vielleicht war es ihre Mutter. Vielleicht kam sie die Treppe herauf, um nach ihr zu suchen …
Die Schranktür öffnete sich abrupt. Eine dunkle Gestalt starrte auf das Mädchen herunter, die hochgewachsene Silhouette vom hellen Schein der Deckenlampen umrahmt.
Er war der Tod. Der personifizierte Tod.
Von Panik ergriffen, öffnete das Mädchen den Mund und holte tief Luft, bereit zu schreien. Doch der Mann hob einen Finger an die Lippen, und der simple Befehl ließ sie erstarren.
»Kein großer Fan von Kreischerei«, erklärte er und kam näher. Hinter ihm lag der Leichnam des Werwolfs, den sie zu warnen versucht hatte. Waldgrüne Flüssigkeit strömte aus der klaffenden Wunde an seinem Hals.
Und sie wäre als Nächstes dran.
»Mach dir keine Vorwürfe. Es liegt nicht daran, dass du einen Mucks gemacht hast.« Die Stimme des Todes war ein tiefes Grollen, das die Stille durchschnitt. Etwas schien ihn abzulenken, er blickte sich um, als suche er nach etwas, das er verlegt hatte. »Ich habe dich sofort gewittert, als ich reingekommen bin.« Er ging vor ihr in die Hocke, wobei er achtlos in die Blutlache trat.
Die Zähne des Mädchens klapperten vor Angst. Fleh ihn an, befahl ihr eine Stimme im Kopf. Bettle um dein Leben. Doch ihr Mund öffnete sich nicht.
»Bist du da oben?«, rief jemand aus dem Erdgeschoss, und das Mädchen zuckte zusammen. Sie versuchte, tapfer zu sein, doch Tränen strömten ihr über die Wangen. Der Mann merkte es sofort, und sein Gesicht nahm einen missbilligenden Ausdruck an, genau wie das ihrer Mutter, wenn das Mädchen sich über ihr neues Leben beschwerte.
Schwach. Heulsuse. Selbstsüchtig.
Er griff mit einem Seufzen nach ihr, und sie kniff die Augen zu. In ihrer Panik wünschte sie nichts anderes als ein schnelles Ende. Lass es schnell vorbei sein. Es kann auch schmerzhaft sein, solange es nur schnell geht.
Doch dann wischte ihr ein Daumen sanft die Tränen aus dem Gesicht, und ihre Augen öffneten sich schlagartig.
»Hey!« Eine andere Stimme drang von unten zu ihnen herauf, näher diesmal. »Brauchst du irgendwas?«
Die dunklen Augen des Mannes betrachteten sie. Er seufzte erneut. »Ruf den Mann von der Fürsorge an.«
»Scheiße. Wie viele diesmal?«
»Eine.«
Ein Muskel im Kiefer des Mannes zuckte, als er ihr ein letztes Mal über die Wange strich. »Nicht weinen. Das heißt, weine ruhig, wenn du willst. Aber es ist besser so. Ich hoffe sehr, dass dies der schlimmste Tag deines Lebens gewesen sein wird.« Auf seinem Gesicht zeigte sich ein kleines Lächeln. »Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«
Sie blinzelte, überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel. Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich nicht erinnern. Gestern? Vor zwei Tagen?
»Komm. Holen wir dir etwas Warmes.« Er streckte die Arme aus, und da das Mädchen der klebrigen grünen Pfütze nicht ohne Hilfe entgehen konnte, ließ sie sich von ihm hochheben, nicht sicher, warum sie nichts dagegen unternahm, dass sie ein Mörder die Treppe hinuntertrug. Vielleicht hat er Mutter auch geholfen, dachte sie, denn sie wusste, dass dieser Mann stark genug dafür gewesen wäre.
Ja, das hatte er bestimmt. Sie war sicher, dass sie auf dem Weg zu ihr waren. Also vergrub sie das Gesicht am Hals des Fremden und ließ sich von seinem langsamen Herzschlag beruhigen. Und weil sie es konnte, zählte sie noch einmal bis tausend.
Sie zerriss ihn und erschuf ihn neu.
Dafür brauchte sie weniger als eine Sekunde.
Gegenwart
Wenn es so etwas wie die perfekte Nacht gäbe, wäre es nicht diese.
Es gibt so viel daran auszusetzen. Ich könnte mich über den kürzlichen Regenguss, den schwachen, an eine Knoblauchzehe erinnernden Mond und das nicht aufgeladene Handy aufregen, das auf meinem Nachttisch liegt. Das Hauptproblem ist jedoch, dass ich nur zwei Kleidungsstücke trage: eine Unterhose und ein Hemdchen. Unter meiner flauschigen Decke war das allemal warm genug, aber die musste ich leider in der Hütte zurücklassen. Als ich um ein Uhr nachts mit der erschreckenden Erkenntnis erwachte, dass jemand dabei war, bei mir einzubrechen.
Es ist Herbst. An einem Ort, den ich noch vor etwa einem Jahr – damals, als ich dummerweise dachte, ich wäre ein Mensch – Oregon genannt hätte. Jetzt, da meine Werwolfgene immer mehr die Oberhand gewinnen, sind Dinge wie Kartografie und Staatsgrenzen lächerlich belanglos geworden. Der springende Punkt bleibt indes: Hier im Nordwesten ist es im November sehr kalt, und ich bin nicht angemessen angezogen.
»Was für ein gottverdammtes Timing«, murmle ich vor mich hin und husche hinter den knorrigen Stamm einer Douglasfichte. Meine Brust hebt und senkt sich stoßweise, während ich auf meine sehr menschlich geformte Hand hinunterstarre. Ich visualisiere die Veränderung, beschwöre meine abgekauten Fingernägel, sich in Klauen zu verwandeln.
Nimm deine Wolfsgestalt an, Serena. Nimm verdammt noch mal deine Wolfsgestalt an, sonst …
Aber nichts. Mein Körper weigert sich, sich mit Drohungen zum Gehorsam zwingen zu lassen. Ich blicke zum Himmel auf, doch die viel propagierte Anziehungskraft des Mondes ist kaum mehr als ein völlig desinteressiertes Zupfen. Mit einem gedämpften Stöhnen sprinte ich weiter durch den Wald, wobei meine bloßen Füße durch den frischen Schlamm rutschen. Ein Dutzend kleiner Schnitte ziehen sich kreuz und quer über meine Sohlen und Schienbeine. Je länger ich renne, desto schwächer wird meine Hoffnung, dass die Erde den Eisengeruch meines Blutes überdecken wird.
Und ich renne schon eine ganze Weile.
Der Eindringling verfolgt mich. Holt auf. Der Wind trägt seine immer näher kommende Witterung zu mir heran, und was er mir sagt, gefällt mir gar nicht. Ein Vampir. In der Blüte seiner Jahre. Begierig. Der Nervenkitzel der Jagd berauscht ihn, und der Geruch seiner Erregung liegt mir schwer im Magen. Doch so widerlich das auch sein mag, ist es doch mein geringstes Problem. Denn wenn selbst ich ihn so deutlich wittern kann, besteht eine sehr hohe Chance, dass er nahe genug ist, um …
»Verdammt, na endlich.« Die Worte zischen in meinen Ohren wie Pistolenkugeln. Eine Sekunde später werde ich mit dem Rücken gegen einen Baum geschmettert. Ich weiß nicht, was schmerzhafter ist – die Rinde, die sich in meine Haut gräbt, die Hand um meine Kehle oder sein ekelhafter, wahnsinniger Gestank.
Der Wald ist stockfinster. Es gibt keine Dunkelheit, in der Werwölfe nicht sehen können, aber ich verfüge nur über die Hälfte dieser praktischen Wolfsgene, was bedeutet, dass meine Nachtsicht alles andere als verlässlich ist. Dennoch ist der Blutdurst dieses Vampirs unverkennbar. Ebenso wie die Klinge in seiner Hand. »Bist nicht sonderlich schnell, was?«, knurrt er.
Was du nicht sagst. Ich unterdrücke ein Augenrollen und zwinge mich, hilflos zu stöhnen. »Bitte«, flehe ich. Sein Gestank explodiert geradezu, als wäre es sein Lieblings-Kink, eine Frau in seiner Gewalt zu haben – wie vorhersehbar. Also gebe ich ihm mehr davon. »Bitte, töte mich nicht. Ich tue, was immer du willst.«
»Was immer ich will?«
Er ist so interessiert. Ich stoße ein Wimmern aus und reiße die Augen weit auf. »Alles.«
Sein Blick wandert über meinen Körper, als schätze er ab, wofür ich mich eignen könnte – Organhandel, Knochenbrühe, Gartenpflege. Im Gegensatz zu mir ist er schnell. Übernatürlich schnell. Sein Messer schneidet durch mein Seidenoberteil, vertieft den Ausschnitt.
Was für ein Scheißer.
Doch als er mich lüstern begafft, erreicht sein Gestank einen Höhepunkt. Was bedeutet, dass er abgelenkt genug sein sollte, um mir eine Chance zu geben, von den Selbstverteidigungskursen Gebrauch zu machen, zu denen mich meine Schwester genötigt hat.
Knie in die Eier.
Kopfstoß gegen die Nase.
Und, als kleine Zugabe, einen Ellbogen in den Magen. Ich meine, warum nicht?
Der Vampir ächzt. Murmelt ein paar Varianten von »verdammte Hure«. Aber ich bin frei. Zwar kann ich nicht schneller rennen als er, aber ich kann eine Handvoll Erde nehmen und sie ihm in die Augen schleudern, was gerade genug Schaden anrichtet, um ihn langsamer werden zu lassen. Ich blicke mich fieberhaft um und – ja. Ich erspähe einen scharfen, kantigen Stein. Bücke mich, um ihn aufzuheben.
»Du verdammte Missgeburt.« Der Vampir stürzt sich wieder auf mich und dreht mir den Arm auf den Rücken. Ich gebe ein Jaulen von mir, aber der Stein liegt in meiner Hand. Tragischerweise hält der Scheißer mein Handgelenk im falschen Winkel, sodass ich nicht zuschlagen kann.
Theoretisch weiß ich, was der nächste Schritt ist – Geh näher ran, verlagere deinen Körperschwerpunkt nach unten, dreh dich und schlag mit deiner freien Hand zu –, und o Mann, ich versuche es wirklich. Leider ist der Vampir einen Deut oder zwei besser als ein durchschnittlicher Kämpfer, und nichts davon funktioniert.
Das ist der Moment, in dem mir doch etwas flau im Magen wird. Das wird nicht gut ausgehen. »Lass. Mich. Gehen«, fauche ich ihn an.
»Halt die Klappe.« Sein Essiggeruch brennt mir in der Nase. Der Kampf hat ihn nur heißer gemacht. Und ich sitze noch tiefer in der Scheiße. »Ich darf dich zwar nicht töten, aber ich kann dir verdammt wehtun, bevor ich …«
»Ach ja?«, unterbricht ihn eine Männerstimme. Sie dringt von irgendwo zwischen den Bäumen hervor. Ein volltönendes, gemächliches Grollen, bedrohlich und unbeteiligt zugleich. Auf der ganzen Welt gibt es keine Antwort, die diese Stimme aus der Ruhe bringen würde. »Kannst du das wirklich, Kumpel?«
Der Vampir erstarrt. Bevor er seine instinktive Reaktion zügeln kann, rieche ich blanke, jämmerliche, ätzende Angst.
Ich schließe die Augen. Zwinge meine brennende Lunge, langsam einzuatmen. Passe meine Erwartung dem, was in den nächsten zehn Minuten passieren wird, an, lasse sie von Neuem Gestalt annehmen, bis sie … immer noch beklagenswert ist, aber immerhin etwas weniger.
Koen.
Koen ist hier.
Es wird alles gut.
Der Vampir zieht mich mit einem harten Ruck vor sich und hält mir das Messer an die Kehle. Ich frage mich, ob er mich als Geisel benutzen will oder als menschlichen Schutzschild, der ihm kaum bis zur Schulter reicht. »Was machst du hier?«, knurrt er.
Das ist eine berechtigte Frage. Koen lebt einige Stunden entfernt und war seit fast zwei Monaten nicht mehr hier, seit er mich auf meine Bitte hin mit einer Tonne Vorräte, einem langen, eindringlichen Blick und einem spöttischen »Viel Spaß dabei, die Fichten vollzulabern, Killer«, das nicht recht zu der Intensität in seinen Augen passte, vor der Waldhütte abgesetzt hat.
»Hast du gerade gefragt, was ich in meinem Revier mache? Was zur Hölle machst du hier, du Scheißhaufen?« Mit großen, gemächlichen Schritten taucht Koen aus dem Gebüsch auf.
Er ist anders. Als alle anderen, das sowieso, aber auch anders als bei unserer letzten Begegnung. Seine schwarzen Haare sind in einer verwilderten, ungekämmten Version seiner früheren Frisur auf seinem Kopf zusammengebunden. Er hat sich seit Wochen nicht mehr rasiert, und ich vermute, dass er auch nicht genug geschlafen hat. Aber seine Gegenwart hat die übliche Wirkung auf mich: Sie erdet mich, wenn ich kurz davor bin, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Alpha.
Sein Geruch ist unverwechselbar. Verlässlich und beruhigend. Das perfekte Gegengewicht zur Panik des Vampirs.
Der faucht: »Wenn du näher kommst, werde ich sie töten.«
Natürlich kommt Koen näher. Mit der unerschütterlichen Gelassenheit von jemandem, der nie an seiner Fähigkeit gezweifelt hat, die Welt seinem Willen zu unterwerfen. »Aha. Serena, er sagt, er werde dich töten. Ist das okay für dich?« Sein Ton klingt nach nichts als Wissbegierde. Tiefschwarze Augen schimmern in der Dunkelheit.
»Na ja, mir sind letzte Woche die Instant-Nudeln ausgegangen …«, krächze ich. Nicht die beste Idee, da der Vampir mir fast den Oberarmknochen aus dem Gelenk reißt. Aber das amüsierte Zucken um Koens Mundwinkel macht das beinahe wett.
»Du bist Koen Alexander, oder? Der Alpha des Nordwestrudels.«
»Der bin ich. Wie heißt du, Kumpel?«
»Das ist unwichtig. Wenn du näher kommst …«
Koen schnalzt mit der Zunge. »Du solltest mir deinen Namen sagen, sonst muss ich mir einen ausdenken. Irgendwelche Ideen, Serena?«
Ich räuspere mich. »Ich bin für Bob.«
»Bob der Vampir. Gefällt mir.«
»Das ist nicht mein Na…«
»Doch, ist es, wenn die Lady es sagt. Willst du mir sagen, was du in meinem Revier treibst, bevor ich deine Eier abreiße und sie dir in den Mund stopfe?«
Der Vampir antwortet nicht, verdreht mir jedoch so brutal den Arm, dass mir schwarz vor Augen wird und ich kurz davor bin, in Ohnmacht zu fallen. Dann zieht er mich näher an sich heran und faucht: »Sie mag zu wertvoll sein, um sie zu töten, aber ich kann eine Menge Schaden bei ihr anrichten.«
»Nur zu.« Zum ersten Mal, seit er aufgetaucht ist, begegne ich Koens Blick. Ich kann rein gar nichts darin lesen. »Dieses Mädchen hält eine Menge aus. Oder irre ich mich da, Serena?«
Irgendwie finde ich die Kraft, den Kopf zu schütteln – was eine glatte Lüge ist. Und doch. Vielleicht halluziniere ich auch wegen der Schmerzen, aber ich glaube riechen zu können, wie sehr ihm das gefällt.
»Bist du sicher?«, fragt der Vampir. »Schließlich ist sie halb Mensch.«
»Und du bist halb Arschloch. Was für ein Zufall.«
»Alle haben es auf sie abgesehen. Seit diesem Interview, das sie gegeben hat, sind sämtliche Vampire des Kontinents auf der Suche nach ihr.«
»Ja, ja. Ich bin mir sicher, dass es überall Seziertische mit ihrem Namen darauf gibt.«
»Aber weißt du auch, wie viel man für sie zu bezahlen bereit ist?« Plötzlich nimmt die Stimme des Vampirs einen überzeugenden Ton an. »Wer ihnen die Hybride bringt, kann seinen Preis nennen.«
»Klar. Und sie werden dich bestimmt nicht erledigen, sobald du sie ihnen aushändigst.«
Der Vampir schnaubt. »Dafür bin ich zu schlau. Ich bin der Erste, der sie aufgespürt hat – denkst du, ich bin der Einzige, der hinter dem Kopfgeld her ist? Andere werden folgen. Sobald sie rausfinden, dass sie in deiner Obhut ist, werden sie in Scharen herkommen. Bist du sicher, dass du den Rest deines Lebens damit zubringen willst, einen Halbmenschen zu beschützen? Lass mich sie dir abnehmen. Sieh einfach weg.«
»Also, wenn wir von Angeboten sprechen, Bob, ist dieses fucking lahm.« Koen breitet die Arme aus. »Was habe ich davon? Du solltest mir etwas als Gegenleistung anbieten. Dass wir die Belohnung teilen, dass du mein Auto wäschst …«
»Man sagt, sie sei deine Gefährtin.«
Es ist, als könnte der Wald diese Worte hören. Als würde er sie verstehen. Für einen kurzen Augenblick hält jedes Kleintier, jedes Blatt, jeder Tropfen Wasser inne, in Erwartung von Koens Reaktion.
»Ach wirklich?« Er geht auf den Vampir zu, noch immer völlig entspannt. Als mache er nur einen Abendspaziergang. Schlendere durch ein Museum. Vollkommen sorglos.
»Ja. Und weißt du, was sie noch sagen?«
»Ich wette, du wirst es mir gleich erzählen.«
»Dass sie dich hat abblitzen lassen.«
»Autsch.« Koen macht nicht den Eindruck, dass ihm etwas wehtäte. »Und deine Argumentation ist zweifelsohne, dass ich mich liebend gern an ihr rächen würde, indem ich sie dir aushändige.«
»Wäre es nicht besser so? Endgültig mit ihr fertig zu sein?«
Koen hebt eine Hand, und der Vampir zuckt zurück. Aber er massiert sich nur die Schläfe, wie es ein entnervter Vater tun würde, der sich fragt, warum sich sein Kind schon wieder die Malkreide in die Nase gesteckt hat. »O Mann, ich werde dich töten müssen, und dafür wird mir Jorma einen Haufen Papierkram aufbrummen.« Er seufzt, und der Anflug von Ungeduld in seiner Stimme lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
Auf den Vampir hat es jedoch nicht die erwünschte Wirkung. Denn er sagt: »Und sie ist hübsch, nicht wahr?«
Ich erstarre. Genau wie Koen.
»Und in diesem Augenblick ist sie nicht in der Position, irgendjemanden abzuweisen.«
Keine Antwort.
»Verstehst du, was ich meine? Alpha?«
Mit einem Mal wirkt Koen alles andere als gelassen. Jedes Atom in seinem Körper ist in höchster Alarmbereitschaft, richtet sich auf Beute aus. Auf mich.
»Wie gesagt, sie ist echt schön. Ich hätte nichts dagegen, sie dir zu überlassen, wenn ich mit ihr fertig bin«, bietet der Vampir an. Koens Pupillen ziehen sich zusammen, und sein Geruch strahlt so heftige Abscheu aus, dass selbst dem Vampir Zurückrudern als die bessere Alternative erscheint. »Oder du könntest direkt deinen Spaß mit ihr haben. Dann nehme ich sie mit, ohne Fragen zu stellen. Sie hätte niemanden, bei dem sie sich beschweren könnte.«
In der Ferne ruft eine Eule. Ich halte den Atem an und warte darauf, dass Koen dem Vampir sagt, er solle sich verpissen, doch die Stille hält an, und der Ausdruck in seinen Augen ist völlig undurchdringlich, und nach einer Weile …
Koen nickt.
Das Herz wird mir bleischwer.
Nein, das würde er nicht tun. Niemals.
»Koen?«, sage ich zaghaft. Halb Frage, halb Flehen.
»Zu meiner Verteidigung, Serena …« Koen zuckt die Achseln. »Mit dir hat man immer nur Ärger.«
Mich überläuft es eiskalt. »Nein. Nicht. Koen, nicht …«
»Ich war so frei, schon mal anzufangen«, sagt der Vampir, und bevor ich mich fragen kann, was er damit meint, schiebt er mir mit seiner freien Hand mein zerrissenes Top die Schulter hinunter.
Koens Blick verharrt auf meiner nackten Brust, als wäre ich nichts weiter als ein Stück Fleisch. Eine Opfergabe, deren Wert er abschätzt. Etwas, das dazu da ist, von ihm benutzt zu werden. Ich sehe, wie seine Pupillen einen seltsamen Tanz aufführen, nehme eine Veränderung in seinem Geruch wahr, bevor er murmelt: »Siehst du, so macht man einen Deal. Ich wusste, du hast das Zeug dazu, Bob.«
Erneut flehe ich meinen Körper an, sich zu verwandeln. Erneut ignoriert er mich. Mit einem wütenden Knurren kämpfe ich gegen den Griff des Vampirs an, versuche verzweifelt, mich zu befreien. Aber er ist stärker als ich, und Koen ist wahrscheinlich stärker als wir beide zusammen. Selbst wenn ich es schaffe, einen von ihnen auszuknocken, bin ich erledigt.
Ich umklammere den Stein in meiner Hand, aber in dieser zusammengekrümmten Position kann ich ihn immer noch nicht einsetzen. Panik durchzuckt meinen Körper. Hämmert gegen meine Brust.
»Sie gehört ganz dir, Alpha. Mach mit ihr, was du willst.« Der Vampir gibt ein atemloses, nervtötendes Lachen von sich. Er lässt sein Messer sinken und schiebt mich ein paar Zentimeter vor, ohne meine Handgelenke loszulassen. Er stinkt nach der Gewissheit, dass es für mich endgültig vorbei ist – dass er gewonnen hat. »Vielleicht würde es ihr sogar gefallen?«
Abwägend kommt Koen näher, so nahe, dass ich seine Hitze spüren kann, und ich fletsche die Zähne, während ich mich im Griff des Vampirs winde. Das kann nicht wahr sein. Ein Alpha beschützt, sagt eine ruhige Werwolfstimme tief in meinem Innern. Ein Alpha ist Zuflucht. Er lässt dich nicht im Stich.
Allerdings bin ich mir da nicht so sicher.
Koen bleibt vor mir stehen und starrt mich an, als stünde ich zu seiner freien Verfügung, und … Ja. Er scheint mich sehr wohl im Stich zu lassen.
»Würde es das?«, fragt er, seine Stimme tief und volltönend. Sein Blick liebkost mein Gesicht und verharrt auf meiner nackten Brust. Er kommt noch näher, und seine Präsenz umschließt mich wie eine warme Decke. Sein Geruch steigt mir in die Nase, sicher, erdend, so atemberaubend, dass ich den Vampir hinter mir und die Kiefernnadeln in meiner Fußsohle für einen Moment vergesse.
»Bitte«, flüstere ich, glaube jedoch nicht, dass Koen mich hört. Seine Hand legt sich um meine Wange, sein Daumen drückt sich an meine Unterlippe.
»Würde es das, Serena? Würde es dir gefallen?«
Wieder ergreift mich Panik. Ich schüttle heftig den Kopf. Nein. Nein.
»Na dann …« Seine Augen werden sanfter, und er seufzt, halb resigniert, halb amüsiert. »Dann solltest du besser Gebrauch von dem Stein in deiner Hand machen, Killer.«
Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, was er meint, und erkenne, dass sich der Griff des Vampirs gelockert hat. Meinen Arm loszureißen und ihm die schartige Kante des Steins in den Bauch zu rammen, erfordert so wenig Mühe, dass es in Sachen Dramaturgie fast ein wenig enttäuschend ist.
»Was zum …?« Der Vampir krümmt sich. Ich hole erneut zum Schlag aus, doch er schnellt wieder hoch und schleudert mich zu Boden. Er holt mit dem Messer aus und zielt auf meine Kehle. »Du verdammte Bitch …«
Im nächsten Moment erstarrt er in einem überraschten Keuchen, als hätte er plötzlich eine Erleuchtung. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrt er auf mich herunter, und ich erwarte fast, dass er … sich entschuldigt? Dann, nachdem er einen Schwall maulbeerfarbenes Blut ausgespuckt hat, verliert er das Gleichgewicht. Entsetzt sehe ich zu, wie er direkt neben mir zusammenbricht und mit dem Gesicht nach unten im Moos landet.
Er regt sich nicht mehr.
Und ich auch nicht. Ich weiß nicht, was das über mich aussagt, aber ich bin unfähig, nicht genau hinzusehen, wie das Blut aus den tiefen, krallenförmig-parallelen Wunden in seinem Rücken strömt und der Geruch von Eisen sich mit dem der Erde des Waldbodens vermischt.
Es vergeht viel Zeit, bis ich aus meiner Starre erwache, auf meinen Körper hinabsehe – halb nackt, aber wie durch ein Wunder intakt – und dann zu Koen – lässig, unbeeindruckt. Jeder andere würde mir aufhelfen, aber nicht der Alpha des Nordwestrudels. Stattdessen schüttelt er langsam den Kopf und wischt die Hand, mit der er gerade einen Mann getötet hat, an seinem Flanellhemd ab. Die tiefvioletten Streifen sehen auf dem schwarz-weißen Leinenstoff seltsam hübsch aus.
Er braucht eine Weile, um sich zu erinnern, dass ich existiere. »’n Abend, Serena.« Die Intensität, die er gerade noch ausgestrahlt hat, ist verflogen, und er klingt gleichmütig. Vielleicht weiß er, dass mich das geringste Mitleid umhauen würde. Oder vielleicht hat er sich auch nie wirklich einen Dreck um irgendwas geschert. »Wie war deine Nacht?«
»Ereignislos«, stoße ich hervor.
»Ja? Du siehst echt scheiße aus.«
»Ach wirklich?« Schweiß rinnt mir über die Schläfe und zwischen meine Brüste, die ich schnell so gut es geht bedecke. »So redest du also mit deiner geliebten Gefährtin?«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Ich habe gesagt, dass du meine Gefährtin bist. Nicht, dass ich dich liebe.«
Ich stoße ein kurzes, empörtes Lachen aus, aber wenigstens fange ich nicht an zu weinen. Es ist schön, mir zumindest den letzten Rest Würde zu bewahren, während Koen mich kühl mustert und neben mir in die Hocke geht.
»Wir müssen gehen«, sagt er.
»Wohin?«
»Zum Bau.« Er hebt mich hoch, einen Arm unter meinem Rücken, den anderen unter meinen Knien. Auf einmal ist die Kälte nur noch eine ferne Erinnerung. »Die Zeit des Rückzugs im Wald ist beendet, Killer.«
»Auf gar keinen Fall.«
»Wenn du es ihr nicht sagst, Koen, wird sie es trotzdem rausfinden.«
»Wie denn? Wird sie mir mein Tagebuch stehlen? Oder kann sie Gedanken lesen?«
Lowe hat zumindest den Anstand, ein bisschen verlegen auszusehen. »Ich werde es nicht vor Misery verheimlichen. Und Misery wird es nicht vor ihr verheimlichen.«
»Ach, fuck off. Es hat mir besser gefallen, als du noch einsam und deprimiert warst. Ich meine, nehmen wir mal an, ich würde es Serena sagen – was dann? Nichts könnte je daraus werden, selbst wenn sie Interesse hätte.«
»Wenn wir es öffentlich machen … Wenn sie offiziell die Gefährtin des Alpha vom Nordwestrudel ist, wird ihr kein Werwolf ein Haar krümmen. Hybride hin oder her.«
Eine Mischung aus Wut und Entrüstung brodelt in Koens Magengrube. »Kein Werwolf wird ihr ein Haar krümmen, weil ich da sein werde, um jeden umzubringen, der es versucht.«
»Ach, wirst du das? Misery ist hier, und Serena will bei ihr bleiben. Du kannst nicht immer zur Stelle sein.«
»Dann ziehe ich aufs Moreland-Anwesen. Mein Rudel führt sich selbst.«
Doch Lowe sieht ihn nur an wie schon damals mit zwölf Jahren, viel zu ernst für sein Alter, als würden die Säulen der Erde in seinem zusammengekniffenen Schließmuskel residieren, und das konnte Koen noch nie ertragen. Damals wollte er Lowe nur vor dem Grauen ihrer Natur als Werwölfe abschirmen. Und das will er noch immer.
»Du bist so verdammt nervig.« Koen fährt sich mit der Hand über das Gesicht.
»Jep.« Lowe steht auf. »Ich hatte ein tolles Vorbild.«
Viereinhalb Monate zuvor
Südwestterritorium
Das Erste, was Koen Alexander zu mir sagt, ist: »Der Stecker ist nicht drin.«
Ein Satz für die Geschichtsbücher, echt.
Ich bin sicher, so fängt jede große Liebesgeschichte an: ein Mädchen, das versucht, einen Laptop einzuschalten und immer heftiger auf den Ein-aus-Knopf hämmert. Ein sehr großer Mann in einem karierten Flanellhemd, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnt und sie skeptisch mustert. Die Ego-pulverisierende Demütigung, einen alles andere als ausgezeichneten Eindruck auf jemanden zu machen, den all deine Freunde lieben und respektieren.
Koen ist vor ein paar Stunden in Lowes Einfahrt aufgetaucht, mit Lowes kleiner Schwester im Schlepptau, und hat das große Wiedersehen ausgelöst, das gerade unten stattfindet. Dazu gehört, dass Ana vor Freude überschäumt, Misery so tut, als wäre sie ihr nicht völlig verfallen, und Lowe so tut, als wäre er nicht völlig hingerissen von Miserys Unfähigkeit, ihre grenzenlose Liebe zu verbergen. Es ist süß, und sie haben ein bisschen Privatsphäre verdient.
Misery geht es besser als je zuvor. Mir geht es zwar nicht schlechter als je zuvor, aber es besteht auf jeden Fall Verbesserungsbedarf.
Die letzten zwei Monate wurde ich im Territorium der Vampire gefangen gehalten. Lange Zeit war ich mir sicher, meine Entführung würde damit enden, dass meine Milz an die Waschbären verfüttert wird. Insofern habe ich wohl eine Chance für einen Neuanfang bekommen, mit der ich noch nichts recht anzufangen weiß. Ich bin langsam durch Raum und Zeit gewatet, nie ganz klar im Kopf, ständig überreizt. Nach monatelanger Stille ist mir selbst Flüstern zu laut. Die Grillen scheinen einzig und allein darauf aus zu sein, mein Trommelfell zum Platzen zu bringen. Meine Haut ist entweder siedend heiß oder eiskalt. Dieser Tage genieße ich es, allein zu sein. Also habe ich mich in Lowes Büro geschlichen. Mich auf einen Ledersessel gesetzt. Mir einen Laptop genommen und die radikale Entscheidung getroffen, meine Mails zu checken.
Das ist ebenjener Moment, in dem Koen mich antrifft und beschließt, mich über Elektrizität aufzuklären.
»Oh.« Ich werfe einen Blick auf das – ja, okay – herunterbaumelnde Stromkabel. »Ach ja, klar.« Ich lächle und versuche, genau das richtige Verhältnis von selbstironisch und beschämt auszustrahlen, während ich mich nach einer Steckdose umsehe.
»Links von dir«, sagt er.
Ich wende mich um.
»Das andere Links.«
Am liebsten würde ich rausgehen, ein Stachelschwein schlucken und darauf warten, dass mich die inneren Blutungen umbringen. Stattdessen lege ich den Laptop weg und stehe auf. »Koen, richtig? Schön, dich kennenzulernen.« Ich reiche ihm die Hand – die er anstarrt, aber nicht ergreift. Okay, denke ich und stecke die Hand in meine Gesäßtasche.
Vielleicht ist das so ein Werwolfding. Vielleicht müssen Koens Handschlagpartner einen bestimmten IQ überschreiten, was ich offensichtlich nicht tue. Misery hat erwähnt, dass er ein »außergewöhnliches Arschloch« sei – ein seltenes Kompliment von ihr –, wenn er mich also nicht leiden kann, werde ich nicht in Tränen ausbrechen. Meine Hirnleistung wird von dringlicheren Angelegenheiten beansprucht. »Gibt es noch irgendwas?«, frage ich mit einem höflichen Lächeln.
»Ich will reden. Hast du kurz Zeit?«
»Natürlich. Was ist los?«
Das verrät er mir nicht. Stattdessen starrt er und starrt und starrt noch ein bisschen. Seine Augen sind … nicht schwarz. Auch nicht grau. Irgendwas dazwischen. Reflektierend. Sie erinnern mich an Teer: zähe, klebrige, geschickt ausgelegte Fallen. Ich kann meinen Blick nicht losreißen, seinem aber auch nicht länger standhalten.
»Bist du hier, um dir die Hybride anzusehen?«, frage ich ohne Feindseligkeit. Die Werwölfe, die ich bisher getroffen habe, sind mir nie anders als freundlich begegnet, und ihre Neugier ist ein geringer Preis für ihre Gastfreundschaft. Besonders wenn man bedenkt, dass mich die meisten Menschen auf der Stelle erschießen würden. »Hier bin ich.« Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, um ihm die beste Dreihundertsechzig-Grad-Ansicht meiner absonderlichen Wenigkeit zu geben. »Ganz ehrlich, ich finde, ich sehe einfach menschlich aus, aber …« Ich unterbreche mich, denn seine Augen … Was sie da tun, ist nicht normal. Sie leuchten, die Pupillen ziehen sich zusammen, und …
Koen knurrt. Legt den Kopf zurück, wobei ein starker Hals und ein auf und ab hüpfender Adamsapfel zum Vorschein kommen. »Was zur Hölle habe ich verbrochen, dass ich das verdient habe?«, murmelt er.
»Wie bitte?«
»Ach, es ist mir gerade wieder eingefallen.« Er lässt den Kopf wieder sinken, seufzt. Seine Stimme ist tief und rau. »Ich war die meiste Zeit meines Lebens ein Arsch, daran muss es liegen.«
»Ich … kann dir nicht folgen?«
Schwere Schritte kommen die Treppe hinaufgepoltert. Kurz darauf gesellt sich Lowe zu uns und fragt: »Hast du es ihr gesagt?«
»Noch nicht.«
Lowe nickt, und das ist mein erster Hinweis, dass Koen mir etwas Ernsteres zu sagen hat als: Dürfte ich dich nach den Besonderheiten deiner Ernährung als Hybride und deines muskuloskelettalen Systems fragen und ob du im Herbst einen Fellwechsel erlebst?
»Wo ist Misery?«, frage ich, plötzlich panisch. »Und Ana?«
»Den beiden geht’s gut. Sie sind unten.« Lowe hält kurz inne. »Willst du, dass Misery herkommt?«
»Ich …« Ja. Irgendwie schon. Und doch vermisse ich es, eine voll funktionsfähige Erwachsene zu sein, die ohne ihre Vampirschmusedecke klarkommt. »Ach nein.«
Lowe wendet sich an Koen. »Willst du es ihr wirklich jetzt sagen?«
»Warum nicht?«
Schweigend stehen die beiden Männer vor mir und starren mich an – Lowe, als wäre ich ein verwundetes Kätzchen, das er einfangen muss, um ihm eine Spritze zu geben, und Koen … ich kann ihn nicht gut deuten, was womöglich der Grund ist, dass ich ihn so beunruhigend finde.
Es könnte aber auch an den Narben liegen. Den drei parallelen Klauenspuren in seinem Gesicht zum Beispiel. Die in der Mitte ist am längsten: fängt an seiner Stirn an, durchschneidet seine Augenbraue und zieht sich in einer dünnen, geraden Linie seine Wange hinunter. Außerdem hat er kleine Narben an der Oberlippe, am Kinn und unterhalb des Schlüsselbeins. Aber keine von ihnen ist besonders intensiv oder rot oder neu. Keine von ihnen deutet darauf hin, dass er auf einen Kampf brennt.
Und er ist groß – also richtig groß. Nur ein paar Zentimeter größer als Lowe, aber ungefähr neunzig Prozent einschüchternder. Weil Lowe domestiziert wirkt, erklärt mir eine weise, instinktive Stimme aus den Tiefen meines Schädels. Lowe kann und wird sich kontrollieren. Koen ist wild. Ungeschliffen. Er wird tun, was immer er …
»Du bist meine Gefährtin«, sagt er unvermittelt. Mit wenig Betonung.
So wenig, dass ich ihn falsch verstanden haben muss. Das habe ich im Studium gelernt. Linguistik als Wahlfach, drittes Studienjahr. Rhythmische Sprachmuster und ihr Beitrag zum Hörverständnis. »Wie bitte?«
»Du und die Vampirin steht euch nahe, oder?«, fragt er, mit dieser Ruhe, die an Gleichgültigkeit grenzt. Macht er sich über mich lustig? »Sie hat dir doch erklärt, was ein Gefährte ist, oder?«
Ich nicke langsam.
»Was Misery für Lowe ist, bist du für mich.«
Oh.
Oh?
Oh. »Ist das eine, ähm … endgültige Diagnose?«
Seine Lippen zucken. »Es gibt keine Heilung, fürchte ich.«
»Verstehe.« Ich räuspere mich. »Na, diese Beziehung hat sich aber echt schnell zugespitzt.«
Seine Worte haben mich überrascht, aber wie sich seine Augenwinkel vor Belustigung in Fältchen legen, schockiert mich zehnmal mehr. Sein Lachen ist ein tiefes, warmes Rumpeln, das mein Herz aus dem Takt geraten lässt. »Du hast ja keine Ahnung, Kid.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Solltest du mich ›Kid‹ nennen angesichts der Situation?«
»Ich hänge nicht dran. Was wäre dir lieber?«
»Na ja, eine Option wäre mein richtiger Name. Aber wenn du auf einem Spitznamen bestehst, möchte ich lieber etwas mit mehr …«
»Mehr …?«
»Mehr Biss.«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Wurzelbehandlung?«
»Nein. Komm schon, du weißt, was ich meine. Etwas Angsteinflößendes.«
»Immobilienmarktcrash.«
»Okay, weniger Angst, mehr … Ehrfurcht. Wie eine Kriegerin.«
Er mustert mich skeptisch. »Du bist wie groß? Eins fünfzig?«
»Ich bin eins achtundfünfzig. Und zu deiner Information, neulich wurden dank dieser kleinen Stummelbeinchen mehrere Vampire niedergemetzelt.«
»Na sieh mal einer an, Killer.«
»Leute.« Lowes Stimme lässt mich zusammenfahren. Ich hatte ganz vergessen, dass er auch hier ist. »Wir sollten wieder zur Sache kommen.«
Koen und ich wechseln einen kurzen Was-hat-der-denn-für-einen-Stock-im-Arsch?-Blick.
»Ich glaube, dieser Teil des Gesprächs ist abgeschlossen«, sagt Koen und stößt sich lässig vom Türrahmen ab. »Sie wurde informiert. Sie versteht es. Wir können alle mit unseren normalen Aktivitäten fortfahren, wie etwa ein Rudel anzuführen oder …« – er wirft einen Blick auf meinen Laptop – »Steckdosen zu boykottieren.«
Ich verbeiße mir ein Lächeln. »Da vergisst man ein Mal, das Netzkabel einzustecken, und …«
»Serena.« Lowe unterbricht uns erneut. »Verstehst du wirklich, was das alles bedeutet?« Die Dringlichkeit in seiner Stimme ist ein verwirrender Kontrast zu Koens Gleichgültigkeit.
Und dann trifft mich die Erkenntnis mit voller Wucht.
Nein, ich verstehe es nicht. Weil ich überhaupt nicht darüber nachgedacht habe. »Ist das … Heißt das, dass er …« Misery hat kaum Details über diese Gefährtengeschichte rausgerückt. Und Lowe schüttet mir auch nicht gerade sein Herz aus. »Heißt das, er mag mich?«
»Ja«, antwortet Lowe – was sich genau mit Koens »Nein« überschneidet.
Ich runzle die Stirn. »Wow. Jetzt ist mir alles klar. Vielen Dank, Jungs.«
Lowe sieht Koen grimmig an, der übers ganze Gesicht grinst. Dann wendet er sich wieder an mich: »Hör zu, ich bin sicher, du bist eine sehr liebenswerte Person. Aber darum geht es nicht.«
»Worum geht es dann?«
Lowe massiert sich die Nasenwurzel. »Wenn ein Werwolf seinen Gefährten findet, löst das eine Reihe physiologischer Veränderungen aus. Misery hat es mit Liebe auf den ersten Blick verglichen, und da ist auch was dran, aber …«
»Sorry«, unterbreche ich ihn. »Könntest du uns bitte allein lassen?« Ich sehe Koen an, aber die Frage gilt Lowe – in dessen besorgtem Geruch große Bedenken zum Ausdruck kommen.
Fairerweise muss man sagen, dass ein Gespräch unter vier Augen mit einem potenziellen Spinner, der mich womöglich auf der Stelle heiraten will, nach einer echt unterirdischen Idee klingt. Aber ich nehme an, wenn Koen mir irgendetwas antun wollte, könnte er das tun, ob Lowe auf uns aufpasst oder nicht.
Und was noch wichtiger ist: Ich vermute, dass Koen nichts davon will.
»Bitte«, füge ich ruhig hinzu.
Als Antwort auf Lowes fragenden Blick nickt Koen. Ein einziges Mal.
»Ruft einfach, wenn irgendwas ist«, sagt Lowe schroff, bevor er sich auf dem Absatz umdreht – eine Aufforderung, die er erstaunlicherweise an uns beide richtet.
Dann sind wir allein. Irgendwie fühlt sich mein Magen zehn Kilo leichter an. Seltsam. »Kommst du bitte rein? Und, äh, setz dich.«
Er tut es, ohne Fragen zu stellen – und kniet sich kurz hin, um das verdammte Stromkabel in die verdammte Steckdose zu stecken. Ich tue so, als hätte ich es nicht gesehen, und schließe die Tür.
Koen fläzt träge auf dem Stuhl neben meinem, fast zu entspannt, ein großes Raubtier, das seine Beute begutachtet. Als wollen wir uns über die neuen Wochentage der Müllabfuhr austauschen, nicht über einen psychosozialen Meilenstein im Leben eines Werwolfs. Vielleicht ist diese Gefährtengeschichte doch keine so große Sache?
»Lowe wirkt …« Ich setze mich wieder hin. Streiche die Beine meiner Jogginghose glatt. »Sehr fürsorglich. Sehr besorgt. Um dich und mich, glaube ich.«
»Ist er nicht liebenswert?« Koens Stimme ist voller Zuneigung. »So war er schon immer, noch bevor sich seine Hoden gesenkt haben. Der beste Werwolf, der mir je begegnet ist.«
Ich lächle. »Es freut mich, dass Misery in guten Händen ist.«
»Und andersrum.«
»Es stört dich nicht, dass sie eine Vampirin ist?«
»Ihnen liegt offensichtlich sehr viel aneinander.« Es klingt, als sei das die einzige Voraussetzung, um seine Zustimmung zu finden, was ich schön finde.
»Also.« Ich fahre mit der Zunge über die Rückseite meiner Zähne. »Liebe auf den ersten Blick, was?«
Koen zuckt zusammen. »Nicht direkt. Lowe ist ein Romantiker.«
»Ach ja?«
»Eine Nebenwirkung des ganzen Anstands, nehme ich an. Der färbt auf seine Weltsicht ab.«
»Aber deine Weltsicht ist ungetrübt. Weil du nicht anständig bist?«
Er antwortet nicht, riecht jedoch, als stimme er mir zu. »Was hier passiert, hat wenig mit Zuneigung oder Liebe zu tun, Serena.«
»Womit hat es dann zu tun?«
Ein Herzschlag. Sein Mundwinkel hebt sich. »Ernsthaft?«
Ich starre ihn verständnislos an.
»Oh, Killer. Ich buchstabiere es gern für dich, wenn es nötig ist.«
»Es ist nötig. Erklär es mir bitte, als wäre ich fünf.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Erklärung jugendfrei hinbekomme.«
»Wie meinst du … oooh.« Meine Wangen werden heiß. Nachdem ich Koen einen langen Moment mit großen Augen angestarrt habe, wird mir klar, dass ich mir schockiert die Hand auf die Brust lege wie ein viktorianisches Kindermädchen, und ich lasse sie abrupt wieder sinken.
»Ich …« Ich schüttle den Kopf, denn ich will nicht wie ein armes Waisenmädchen wirken, das sich ohne Sexualkundeunterricht durchs Leben schlagen musste und denkt, eine Geburt finde statt, wenn die Popel eine kritische Masse erreichen.
Das bin ich nicht. Auch wenn ich es einmal war. Als Teenie. Misery war die Absicherung der Vampire, dazu verpflichtet, unter den Menschen zu leben oder getötet zu werden, falls die Vampire gegen die Waffenruhe zwischen den beiden Spezies verstoßen sollten. Ich war ihre Spielgefährtin – eine Waise, zufällig dafür ausgewählt, sich mit ihr anzufreunden und dafür zu sorgen, dass sie nicht zu einsam war (worum sich in Wahrheit niemand einen Dreck scherte) oder zu rebellisch wurde (wovor alle eine Scheißangst hatten). Bloß dass sich die ganz zufällig ausgewählte menschliche Waise als sehr gezielt ausgewählte Kreuzung aus Mensch und Werwolf herausstellte, die von den Vampiren überwacht werden sollte, damit der Rest der Welt nicht herausfände, dass Menschen und Werwölfe in Wahrheit reproduktiv kompatibel sind und deshalb womöglich beschließen könnten, einander nicht länger zu hassen und vielleicht sogar Bündnisse gegen die Vampire zu schließen.
Plot-Twist.
Was damals jedoch niemand wusste. Alles, was ich damals war und sein sollte, hing von Misery ab. So auch meine Bildung. Und da niemand qualifiziert war, einer Vampirin reproduktive Anatomie beizubringen, bekam auch ich keinen Sexualkundeunterricht.
Doch sobald wir draußen waren, hatten wir uneingeschränkten Zugang zum Internet und zu Dates und Boyfriends. Und zu Sex natürlich.
Auch wenn das eine Ewigkeit her ist. Eine Handvoll Jahre, die genauso gut ganze Erdzeitalter sein könnten. Damals war ich noch ein Mensch. Ich hatte keine Angst vor dem Vollmond oder davor, was für eine Farbe mein Blut haben würde, wenn ich mich schnitt. Als ich zu erkennen begann, dass mit mir etwas ganz und gar nicht stimmte, wurde das gesamte Konzept von Sex lächerlich banal. Zu Beginn meiner Entführung war ich kurz besorgt, dass er mir aufgezwungen werden könnte. Als das nicht der Fall war, geriet er zu meiner völligen Zufriedenheit in Vergessenheit.
Und jetzt bin ich hier. Denke darüber nach. In meinem Kopf erwacht Sex gleich einem riesigen Drachen.
»Kannst du …« Ich schlucke schwer. »Diese biologischen Veränderungen, die du erwähnt hast. Hast du dich unter Kontrolle?«
Es dauert einen Moment, bis er begreift, was ich meine. Als er so weit ist, erwarte ich fast, dass er meine Frage abschmettern wird, aber sein entschiedenes »Immer« ist keine Abwehrreaktion.
Das macht es mir leichter, ihm zu glauben. »Also, du willst einfach nur …?«
»Korrekt.« Er nickt lässig. Ja, ich hätte gern eine Tasse Earl Grey. Ja, ich nehme für zehn Prozent Rabatt auf meinen Einkauf an einer kurzen Umfrage teil. Ja, ich will dich f…
»Ich hoffe, ich klinge nicht eingebildet, aber … inwiefern unterscheidet sich das von der Reaktion der meisten menschlichen Männer, die ich getroffen habe?« Sobald die Worte heraus sind, verziehe ich das Gesicht. »Gott. Ich klinge wirklich eingebildet. Tut mir leid. Ich schwöre, dass ich nicht davon ausgehe, wie die schöne Helena mit einem Gesicht tausend Erektionen …«
»Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, sagt er schlicht.
Als wäre das keine große Sache.
Als würde er mir ein Kompliment über meinen Sockengeschmack machen.
Als könnte ich dem Spiegelbild einer Warze in einem Türknauf gleichen, und es würde für ihn nichts ändern.
Was genau das sein könnte, was ich brauche. Mein Aussehen war immer ein wunder Punkt für mich. Etwas, für das man sich schämen musste. Zu früh sexualisiert, hat eine Freundin mit einem Abschluss in Psychologie es mal zusammengefasst. Als Misery und ich zwölf waren, begannen unsere Körper, unterschiedliche Wege zu gehen. Sie wurde größer, anmutig, ätherisch. Ich wurde weicher. Runder. Plötzlich platzte mein Körper aus allen Nähten. Ich wurde zu etwas mit Hüften und Brüsten, und die Leute – hauptsächlich erwachsene Männer – sahen mich auf eine Art an, die zwischen unangenehm und gefährlich schwankte.
»Vielleicht ist das etwas Gutes«, sagte Misery skeptisch, als ihr auffiel, wie Mr. Elrod mir nachsah. »Vielleicht heißt das, dass du schön bist.«
»Ich bezweifle, dass solche Blicke von Männern, die doppelt so alt sind wie ich, irgendetwas anderes bedeuten, als dass sie mich in irgendeiner Form benutzen wollen.« Und das war der springende Punkt. Misery war die Absicherung. Misery musste am Leben bleiben, sonst würde ein speziesübergreifender Krieg im Süden des nordamerikanischen Kontinents ausbrechen. Vor allem war Misery etwas Besonderes und deshalb tabu.
Ich hingegen war eine menschliche Waise. Jederzeit ersetzbar. Mädchen wie mich gab es wie Sand am Meer. Mein Wert ging gegen null, und dessen waren sich die Bediensteten vollauf bewusst. Ich sah es in ihren starren Blicken. Hörte es in den Bemerkungen, die sie sich nicht die Mühe machten zu flüstern. Fühlte es, wenn ich betteln musste, um meinen ersten BH oder Klamotten zu bekommen, aus denen ich nicht innerhalb weniger Monate herauswachsen würde. Ich war dort, weil sie es für richtig hielten, und ich hatte keinen Schutz. Wer konnte wissen, was passieren würde, wenn ich nicht achtgab?
Ich wusste es. Und als ich zwölf war, begann ich jede Nacht einen Stuhl unter die Türklinke zu meinem Zimmer zu klemmen.
»Ich bezweifle nicht, dass viele Männer auf dich aufmerksam werden. Aber ich bin kein Mensch, also weiß ich nicht, inwiefern sich das unterscheidet.« Koen zuckt die Achseln, wieder einmal gelangweilt von dem Gespräch. »Vielleicht in quantitativer Hinsicht. Letzten Endes geht es um Hormone. Sex. Der Rest – Zuneigung oder gar Liebe –, spielt dabei keine Rolle.«
»Verstehe.« Ich trommle mit den Fingern auf die Armlehne, lehne mich zurück und betrachte ihn. Nehme bewusst wahr, welche Gefühle er in mir auslöst. In meinem früheren Leben hätte ich ihn keines Blickes gewürdigt. Doch Werwolf-Serena mustert seine schwarzen Haare, die ihm ins Gesicht fallen, und sein frisch rasiertes, aggressiv gut aussehendes Gesicht. Er ist zu intensiv, zu ungestüm. Zu grobschlächtig und mindestens zehn Jahre älter als ich.
Ich stehe – stand? – auf eine bestimmte Art Mann: süß, höflich, fürsorglich. Jungenhaft. In meinem Alter. Sanfte Typen, die ihre Lieblingsstellen in den Büchern unterstrichen, die wir gemeinsam lasen, und die sich ihrer Männlichkeit sicher genug waren, um sich meine Feuchtigkeitscreme auszuleihen, wenn sie bei mir übernachteten. Von meinen Gefühlen überwältigt zu werden konnte ich noch nie leiden.
Koen ist der Alpha eines Rudels, das ein Viertel des Landes bewohnt. Es verwirrt mich schon, wenn er nur dieselbe Luft atmet wie ich. Er ist meinem üblichen Männergeschmack so diametral entgegengesetzt, dass ein Winkelmesser zum Einsatz gekommen sein muss. »Also die Kernaussage ist«, fasse ich zusammen, als würde ich ein Protokoll schreiben, »dass du mich attraktiv findest.«
»Das könnte die Lexikondefinition von ›Untertreibung‹ sein, aber ja.«
Mir ist ein bisschen heiß. »Aber du wirst nicht, ähm, meinetwegen an gebrochenem Herzen sterben?«
Er seufzt. »Menschen sind so verdammt dramatisch.«
»Und Werwölfe sind solche Arschlöcher«, erwidere ich lieblich.
»Zu deinem Glück bist du eine Mischung aus beidem.«
Ich beiße mir auf die Wange, versuche verzweifelt zu verbergen, wie lustig ich seine Antwort finde. Und dem amüsierten Glitzern in seinen Augen nach zu schließen ist ihm das vollkommen klar.
»Na ja, du hast ja offenbar keine Kontrolle darüber, wie sehr du dich zu mir hingezogen fühlst, also werde ich dir nicht sagen, dass ich mich geschmeichelt fühle. Und du scheinst ein toller Typ zu sein. Du bist, ähm, erwerbstätig und siehst aus, als würdest du viel Zeit damit verbringen, mit freiem Oberkörper Feuerholz zu hacken …«
»Tue ich nicht.«
»Nein?«
»Ich bin ein Werwolf. Ich halte mich selbst warm.«
Macht Sinn. »Was ich damit meine, ist: Du bist eindeutig ein guter Fang. Allerdings weiß ich kaum etwas über dich. Ich habe keine Ahnung, wie alt du bist, wie du mit Nachnamen heißt, was deine Lieblingsfarbe ist …« Ich mustere ihn. »Wahrscheinlich Schwarz. Es ist Schwarz, oder?«
»Eigentlich habe ich eine Vorliebe für Rot.«
»Wie menschliches Blut?«
Er streitet es nicht ab.
»Okay. Also, wie ich schon sagte, danke für die Info. Leider bin ich momentan nicht in der Lage, eine Beziehung einzugehen, also muss ich dein Angebot ablehnen und …«
»Welches Angebot?«
»Das Angebot, das du mir gerade …« Ich runzle die Stirn. Denn er hat mir kein Angebot gemacht.
»Dieses Gespräch ist keine Einladung, Killer.«
Das ist … wahr, auch wenn ich mir nicht sicher bin, warum ich das erst jetzt erkenne. Koen macht sich nicht an mich ran. Er versucht nicht, sich geschmeidig in mein Leben einzufügen wie der Typ aus Cha Cha Real Smooth. Er hat nicht beschlossen, dass wir als Pärchen die perfekte Ergänzung zu Miserys und Lowes Kleinfamilie wären und uns mit dem Festtagsessen abwechseln könnten.
Er erwartet überhaupt nichts von mir.
Aber … »Warum wolltest du dann, dass ich es weiß?«
»Weil es die Wahrheit ist. Und weil es dir bewusst sein sollte«, stellt er sachlich fest, als wären real und zur Kenntnis genommen zwei Konzepte, die nicht ohneeinander existieren können.
»Und du und die Wahrheit steht euch besonders nahe?«
Er mustert mich einen Moment. »Ich werde dich nicht anlügen, Serena.«
»Tja, ich werde dich wahrscheinlich ständig anlügen.«
»Ach ja?« Sein Lächeln ist fast entzückt. »Was für Lügen erzählst du denn?«
»Alles Mögliche.« Ich schlucke. Sehe auf meine Knie hinunter. »Aber nur, wenn es dem Allgemeinwohl dient.«
»Bist du sicher?«
Ja. »Was ist mit dir? Bist du dir sicher?«
»Sicher, dass …?«
»Woher weißt du, dass ich wirklich deine Gefährtin bin?«
»Ich weiß es einfach. Vertrau mir.«
Erstaunlicherweise tue ich das. Genau genommen geht es mir weniger um das, was er fühlt, als um … »Wie erkenne ich, dass jemand mein Gefährte ist? Ich will wissen, ob ich dasselbe für dich empfinde.«
Er winkt ab. »Das tust du nicht.«
»Woher weißt du das?«
»Wenn du es tätest, wäre es dir bewusst.«
»Das muss nicht unbedingt stimmen. Vielleicht gibt es Anzeichen, aber ich bemerke sie nicht, weil ich nur zur Hälfte Werwölfin bin.«
»Nein, das könnte dir nicht entgehen.«
Meine Kehle ist völlig ausgetrocknet. Mir wird das Herz schwer vor Enttäuschung. Habe ich …? Nein. Komm schon. Ich will keinen Gefährten, was auch immer das bedeutet. Die Spinnweben an meinem Sexualtrieb haben selbst Spinnweben gebildet. Ich brauchte immer eine Menge Zeit für mich. Außerdem bin ich gerade erst dabei, herauszufinden, was ich will. Das hier ist nicht der Beginn von irgendetwas.
Andererseits …
»Ich fühle mich … sehr sicher. Hier bei dir«, gestehe ich und ziehe mich einen Moment in mich selbst zurück, suche in meinem unverständlichen Körper und meinem verzwickten Verstand nach Klarheit. Koens Präsenz wiegt schwer, und ich habe das Gefühl, als beanspruche mich seine Gegenwart zu sehr, andererseits empfinde ich gerade eine Ruhe, die mich erstaunt. Keine Nervosität. Keine Angst, kein Grauen vor dem, was mir wohl als Nächstes bevorsteht. »Ich bin normalerweise … Na ja, es war ein bisschen belastend herauszufinden, dass ich eine Hybride bin. Aber im Moment habe ich überhaupt keine Angst.«
»Das liegt daran, dass ich ein Alpha bin. Wir sorgen für Ruhe und Ordnung.«
»Aber bei Lowe fühle ich mich nicht so.«
Er tut meine Worte schnell ab. »Interpretier da nicht zu viel rein. Das ist kein Zeichen für irgendwas.«
»Aber …« Warum halte ich überhaupt dagegen? Er hat mir gerade einen Ausweg gezeigt. »Okay. Na ja, da das eindeutig eine dieser Unerwiderte-Lust-Situationen ist, mit denen wir, ähm, alle hin und wieder klarkommen müssen …«
»Ach ja?« Er wirkt amüsiert. Als wisse er etwas, das ich nicht weiß. Sollte er nicht niedergeschlagen oder zumindest enttäuscht sein?
»Du bist der beste Freund des Ehemanns – des Gefährten meiner besten Freundin. Und ich möchte gut mit dir auskommen. Also könnten wir vielleicht, du weißt schon, Freunde sein.«
»Wie wäre es mit flüchtigen Bekannten?«, kontert er.
Ich kann nicht erkennen, ob er es ernst meint, also nicke ich. »Abgemacht. Und du kannst dich gern im Stillen nach mir verzehren, wenn es denn sein muss.«
Er stößt ein raues, leises Lachen aus, das sich hauptsächlich in den Fältchen um seine Augen offenbart, aber dennoch nimmt es mich gefangen. »Danke.« Er wirkt nicht besonders niedergeschlagen. Oder vielleicht ist er einfach der Typ Mensch – Werwolf, der an jeder Situation etwas zu lachen findet. Das haben Misery und ich auch gemacht, wenn alles scheiße war, was so gut wie immer der Fall war: Wir lachten darüber. Und sahen zu, wie es noch beschissener wurde. Wurden hysterisch, aber auf eine Art, die uns ablenkte.
Und so bin ich noch immer. Misery mag sich häuslich niedergelassen haben und sich maßlos zugehörig fühlen, ich hingegen bin ein verdammtes Desaster. »Du würdest mich sowieso nicht wollen, wenn diese biologische Sache nicht wäre. Ich bin ein Wrack«, sage ich ganz leise, kaum hörbar.
Doch er hört mich. »O ja. Das bist du.«
»Hey.« Ich recke das Kinn. »Ich darf das sagen. Du nicht.«
»Serena, du bist eine halb menschliche Werwölfin, die zugibt, dass sie eine zwanghafte Lügnerin ist, nicht weiß, wie Elektrizität funktioniert und zweifellos eine schwere posttraumatische Belastungsstörung hat. Glaub mir, das würde selbst ein Kleinkind erkennen.«
Ich wäre so gern empört, doch ich muss lachen, ob ich will oder nicht. Und dann steht Koen auf und geht zur Tür, und ich spüre wieder dieses Gewicht auf meinem Magen, das schwerer zu werden scheint, nur weil er geht, und noch schwerer, weil ich möchte, dass er noch einen Moment bleibt.
Und dann überrollt mich die Erkenntnis, so unaufhaltsam wie ein kleines Erdbeben, dass – es das ist. Der Rest meines Lebens. Und vielleicht könnte ich langsam, ganz allmählich anfangen, es zu leben.
»Weißt du«, sage ich, als er die Tür öffnet und ich jäh daran erinnert werde, dass eine Welt außerhalb dieser vier Wände existiert. »Ich glaube, ich könnte vielleicht …«
Er sieht über die Schulter zu mir zurück.
»Also …« In meinem Bauch sammelt sich Wärme. »Du wirkst … Misery und Ana lieben dich, was bedeutet, dass du ein netter Typ sein musst. Vielleicht könnten wir, ähm, irgendwann mal zusammen abhängen? Vielleicht einen Kaffee trinken? Oder … ich bin mir nicht sicher, was ihr macht, wenn ihr ausgeht, aber … Die Sache ist die: Ich weiß nur sehr wenig über dich, aber bisher mag ich dich irgendwie.«
Kein Hey, ich hätte gern ein Date mit dir wurde je so ungeschickt vorgebracht, aber das ist schon okay. Denn Koens Augen wirken sanfter vor Belustigung oder Genugtuung oder vielleicht auch ein klein wenig Zuneigung.
Was seine Worte sich umso mehr wie ein scharfes Messer anfühlen lässt, das zwischen meine Rippen gleitet.
»Was ich gesagt habe, meinte ich auch so, Killer. Bei dieser Gefährtensache geht es ums Ficken. Der Teil von mir, auf den es ankommt, hat kein Interesse an dir. Du kannst mich mögen oder nicht«, sagt er freundlich. »Das spielt wirklich nicht die geringste Rolle für mich.«
Sie erwartet wenig und ist nicht schnell gekränkt.
Das macht es frustrierend schwierig, sie wegzustoßen.
Gegenwart
Koen Alexander, der unbezähmbare Alpha des kämpferischsten Rudels auf dem Kontinent, der unangefochtene Anführer eines wilden Territoriums, das für seinen Blutdurst bekannt ist, hört beim Autofahren klassische Musik.
Das habe ich nicht kommen sehen.
Aber hier ist er nun. Nachdem er einen Vampir niedergemetzelt hat, chauffiert er mich völlig ungerührt zurück zum Südwestrudel. Und trommelt dabei, ganz der Musikliebhaber, im Takt mit seinen langen Fingern aufs Lenkrad. Ob es beleidigend wäre, mein Erstaunen offen zu zeigen? Kümmert es mich, ob ich Koen beleidige oder nicht?
Ja. Und nochmals ja, weil ich die nächsten paar Stunden mit ihm allein in diesem Auto sein werde. Von seiner Gnade abhängig, die er womöglich nicht an den Tag legt.
»Ist das Bach?«, frage ich, obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, wie Bach klingt. In meinem früheren Leben, als ich noch eine menschliche Finanzreporterin war, deren Vorstellung eines überaus stressigen Moments darin bestand, abschätzen zu müssen, wie reif eine Melone war, oder beim Autofahren zu niesen, hatte ich eine Vorliebe für Pop.
»Warum hast du dich nicht verwandelt?«, fragt Koen, statt meine Frage zu beantworten. Sein Blick bleibt starr nach vorn gerichtet.
»Wie bitte?«
»Warum hast du nicht deine Wolfsgestalt angenommen, um vor Bob wegzulaufen?«
»Ach so. Wer ist Bob überhaupt?«
Der Blick, den er mir zuwirft, hält weniger als eine Sekunde an, aber drückt perfekt aus, was er über Leute denkt, die seine Fragen mit Gegenfragen beantworten. Wie schön, herauszufinden, dass seine Geduld und seine Bereitschaft, sich zurückzuhalten, in den letzten Wochen, seit er mich zu meiner Hütte gefahren hat, nicht zugenommen haben. Ich zupfe an den Ärmeln des viel zu großen Hoodies herum, den er mir geliehen hat, und beschwöre mich zum zehnten Mal, seit ich in sein Auto gestiegen bin, zu vergessen, wie er im Wald meine nackte Brust angestarrt hat.
Das war ein Trick. Um den Vampir abzulenken. Um mir das Leben zu retten. Er hatte nie vor, mir wehzutun, und ich habe keinen Grund, Angst vor ihm zu haben.
Na ja, einen schon: Er ist ganz objektiv Furcht einflößend.
»Ich kann mich nicht verwandeln, wenn der Mond so schwach ist«, sage ich ihm.
So läuft es bei Werwölfen nun mal: Wenn der Mond fett und rund am Himmel hängt, können wir seinem Ruf kaum widerstehen, und es erfordert all unsere Selbstbeherrschung, nicht unsere Wolfsgestalt anzunehmen. Dieses Gefühl, dass etwas in mir erwacht und sich einmal im Monat mit Klauen und Zähnen herauszukämpfen versucht, und zwar immer in derselben Mondphase – das war mein erster Hinweis darauf, dass ich vielleicht doch nicht so ganz menschlich sein könnte.
Im umgekehrten Fall, wenn der Mond schwach ist, können sich nur sehr mächtige und dominante Werwölfe verwandeln. Ich bin keins von beidem, daher sollte meine Unfähigkeit für Koen glaubhaft sein.
Schön wär’s.
»Und dennoch«, überlegt er laut, »konntest du dich bei unserer ersten Begegnung nach Belieben verwandeln.«
»Nicht, wenn der Mond so war.«
»Damals war er noch kleiner, wenn ich mich recht erinnere. Und das tue ich.«
Ich muss mich zwingen, mich nicht anzuspannen. Werwölfe erfassen physiologische Veränderungen wie lebendige Lügendetektoren, und ich habe zu viele Geheimnisse, um jemanden so Scharfsinnigen wie Koen im Nacken sitzen zu haben. »Vielleicht verwechselst du mich mit jemand anderem.«
Er wirft mir einen weiteren dieser sezierenden, ausweidenden Blicke zu. »Hat deine plötzliche Unfähigkeit, dich zu verwandeln, etwas damit zu tun, dass du zwei Monate verschwunden bist, um Urlaub mitten im Wald zu machen?«
Ja, das hat es, und nein, das geht ihn nichts an. »Der Grund, dass ich verschwunden bin, falls man es überhaupt so nennen kann, wenn jemand ständig überwacht wird, ist, dass ich letztes Jahr so einiges durchmachen musste. Soll ich es auflisten? Also, in chronologischer, jedoch nicht traumatisierender Reihenfolge …« – ich hebe eine Hand und beginne an den Fingern abzuzählen –, »die nur langsam sich offenbarende Erkenntnis, dass ich nicht ganz menschlich bin; die sich noch viel langsamer offenbarende Erkenntnis, dass ich viel wölfischer bin, als ich es je für möglich gehalten hätte; meine Entführung und die anschließende Gefangennahme durch die Vampire; mein erster Massenmord – an dem ich als Mörderin beteiligt war –, und zu guter Letzt mein weltweites Coming-out als die erste Mensch-Werwolf-Hybride.« Ich halte Koen meine gespreizte Hand unter die Nase, als wäre sie die abgefuckteste Bingokarte der Welt, und klimpere mit den Wimpern. »Ich finde, mein Bedürfnis nach Ruhe und Erholung war durchaus berechtigt.«