Maude - Donna Mabry - E-Book

Maude E-Book

Donna Mabry

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Beschreibung

Geboren im Jahr 1892 erlebt Maude das Beste, was ein Leben bieten kann – eine glückliche Ehe, wundervolle Kinder, großartige Freundschaften. Aber ihr widerfahren auch die schlimmsten Schicksalsschläge – unverhoffte Todesfälle, Armut und Hoffnungslosigkeit. Doch Maude kämpft immer weiter, so aussichtslos ihre Lage auch scheint. Die Geschichte, erzählt von Maudes Enkelin Donna Foley Mabry, ist eingebettet in die Ereignisse, Umwälzungen und Dramen des 20. Jahrhunderts in den USA: in einer Zeitspanne von der Großen Depression über den Zweiten Weltkrieg bis ins Detroit der 1950er- und 60er-Jahre entwickelt sich die berührende Geschichte einer starken Frau, die nie ihren Glauben an das Leben verliert. Eine wahre Geschichte, die sich liest wie ein fesselnder Roman!

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Seitenzahl: 564

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

2. Auflage 2020

© 2016 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Maude. © 2015 by Donna Mabry

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Christa Trautner-Suder, Weilheim

Redaktion: Annett Stütze, Frankfurt/Main

Umschlaggestaltung: Laura Osswald, Isabella Dorsch, München

Umschlagabbildung: Shutterstock/Andrey Kurzmin; Shutterstock/caesart; iStock/marlenka (Maude)

Satz: Machleidt Medienbearbeitung, Ottobrunn

ISBN Print 978-3-86882-652-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-903-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-904-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.mvg-verlag.deBeachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.muenchner-verlagsgruppe.de

Inhaltsverzeichnis
Danksagung
VORWORT
MaudeProlog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Epilog
von Donna
The Detroit News, 6. August 1962

Danksagung

Vielen Menschen schulde ich für ihre Hilfe bei der Arbeit an diesem Buch großen Dank:

Ich danke meiner besten Freundin Shelby Turnbull MacFarlane, sie ist die Beobachterin meines Lebens. Sie weiß Dinge über mich, die nicht einmal meinen Kindern bekannt sind. Sie half mir bei den Nachforschungen, um Details herauszufinden, bei denen meine Erinnerungen verschwommen waren, und machte Dokumente ausfindig, um die Geschichte über den Tod meiner Tante zu überprüfen.

Ich danke meinen Redakteuren und Lektoren: Lawrence Montaigne, Elaine Stubbs, Scotty Curran, Maryann Unger und Phil Schlaeger von Anthem Authors. Dank ihrer Unterstützung ist die Geschichte viel besser geworden.

Ich danke Barbara Winters, Jeane Harvey, Judy Kuncewicki und Lawrence Montaigne, meinen Korrekturlesern, die nicht nur Korrekturen vorgenommen haben, sondern mich durch das beständige Lesen meiner Arbeit ermutigt haben.

Ich danke Sandy Novarro, die inzwischen ein ganzes Regal mit Dingen gefüllt hat, die sie mir erzählte, damit ich sie aufschreibe.

Und ich danke meiner Tochter, Melanie Mabry, die sich gewünscht hat, diese Geschichte zu hören. Meine Güte, sie wird Augen machen!

VORWORT

Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich drei Jahre alt war, und meine Mutter ließ mich bei ihren Eltern aufwachsen. In den folgenden neun Jahren holte mich mein Daddy beinahe jeden Freitagabend, wenn er keine Überstunden machen musste, und auch in allen Schulferien zu sich und seiner Familie. Er brachte mich immer so spät wie möglich in die Obhut meiner Großmutter mütterlicherseits zurück.

Meine erste Erinnerung ist ein Wintermorgen, als er mich zu dem Haus trug, in dem er mit seinen Eltern lebte, dabei schmiegte ich meine Wange an seine kühle, glatte braune Lederjacke. Beinahe jedes Wochenende und in den Sommerferien von Juni bis September und in den Frühjahrs- und Weihnachtsferien gehörte ich ihm.

Wenn ich bei meinem Daddy war, teilte ich mir ein Zimmer mit meiner Großmutter. Jeden Abend erzählte sie mir bis zum Einschlafen Geschichten, es waren aber keine Geschichten aus Büchern, sondern Erzählungen aus ihrem Leben. Wenn wir so in dem abgedunkelten Zimmer lagen, versuchte ich immer, so lange es ging, wach zu bleiben, um all die verblüffenden Dinge zu hören, die sie zu berichten hatte. Gleichzeitig wirkte ihre sanfte Stimme aber auch wie ein Wiegenlied, das mich zum Schlafen einlud. Heute frage ich mich, ob es vielleicht ihre persönliche Form der Therapie war, in der Dunkelheit mit einer überaus interessierten Zuhörerin ihre Last zu teilen.

Als ich älter wurde und sie das Gefühl hatte, ich würde es nun verstehen, enthüllte sie zunehmend auch intime Details, bis sie schließlich, als ich etwa sechzehn Jahre alt war, sogar darüber sprach, welche Rolle Sex in ihrem Leben gespielt hatte.

Sie ging nicht chronologisch vor, sondern erzählte, was ihr gerade in den Sinn kam. So sprach sie an einem Abend über ihre Kindheit, dann wieder über die Kriege oder die Große Depression. Manchmal erzählte sie, wie sie vier ihrer fünf Kinder verloren hatte.

Viele Jahre später, als ich einiges davon meiner Tochter weitererzählte, wurde mir erst bewusst, wie unglaublich das Leben meiner Großmutter gewesen war.

Meine Tochter fragte mich damals: »Warum schreibst du diese Geschichte nicht für mich auf?«

Daher widme ich dieses Buch meiner Tochter Melanie und ihrer Urgroßmutter, die sie nur als Kleinkind erlebt hat.

Ein kleiner Teil dessen, was ich hier aufgeschrieben habe, ist erfunden, und manches geht auf meine eigenen Erinnerungen an spätere Ereignisse zurück, die möglicherweise voreingenommen sind. Ich habe auch einige Kommentare meines Großvaters berücksichtigt, aber er machte meist über alles seine Scherze und war nicht so ernsthaft wie meine Großmutter.

Meine Mutter Evelyn würde die Geschichte sicher anders erzählen, aber ich vertrete hier die Sichtweise meiner Großmutter.

Der Großteil der Geschichte und viele direkte Zitate sind in den Worten meiner Großmutter formuliert und entsprechen dem, was ich in diesen lange zurückliegenden Nächten von ihr hörte.

MaudeProlog

Ich war gerade mal vierzehn, und es war mein Hochzeitstag. Meine ältere Schwester Helen kam in mein Zimmer, nahm mich an der Hand und ließ mich auf dem Bett Platz nehmen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, errötete dann aber und wandte den Kopf ab, um aus dem Fenster zu blicken. Kurz darauf drückte sie meine Hand, schaute mir in die Augen, zögerte, blickte zu Boden und sagte dann: »Du warst immer ein braves Mädchen, Maude, und hast getan, was ich dir gesagt habe. Nun wirst du eine verheiratete Frau sein, und er ist das Familienoberhaupt. Wenn ihr heute Abend nach dem Fest nach Hause geht, musst du ihn gewähren lassen, egal, was er von dir verlangt. Verstehst du?«

Ich verstand es nicht, nickte aber. Es klang merkwürdig, wie so vieles. Ich würde tun, was sie gesagt hatte. Mir blieb ja keine andere Wahl, genauso wenig, wie ich mir ausgesucht hatte, geboren zu werden.

Kapitel 1

Auf die Welt kam ich 1892 als Nola Maude Clayborn in Perkinsville, der nordwestlichen Ecke von Tennessee, wenige Meilen westlich von Dyersburg. Die Stadt wurde von einer Straße geteilt, deren Ende jeweils durch einen Kirchturm markiert wurde. Perkinsville war kaum mehr als ein erweiterter Straßenabschnitt. Die Häuser standen so weit voneinander entfernt, dass alles sehr ländlich wirkte. Die Bevölkerung bestand hauptsächlich aus Bauern, außerdem gab es ein paar Geschäfte, in denen sie ihren Bedarf decken konnten.

Die meisten Häuser hatten auf der Rückseite einen Stall für ein oder zwei Pferde sowie einen Pferdewagen für Personen oder ein Fuhrwerk für die Feldarbeit. Jeder im Ort hielt Hühner und eine Milchkuh. Jedes Haus besaß einen Gemüsegarten und meist auch einen Obstgarten mit Apfel-, Kirsch- und Birnbäumen.

Es gab eine Gemischtwarenhandlung und einen Doktor. Eine Witwe in der Stadt vermietete gelegentlich Zimmer an Reisende, aber es gab weder ein Hotel noch ein Restaurant, keine Bank und schon gar keinen Saloon. So gut wie jeder züchtete seine eigenen Hühner und Schweine und zog selbst Obst und Gemüse.

Teilweise erinnere ich mich noch an die Gerüche. Wenn ich im Winter durch die Stadt ging, konnte ich den Rauch der Kamine und Herde riechen, in denen Holz verfeuert wurde, ich roch die Tiere der Bauernhöfe und, wenn der Wind entsprechend stand, den Gestank der Hühnerställe. Im Frühling war die Luft vom süßen Duft der Obstblüten und dem Geruch des frisch gepflügten Ackerbodens erfüllt.

Am östlichen Ende der Straße stand die Baptistenkirche, am westlichen die Heiligungskirche. Meine Familie gehörte der Heiligungsbewegung an, und unser Leben spielte sich um unsere Kirche herum ab. Sonntags gingen wir morgens und abends zum Gottesdienst, außerdem jeden Mittwochabend. Einmal im Jahr kam ein Gastprediger, und eine Woche lang wurde jeden Abend ein Erweckungsgottesdienst abgehalten.

Die Türme der beiden Kirchen dienten als eine Art Stadtgrenze. Von der einen bis zur anderen Kirche lief man weniger als eine halbe Stunde. Es gab keine Katholiken und keine Juden, und die meisten von uns wussten nicht einmal, dass es auch so etwas wie Atheisten gab. Wahrscheinlich hätte auch niemand verstanden, was ein Atheist ist, ausgenommen vielleicht der Doktor. Er war gebildeter als die meisten anderen und hatte in anderen Städten gelebt, bis er Anfang sechzig war und seine Frau starb. Da gab er seine Praxis in der Großstadt auf und kehrte in seinen Heimatort zurück.

Die meisten Einwohner waren hier geboren und starben hier, viele unternahmen kaum mehr als eine Hochzeitsreise nach Memphis.

Es gab auch einige Farbige, sie lebten jedoch am Ende der Straße in einem etwas abgelegeneren Stadtteil.

Äußerlich kam ich nach meinem Vater, Charles Eugene Clayborn, mit glattem braunem Haar und braunen Augen. Ich war groß für mein Alter und stämmig wie mein Daddy.

Meine Schwester Helen war elf Jahre älter und kam nach unserer Mutter Faith. Beide waren klein und zierlich. Sie waren hübsch, hatten funkelnde blaue Augen und hellblondes Haar.

Helens Haar fiel gewellt über ihre Schultern, aber Momma trug ihr Haar wie alle verheirateten Frauen zu einem Nackenknoten frisiert. Ich liebte die kleinen lockigen Strähnen, die sich den Haarnadeln entzogen. Wenn Momma im Freien war, flatterten sie im Wind wie Schmetterlinge, die auf ihrem Nacken tanzten.

Helen hatte eine Figur wie eine Sanduhr, und die Nachbarinnen sagten öfter, ein Mann könne ihre Taille mit seinen Händen umfassen. Diese Damen lächelten mich freundlich an und tätschelten mir tröstend den Kopf. Ich hasste das. Mir war schon früh klar, dass ich unscheinbar war. Ich gewöhnte mich daran. Meine Mutter machte ständig an Helen herum, nähte ihr hübsche Kleider, flocht ihr Bänder ins Haar. Um mich kümmerte sie sich nicht weiter, außer um mir zu sagen, was ich tun sollte.

Das machte mir nicht viel aus. Ich war ein Papakind. Er betreute einen Mietstall auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber von unserem Haus. Er trainierte Pferde, um sie zu verkaufen, vermietete Pferde und Pferdewagen und beherbergte die Reitpferde Reisender. Noch bevor ich morgens aufstand, war er bereits unterwegs, um die Tiere zu versorgen.

Wenn er zum Mittagessen nach Hause kam, gab er Momma einen Kuss, dann hob er mich hoch und hielt mich in seinen starken Armen. Anschließend setzte er mich auf seine Knie und unterhielt sich mit mir, bis das Essen auf dem Tisch stand. Er schaute mich an, lächelte und fragte, wie es in der Schule gewesen war und was meine Freunde machten. Er neckte mich, weil ich James Connor gerne mochte, der ein Stück weiter unten an der Straße wohnte.

Daddy war ein starker Mann, seine Brust und seine Arme waren vom Heben der Heuballen sehr muskulös. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und roch den Geruch der Pferde und des Futters. Seine Aufmerksamkeit war mein ganzer Trost. Er war meine Welt.

Nach dem Mittagessen ging er in den Stall zurück, um die Tiere für die Nacht zu versorgen. Wenn er zurückkam, schlief ich meistens schon. Er konnte mir nur wenig seiner kostbaren Zeit schenken, aber es war genug.

Als das Jahresende 1899 näher rückte, waren alle sehr aufgeregt bei dem Gedanken an das neue Jahr 1900 und das neue Jahrhundert. Ich fand die Zahl zwar interessant, verstand jedoch die ganze Aufregung nicht. Würde am Tag danach nicht alles genauso sein wie am Tag zuvor? Wochenlang sprachen die Leute über nichts anderes. Ich hörte es in der Schule, in der Kirche und im Geschäft. Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, es habe irgendetwas mit mir zu tun. Ich glaubte nicht, das neue Jahrhundert werde mein Leben verändern, aber genau so kam es. Der Beginn des neuen Jahrhunderts stellte mein Leben auf den Kopf.

Im April 1900 war ich gerade mal sieben und Helen war achtzehn, als sie Tommy Spencer heiratete. Er war einer der nettesten jungen Männer der Gegend. Seinen Eltern gehörte das Lebensmittelgeschäft, und sie dürften die reichste Familie in der Stadt gewesen sein. Helen packte ihre Sachen zusammen und zog in das hübsche kleine Haus, das Tommy eigens für sie gebaut hatte. Es hatte wie unser Haus eine Veranda über die gesamte Vorderfront, zusätzlich jedoch eine Veranda auf der Rückseite, sodass man zu jeder Tageszeit in der Sonne oder im Schatten sitzen konnte. Tommy hatte direkt in der Küche eine Wasserpumpe eingebaut, sodass Helen nicht mehr zum Wasserholen hinausgehen musste. Auf der Rückseite gab es eine Toilette, auf beiden Seiten ein Schlafzimmer und vorne ein Wohnzimmer.

Nach Helens Hochzeit versuchten die Leute, mich zu trösten, weil ich nun alleine war, aber ich vermisste sie gar nicht so sehr. Hin und wieder besuchte ich sie und sah sie bei jedem Gottesdienst in der Kirche. Durch ihren Auszug hatte ich ein Zimmer für mich alleine, und mein Leben war ruhiger ohne die vielen jungen Leute, die sich immer um meine Schwester geschart hatten. Vor ihrem Auszug hatte ich das Gefühl, sie seien ständig da. Helens Freundinnen kamen fast täglich nach der Schule. Sie saßen vorne auf der Veranda, tranken eisgekühlten Tee, kicherten und flüsterten sich gegenseitig Dinge über den einen oder anderen Jungen ins Ohr, meist Dinge, die ich nicht hören sollte.

Die Jungen fanden immer irgendeinen Vorwand, um vorbeizukommen, fragten irgendetwas über die Schule oder die Kirche und verstummten, wenn ich in Hörweite kam. Die Freunde meiner Schwester schauten mich entweder an, als sei ich nicht willkommen, oder ignorierten mich, als wäre es nicht auch meine Veranda und als hätte ich kein Recht, dort zu sein.

Nachdem Helen geheiratet hatte und ausgezogen war, wurde ich, soweit ich mich erinnern kann, das erste Mal von meiner Mutter beachtet. Sie machte es sich nun zur Aufgabe, mich darauf vorzubereiten, eines Tages eine gute Ehefrau zu werden. Wir bepflanzten im Frühjahr zusammen den Garten, setzten Reihen von Kopfsalat, Blattgemüse, Tomaten und Mais. Die ganze Zeit über sprach sie mit mir wie mit einer Erwachsenen, was sie bisher noch nie getan hatte. Wir hackten den Boden, und sie zeigte mir, wie man mit der Hand ein kleines Loch macht, um jeweils ein Saatkorn hineinfallen zu lassen. Jetzt, wo Helen aus dem Haus war, wurden Momma und ich ein Arbeitsgespann.

Wir kochten in der Küche auf dem großen, mit Holz befeuerten Herd, dabei stand ich auf einem kleinen Tritthocker, den mein Daddy für mich angefertigt hatte. Ich durfte Zucker und Gewürze für die Apple Pies mischen und zuschauen, wie Momma den Teig ausrollte, wobei sie erzählte, dass man möglichst kaltes Wasser zum Mischen des Teigs verwenden muss.

Sie brachte mir bei, auf das Geräusch des Hähnchens zu achten, das im Topf brät, und dass es Zeit zum Wenden ist, wenn aus dem leisen Summen ein Knistern wird, dass Kartoffeln vor dem Kochen gesalzen werden und Hähnchen danach. Sie zeigte mir, wie lockere Klöße und gute Kekse zubereitet werden.

Im Herbst lernte ich, wie das Obst und das Gemüse aus dem großen Garten eingemacht wurden, den meine Mutter bestellte. Ich trug eine Schürze, bei der in der Taille ein Falte gelegt war, damit sie mir passte, und saß am Tisch, um an den grünen Bohnen, so, wie sie es mir gezeigt hatte, die Enden abzuknipsen, die Fäden abzuziehen und die Bohnen anschließend zu vierteln. Momma gab die Bohnen zusammen mit etwas Rückenspeck in den großen Topf auf dem Herd, wo sie den ganzen Tag über kochten, bevor sie in die Einmachgläser gefüllt wurden.

Nachmittags saßen wir auf der Veranda in der Sonne und nähten. Mom zeigte mir, wie man Stoff mit möglichst wenig Verschnitt zuschnitt. Hatte sie ein Kleidungsstück fertig zugeschnitten, blieb nur eine kleine Handvoll Stoffreste übrig. Sie brachte mir bei, winzige gleichmäßige Stiche zu machen, die sich nicht verzogen, und den Faden vor Nähbeginn über eine Wachskerze zu ziehen, damit er sich nicht verhedderte. Ich lernte stricken, häkeln, im Kettenstich zu sticken und wie man Blumen und das Alphabet stickt.

Obgleich ich normalerweise zappelig wurde, wenn ich länger still sitzen musste, wie beispielsweise in der Kirche, liebte ich Nadelarbeiten. Beim Nähen wird man so ruhig. Ich vermute, es liegt daran, dass man über keine Sorgen nachdenkt, sondern sich nur mit dem Stoff und dem Faden beschäftigt. Wenn man sich immer nur auf ein kleines Teilstück konzentriert, ist es fast eine Überraschung, am Ende das fertige Werk zu sehen. Noch lange nachdem meine Mutter gestorben war, meinte ich beim Nähen gelegentlich ihre Stimme zu hören, die mir sagte, ich solle das Fadenende fest verknoten oder wie ich die Nadel drehen müsse, um den Faden zu entwirren. Zeitlebens erinnerte ich mich an alles, was meine Mutter mir – nicht nur über das Nähen – beigebracht hatte.

Eines Samstagabends, nicht lange nach Helens Auszug, drehte meine Mutter mir zum ersten Mal die Haare ein. Sie ließ mich auf einen Stuhl steigen, fuhr mit einem nassen Kamm durch mein Haar und rollte es Strähne für Strähne auf weiße Baumwollstreifen, die sie aus einem Mehlsack gerissen hatte. Es war gar nicht so leicht, mit diesen Knoten einzuschlafen, die auf die Kopfhaut drückten, aber als meine Mutter am nächsten Morgen die Strähnen aufwickelte und das Haar auskämmte, fiel mein Haar in weichen Wellen, genau wie Helens Haar.

Ich rannte in die Küche, um es meinem Daddy zu zeigen. Er hob mich schwungvoll in die Luft und umarmte mich fest. »Schau einer an, wie hübsch du heute Morgen bist«, sagte er.

Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Er hielt mich an seiner Brust und schwang mich hin und her, bevor er mich wieder auf den Boden setzte.

Ich erwartete, jeder in der Kirche würde mein Aussehen bemerken und »ah« und »oh« sagen, aber Helen war die Einzige, die es bemerkte. Seit sie ausgezogen war, behandelte sie mich netter.

Abends bat ich Momma, mir wieder die Haare einzudrehen, aber sie sagte, für jeden Tag sei das zu viel Aufwand. Ich versuchte es selbst, aber das gab ein Durcheinander, teilweise waren die Haare gewellt, aber die Enden waren glatt. Ich beschloss, mich damit zu begnügen, sie für den Sonntagsgottesdienst eingedreht zu bekommen. Es würde mich glücklich machen, wenigstens einmal pro Woche hübsch zu sein.

Das erste Jahr des neuen Jahrtausends ging beinahe unbemerkt vorüber, dann kam der nächste Sommer. Ich war acht Jahre alt und verbrachte den Nachmittag in Helens Haus. Helen war mit ihrem ersten Baby im siebten Monat schwanger, und es ging ihr nicht gut. Noch immer musste sie sich etwa zehn Mal am Tag übergeben, und wenn sie etwas hochheben musste, wurde ihr schwindlig. In den letzten Monaten wurde ich oft zu ihr geschickt, um ihr beim Putzen zu helfen.

Ich liebte es. Während ich die Hausarbeit erledigte, bildete ich mir ein, es sei mein Haus und mein Mann würde von der Arbeit nach Hause kommen und mich mit einem Kuss begrüßen, so, wie Helen von ihrem Mann begrüßt wurde.

Ich war im Garten hinter dem Haus und hängte Wäsche auf die Leine, als ich aus dem Haus einen kurzen Schrei hörte, wie von einem verwundeten Tier. Ich ließ das Handtuch in den Korb fallen und rannte ins Haus. Da waren Helens Mann Tommy und der Doktor, der uns alle drei entbunden hatte. Tommy hielt Helen in seinen Armen. Sie lehnte an ihm und sah aus, als würde sie gleich umfallen. Ich griff nach Helens Rock.

»Was ist los? Was ist passiert?«

Tommy schien in Panik zu sein. Er zog meine Hand von ihr weg. »Geh ins Schlafzimmer und warte dort.«

Ich gehorchte wie immer, ging ins Schlafzimmer und setzte mich aufs Bett. Irgendjemand schloss hinter mir die Tür, und ich versuchte, die Stimmen aus dem Wohnzimmer zu belauschen, konnte aber nichts verstehen. Nach einer scheinbaren Ewigkeit öffnete sich die Tür, und Tommy trug Helen herein. Sie war ohnmächtig geworden. Doktor Wilson schlug das Bettzeug zurück, und Tommy legte Helen aufs Bett und deckte sie zu. Nun bedeutete der Doktor mir und Tommy, ins Wohnzimmer zu gehen, und wir folgten ihm hinaus und schlossen die Tür hinter uns.

Ich ergriff Tommys Hand. »Wird sie wieder gesund? Was ist los mit ihr?«

Tommy schaute mich traurig an und blickte zum Doktor hinüber. Dann ließ er den Kopf hängen und ging in die Küche. Doktor Wilson seufzte laut, nahm meine Hand und sagte mir das Schlimmste, was ich je gehört hatte. »Es hat einen Unfall gegeben, Maude«, er hielt inne, als suche er nach den richtigen Worten. »In der Küche eures Hauses hat irgendetwas Feuer gefangen. Als dein Dad die Nachbarn schreien hörte, rannte er ins Haus, um deine Mutter zu suchen.«

Ich spürte, wie sich die Panik in meinem Körper vom Kopf bis zu den Zehen ausbreitete. Plötzlich begann ich zu frieren. Ich schlotterte und schlang die Arme um mich. »Geht es meinem Daddy gut? Ist er verbrannt?«

Doktor Wilson klopfte mir auf die Schulter. »Es tut mir so leid, Maude. Es war ein altes Haus, alles aus Holz. Sie haben es nicht mehr hinausgeschafft.«

Für den Bruchteil einer Sekunde verstand ich nicht, was er sagte. Das Geräusch meines wild schlagenden Herzens dröhnte in meinen Ohren und machte mich beinahe taub. Dann dämmerte mir, dass beide, meine Momma und mein Daddy, gestorben waren.

Ich suchte nach Worten, fand aber keine. Ich ließ beide Arme sinken und stand einfach nur da, starrte auf den Boden und zitterte. Der Doktor klopfte mir erneut auf den Rücken, wandte sich um und ging in die Küche, wo er leise mit Tommy sprach. Ich stand noch immer, wo sie mich zurückgelassen hatten, als ich aus dem Schlafzimmer einen schwachen Schrei von Helen hörte.

Schnell lief ich ins Schlafzimmer. Der Geruch von Blut und noch etwas, was ich nicht kannte, erfüllte das Zimmer. Ich stieß einen Schrei aus, und Tommy kam zur Tür hereingestürzt, gefolgt von Dr. Wilson. Sie schoben mich beiseite, und ich drückte mich an die Wand. Der Doktor zog Helens Bettdecke weg.

»Die Fruchtblase ist geplatzt«, sagte er, »holt meine Tasche.«

Tommy eilte ins Wohnzimmer, wo Dr. Wilson seine Tasche neben dem Stuhl auf den Boden gestellt hatte, und brachte sie dem Doktor.

Dieser schaute zu mir. »Bring mir alle Handtücher und etwas Wasser.«

Das brachte mich wieder zu mir, und wir beide, Tommy und ich, liefen in die Küche. Während Tommy mit der Pumpe in der Küche eine große Schüssel mit Wasser füllte, nahm ich einen Stapel Handtücher aus dem Schrank und lief ins Schlafzimmer zurück.

Der Doktor hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und Helens Füße aufgestellt. Ihr Rock war zur Taille hinaufgeschoben, und sie trug keinen Schlüpfer. Ich blieb ruckartig stehen und konnte keinen Schritt weitergehen. Ich hatte meine Schwester noch nie nackt gesehen, und es war entsetzlich für mich.

»Gib mir die Handtücher«, sagte der Doktor.

Ich ließ den Stapel neben Helen aufs Bett fallen. Tommy, der im Gesicht weiß war wie ein Gespenst, brachte das Wasser. Er stellte die Schüssel auf den Boden und zog einen kleinen Tisch heran, um es in Reichweite des Doktors zu stellen.

»Hol mehr Wasser und mach es heiß«, sagte der Doktor zu Tommy, der erleichtert wirkte, eine Aufgabe zu haben, und wieder hinauslief. Helen stöhnte laut, öffnete jedoch nicht die Augen. Ich konnte nicht sagen, ob sie bei Bewusstsein war.

Die Blutung schien gestillt. Doktor Wilson streckte Helens Beine wieder aus und zog die Bettdecke über sie. Er drückte seine Hände seitlich an ihren Bauch und ließ sie lange dort liegen.

»Sie hat noch keine Wehen. Maude, bring mir eine Uhr.«

Ich lief ins Wohnzimmer und fand Tommys Uhr, die auf einem kleinen Ständer lag. Er hatte sie von seinem Vater bekommen und trug sie nur sonntags. Der Doktor zog den Stuhl neben das Bett. Er bedeutete mir, mich zu setzen, nahm meine Hand und drückte meine Handfläche an Helens Seite.

»Das erste Baby lässt sich immer viel Zeit. Ich kann nicht den ganzen Nachmittag und Abend hierbleiben. Ich bin in meiner Praxis, wenn ihr mich braucht. Das ist gleich hier die Straße hinunter.« Er drückte meine Hand fest gegen Helens Seite. »Spürst du ihren Bauch?«

Ich nickte.

»Beobachte ihr Gesicht, dann kannst du erkennen, wenn eine Wehe kommt, auch wenn sie nicht aufwacht. Zu Beginn einer Wehe wird ihr Bauch für ein paar Minuten ganz hart und entspannt sich dann wieder eine Zeit lang. Anfangs wird zwischen den einzelnen Wehen viel Zeit vergehen, aber die Abstände werden immer kürzer. Hast du das verstanden?«

Ich nickte wieder.

»Gut, wenn die Wehen im Abstand von etwa fünf Minuten kommen, soll Tommy mich holen.«

Wieder nickte ich nur, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte. Der Doktor blieb noch einen Moment stehen, dann verließ er das Zimmer. Ich konnte ihn mit Tommy in der Küche sprechen hören, dann sagte mir das Zufallen der Fliegentür, dass er gegangen war.

Den ganzen Nachmittag und bis in den Abend hinein saß ich da und starrte in Helens Gesicht, um zu beobachten, ob sich der Ausdruck veränderte. Eine Hand hielt ich immer an die Seite meiner Schwester gedrückt, wurde die Hand müde, nahm ich die andere, aber ihr Bauch veränderte sich nie. Tommy kam jede halbe Stunde mit besorgtem Gesicht herein. Er schaute mich an und fragte, ob sich irgendetwas tat, und ich schüttelte schweigend den Kopf. Schließlich hob er die Hände. »Ich muss noch eine andere Frau zu Hilfe holen. Es ist nicht richtig, dass nur ein kleines Mädchen und ein Mann hier sind. Ich hole meine Tante Deborah.«

Tommys Mutter war im Vorjahr gestorben, und Deborah war die einzige weibliche Verwandte, die er noch hatte. Sie wohnte am anderen Ende der Stadt.

Mir war klar, dass er länger als ein paar Minuten brauchen würde, bis er zurück war, und ich hatte Angst, mit einer so großen Verantwortung alleine gelassen zu werden, aber der Gedanke, noch jemanden hier zu haben, der diese Aufgabe übernahm, beruhigte mich. Ich schaute Tommy mit großen Augen an. Er schien um meine Erlaubnis zu bitten. Ich vergaß, dass ich erst kaum acht Jahre alt war.

»Das wird gut sein«, sagte ich. »Beeil dich.«

Er stürzte aus dem Haus. Er war noch keine zwei Minuten fort, als Helen laut stöhnte und ihr Körper sich verkrampfte. Unter meiner Handfläche konnte ich fühlen, dass ihr Bauch steinhart wurde. Ich schaute auf die Uhr auf dem Tisch. Es war neunzehn Uhr fünfunddreißig.

»Neunzehn Uhr fünfunddreißig.« Ich sagte es laut, um mir die Zeit zu merken. Nach ein paar Minuten entspannte sich Helen, und ihr Bauch wurde wieder weich. Es war genau so, wie der Doktor es beschrieben hatte, daher war mir nun wieder wohler. Alles würde gut werden. Tommy würde Tante Deborah mitbringen, und wenn die Abstände zwischen den Wehen kurz genug waren, würden sie den Doktor holen.

Nur dauerte es keine halbe Stunde bis zur nächsten Wehe. Ich starrte auf die Uhr, als Helens Bauch unter meiner Hand wieder hart wurde. Es waren gerade mal fünf Minuten vergangen. Ich wollte um Hilfe rufen, aber da war niemand, der mich hätte hören können. Ich hatte Angst, Helen alleine zu lassen, um den Doktor zu holen, und Angst, den Doktor nicht zu holen.

Nach wenigen Minuten war die Wehe vorüber. Ich sprang vom Stuhl auf und rannte auf die vordere Veranda, die Stufen hinunter und hinüber zum Haus der Thompsons nebenan. So fest ich konnte, hämmerte ich mit der Faust an die Tür. Einer der älteren Jungen öffnete und schaute mich überrascht an.

Ich rief: »Das Baby kommt! Doktor Wilson muss sofort zu Tommys Haus kommen, bitte hole ihn.« Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte zurück an Helens Bett. Helen hatte sich wieder entspannt und sah aus, als ob sie schliefe. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl und drückte meine Hand gegen Helens mir inzwischen vertrauten Bauch. Nach wenigen Minuten folgte die nächste Wehe, nur riss Helen jetzt die Augen auf und schrie laut. Sie drehte den Kopf und sah mich. Sie warf mir einen anklagenden Blick zu, als tue ich ihr weh. Ich nahm Helens Hand in meine beiden Hände und drückte sie leicht. »Es wird alles gut, das Baby kommt. Tommy holt Tante Deborah, und der Doktor ist auch unterwegs.«

Helen kniff die Augen zusammen, warf den Kopf zurück und schrie erneut. Mir graute. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Helen zog ihre Knie an, presste ihr Kinn nach unten und schnappte nach Luft.

»Oh nein, oh nein, es kommt«, stieß Helen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ich zog die Decke zurück. Der Kopf des Babys schaute aus ihr heraus. Er war mit Blut und Schleim bedeckt. Mir drehte sich der Magen um, doch ich hielt weiter Helens Hand. Es war das Einzige, was mir einfiel, ich hatte nicht die geringste Idee, was ich machen sollte. Dann hörte ich die Fliegengittertür zufallen, und der Doktor kam mit seiner Tasche herein.

Ich schaute zu ihm auf, und er muss mir mein Entsetzen angesehen haben. »Es kommt schon«, sagte ich.

Doktor Wilson schob mich beiseite. Er legte seine Tasche neben Helen aufs Bett und ließ den Deckel aufschnappen. Er breitete eines der Handtücher, die ich zuvor gebracht hatte, auf dem Tisch neben dem Bett aus und begann, seltsam aussehende Instrumente aus der Tasche zu nehmen und auf dem Handtuch aufzureihen.

»Nimm ein Handtuch und halte es aufgefaltet«, sagte der Doktor zu mir. Ich schüttelte ein Handtuch auf und hielt es dem Doktor mit einer Hand hin.

»Nein, ich werde das Baby in das Handtuch legen. Breite es auf deinen Armen aus, damit du das Baby nehmen und darin einwickeln kannst.«

Ich folgte seiner Anweisung und stand mit ausgestreckten Armen da. Völlig verstört beobachtete ich, wie Schultern und Arme des Babys herauskamen. Es war entsetzlich und erschreckend, als stände ich unter einem Zauberbann. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Der Doktor fasste das Baby seitlich und zog vorsichtig, bis der restliche Körper herausglitt. Es hatte ein langes, strickartiges Ding am Bauch hängen, dessen anderes Ende noch in Helen festhing. Das Baby wirkte sehr klein, aber ich hatte keine Ahnung, wie es hätte aussehen müssen. Ich sah die Geschlechtsteile und stellte fest, dass es ein Junge war. Noch nie zuvor hatte ich die Geschlechtsteile eines Jungen gesehen. Die Babys, die ich bisher gesehen hatte, waren bekleidet und viel größer gewesen, aber sie waren auch einige Wochen alt und nach neun Monaten geboren worden, nicht nach gerade einmal sieben.

Ich wartete auf einen Schrei, aber es kam keiner. Der Doktor hielt das Baby kopfüber und schüttelte es leicht. Noch immer kein Schrei. Er gab ihm ein paar leichte Klappse auf den Po, anschließend klopfte er ihm fest auf den Rücken. Nichts. Er legte es in das Handtuch, das ich hielt, wickelte es ein und nahm es mir ab. Während er es auf seinen Armen wiegte, blies er ihm mehrere Male in den Mund. Er hielt es hoch und drückte sein Ohr an seine Brust.

Dann seufzte er und legte es aufs Bett. Er wickelte einen Faden um die Nabelschnur und schnitt das Baby von Helen ab. Er faltete das Handtuch über seinem Körper zusammen und gab es mir wieder. Ich nahm es in die Arme und wiegte es, wie ich wenige Tage zuvor noch meine Puppen gewiegt hatte. Der Doktor hatte seine Aufmerksamkeit gerade wieder Helen zugewandt, als Tommy und Tante Deborah ins Zimmer kamen. Sie sah das eingewickelte Bündel in meinen Armen und muss sofort verstanden haben, was geschehen war.

Tante Deborah schob mich am Arm Richtung Tür. Sie sagte: »Tommy, bring dieses Mädchen hier raus. Der Doktor und ich werden alles zu Ende bringen.«

Tommy legte gehorsam seine Hand auf meine Schulter und dirigierte mich aus dem Zimmer. Wir gingen in die Küche. Dort stand ich mit dem winzigen Bündel im Arm.

Tommy schaute mich an. »Hat es viel geschrien?«

»Er hat überhaupt nicht geschrien«, antwortete ich.

Meine Worte trafen ihn hart. Er setzte sich auf einen Stuhl und streckte seine Arme aus. Ich übergab ihm das Baby, und er legte es auf den Tisch. Dann schlug er das Handtuch zurück und starrte es an.

Mit den Fingerspitzen berührte er das kleine Gesicht. Tränen rannen über Tommys Wangen. »Schau nur, Maude. Wir hatten einen kleinen Jungen. Helen sagte, wenn es ein Junge wäre, dürfte ich ihn Henry Mathias nennen, nach meinem Großvater.«

Dann stand er auf, gab mir das Baby wieder und ging zur Küchentür hinaus und hinter das Haus. Ich konnte ihn schrecklich schreien hören. Nach einem kurzen Moment wickelte ich das Baby wieder ein und hielt es an meine Brust. Ich setzte mich mit ihm in den Schaukelstuhl in der Küchenecke und schaukelte langsam. Ich schlug das Handtuch wieder zurück und schaute von Zeit zu Zeit in das perfekte kleine Gesicht in der Hoffnung, eine Bewegung zu entdecken und die mir bekannte Wahrheit Lügen zu strafen.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis der Doktor in die Küche kam.

»Wo ist Tommy?«, fragte er.

Ich schaukelte weiter und deutete mit dem Kopf zur Hintertür. Der Doktor verstand. Er ging hinaus in den Garten, und ich konnte durch die offene Tür hören, wie er mit Tommy sprach.

»Helen kommt wieder in Ordnung. Sie kann noch so viele Kinder bekommen, wie sie möchte, aber sie hat viel Blut verloren und muss sich lange ausruhen. Ich möchte, dass sie mindestens zwei Wochen Bettruhe hält, und auch danach wird sie eine Zeit lang noch schwach sein. Sie braucht jemanden, der bei ihr bleibt und sie versorgt, während du in der Arbeit bist.«

Tommys Stimme klang schrill und verstört, als er dem Doktor antwortete. »Meine Tante Deborah hat Kinder zu Hause. Sie kann nicht den ganzen Tag hierbleiben.«

Ruhig sagte der Doktor: »Maude kann das machen. Sie wird ohnehin hierbleiben, und sie ist für ihr Alter schon sehr erwachsen.«

»Maude? Hier?«

»Natürlich, Helens Familie ist das Einzige, was sie noch hat. Wo sollte sie sonst bleiben?«

»Ich weiß es nicht. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

»Ich weiß. Es war ein entsetzlicher Tag. Ich werde mit dem Leichenbestatter und dem Prediger über die Trauerfeier sprechen. Du versuchst jetzt, ein wenig Ruhe zu finden. Morgen sieht alles schon wieder anders aus.«

Ich stand aus dem Schaukelstuhl auf und brachte mein kleines Bündel in das Zimmer, das für das Baby vorbereitet worden war. Tommy hatte es in einem hellen Gelb gestrichen, das Gebälk war weiß, und es standen eine Kommode und eine Wiege darin. Ich legte das Baby in die Wiege und deckte es bis unter sein kleines Kinn zu. Ich streichelte sein Köpfchen, das noch immer mit der Käseschmiere von der Geburt überzogen war.

Mit einigen Decken aus der Kommode baute ich mir ein Lager auf dem Boden. Ich zog meine Schuhe und Strümpfe aus, legte mich hin, zog eine Decke über mich und weinte zum ersten Mal an diesem Tag, aber es war kein trauriges Weinen. Ich war so entsetzlich wütend, dass Gott dies hatte geschehen lassen, wütend bis ins Mark. Dieses Gefühl erschreckte mich noch mehr. Ich hatte gelernt, es sei eine Sünde, auf Gott wütend zu sein. Und nun fürchtete ich, Gott werde mich für diese Gefühle bestrafen. Das Baby, auf das Helen sich so gefreut hatte, war tot, meine Mutter war tot, und mein Vater war tot. Wie konnte Gott uns lieben, wenn er uns das antat?

Mehr als alles andere ängstigte mich, dass der Doktor die Wahrheit gesagt hatte. Es gab nun außer Helen niemanden mehr, der für mich sorgen würde, ich hatte keine andere Familie mehr. In meinem eigenen Interesse musste ich mich um sie kümmern. Ich musste darauf achten, dass ihr nichts Schlimmes zustieß.

Nach einer Weile war das Haus schließlich dunkel und still, und einige Zeit danach versiegten meine Tränen, und die Wut in mir wich. Ich stand auf und nahm das Baby aus der Wiege. Ich legte mich wieder auf mein Lager und hielt das Baby in meinen Armen. Ich schlief erst ein, als die Sonne das Zimmer zu erhellen begann und diese entsetzliche Nacht vorüber war.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen weckten mich Stimmen aus dem Nebenzimmer. Ich rührte mich nicht, sondern lauschte eine Weile und versuchte zu verstehen, was da gesprochen wurde. Die Tür zum Schlafzimmer ging auf, und Schwester Clark, die Frau des Predigers, kam mit einigen Kleidungsstücken über dem Arm herein. Sie und Bruder Clark dienten in der Heiligungskirche, die meine Familie besuchte. Sie war eine nette, meist glücklich aussehende junge Frau, kaum älter als Helen, mit hellbraunem Haar, grünen Augen und einer behutsamen Art. Sie legte die Kleidung über den Rand der Wiege, kniete sich neben mein Lager und nahm meine Hand. »Maude, du musst jetzt aufstehen. Wir müssen uns für die Beerdigung fertig machen.«

Ich rührte mich nicht, schaute nur zu ihr hinauf. Schwester Clark streckte die Arme aus und nahm mir das Baby aus dem Arm. »Ich muss ihn zum Leichenbestatter bringen, Maude. Er muss ihn vorbereiten. Und du wäscht dich jetzt. Ich habe hier einige Kleidungsstücke, die du anziehen kannst. Sie sind von deiner Freundin Susan. Sie wollte mit dir teilen, was sie hat. In eurem Haus ist alles verbrannt.«

Ich stand auf. »Alles?«

Schwester Clark nickte, ihr Gesicht war voller Mitgefühl. »Das Haus ist bis auf die Grundmauern abgebrannt.«

Ich dachte an das hübsche blaue Kleid, das Momma mir zum Geburtstag genäht hatte. Sie hatte auf den Saum und die Ärmelbündchen kleine Schmetterlinge gestickt. Ich hatte es nur ein einziges Mal getragen, und nun war es weg, genau wie meine Puppe mit dem Porzellankopf. Ich spielte nicht mehr mit ihr, aber trotzdem tat es weh zu wissen, dass ich sie nie mehr sehen würde.

Schwester Clark hielt das Baby, als sei es noch am Leben, und dafür mochte ich sie. Sie seufzte. »Unter den gegebenen Umständen wird es keine Totenwache geben. Um zehn Uhr wird in der Kirche ein Gottesdienst abgehalten.«

Ich griff nach dem Kleid, das sie mitgebracht hatte, und hielt es mir vor den Körper. Es sah etwas groß aus, aber ich beklagte mich nicht. Sie tätschelte mir den Kopf. »Du bist ein braves Mädchen. Ich bleibe hier bei Helen, bis die Beerdigung vorüber ist. Sie ist nicht in der Lage, daran teilzunehmen. Sie braucht dich, damit du sie eine Zeit lang versorgst. Wenn du angezogen bist, zeige ich dir, was du für sie tun kannst.«

Ich ließ den Kopf hängen und nickte. Ich gelobte mir, alles zu tun, was in meiner Macht stand, um für meine Schwester zu sorgen, teils, weil ich sie sehr lieb hatte, und teils, weil ich wusste, dass sich niemand mehr um mich kümmern würde, wenn ich Helen verlor, absolut niemand.

Schwester Clark verließ mit dem Baby das Zimmer. Ich ging in die Küche, pumpte eine Schüssel mit Wasser voll und trug sie ins Bad. Ich zog meine Kleidung vom Vortag aus, wusch mich und zog Susans Kleider an. Als ich fertig angezogen war, ging ich hinaus und setzte mich still ins Wohnzimmer. Ich sah Tommy und Schwester Clark in und aus Helens Schlafzimmer gehen. Ich stand nur einmal auf. Das war, als Tommy die Schlafzimmertür offen ließ. Ich ging so leise wie möglich an die Schlafzimmertür und spähte hinein. Schwester Clark saß am Bett und las laut aus der Bibel vor. Helen lag mit geschlossenen Augen, als schlafe sie. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig, und ihre Wangen zeigten etwas Farbe. Da fühlte ich mich besser, ging zurück zu meinem Stuhl und blieb dort sitzen, bis Tommy hereinkam und sagte, es sei nun Zeit, dass wir gehen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und einen gequälten Gesichtsausdruck.

Als wir zur Tür hinausgingen, nahm ich seine Hand. »Sie wird wieder gesund, Tommy.«

Er blickte mit einem schwachen Lächeln zu mir hinunter. »Wenn du das sagst«, meinte er.

An diesem Tag war die Heiligungskirche für mich anders als sonst. Zeitlebens hatte ich mich auf den Gottesdienst gefreut. Es wurden fröhliche und lebhafte Lieder gesungen, außer sonntags, wenn beim Abendmahlgottesdienst das Lied »Brecht das Brot des Lebens« erklang. Meist klatschten alle voller Freude in die Hände, sie standen auf und bezeugten, wie gut Gott zu ihnen war und wie Jesus sie gerettet und ihr Leben verändert hatte.

Manchmal ging jemand nach der Predigt nach vorne und tat Buße für eine Sünde. Ich überlegte immer, was sie wohl Schlimmes getan haben mochten, aber als ich Mom einmal danach fragte, sagte sie, das gehe nur den Sünder und Gott etwas an. Das erschien mir einleuchtend.

An diesem Tag war niemand glücklich, niemand sang fröhlich, und niemand klatschte in die Hände. Das leise Geräusch weinender Frauen hielt den gesamten Gottesdienst über an. Bruder Clark gab sein Bestes, um uns zu trösten. Er war ein Mann, der es verstand, Vertrauen zu gewinnen. Er hatte blondes Haar, blaue Augen, ein hübsches Gesicht und war etwa dreißig. Seine kräftige Figur kam nicht daher, dass er, wie ich wusste, täglich die Bibel las, sondern von der Arbeit auf dem Bauernhof seiner Eltern, um die er sich noch immer kümmerte.

An diesem Tag ging er auf seiner Kanzel nicht hin und her und schwang die Arme, wie er es sonst tat, sondern stand auf einem Fleck und sprach darüber, dass Bruder und Schwester Clayborn vor Jahren Jesus als ihren persönlichen Erretter angenommen und ein Leben geführt hatten, das davon Zeugnis ablegte. Er sagte, er sei sicher, sie hätten den Zustand der Gnade erreicht, auf den jedes Mitglied der Kirche hinarbeiten sollte, um in Reinheit zu leben und nicht mehr zu sündigen. Er sagte, nun säßen sie zur rechten Hand Gottes. Er erzählte uns, auch das Baby sei dort, denn es sei gestorben, bevor es habe sündigen können.

Ich hatte in der Nach zuvor so viel geweint, dass ich nun in der Kirche nicht weinen musste. Den Trost, den ich brauchte, fand ich in den Worten des Predigers, weil ich daran glaubte, dass sie der Wahrheit entsprachen.

Nachdem Bruder Clark geendet hatte, sangen wir noch ein Lied, und einige Männer aus der Kirche nahmen die drei Kiefernsärge auf ihre Schultern. Sechs Männer mussten den größten Sarg tragen, in dem mein Daddy lag. Vier Männer trugen Mom, und ein einziger Mann trug den kleinen Sarg mit dem Baby vor sich. Draußen wartete ein Fuhrwerk. Wir gingen alle hinter ihm zu dem kleinen Friedhof am Stadtrand, dabei sangen wir die ganze Zeit über Kirchenlieder.

Die Särge wurden in die bereits ausgehobenen drei Gruben hinabgelassen. Bruder Clark sprach noch kurz über die Worte »Erde zu Erde, Staub zu Staub« und betete zum Trost von uns Hinterbliebenen. Einer nach dem anderen aus der Gemeinde ging an den Gruben vorüber, nahm eine Handvoll Erde und warf sie auf die Särge. Tommy und ich gingen als Letzte, aber ich nahm keine Erde, um sie hinunterzuwerfen. Ich konnte es einfach nicht. Ich wusste doch, dass meine Mutter Dreck hasste. Ich ließ den Kopf hängen, heftete meine Augen auf Tommys Füße und ging an den Gruben vorbei, ohne hinunterzublicken.

Als Tommy und ich nach Hause zurückkamen, holte Schwester Clark mich in Helens Schlafzimmer und zeigte mir alles, was ich tun sollte, um Helen zu versorgen. Diese war endlich wach und sagte, sie könne sich selber versorgen, aber Schwester Clark fuhr ihr über den Mund und sagte, sie müsse den Anweisungen des Doktors folgen, wenn sie wollte, dass es ihr wieder gut ginge.

Sie zeigte mir, wie ich Helens Intimbereich sauber halten und eine Schüssel als Toilette verwenden sollte. Sie erklärte mir, wie ich saubere Laken aufziehen konnte, während Helen im Bett lag. Ich hörte genau zu, um später auch alles richtig zu machen.

Als sie geendet hatte, umarmte Schwester Clark mich kurz. »Wenn du Hilfe brauchst, lass es mich wissen. Es wird nicht für lange sein. In ein paar Wochen ist sie wieder die Alte, und du kannst wieder ein kleines Mädchen werden. Momentan bist du die Frau im Haus.«

Es kam mir vor, als habe mich Mom im letzten Jahr, seit Helen verheiratet war, auf die Aufgabe vorbereitet, die nun vor mir lag. Ich übernahm die Funktion als Frau des Hauses noch am selben Tag. Ich sammelte das verschmutzte Bettzeug zusammen und trug es hinaus auf die hintere Veranda, auf der zwei Waschzuber standen, einer zum Waschen und einer zum Spülen. Ich pumpte Wasser, erhitzte es und trug es zu den Zubern. Mit dem Schälmesser schnitt ich die Seife ins heiße Wasser, wie ich es meine Mutter so oft hatte machen sehen. Als das Bettzeug gewaschen war und auf der Leine hing, wechselte ich das Wasser und wusch die restliche Wäsche.

Danach bereitete ich ein einfaches Mittagessen für uns drei zu, für mich, Tommy und Helen. Freunde hatten eine Fülle an Lebensmitteln gebracht. Jemand war so klug gewesen, einen Eisblock mitzubringen, damit die Lebensmittel länger frisch blieben. Ich schnitt etwas Schinken auf, kochte ein paar Kartoffeln und wärmte eine Portion Grünkohl auf. Dann machte ich ein Tablett zurecht und trug es zu Helen. Tommy nahm seinen Teller ins Schlafzimmer mit, um mit ihr zu essen, und ich setzte mich an den Küchentisch.

Nachdem ich ein Dankgebet für unsere Freunde und das Essen gesprochen hatte, aß ich alleine und spülte anschließend das Geschirr.

Tommy saß den ganzen Tag im Schlafzimmer und hielt Helens Hand, während sie schlief. Später am Abend kamen Bruder und Schwester Clark mit einem richtigen Bett für mich vorbei, sodass ich nicht mehr auf dem Boden schlafen musste. Sie brachten mir auch einen Stapel Kleidungsstücke, die von Kirchenmitgliedern gespendet worden waren. Einiges davon war nagelneu. Es waren ein Mantel dabei, drei Kleider und genügend Unterwäsche, sodass ich sie erst nach einer Woche waschen musste. Tommy und der Prediger stellten das Bett in dem Zimmer auf, das für das Baby gedacht gewesen war. Tommy weinte, als er die Wiege in die Scheune trug, und Bruder Clark klopfte ihm auf den Rücken und versicherte ihm, er würde sie eines Tages wieder ins Haus zurücktragen.

Helens Schwäche hielt lange an, und ich tat alles, was ich konnte, um für das Haus und meine Schwester zu sorgen. Erst nach einigen Wochen kehrte Helens Kraft zurück, und sie war wieder auf den Beinen. Ich musste ihr nun nicht mehr so viel helfen, aber es dauerte noch lange, bis Helen die Hausarbeit wieder übernahm. Selbst dann überließ sie die schwereren Arbeiten, wie die Wäsche und das gründlichere Putzen, mir. Wie es schien, würde ich nie wieder das kleine Mädchen sein können, aber mein Leben normalisierte sich doch ein wenig. Ich ging wieder zur Schule und in meine Klasse in der Sonntagsschule. Ich sah dort meine Freundinnen, fragte sie jedoch nie, ob sie mich besuchen wollten. Es war nicht mein Haus, und außerdem hatte ich nicht die Zeit, auf der Veranda zu sitzen, so, wie Helen es vor ihrer Hochzeit gemacht hatte. Es waren zu viele Arbeiten im Haus zu erledigen.

Meine Tage bekam ich das erste Mal, als ich elf Jahre alt war. Ich hob gerade einen Korb mit Wäsche hoch, als ich etwas Warmes und Feuchtes meine Beine hinunterlaufen spürte. Ich setzte den Korb wieder ab, schaute auf meine Beine und sah die roten Streifen. Niemand hatte je mit mir darüber gesprochen, aber ich hatte keine Angst. Durch das Wäschewaschen wusste ich, dass Frauen einmal im Monat bluten.

Gleichwohl fühlte ich mich noch nicht alt genug, um eine Frau zu sein. Ich wusch das Blut ab, säuberte mich und stopfte einen Lappen in meinen Schlüpfer. Anschließend ging ich zu Helen und erzählte es ihr. Sie sagte, es sei etwas, was alle Frauen teilen. Sie setzte sich neben mich, legte mir den Arm um die Schultern und erzählte mir sachlich, was sie darüber wusste. »Als Eva gesündigt hatte, hat er ihr die monatliche Regel auferlegt, und nun leiden alle Frauen darunter. Du wirst es einmal im Monat bekommen. Es wird fünf oder sechs Tage dauern. In dieser Zeit darfst du kein Sitzbad nehmen und dir die Haare nicht waschen, sonst wirst du krank. Es tut mir leid, dass du es schon so früh bekommst. Bei einigen Mädchen fängt es erst mit fünfzehn an. Die haben es gut.«

Dann riss Helen einige dünne, ältere Handtücher in Streifen und gab sie mir mit Anweisungen, wie sie zu benützen wären und wie ich mich sauber halten sollte. Durch die Versorgung des Hauses hatte ich die Aufgaben einer Frau, und nun hatte ich auch den Körper einer Frau und war weder über das eine noch das andere glücklich, konnte jedoch beides nicht ändern.

Mit zwölf begann ich eine Beziehung mit James Connor. Ich hatte ihn schon immer gern gehabt und vermute, dass man es mir angemerkt hat, denn bereits als ich noch in den Kindergarten ging, hatte Daddy mich damit ge-neckt. Bisher hatte James mich weitgehend ignoriert.

Es gab in der Stadt nur eine Schule, daher sahen wir uns an jedem Werktag, und er besuchte mit seiner Familie dieselbe Heiligungskirche, in die ich mit meiner Familie ging. Er war ein paar Jahre älter als ich, und ich merkte sofort, dass er nun eine andere Art Freundschaft suchte. Ich war groß für mein Alter, so groß wie eine erwachsene Frau, und mein Körper war früh erblüht. Ich war nicht so schlank und klein wie Helen, sondern hatte wie mein Daddy einen kräftigen Körperbau.

James hatte hellblondes Haar und tiefblaue Augen, er war so groß, dass ich zu ihm aufschauen musste. Das gefiel mir. Dadurch fühlte ich mich nicht so groß. Er war so kräftig gebaut wie ich, sah aber gut aus und hatte ein warmherziges Lächeln und etwas Gewinnendes an sich. Bei ihm fühlte ich mich wie etwas Besonderes. Wenn ich später als er ins Klassenzimmer kam und er mich sah, erhellte sich sein Gesicht, als freue er sich über meine Anwesenheit. Ich sah nie, dass er einem anderen Mädchen Aufmerksamkeit schenkte. Er lächelte mich an und schien sich immer zu freuen, wenn wir uns begegneten. Einmal hielt er meine Hand, als er mich von der Schule nach Hause begleitete. Mir gefiel das, am nächsten Tag neckte uns jedoch jemand, und er ließ es künftig sein.

Nach Helens still geborenem Baby wurde sie mindestens einmal pro Jahr schwanger, erlitt jedoch stets im zweiten oder dritten Monat eine Fehlgeburt. Jedes Mal verkroch sie sich tagelang in ihrem Zimmer und weinte. Jedes Mal gab sie die Hoffnung auf, jemals ein Baby austragen zu können. Tommy hielt sie im Arm, tröstete sie und erinnerte sie an die Worte des Doktors, sie würden früher oder später ein gesundes Baby bekommen.

Als ich dreizehn war, blieb bei Helen erneut die Periode aus, und sie schaffte die ersten drei Monate ohne Probleme. Alle hielten den Atem an. Doktor Wilson sagte ihr, sie solle so viel wie möglich im Bett liegen, was sie auch befolgte. Zum zweiten Mal war ich die einzige arbeitende Frau im Haus. Ich stand besonders früh auf, schon beim ersten Hahnenschrei, bereitete für uns drei das Frühstück zu, für Tommy ein Mittagessen, das er in die Arbeit mitnehmen konnte, und für Helen ein Mittagessen, das ich in den Eisschrank stellte, damit es kühl blieb. Wenn ich aus der Schule kam, machte ich die Hausarbeit, putzte und bereitete das Abendessen zu. Samstags war die Wäsche an der Reihe, und ich kochte vor für eine kalte Abendmahlzeit am Sonntag, in der Regel gebratenes Hühnchen, Maisbrot und Kartoffelsalat. Abgesehen von den absolut notwendigen Dingen musste selbst ich am Sonntag nicht arbeiten.

Als der vierte Schwangerschaftsmonat ohne Probleme verstrichen war, wurde Helen fröhlicher. Nach dem fünften Monat wuchs ihr Bauch, und sogar Tommy wurde etwas entspannter. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, küsste er seine Frau, legte seine Hand auf ihren dicken Bauch und sprach mit dem Baby. Er war sicher, es wäre wieder ein kleiner Junge.

Tagsüber saß Helen im Bett, las oder bekam Besuch von ihren Freundinnen. Ich hätte mich gerne dazugesetzt, aber ich hatte mit dem Haushalt zu tun. Wenn ich einmal in Helens Zimmer ging, während sie Gesellschaft hatte, beschlich mich dasselbe Gefühl, ausgeschlossen zu werden, das ich bereits als kleines Mädchen kannte.

Hatte ich nach dem Abendessen das Geschirr gespült, saß ich manchmal mit James auf der vorderen Veranda. Er hatte ebenso viel zu tun wie ich. Er hatte seinen Schulabschluss gemacht und eine Stelle im Laden seines Vaters angetreten. Während ich samstags die Hausarbeit erledigte, spielte er Baseball. Samstags kam er abends zu Besuch, und wir mussten sorgfältig darauf achten, einen angemessenen Abstand zwischen uns zu wahren, sodass unsere Stühle sich nicht berührten. Wir wollten nicht, dass die Leute über uns redeten.

James konnte seine freudige Erregung nicht verbergen, wenn er über Baseball sprach. »Überall im Land werden Baseballplätze angelegt, Maude. Es gibt bei den Teams verschiedene Ligen. Die echten Profis spielen in der höchsten Liga und müssen für ihren Lebensunterhalt nichts weiter tun, als Baseball zu spielen. Stell dir das nur vor, fürs Spielen bezahlt zu werden! Dann gibt es die unteren Ligen, wo man noch mit echten Coaches trainiert und für die höheren Ligen vorbereitet wird. Die Art, die wir hier spielen, also eine Kleinstadt gegen eine andere, entspricht der untersten Liga.«

Er hatte mir das alles bereits erzählt, aber ich hörte trotzdem zu. Es gefiel mir zu sehen, wie sehr er das Spiel liebte. Er bekam einen ganz verträumten, entrückten Blick, wenn er sagte: »Gelegentlich schicken sie jemanden herum, der sich nach Spielern umsieht, die gut genug sind, um Profis werden zu können. Einer von denen war hier, Maude, in unserer Stadt. Er hat uns zugeschaut. Nach dem Spiel hat er mit dreien von uns geredet, mit Henry Gray, Phil Fuller und mir. Er hat uns viele Fragen gestellt und gesagt, er würde wiederkommen. Das wünsche ich mir, Maude, lieber als alles andere möchte ich Baseball spielen.«

James’ Vater betrieb das Geschäft für landwirtschaftlichen Bedarf, und daran musste ich denken. »Was ist mit dem Geschäft deines Vaters? Erwartet er nicht, dass du es eines Tages übernimmst? Meinst du, er würde dich gehen lassen, damit du Baseball spielst?«

»Mein Dad ist nicht so. Er würde mich nicht von etwas abhalten, was ich liebe. Außerdem würde ich ja eines Tages wieder heimkommen und das Geschäft übernehmen, aber erst, wenn ich als Profispieler zu alt bin.«

James hielt meine Hand, schaute mir in die Augen und fragte: »Was wünscht du dir denn, Maude? Welche Art Leben erträumst du dir?«

Diese Frage traf mich unvorbereitet. Ich konnte sie nicht einmal sofort beantworten. Nachdem ein Moment verstrichen war, fragte er: »Maude?«

Ich lachte etwas verlegen. »Noch nie zuvor hat mich jemand gefragt, was ich möchte, James, nicht ein einziges Mal. Ich habe mein Leben lang gemacht, was man mir aufgetragen hat. So, als befände ich mich mitten in einer Stromschnelle und es wäre besser, mich mitreißen zu lassen, als dagegen anzukämpfen.«

»Gut, dann frage ich dich jetzt. Was würde dich glücklich machen?«

Ich lächelte und blickte einigen Wolken am Himmel nach. Ich musste erst darüber nachdenken, bevor ich ihm antworten konnte. »Ich würde gerne meinen Schulabschluss machen und dann etwas von der Welt sehen. Ich habe von Großstädten gehört, in denen es Tage dauert, um von einer zur anderen Seite zu gehen. Ich habe über Meere gelesen, die so groß sind, dass die riesigsten und schnellsten Schiffe Wochen brauchen, um sie zu überqueren.«

Er war still, und nach ein paar Sekunden fiel mir noch etwas ein: »Nach einer gewissen Zeit würde ich gerne ein eigenes Zuhause haben, für das ich hübsche Fenstervorhänge nähen kann. Ich würde gerne einen guten Mann heiraten und Kinder großziehen und im Kreis meiner Familie alt werden.«

Anschließend saßen wir eine Zeit lang nebeneinander, ohne zu sprechen, beide in unsere Träume vertieft, bis Helen herauskam, um James zu erinnern, dass es bereits spät wurde und ich noch Hausarbeit zu erledigen hatte.

James’ Eltern waren wirklich nett zu mir. Sie ermunterten uns, gemeinsam Zeit zu verbringen, und sagten, sie wüssten es zu würdigen, wie ich mich um Helen und das Haus kümmere. Sie gaben mir das Gefühl, ihr Sohn habe ihrer Meinung nach eine gute Wahl getroffen, mir den Hof zu machen.

James und ich genossen die wenige Zeit sehr, die wir gemeinsam verbringen konnten. Wir fühlten uns wohl, wenn wir zusammen waren. Unsere Zukunft schien abgemacht zu sein. Wir sprachen nie direkt darüber, aber ich erwartete, dass James mir einen Heiratsantrag machen würde, sobald ich mit der Schule fertig war. Bis dahin waren es allerdings noch drei Jahre.

Helens sechster Monat verstrich ohne Probleme, dann der siebte und achte. Sie sagte, das Baby bewege sich die ganze Zeit. Manchmal nahm Helen meine Hand und drückte sie gegen ihren Bauch. Ich konnte fühlen, wie die kleinen Füße gegen meine Hand traten. Helen war sehr glücklich. »Henry Mathias war nie so lebhaft. Er hat sich kaum bewegt. Ich weiß, dass es dieses Baby schaffen wird.«

Dann lächelte ich und war mit ihr zusammen glücklich. Ich wünschte mir ebenso sehr wie Helen und Tommy, dass dieses Baby leben würde.

Als es bis zum voraussichtlichen Geburtstermin nur noch ein oder zwei Wochen waren, wurde Helen allmählich nervös und fragte den Doktor: »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist, Doktor Wilson? Woher wissen Sie das? Müsste es nicht schon so weit sein?«

Er lächelte sie an, als sei sie ein kleines Mädchen. »Du kennst doch den Ausspruch, Helen, ein Baby ist wie ein reifer Apfel. Wenn er so weit ist, fällt er herunter. Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich werde mich gut um dich kümmern. Das werden wir alle tun, ich und Tommy und Maude.«

Tommy brachte die Wiege aus der Scheune und säuberte und polierte sie. Ich stellte sie wieder an ihren ursprünglichen Platz in meinem Schlafzimmer. Mein Bett schob ich an die Wand, damit mehr Raum blieb. Ich nahm meine Sachen aus zwei der Kommodenschubladen und räumte stattdessen wieder die Babyausstattung ein. Ich hatte mit meiner Mutter das Nähen ausreichend geübt, um eine gute Näherin zu sein, und fertigte kleine Babybekleidung und Mützchen an. Sie waren nicht bestickt und nicht so raffiniert wie gekaufte, aber sie waren mit gleichmäßigen Stichen genäht, würden lange halten und waren mit Liebe gefertigt.

Eines Tages kam ich aus der Schule und fand Helen, die auf der Seite im Bett lag. Sie schwitzte und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. »Hol den Doktor«, sagte sie.

Ich lief aus dem Haus und rannte wie der Blitz die etwa vierhundert Meter zum Haus des Doktors. Er hatte seine Praxis in einem Anbau an der Seite seines Hauses, mit einem kleinen Wartezimmer und einem Untersuchungszimmer. Die Tür stand offen, aber er war nicht da. Ein paar Männer, die ich aus der Kirche kannte, warteten auf ihn. Einer von ihnen trug einen Verband um seine Hand, aus dem Blut tropfte.

»Wo ist er?«, rief ich. »Er muss kommen, Helen bekommt ihr Baby.«

Alle wussten, was beim ersten Mal passiert war. Ihre blutenden Finger konnten warten. Einer der Männer stand auf. »Er ist vor höchstens einer Minute nur schnell nach drüben ins Geschäft gegangen. Ich werde es ihm sagen.«

Ich rannte zur Tür hinaus und zurück nach Hause. Schwitzend und keuchend kam ich dort an. Auch Helen schwitzte und keuchte. »Doktor Wilson wird in ein paar Minuten da sein. Ist es schlimm?«, fragte ich.

Helen nickte, ihr Mund war vor Schmerz verzerrt.

Ich dachte an damals zurück. »Ich bereite schon alles vor.«

Ich lief in die Küche, pumpte einen Topf voll Wasser und stellte ihn auf den Herd. Die Glut hielten wir immer am Glimmen. Dann lief ich auf die Veranda und holte einige Holzscheite, öffnete die Ofentür und warf alle bis auf einen hinein. Mit dem letzten Scheit stocherte ich in der Glut, bis kleine Flammen herausschlugen. Nachdem ich mit dem brennenden Feuer zufrieden war, schlug ich die Ofentür zu und holte Handtücher. Ich blieb kurz stehen und schaute aus dem Fenster in Richtung Arztpraxis, um zu sehen, ob der Doktor unterwegs war, aber er war nirgends zu entdecken.

Helen rollte sich auf den Rücken, zog die Knie an und heftete ihren Blick auf meinen. »Es kommt, Maude. Wo ist der Doktor?«