Materie und Gedächtnis - Henri Bergson - E-Book

Materie und Gedächtnis E-Book

Henri Bergson

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Beschreibung

Henri Bergsons Werk 'Materie und Gedächtnis' ist ein bedeutendes philosophisches Werk, das sich mit der Beziehung zwischen Materie und Geist auseinandersetzt. Bergson argumentiert, dass das Gedächtnis eine wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung der Welt spielt und prägt unseren Zugang zur Realität. Sein Stil ist tiefgründig und reflektiert, wobei er komplexe Ideen auf verständliche Weise präsentiert. Das Buch steht im literarischen Kontext des französischen Philosophen, der die Intuition und die Erfahrung betonte. Bergsons innovativer Ansatz macht 'Materie und Gedächtnis' zu einem wichtigen Werk der Philosophie des Geistes. Henri Bergson, ein prominenter französischer Philosoph des 20. Jahrhunderts, war bekannt für seine Arbeit im Bereich der Metaphysik und Ontologie. Seine Erforschung des Zeitbegriffs und der menschlichen Wahrnehmung führte ihn zu der Idee, dass das Gedächtnis eine Schlüsselrolle bei unserem Verständnis der Realität spielt. Bergsons einzigartiger intellektueller Hintergrund und seine tiefe Neugier führten ihn dazu, 'Materie und Gedächtnis' zu verfassen. Für Leser, die sich für komplexe philosophische Ideen interessieren und ihre Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Geist und Materie vertiefen möchten, ist 'Materie und Gedächtnis' von Henri Bergson ein essentielles Werk. Bergsons klare Argumentation und tiefe Einsichten machen es zu einem unverzichtbaren Text für diejenigen, die sich mit der Philosophie des Geistes und der Wahrnehmung beschäftigen möchten.

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Henri Bergson

Materie und Gedächtnis

Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1335-1

Inhaltsverzeichnis

I. Von der Auswahl der Bilder bei der Vorstellung. Die Funktion des Leibes
II. Vom Wiedererkennen der Bilder. Gedächtnis und Gehirn
III. Allmählicher Übergang von den Erinnerungen zu den Bewegungen. Wiedererkennung und Aufmerksamkeit.
IV. Von der Abgrenzung und Fixierung der Bilder. Wahrnehmung und Materie. Seele und Leib
Zusammenfassung und Schluß

I. Von der Auswahl der Bilder bei der Vorstellung. Die Funktion des Leibes

Inhaltsverzeichnis

Wir wollen uns einen Augenblick vorstellen, daß wir weder von den Theorien über die Materie, noch von den Theorien über den Geist, noch von den Streitigkeiten über die Realität oder Idealität der Außenwelt irgendetwas wüßten. Da sehe ich mich denn umgeben von Bildern – das Wort im unbestimmtesten Sinne verstanden –, Bildern, die ich wahrnehme, wenn ich meine Sinne öffne, und nicht wahrnehme, wenn ich sie schließe. All diese Bilder stehen mit allen ihren elementaren Bestandteilen in Wechselwirkung, nach konstanten Gesetzen, die wir die Naturgesetze nennen, und da die vollkommene Wissenschaft dieser Gesetze uns zweifellos in den Stand setzen würde, das künftige Geschehen in einem jeden dieser Bilder vorauszusehen und zu berechnen, so muß die Zukunft der Bilder in ihrer Gegenwart enthalten sein und ihr nichts mehr hinzuzufügen haben. Jedoch ist eines unter ihnen, das sich von allen anderen dadurch abhebt, daß ich es nicht nur von außen durch Wahrnehmungen, sondern auch von innen durch Affektionen kenne: mein Leib. Wenn ich nun frage, unter welchen Bedingungen diese Affektionen auftreten, so finde ich, daß sie sich immer zwischen Reizungen, die ich von außen erhalte, und Bewegungen, die ich daraufhin ausführe, einschalten, als ob sie einen gewissen, an sich nicht bestimmten Einfluß auf die endgültige Entscheidung auszuüben berufen wären. Ich mustere die verschiedenen Affektionen, und da scheint mir, daß eine jede in ihrer Art eine Aufforderung zum Handeln enthält, mir aber gleichzeitig die Möglichkeit freistellt, abzuwarten oder auch gar nichts zu tun. Ich sehe näher zu und finde da begonnene, aber nicht ausgeführte Bewegungen, Hinweise auf eine mehr oder weniger nützliche Entscheidung, aber nicht einen Zwang, der die Wahl ausschlösse. Ich wecke und vergleiche meine Erinnerungen und besinne mich, daß ich überall in der organischen Welt diese selbe Fähigkeit der Empfindlichkeit genau in dem Augenblick habe auftauchen sehen, wo die Natur dem Lebewesen die Fähigkeit räumlicher Fortbewegung gegeben hat und nun der Gattung auf dem Wege der Empfindung die ihr drohenden allgemeinen Gefahren anzeigt, es aber übrigens den Individuen anheimstellt, mit Hilfe welcher Maßregeln sie den Gefahren entgehen wollen. Ich frage endlich mein Bewußtsein, welche Funktion es sich bei der Affektion zuschreibt, und es sagt mir, daß es tatsächlich als Gefühl oder Empfindung alle Schritte begleitet, bei denen ich mich als aus eigenem Willen handelnd empfinde, daß es dagegen auslöscht und verschwindet, wenn mein Tun automatisch wird und dadurch seiner entraten zu können erklärt. Entweder also der subjektive Befund trügt oder aber die Tat, in die der Empfindungszustand ausläuft, ist nicht von der Art, daß sie sich aus den vorhergehenden Erscheinungen streng ableiten ließe, wie sich eine Bewegung aus einer anderen Bewegung ableiten läßt; und wenn dem so ist, so tritt mit ihr wirklich etwas Neues in die Welt und ihre Geschichte ein. Halten wir uns doch an den Befund; ich formuliere einfach und schlicht, was ich fühle und sehe: In der Welt der Bilder, die ich das Universum nenne, geht alles so vor sich, als ob etwas wirklich Neues nur durch die Vermittlung gewisser eigentümlicher Bilder entstehen könne, deren Typus mir in meinem Leibe gegeben ist.

Und nun prüfe ich an Körpern, die dem meinen ähnlich sind, die Gestaltung dieses besonderen Bildes, das ich meinen Leib nenne. Da bemerke ich zentripetale Nerven, die den Nervenzentren Reizungen zuleiten, und zentrifugale Nerven, die zentrale Reizungen zur Peripherie leiten und den Körper teilweise oder ganz in Bewegung setzen. Ich befrage den Physiologen und den Psychologen über die Bestimmung dieser beiden Nervenarten. Sie antworten, daß die zentrifugal verlaufenden Prozesse im Nervensystem die Bewegung des Körpers oder einzelner Organe hervorzurufen vermögen, die zentripetal verlaufenden aber, oder wenigstens gewisse von ihnen, die Vorstellung der Außenwelt erzeugen. Wie ist das zu verstehen?

Die zentripetalen Nerven sind Bilder, das Gehirn ist ein Bild, die Reizungen, welche durch die sensorischen Nerven ins Gehirn fortgepflanzt werden, sind wiederum Bilder. Wenn jenes Bild, das ich Gehirnreiz nenne, die äußeren Bilder erzeugen soll, so müßten diese Bilder in irgendeiner Weise in ihm selbst enthalten sein, und die Vorstellung vom Ganzen der materiellen Welt müßte in der Vorstellung vom molekularen Prozesse mit einbegriffen sein. Eine solche Behauptung braucht man aber nur auszusprechen, um sofort ihre Absurdität einzusehen. Nicht die materielle Welt bildet einen Teil des Gehirns, sondern das Gehirn bildet einen Teil der materiellen Welt. Man denke das Bild der materiellen Welt weg; damit vernichtet man zugleich das Gehirn und die Reizung im Gehirn, welche Teile dieser Welt sind. Stellt man sich dagegen vor, diese beiden Bilder, das Gehirn und die Gehirnreizung verschwinden, so sind eben nur sie ausgelöscht, und das ist wenig genug, eine unbedeutende Einzelheit in einem ungeheuren Gemälde. Dieses Gemälde als Ganzes, das Universum, besteht vollständig weiter. Das Gehirn zur Bedingung des Gesamtbildes machen wollen, heißt sich selbst widersprechen, da das Gehirn laut Hypothese ein Teil dieses Bildes ist. Also: weder die Nerven noch die Nervenzentren können das Bild des Universums bedingen.

Bleiben wir bei diesem letzten Punkte. Da sind also die äußeren Bilder, alsdann mein Leib und endlich die Modifikationen, die mein Leib an den ihn umgebenden Bildern bewirkt. Ich verstehe die Art des Einflusses, den die äußeren Bilder auf das Bild, welches ich meinen Leib nenne, ausüben: sie übertragen Bewegung auf ihn. Ebenso verstehe ich den Einfluß meines Leibes auf die äußeren Bilder: er gibt ihnen Bewegung zurück. Mein Leib ist also in der Gesamtheit der materiellen Welt ein Bild, das sich wie die anderen Bilder betätigt: Bewegung aufnimmt und abgibt, mit dem einzigen Unterschiede vielleicht, daß mein Leib bis zu einem gewissen Grade die Wahl zu haben scheint, in welcher Form er das Empfangene zurückgeben will. Aber wie soll mein Leib im allgemeinen und mein Nervensystem im besonderen die Vorstellung des Universums ganz oder teilweise erzeugen können? Man nenne meinen Leib Materie oder man nenne ihn Bild, auf das Wort kommt es mir nicht an. Ist er Materie, dann ist er ein Teil der materiellen Welt und folglich existiert die materielle Welt um ihn und außer ihm. Ist er Bild, dann kann dieses Bild nur das geben, was es darstellt, und da es laut Hypothese nur das Bild meines Leibes ist, wäre es unsinnig, das Bild des ganzen Universums aus ihm auswickeln zu wollen. So ist mein Leib ein Gegenstand, bestimmt, andere Gegenstände zu bewegen, also ein Zentrum von Handlung; er ist nicht imstande, eine Vorstellung zu erzeugen.

Aber wenn mein Leib ein Gegenstand ist, der auf die ihn umgebenden Gegenstände reale und neue Wirkungen ausüben kann, muß er wohl ihnen gegenüber eine bevorzugte Stellung einnehmen. Im allgemeinen beeinflußt jedwedes Bild die anderen Bilder in bestimmter, ja berechenbarer Weise, dem gemäß, was wir die Naturgesetze nennen. Da ihm keine Wahl bleibt, hat es weder nötig seine Umgebung zu erforschen, noch sich vorläufig an bloßen Wirkungsmöglichkeiten zu versuchen. Die Wirkung, die notwendig ist, wird sich ganz von selbst vollziehen, wenn ihre Stunde gekommen ist. Ich habe aber nun angenommen, daß die Funktion des Bildes, das ich meinen Leib nenne, in der Ausübung eines wirklichen Einflusses auf andere Bilder bestehe, was eine Wahl zwischen verschiedenen materiell möglichen Akten voraussetzt. Und da es nun diese Akte nach dem größeren oder geringeren Vorteil, der aus den umgebenden Bildern zu ziehen ist, richten wird, so ist es nötig, daß die Bilder selbst in dem Gesicht, das sie mir zeigen, irgendwie den Vorteil andeuten, den ich aus ihnen ziehen könnte. In der Tat beobachte ich, daß die Größe, die Form, ja selbst die Farbe der äußeren Gegenstände sich verändert, je nachdem sich mein Körper ihnen nähert oder von ihnen entfernt, daß die Intensität der Gerüche, die Stärke der Töne sich mit dem Grade der Entfernung erhöht oder vermindert, kurz, daß diese Entfernung selber das Maß ist, in dem die Dinge der Umwelt gegen die unmittelbare Wirkung meines Leibes sozusagen versichert sind. Je mehr sich mein Horizont erweitert, desto gleichförmiger wird der Hintergrund, von dem sich die Bilder meiner Umgebung abheben, und desto gleichgültiger werden mir diese selbst. Je mehr ich meinen Horizont einenge, um so deutlicher stufen sich mir die Gegenstände ab, je nach der größeren oder geringeren Leichtigkeit, mit der mein Körper sie berühren und bewegen kann. Sie sind also wie ein Spiegel und zeigen meinem Leibe seinen eventuellen Einfluß; sie ordnen sich meinem Körper unter in dem Maße wie seine Macht zu- oder abnimmt. Die Gegenstände, welche meinen Körper umgeben, reflektieren die mögliche Wirkung meines Körpers auf sie.

Ich will jetzt einmal, ohne an die anderen Bilder zu rühren, an dem, was ich meinen Leib nenne, eine kleine Änderung vornehmen. Ich denke mir an diesem Bilde alle zentripetalen Nerven des zerebrospinalen Systems durchgeschnitten. Was wird geschehen? Das Messer hat einige Faserbündel zerschnitten: die übrige Welt und sogar der übrige Leib sind geblieben, was sie waren. Die verursachte Veränderung erscheint also unbedeutend. Tatsächlich aber ist »meine Wahrnehmung« total verschwunden. Sehen wir genauer zu, was eigentlich geschehen ist. Da sind einmal die Bilder, welche die Gesamtheit des Universums ausmachen, dann jene, welche unmittelbar an meinen Leib grenzen, und endlich mein Leib selbst. In diesem letzten Bilde haben die zentripetalen Nerven die spezifische Funktion, Bewegungen auf das Gehirn und das Rückenmark zu übertragen; die zentrifugalen Nerven geben diese Bewegung an die Peripherie zurück. Der Schnitt durch die zentripetalen Nerven kann nur eine einzige wirklich begreifliche Folge haben: er unterbricht den Strom, der von Peripherie zu Peripherie läuft und dabei durch das Zentrum geht; damit nimmt er meinem Körper die Möglichkeit, aus den Dingen, die ihn umgeben, Bewegung von der Art und in der Menge zu schöpfen, wie er sie braucht, um auf die Dinge zu wirken. Also um Wirken handelt es sich und bloß um Wirken. Und doch erlischt meine Wahrnehmung. Was kann das anderes heißen, als daß meine Wahrnehmung die Wirkungsmöglichkeiten meines Körpers in die Gesamtheit der Bilder wie einen Schatten, wie einen Reflex einzeichnet? Nun, das System der Bilder, in dem das Messer nur eine geringe Veränderung bewirkt hat, ist das, was man gemeinhin die materielle Welt nennt; und andererseits ist das, was dabei erlischt, »meine Wahrnehmung« der Materie. Daraus ergeben sich vorläufig die beiden Definitionen: Materie nenne ich die Gesamtheit der Bilder, und Wahrnehmung der Materie diese selben Bilder bezogen auf die mögliche Wirkung eines bestimmten Bildes, meines Leibes.

Vertiefen wir diese letzte Beziehung. Ich betrachte meinen Körper mit den zentripetalen und zentrifugalen Nerven und den Nervenzentren. Ich weiß, daß die äußeren Gegenstände auf die zentripetalen Nerven Reizungen ausüben, die sich zu den Zentren fortpflanzen, daß die Zentren der Schauplatz von sehr mannigfaltigen molekularen Bewegungen sind und daß diese Bewegungen von der Beschaffenheit und der Lage der Gegenstände abhängen. Man ändere die Gegenstände, modifiziere ihre Beziehung zu meinem Körper, und die inneren Bewegungen meiner Wahrnehmungszentren sind durchaus verändert. Aber auch »meine Wahrnehmung« ist völlig verändert. Meine Wahrnehmung ist also Funktion dieser molekularen Bewegungen, sie hängt von ihnen ab. Aber wie hängt sie von ihnen ab? Man antwortet mir vielleicht, daß sie sie einfach übersetzt und daß ich mir letzten Endes nichts anderes vorstelle als die molekularen Bewegungen der Gehirnsubstanz. Aber dieser Satz hätte nicht den geringsten Sinn, da das Bild des Nervensystems und seiner inneren Bewegung, laut Hypothese, nur das eines einzelnen materiellen Gegenstands ist und ich mir doch das Universum in seiner Totalität vorstelle. Man versucht allerdings hier die Schwierigkeit zu umgehen. Man zeigt uns ein Gehirn, das in seinem Wesen dem übrigen Universum gleicht, folglich ein Bild ist, wenn das Universum eines ist. Nun will man ja aber beweisen, daß die inneren Bewegungen dieses Gehirns die Vorstellung der gesamten materiellen Welt – also eines Bildes, das unendlich viel mehr umfaßt als das Bild der Gehirnschwingungen – hervorbringen oder bestimmen: man tut also auf einmal, als sähe man weder in diesen molekularen Bewegungen noch in der Bewegung überhaupt Bilder wie alle anderen, sondern habe in ihnen ein Etwas, das mehr oder weniger als ein Bild, jedenfalls von anderer Art als ein Bild wäre und aus dem die Vorstellung durch ein wahres Wunder hervorginge. Die Materie wird dadurch ein von der Vorstellung radikal Verschiedenes, das folglich für uns nie Bild werden kann; man stellt ihr ein Bewußtsein gegenüber, in dem es gar keine Bilder gibt, was eine mögliche Vorstellung ist; und um dieses Bewußtsein auszufüllen, erfindet man schließlich eine unbegreifliche Wirkung dieser Materie ohne Form auf dieses Denken ohne Materie. In Wirklichkeit aber enthalten die Bewegungen der Materie überhaupt kein Problem, solange man in ihnen Bilder sieht, und es ist kein Grund, in ihnen etwas anderes zu sehen, als was der Augenschein lehrt. Die einzige Schwierigkeit wäre, aus jener einen ganz besonderen Klasse von Bildern die unendliche Mannigfaltigkeit der Vorstellungen abzuleiten; aber warum dieses wollen, da doch nach der Ansicht aller die Gehirnschwingungen einen Teil der materiellen Welt bilden und folglich diese besonderen Bilder nur eine sehr kleine Ecke der Vorstellung sind. Was sind denn nun aber eigentlich diese Bewegungen, und welche Funktion haben diese besonderen Bilder bei der Vorstellung des Ganzen? – Zweifellos verhält es sich so: sie sind Bewegungen im Innern meines Leibes, die die Rückwirkung meines Leibes auf die Wirkung der äußeren Gegenstände in die Wege leiten und derart die erste Phase dieser Rückwirkung darstellen. Da sie selbst Bilder sind, können sie keine Bilder erzeugen; aber sie zeigen jeden Augenblick, wie ein unter der Nadel verschobener Kompaß, die Lage eines bestimmten Bildes, meines Körpers, in bezug auf die umgebenden Bilder an. In der Gesamtvorstellung sind sie von geringer Bedeutung; aber sie sind von größter Wichtigkeit für jenen Teil der Vorstellung, den ich meinen Leib nenne, dessen mögliches Verhalten sie jeden Augenblick in Umrissen festlegen. Es ist also zwischen dem sogenannten Wahrnehmungsvermögen des Gehirnes und den Reflexfunktionen des Rückenmarks nur ein gradueller und durchaus kein wesentlicher Unterschied. Das Rückenmark setzt die empfangenen Reize auf der Stelle in ausgeführte Bewegungen um; das Gehirn verlängert sie erst einmal in bloße Anfangsstadien von Reaktionen, aber in beiden Fällen ist es die Funktion der Nervensubstanz, Bewegungen zu leiten, zu kombinieren oder zu hemmen. Wie kommt es nun, daß »meine Wahrnehmung des Universums« von den inneren Bewegungen der Gehirnsubstanz abzuhängen scheint, daß sie sich verändert, wenn diese sich verändern, daß sie erlischt, wenn diese zerstört werden?

Die Schwierigkeit dieses Problems liegt darin, daß man sich die graue Substanz und ihre Modifikationen als etwas aus sich selbst Existierendes vorstellt, als etwas, das sich von dem übrigen Universum isolieren könnte. Materialisten und Dualisten stimmen im Grunde in diesem Punkte überein. Sie betrachten die fraglichen molekularen Bewegungen der Gehirnsubstanz ganz für sich, und so sehen die einen in unserer bewußten Wahrnehmung eine Phosphoreszenz, welche die Gehirnbewegungen begleitet und ihren Gang beleuchtet; die anderen lassen unsere Wahrnehmungen in einem Bewußtsein vor sich gehen, welches die molekularen Vorgänge der Rindensubstanz beständig in seine eigene Sprache übersetzt: in einem Falle wie im andern aber wird angenommen, daß in der Wahrnehmung Zustände unseres Nervensystems abgebildet oder übersetzt zum Ausdruck gebracht werden. Aber kann das Nervensystem lebend gedacht werden ohne den Organismus, der es ernährt, ohne die Atmosphäre, in welcher der Organismus atmet, ohne die Erde, welche von dieser Atmosphäre umweht wird, ohne die Sonne, um welche die Erde gravitiert? Allgemeiner gesprochen: die Fiktion eines materiellen Gegenstandes, der isoliert für sich bestünde, enthält, kann man sagen, eine Absurdität; denn der Gegenstand verdankt ja seine physikalischen Qualitäten den Relationen, in denen er mit allen anderen Gegenständen steht, und hängt mit allen seinen Bestimmtheiten und somit seiner ganzen Existenz von seinem Platze in der Gesamtheit des Universums ab. Wir können also nicht sagen, daß unsere Wahrnehmungen einfach von den molekularen Bewegungen der Gehirnmasse abhängen. Sondern: sie verändern sich zwar mit ihnen, aber die Bewegungen selbst bleiben unzertrennlich an die übrige materielle Welt gebunden. Also es handelt sich nicht mehr bloß um die Frage, wie unsere Wahrnehmungen mit den Modifikationen der grauen Substanz verknüpft sind; das Problem erweitert sich jetzt und kann nun in viel klareren Begriffen formuliert werden. Da ist einmal ein System von Bildern, das nenne ich meine Wahrnehmung des Universums; in ihm ändert sich alles von Grund auf, wenn sich an einem bevorzugten Bilde, meinem Leib, leichte Veränderungen vollziehen. Dieses Bild befindet sich im Mittelpunkte; nach ihm richten sich alle anderen; bei jeder seiner Bewegungen verändert sich alles, wie wenn man ein Kaleidoskop dreht. Und da sind andererseits dieselben Bilder, aber jedes nur auf sich selbst bezogen; zweifellos einander beeinflussend, aber doch so, daß die Wirkung immer im genauen Verhältnis zur Ursache steht: das nenne ich das Universum, Wie ist es zu erklären, daß diese beiden Systeme nebeneinander bestehen und daß dieselben Bilder im Universum relativ unveränderlich, in der Wahrnehmung dagegen unendlich veränderlich sind? Das Problem, das dem Streit zwischen Realismus und Idealismus, ja vielleicht auch dem zwischen Materialismus und Spiritualismus zugrunde liegt, würden wir also so formulieren: Wie geht es zu, daß dieselben Bilder zu gleicher Zeit zwei verschiedenen Systemen angehören können, einem System, in dem jedes Bild für sich selbst variiert und zwar genau nach Maßgabe der realen Wirkungen, die es von den andern Bildern erfährt, und einem anderen System, in dem alle Bilder für ein einziges variieren und zwar verschieden je nach der Weise, in der sie die virtuelle Wirkung des einen bevorzugten Bildes reflektieren?

Jedes Bild ist für gewisse Bilder innen und für andere außen, aber von der Gesamtheit der Bilder kann man nicht sagen, daß sie in uns, und ebensowenig, daß sie außer uns sei, da ja Innen und Außen nur Beziehungen zwischen Bildern sind. Fragen, ob das Universum nur in unseren Gedanken oder draußen für sich existiere, heißt das Problem in schiefen, wenn nicht überhaupt unverständlichen Begriffen stellen; es heißt, sich zu einer unfruchtbaren Diskussion verdammen, wo die Begriffe Gedanke, Sein, Universum von beiden Seiten notgedrungen in ganz verschiedenem Sinn gebraucht werden. Um den Streit zu Ende zu bringen, muß zuerst einmal ein gemeinsamer Boden gefunden werden, wo der Kampf stattfinden kann, und da beide Parteien darin einig sind, daß wir die Dinge nur in der Form von Bildern erfassen, so müssen wir unser Problem für Bilder, und nur für Bilder, stellen. Nun, keine philosophische Lehre bestreitet, daß dieselben Bilder gleichzeitig in zwei deutlich unterschiedene Systeme eingehen können: in eines, das der Wissenschaft (science) zugehört, wo jedes Bild, nur auf sich selbst bezogen, seinen absoluten Wert behält, und in ein anderes, in die Welt des Bewußtseins (conscience), wo sich alle Bilder nach einem zentralen Bilde, unserem Leibe, richten, von dessen Veränderungen sie abhängen. Die Frage zwischen Realismus und Idealismus wird nun ganz klar: welche Beziehung besteht zwischen diesen beiden Systemen von Bildern? Und es ist leicht zu ersehen, daß der subjektive Idealismus sich dadurch kennzeichnet, daß er das erste System aus dem zweiten herleitet, während der materialistische Realismus das zweite auf das erste zurückführt.

Der Realist geht in der Tat vom Universum aus, d. h. von einer Gesamtheit von Bildern, die in ihren gegenseitigen Beziehungen von unwandelbaren Gesetzen beherrscht werden, nach denen die Wirkungen den Ursachen entsprechen; das Charakteristikum dieses Universums ist, daß es kein Zentrum hat, daß alle Bilder sich in einer und derselben Ebene ins Unendliche aneinanderreihen. Aber der Realist ist gezwungen zu konstatieren, daß es außer diesem Systeme noch Wahrnehmungen gibt, d. h. Systeme, in welchen diese selben Bilder auf ein einziges Bild bezogen sind, sich in verschiedenen Ebenen um dieses gruppieren und sich bei jeder leichten Änderung dieses zentralen Bildes in ihrer Gesamtheit verändern. Von dieser Wahrnehmung geht nun gerade der Idealist aus: in seinem System von Bildern gibt es in der Tat ein bevorzugtes Bild, seinen Leib, und nach dem ordnen sich die anderen Bilder. Aber sobald er die Gegenwart an die Vergangenheit knüpfen und die Zukunft voraussehen will, ist er sofort gezwungen, diesen seinen Ausgangspunkt aufzugeben, alle Bilder wieder in eine Ebene zu verlegen, anzunehmen, daß sie nicht für ihn, sondern für sich selbst variieren, und sie so zu behandeln, als gehörten sie einem Systeme an, wo jede Veränderung gewissermaßen die Größe ihrer Ursache genau mißt. Nur unter dieser Voraussetzung wird die Wissenschaft vom Universum möglich; und da diese Wissenschaft existiert und da es ihr in der Tat gelingt, die Zukunft vorauszusehen, so kann die Hypothese, auf der sie beruht, keine willkürliche sein. Das erste System allein ist in der gegenwärtigen Erfahrung gegeben, an das zweite aber glauben wir, sobald wir die Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft annehmen. So wird sowohl im Idealismus als im Realismus das eine der beiden Systeme gesetzt und dann versucht, das andere daraus abzuleiten.

Aber in dieser Ableitung kann weder der Realismus noch der Idealismus zum Ziele kommen, da keines der beiden Bildersysteme in dem andern enthalten ist und jedes sich selbst genügt. Geht man von jenem Bildersystem ohne Mittelpunkt aus, in dem jedes Element seine absolute Größe und seinen bestimmten Wert hat, dann ist nicht einzusehen, warum dieses System ein zweites hinzuzieht, in dem jedes Bild einen veränderlichen Wert bekommt, der allen Wechselfällen des zentralen Bildes unterworfen ist. So ist man, um die Wahrnehmung entstehen zu lassen, genötigt, einen deus ex machina einzuführen, wie es die materialistische Hypothese vom Bewußtsein als Epiphänomenon tut. Man wählt dann unter all den sich absolut verändernden Bildern, von denen man ausgegangen ist, das eine Bild, das wir unser Gehirn nennen, und verleiht dessen inneren Zuständen das eigentümliche Vorrecht, sich – man weiß zwar nicht wie – durch die (jetzt relative und variable) Reproduktion aller anderen Bilder zu verdoppeln. Zwar wird man sich hinterher den Anschein geben, als legte man gar kein Gewicht auf diese Vorstellung und sähe darin nur eine Phosphoreszenz, welche die Gehirnschwingungen hinterließen; als ob die Gehirnsubstanz, die Gehirnschwingungen, verflochten wie sie sind in die Bilder, aus denen jene Vorstellung besteht, von anderem Wesen sein könnten als diese Bilder selbst! Der Realismus wird also immer aus der Wahrnehmung einen Zufall und damit ein Mysterium machen. Aber geht man umgekehrt von einem System veränderlicher Bilder aus, die um ein bevorzugtes Zentrum gruppiert sind und durch leichte Verschiebungen dieses Zentrums beträchtlich modifiziert werden, dann wird man von vornherein der Ordnung der Natur nicht gerecht, jener Ordnung, der es ganz gleichgültig ist, welchen Standpunkt man einnimmt und an welchem Ende man anfängt. Um dann diese Ordnung überhaupt wieder einzuführen, wird man ebenfalls zu einem deus ex machina greifen müssen, indem man durch eine willkürliche Hypothese irgendeine prästabilierte Harmonie zwischen den Dingen und dem Geiste, oder wenigstens, um mit Kant zu reden, zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand annimmt. Damit wird die Wissenschaft zum Zufall und ihr Erfolg zum Mysterium. – Man kann also weder das erste System der Bilder aus dem zweiten, noch das zweite aus dem ersten ableiten, und wenn die beiden gegensätzlichen Lehren, Realismus und Idealismus, sich endlich auf demselben Boden begegnen, dann stürzen sie beide, von verschiedenen Seiten kommend, an demselben Hindernis.

Wenn wir nun den Grundlagen dieser beiden Lehren nachgraben, so decken wir ein gemeinsames Postulat auf, das sich folgendermaßen formulieren läßt: die Wahrnehmung hat ein rein spekulatives Interesse; sie ist reine Erkenntnis. Und ihr ganzer Streit läuft darauf hinaus, welcher Wert dieser Erkenntnis gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis zukommt. Die einen bestehen auf der von der Wissenschaft geforderten Ordnung und sehen in der Wahrnehmung nichts als eine verworrene und vorläufige Wissenschaft. Die anderen setzen die Wahrnehmung an die erste Stelle, erheben sie zum Absoluten und halten dann die Wissenschaft für einen symbolischen Ausdruck der Realität. Aber für die einen wie für die anderen bedeutet Wahrnehmen vor allem Erkennen.

Nun, dieses Postulat fechten wir an. Es wird schon durch die oberflächlichste Prüfung der Struktur des Nervensystems im Tierreich widerlegt, und man kann es nicht gelten lassen, ohne das dreifache Problem der Materie, des Bewußtseins und ihres Zusammenhangs hoffnungslos zu verwirren.

Verfolgt man nämlich die Entwicklung der äußeren Wahrnehmung Schritt für Schritt von der Monere an bis zu den höchsten Wirbeltieren, so findet man, daß die lebende Materie schon im Zustand des einfachen Protoplasmaklümpchens reizbar und zusammenziehbar ist, daß sie dem Einfluß äußerer Reize untersteht und mit mechanischen, physikalischen und chemischen Reaktionen auf sie antwortet. Je weiter man in der Reihe der Organismen aufsteigt, desto differenzierter gestaltet sich die physiologische Arbeit. Nervenzellen treten auf, differenzieren sich und zeigen die Tendenz, sich zu Systemen zu vereinigen. Gleichzeitig werden die Bewegungen, mit denen das Lebewesen auf den äußeren Reiz reagiert, mannigfaltiger entwickelt. Aber wenn sich auch der empfangene Reiz nicht mehr sofort in eine ausgeführte Bewegung verlängert, so scheint er doch immer auf eine Gelegenheit dazu zu warten, und derselbe Eindruck, der dem Organismus die Veränderungen der Umgebung übermittelt, bestimmt ihn auch oder disponiert ihn, sich ihnen anzupassen. Bei den höheren Wirbeltieren bildet sich zweifellos ein radikaler Unterschied heraus zwischen dem reinen Automatismus, der seinen Sitz vor allem im Rückenmark hat, und der willkürlichen Tätigkeit, welche der Vermittlung des Gehirns bedarf. Es könnte scheinen, als ob sich der empfangene Eindruck, statt sich wie früher zu Bewegungen auszuwachsen, zur Erkenntnis vergeistigte. Aber man braucht nur die Struktur des Gehirns mit der des Rückenmarks zu vergleichen, um sich zu überzeugen, daß die Funktion des Gehirns und die Reflextätigkeit des Rückenmarksystems nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihrer Kompliziertheit verschieden sind. Denn was geht denn eigentlich bei einer Reflexwirkung vor sich? Die zentripetale, durch den Reiz vermittelte Bewegung wird durch die Vermittlung der Nervenzellen des Rückenmarks sofort in eine zentrifugale Bewegung umgesetzt, die eine Muskelkontraktion hervorruft. Und worin besteht andererseits die Funktion des Gehirnsystems? Statt sich direkt zu den motorischen Zellen des Rückenmarks fortzupflanzen und dem Muskel die jeweils nötige Kontraktion mitzuteilen, steigt die peripherische Reizung erst zum Gehirn auf und läuft dann von da zu jenen motorischen Zellen des Rückenmarks, die schon die Reflexbewegung vermittelten. Was hat sie nun auf diesem Umwege gewonnen und was hat sie in den sogenannten sensorischen Nervenzellen der Hirnrinde zu suchen gehabt? Ich verstehe nicht und werde nie verstehen, daß sie dort die wunderbare Kraft schöpfen soll, sich in eine Vorstellung von Dingen zu verwandeln; ich halte zudem diese Hypothese für unnütz, wie man sofort sehen wird. Dies aber ist mir sehr deutlich: daß die Zellen der verschiedenen sogenannten sensorischen Regionen der Hirnrinde, die zwischen die verästelten Enden der zentripetalen Fasern und die motorischen Zellen der Rolandischen Furche eingeschaltet sind, der Reizung die Möglichkeit geben, diesen oder jenen motorischen Mechanismus des Rückenmarks nach Belieben zu erreichen und so die Art ihrer Wirksamkeit zu wählen. Je mehr solche Zellen zwischengeschaltet sind, je mehr sie solche amöboiden Fortsätze aussenden, die zweifellos fähig sind, verschiedene Verbindungen zu schlagen, desto zahlreicher und verschiedener werden die Bahnen sein, welche sich vor ein und demselben peripherischen Reiz auftun können, desto zahlreicher werden folglich auch die Bewegungskomplexe sein, unter welchen ein und dieselbe Reizung die Wahl läßt. Das Gehirn ist also nach unserer Ansicht nichts anderes als eine Telephonzentrale: seine Aufgabe ist, »die Verbindung herzustellen« – oder aufzuschieben. Es fügt dem, was es empfängt, nichts hinzu; aber da alle Wahrnehmungsorgane mit ihren letzten Enden in ihm münden und alle motorischen Mechanismen des Rückenmarks und des verlängerten Marks ihre befugte Vertretung in ihm haben, so ist es in Wahrheit eine Zentralstelle, wo der peripherische Reiz Anschluß an diesen oder jenen motorischen Mechanismus gewinnt, den er sich jetzt wählt und nicht mehr aufdrängen läßt. Da sich aber in dieser Substanz eine ungeheure Menge motorischer Bahnen auftun können und zwar alle zugleich für ein und denselben peripherischen Reiz, so hat dieser Reiz die Fähigkeit, sich ins Unendliche zu teilen und sich folglich in unzähligen bloßen Ansätzen zu motorischen Reaktionen zu verlieren. Somit ist die Aufgabe des Gehirns, einesteils die aufgenommene Bewegung zum Zwecke der Reaktion dem gewählten Organe zuzuführen, andernteils vor dieser Bewegung die Totalität der motorischen Bahnen aufzutun, damit sie ihnen alle erdenklichen Reaktionen, mit denen sie geladen ist, einzeichnen und sich selbst in dieser Zerstreuung analysieren kann. Mit anderen Worten: das Gehirn erscheint inbezug auf die aufgenommene Bewegung als ein Werkzeug der Analyse und inbezug auf die ausgeführte Bewegung als ein Werkzeug der Auswahl. Aber in dem einen wie dem andern Falle besteht seine Funktion nur in der Vermittlung und Zerteilung von Bewegung. Und in den höheren Zentren der Hirnrinde arbeiten die Nervenzellen ebensowenig wie im Rückenmark mit irgendwelcher Abzweckung auf Erkenntnis, sie zeigen nur entweder eine Menge möglicher Wirkungen auf einmal auf oder bringen eine einzige von ihnen zur Ausführung.

Damit ist gesagt, daß das Nervensystem schlechterdings nichts von einem Apparate hat, der zur Fabrikation, ja auch nur zur Zubereitung von Vorstellungen dienen könnte. Seine Funktion ist, Reize aufzunehmen, motorische Apparate zusammenzusetzen und einem gegebenen Reize die größtmögliche Zahl dieser Apparate zur Verfügung zu stellen. Je mehr es sich entwickelt, desto zahlreichere und fernere Punkte des Raumes setzt es zu seinen immer komplizierter werdenden motorischen Mechanismen in Beziehung: damit vergrößert sich der Spielraum, den es unserer Tätigkeit erschließt, und gerade hierin besteht seine wachsende Vervollkommnung. Aber wenn im Aufstieg des Tierreiches das Nervensystem auf ein allmähliches Freierwerden der Tätigkeit abzielt, muß man da nicht annehmen, daß auch die Wahrnehmung, deren Fortschritt von dem des Nervensystems abhängt, ganz und gar auf Tätigkeit und nicht auf die reine Erkenntnis gerichtet ist? Und wenn dem so ist, sollte dann nicht die wachsende Fülle dieser Wahrnehmung einfach die Versinnbildlichung der wachsenden Indeterminiertheit sein, die dem Lebewesen den Dingen gegenüber eine immer freiere Wahl läßt? Gehen wir also von dieser Indeterminiertheit als dem eigentlichen Prinzip aus. Untersuchen wir, ob sich nicht aus ihr die bewußte Wahrnehmung als möglich oder gar notwendig deduzieren läßt. Mit anderen Worten, setzen wir dieses System engverbundener Bilder, die wir die materielle Welt nennen, und denken wir uns hier und dort in diesem System Zentren wirklicher Tätigkeit, durch die lebende Materie repräsentiert: wir wollen beweisen, daß sich um jedes dieser Zentren Bilder gruppieren müssen, die von seiner Lage abhängen und sich mit ihr verändern; daß sich die bewußte Wahrnehmung ergeben muß, und noch mehr, daß es möglich ist zu begreifen, wie diese Wahrnehmung entsteht.

Beachten wir zunächst, daß ein strenges Gesetz die Weite der bewußten Wahrnehmung an die Stärke der Aktivität bindet, über die das Lebewesen verfügt. Wenn unsere Hypothese begründet ist, dann müssen wir annehmen, daß die Wahrnehmung genau in dem Moment auftritt, in dem ein von der Materie empfangener Reiz sich nicht in eine notwendige Reaktion verlängert. Handelt es sich um einen Organismus niederer Art, so bedarf es allerdings eines unmittelbaren Kontaktes mit dem Reizobjekt, wenn ein Reiz ausgelöst werden soll, und da kann denn die Reaktion nicht gut verzögert werden. So ist bei den niederen Lebewesen der Gefühlssinn passiv und aktiv zugleich; er dient zugleich zum Erkennen und zum Ergreifen des Raubes, zur Empfindung und zur Abwehr der Gefahr. Die verschiedenen Fortsätze der Protozoen, die Ambulakralfüßchen der Echinodermen fungieren sowohl als Bewegungsorgane wie als Organe des Tastsinns; der Nesselapparat der Coelenteraten ist gleichzeitig ein Sinneswerkzeug und eine Verteidigungswaffe. Mit einem Wort: je unmittelbarer die Reaktion sein muß, um so mehr muß die Wahrnehmung einer bloßen Berührung gleichen, und der ganze Vorgang von Wahrnehmung und Reaktion unterscheidet sich dann kaum von einem mechanischen Anstoß mit notwendig darauffolgender Bewegung. Aber je ungewisser die Reaktion wird und je mehr sie ein Abwarten zuläßt, desto mehr nimmt auch die Entfernung zu, in der das Lebewesen die Wirkung des Gegenstandes, der es beschäftigt, empfindet. Durch das Gesicht, durch das Gehör setzt es sich zu einer immer größer werdenden Zahl von Dingen in Beziehung und unterliegt ihren Einflüssen auf immer größere Entfernungen; und ob ihm nun diese Dinge Vorteil versprechen oder Gefahr drohen, gerade weil sie nur versprechen und drohen, ist der kritische Moment hinausgeschoben. Aus dem Grade der Unabhängigkeit, über die ein Lebewesen verfügt, oder, wie wir sagen wollen, aus der Größe der Zone von Indeterminiertheit, die seine Aktivität umgibt, läßt sich a priori auf die Zahl und Entfernung der Dinge, mit denen es in Beziehung steht, schließen. Welcher Art diese Beziehung und die eigentliche Beschaffenheit der Wahrnehmung auch sei, jedenfalls kann behauptet werden, daß die Weite der Wahrnehmung in genauem Verhältnis zur Indeterminiertheit der nachfolgenden Tat steht. Wir können also folgendes Gesetz formulieren: Die Wahrnehmung beherrscht den Raum genau in dem Verhältnis, in dem die Tat die Zeit beherrscht.

Aber warum nimmt diese Beziehung des Organismus zu mehr oder weniger fernen Dingen gerade die Form der bewußten Wahrnehmung an? Wir haben untersucht, was im organischen Körper vor sich geht; wir fanden weitergeführte oder gehemmte Bewegungen, umgesetzt in vollzogene Handlungen oder in bloße Ansätze zu Handlungen zersplittert. Diese Bewegungen gingen, so schien es, einzig und allein die Aktivität an; sie blieben dem Vorstellungsprozesse absolut fremd. Dann betrachteten wir die Aktivität selbst und die Indeterminiertheit, von der sie umgeben ist, eine Indeterminiertheit, die in der Struktur des Nervensystems gegeben ist und auf die dieses System in seiner Einrichtung viel eher abzuzwecken scheint als auf die Vorstellung. Diese Indeterminiertheit einmal als Tatsache angenommen, konnten wir zu dem Schlusse kommen, daß es Wahrnehmungen geben muß, d. h. eine variable Beziehung zwischen dem Lebewesen und den mehr oder minder fernen Einflüssen der Gegenstände, die es beschäftigen. Wie kommt es nun, daß diese Wahrnehmung Bewußtsein ist, und warum geht alles so vor sich, als ob das Bewußtsein aus den inneren Bewegungen der Gehirnsubstanz geboren würde?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst einmal die Bedingungen stark vereinfachen, unter denen sich die bewußte Wahrnehmung vollzieht. Tatsächlich gibt es keine Wahrnehmung, die nicht mit Erinnerungen gesättigt ist. Dem, was unsere Sinne uns unmittelbar und gegenwärtig geben, mengen wir tausend und abertausend Elemente aus unserer vergangenen Erfahrung bei. Meistens verdrängen diese Erinnerungen unsere eigentlichen Wahrnehmungen, und es bleiben uns von diesen nur noch Andeutungen zurück, bloße »Zeichen«, die uns an frühere Bilder erinnern sollen. Wir erkaufen um diesen Preis das bequeme und rasche Funktionieren unserer Wahrnehmung; aber auch Täuschungen aller Art stammen aus dieser Quelle. Nichts hindert, an Stelle dieser ganz vergangenheitsgetränkten Wahrnehmung die Wahrnehmung eines reifen und ausgebildeten Bewußtseins zu setzen, welches aber ganz in der Gegenwart befangen, von jeder anderen Funktion ausgeschlossen und nur der Aufgabe hingegeben sei, sich rein nach dem äußeren Gegenstande zu formen. Das ist natürlich eine freie Fiktion, und diese ideale Wahrnehmung, die wir durch Elimination der individuellen Zufälligkeiten gewinnen, entspricht gar nicht mehr der Wirklichkeit. Aber wir wollen nachweisen, daß diese individuellen Zufälligkeiten jener unpersönlichen Wahrnehmung aufgepfropft sind, daß die unpersönliche Wahrnehmung die eigentliche Wurzel unserer Kenntnis von den Dingen ist und daß man aus ihr nur deshalb eine Art innerer subjektiver Vision, die sich von der Erinnerung nur durch größere Intensität unterschied, hat machen können, weil man sie mißverstand und nicht auseinanderhielt, was ihr vom Gedächtnis hinzugefügt oder genommen wird. Dieses wäre also unsere erste Hypothese. Aber sie zieht von selbst eine andere nach sich. So kurz man die Wahrnehmung auch ansetzen mag, so erfüllt sie doch immer eine gewisse Zeit und bedarf folglich einer Anstrengung des Gedächtnisses, durch welche die einzelnen Momente ineinandergedehnt und verschmolzen werden. Selbst die »Subjektivität« der Empfindungsqualitäten besteht, wie wir zu zeigen versuchen wollen, hauptsächlich in dieser Kontraktion des Wirklichen, die unser Gedächtnis leistet. Kurz, das Gedächtnis, das einerseits einen Kern von unmittelbarer Wahrnehmung mit einer Hülle von Erinnerungen umwebt und andererseits eine Mehrzahl von Momenten in eins zusammenzieht, bildet bei der Wahrnehmung den Hauptbestandteil des individuellen Bewußtseins, die subjektive Seite unserer Erkenntnis der Dinge; und wenn wir nun, um unsern Gedankengang zu vereinfachen, gerade diesen Bestandteil vernachlässigen, so wagen wir uns auf unserem Wege weiter, als wir dürften. Aber wir brauchen ja nur auf unserer Bahn alsdann wieder zurückzugehen und besonders dadurch, daß wir das Gedächtnis wieder einführen, unsere vielleicht übertriebenen Folgerungen zu korrigieren. Man darf also im folgenden nichts weiter als eine schematische Darstellung erblicken, und ich bitte, vorläufig unter Wahrnehmung nicht meine konkrete und komplexe Wahrnehmung zu verstehen, die mit meinen Erinnerungen gesättigt ist und immer eine gewisse Dauer aufweist, sondern die reine Wahrnehmung, die freilich mehr dem Rechte als der Tatsache nach besteht, eine Wahrnehmung, die ein Wesen in meiner Lage haben würde, das lebte, wie ich lebe, das aber von der Gegenwart absorbiert und fähig wäre, durch Elimination des Gedächtnisses in allen seinen Formen von der Materie eine unmittelbare und rein momentane Anschauung zu haben. Lassen wir uns also auf diese Hypothese ein und sehen wir zu, wie sich dann die bewußte Wahrnehmung erklären läßt.

Das Bewußtsein deduzieren zu wollen, wäre ein gewagtes Unternehmen, aber dies ist hier in der Tat auch gar nicht nötig, da die materielle Welt setzen eine Summe von Bildern setzen heißt, und da es zudem überhaupt unmöglich ist, etwas anderes als Bilder zu setzen. Keine Theorie der Materie kommt um diese Notwendigkeit herum. Denn führt man die Materie auf bewegte Atome zurück: selbst wenn man diesen Atomen ihre physikalischen Qualitäten nimmt, so werden sie doch nur durch Beziehung auf eine mögliche Anschauung oder mögliche Berührung denkbar, und damit fällt dann wieder die Materialität des Lichtes und des Stoffes. Verdichtet man das Atom zu Kraftzentren, löst man es in rotierende Wirbel eines kontinuierlichen Fluidums auf: auch dieses Fluidum, diese Bewegungen und Zentren sind denkbar nur durch eine freilich ganz abgeblaßte Fühlbarkeit, Kraftwirkung und Farbigkeit – sie sind also immer noch Bilder. Es ist richtig, ein Bild kannsein, ohne wahrgenommen zu werden; es kann gegenwärtig sein, ohne vorgestellt zu werden, und gerade das Auseinanderfallen dieser beiden Begriffe Gegenwärtigkeit und Vorstellung scheint die Differenz zwischen Materie und bewußter Wahrnehmung der Materie auszumachen. Aber untersuchen wir die Sache genauer und sehen wir zu, worin eigentlich dieser Unterschied besteht. Wenn der zweite jener Begriffe ein Plus gegenüber dem ersten enthielte, wenn man, um von der Gegenwärtigkeit zur Vorstellung zu gelangen, jener etwas hinzufügen müßte, so bliebe der Abstand unübersteigbar, und der Übergang von der Materie zur Wahrnehmung bliebe in ein undurchdringliches Geheimnis gehüllt. Etwas anderes wäre es, wenn man auf dem Wege der Subtraktion vom ersten Begriffe zum zweiten übergehen könnte und folglich die Vorstellung eines Bildes ein Minus gegenüber seiner Gegenwart bedeutete; denn dann würde man nur den gegenwärtigen Bildern etwas von ihrem Wesen zu nehmen brauchen, wenn sich ihre einfache Gegenwart in Vorstellung verwandeln soll. Also: hier ist das Bild, das ich materieller Gegenstand nenne; ich habe eine Vorstellung davon. Woher kommt es, daß es an sich etwas anderes zu sein scheint als für mich? Das hat seinen Grund darin, daß es in die Gesamtheit der übrigen Bilder fest eingefügt ist und sich ebenso in denen, die ihm folgen, fortsetzt wie es die Fortsetzung der vorangegangenen ist. Um nun sein reines bloßes Sein in Vorstellung zu verwandeln, würde es genügen, alles was ihm folgt und vorangeht, aber auch das, wovon es erfüllt ist, auszuscheiden, also bloß noch die äußere Schale, die oberste Haut übrig zu behalten. Das, was dieses gegenwärtige Bild, diese objektive Realität von einem vorgestellten Bilde unterscheidet, ist der Zwang, dem es untersteht, mit allen seinen Punkten auf alle Punkte der übrigen Bilder zu wirken, alle empfangenen Einwirkungen weiterzuleiten, jeder Wirkung eine äquivalente Reaktion entgegenzusetzen, mit einem Wort; nichts anderes als ein Schnittpunkt aller Veränderungen im unendlichen Weltall zu sein. Ich könnte es in Vorstellung verwandeln, wenn ich es isolieren könnte, insonderheit seine Hülle isolieren könnte. Die Vorstellung ist ja immer da, aber immer nur virtuell, da sie in dem Augenblick, wo sie aktuell werden würde, neutralisiert wird durch den Zwang, sich fortzusetzen und in etwas Anderem aufzugehen. Um jene Verwandlung zu vollziehen, bedarf es nicht der Aufhellung des Gegenstandes, sondern im Gegenteil der Verdunkelung gewisser Seiten an ihm, der Verminderung um den größten Teil seines Wesens, so daß der Rest, statt wie ein Ding in die Umgebung eingeschachtelt zu sein, sich wie ein Gemälde davon abhebt. Wenn nun aber die Lebewesen im Weltall »Zentren der Indeterminiertheit« darstellen und diese Indeterminiertheit mit der Zahl und der Feinheit ihrer Funktionen wächst, begreift man, daß ihr Vorhandensein ganz von selbst die Ausscheidung aller der Elemente in den Gegenständen mit sich führt, an denen ihre Funktionen nicht interessiert sind. Sie lassen gewissermaßen jene äußeren Wirkungen, die ihnen gleichgültig sind, durch sich hindurchgehen; dadurch werden die anderen isoliert und eben durch diese Isolierung zu »Wahrnehmungen«. Es wird sich also für uns alles so vollziehen, als ob wir das Licht, das von den Oberflächen ausgeht, auf sie zurückwürfen, ein Licht, das niemals sichtbar geworden wäre, wenn es sich ungestört fortgepflanzt hätte. Die uns umgebenden Bilder scheinen nun unserem Körper jene Seite, die ihn interessiert, und zwar diesmal im vollen Lichte, zuzuwenden, sie geben von ihrem Gehalt das an uns ab, was wir im Vorübergehen festgehalten haben, weil wir einen Einfluß darauf auszuüben vermögen. Der Zusammenhang, in dem die Bilder untereinander stehen, ist der indifferente einer rein mechanischen Beziehung, sie wenden einander alle ihre Seiten auf einmal zu, d. h. sie wirken und reagieren mit allen ihren Elementen auf einander, und folglich wird keines von ihnen zur Wahrnehmung, und keines nimmt bewußt wahr. Stoßen sie aber irgendwo auf ein Etwas, das mit einer gewissen Stärke spontan reagiert, so wird ihre Wirkung in demselben Maße geschwächt, und diese Verringerung ihrer Wirkung ist gerade unsere Vorstellung von ihnen. Unsere Vorstellung von den Dingen würde also letzten Endes daher stammen, daß die Dinge sich an unserer Freiheit brechen.

Wenn ein Lichtstrahl aus einem Medium in ein anderes übergeht, ändert er gewöhnlich seine Richtung. Aber die spezifische Dichtigkeit der beiden Medien kann so sein, daß bei einem gegebenen Einfallswinkel eine Brechung nicht mehr möglich ist. Dann tritt totale Reflexion ein. Es bildet sich von dem leuchtenden Punkte ein virtuelles Bild, das gewissermaßen die Unfähigkeit der Lichtstrahlen, ihren Weg fortzusetzen, symbolisiert. Diesem Phänomen ähnelt die Wahrnehmung. Gegeben ist die Totalität der Bilder der materiellen Welt mit der Totalität ihrer inneren Elemente. Aber wenn wir Zentren tatsächlicher d. h. spontaner Aktivität annehmen, dann werden die Strahlen, die auf sie treffen und ihr Interesse zu erregen vermögen, nicht mehr durch sie hindurchgehen, sondern zurückgeworfen werden und so die Konturen des Gegenstandes, der sie aussendet, abzeichnen. Es geschieht dabei nichts Positives, dem Bilde wird nichts hinzugefügt, es tritt nichts Neues auf. Die Gegenstände geben nur etwas von ihrer reellen Wirkung auf und stellen dafür ihre virtuelle Wirkung dar, und das heißt im Grunde den möglichen Einfluß des Lebewesens auf sie. Die Wahrnehmung ähnelt also ganz den Phänomenen der Reflexion, die in gewissen Fällen an Stelle der Brechung treten; sie ist eine Art Spiegelungserscheinung.

Damit aber ist gesagt, daß zwischen dem Sein und dem bewußten Wahrgenommenwerden der Bilder nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens ist. Die Realität der Materie besteht in der Totalität ihrer Elemente und in deren mannigfaltigen Wirkungen. Unsere Vorstellung der Materie entspricht genau unserer möglichen Wirkung auf die Körper; sie resultiert, wenn wir alles eliminieren, was für unsere Bedürfnisse oder allgemeiner: unsere Funktionen ohne Interesse ist. In gewissem Sinne könnte man sagen, daß das Wahrnehmen irgend eines unbewußten materiellen Punktes in seiner reinen Momentaneität unendlich viel umfassender und vollständiger sei als das unsere, da dieser Punkt ja alle Wirkungen aller Punkte der materiellen Welt aufnimmt und weitergibt, während unser Bewußtsein nur gewisse Teile und nur gewisse Seiten dieser Teile erfaßt. Gerade in dieser Auswahl besteht – soweit die äußere Wahrnehmung in Betracht kommt – das Wesen des Bewußtseins. Aber in dieser notwendigen Armut unserer bewußten Wahrnehmung steckt etwas Positives, etwas, das bereits den Geist ankündigt: das Vermögen zu unterscheiden.

Die ganze Schwierigkeit des Problems, mit dem wir uns beschäftigen, rührt daher, daß man sich die Wahrnehmung als eine Art photographischer Ansicht der Dinge vorstellt, welche von einem bestimmten Punkte mit einem besonderen Apparat – unserem Wahrnehmungsorgan – aufgenommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz durch einen unbekannten chemischen und psychischen Vorgang entwickelt zu werden. Aber warum will man nicht sehen, daß die Photographie, wenn es überhaupt eine Photographie ist, von allen Punkten des Raumes aus im Innern der Dinge schon aufgenommen und schon entwickelt ist? Keine Metaphysik, nicht einmal die Physik kann sich dieser Schlußfolgerung entziehen. Baut man das Universum aus Atomen auf: in jedem Atom machen sich, qualitativ und quantitativ mit der Entfernung variierend, die Wirkungen bemerkbar, die alle materiellen Atome ausüben. Baut man es aus Kraftzentren auf: die Kraftlinien, die von jedem einzelnen Zentrum nach allen Richtungen ausgesendet werden, leiten die Einflüsse der gesamten materiellen Welt auf jedes einzelne Zentrum hin. Und baut man endlich aus Monaden: jede Monade ist nach Leibniz ein Spiegel des Universums. Man ist sich also über diesen Punkt völlig einig. Nur liegt, wenn man einen beliebigen Punkt im Weltall betrachtet, die Sache so, daß die Wirkung der gesamten Materie ohne Widerstand und ohne Verlust hindurchgeht; dann bleibt die Photographie des Ganzen Licht, denn es fehlt die Platte, auf der das Bild aufgefangen wird. Unsere Zonen der Indeterminiertheit übernehmen sozusagen die Rolle dieser Platte. Sie fügen dem Vorhandenen nichts hinzu; sie bewirken nur, daß die reelle Wirkung durchgeht und die virtuelle bleibt.