Mauerpogo - Sonja M. Schultz - E-Book

Mauerpogo E-Book

Sonja M. Schultz

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Beschreibung

Punk als Prototyp jugendlicher Rebellion gegen biedere Verhältnisse.

Eisenwerda, 1982. Jo ist vierzehn, steht kurz vor der Jugendweihe, der fürchterlich biedere Rock liegt schon bereit. Da fällt ihr das Foto einer jungen Londonerin in die Hände, das sie elektrisiert: Lederjacke, zerrissene Strumpfhose, wirre Frisur. Für Jo macht plötzlich alles Sinn. Sie färbt sich die Haare knallgrün – von nun an ist sie Punk. Sie gründet eine Band, verliebt sich in Ratte, die rasend schnell Schlagzeug spielt, und verbringt die Nächte Pogo tanzend im Pressluftschuppen. Doch von dieser Freiheit fühlen sich die Autoritäten bedroht. Bald gerät Jo ins Visier der Stasi. Es folgen Schikanen, Verhaftungen, Gewalt ...

Mit rotzigem Sound und kraftvollen Bildern erzählt »Mauerpogo« von Freundschaft, Wut und Rebellion. Eine Geschichte mit der Wucht eines Punkakkords. Ein Roman, der beim Lesen in den Händen vibriert.

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Punk als Prototyp jugendlicher Rebellion gegen biedere Verhältnisse.

Ein Roman, der beim Lesen in den Händen vibriert.

Eisenwerda, 1982. Jo ist vierzehn, steht kurz vor der Jugendweihe, der fürchterlich biedere Rock liegt schon bereit. Da fällt ihr das Foto einer jungen Londonerin in die Hände, das sie elektrisiert: Lederjacke, zerrissene Strumpfhose, wirre Frisur. Für Jo macht plötzlich alles Sinn. Sie färbt sich die Haare knallgrün – von nun an ist sie Punk. Sie gründet eine Band, verliebt sich in Ratte, die rasend schnell Schlagzeug spielt, und verbringt die Nächte Pogo tanzend im Pressluftschuppen. Doch von dieser Freiheit fühlen sich die Autoritäten bedroht. Bald gerät Jo ins Visier der Stasi. Es folgen Schikanen, Verhaftungen, Gewalt ... Mit rotzigem Sound und kraftvollen Bildern erzählt »Mauerpogo« von Freundschaft, Wut und Rebellion. Eine Geschichte mit der Wucht eines Punkakkords.

Über Sonja M. Schultz

Sonja M. Schultz, geboren 1975, wuchs in Schleswig-Holstein auf, studierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin, arbeit nebenbei immer wieder an Dokumentar- und Kurzfilmprojekten, als (Film-)Journalistin, in Politischer Bildung und tritt mit Spoken Word und Songs auf. 2019 erschien ihr Debütroman »Hundesohn«im Kampa Verlag. »Mauerpogo« ist ihr zweiter Roman undwurde mit dem Literaturstipendium des Berliner Senats gefördert.

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Sonja M. Schultz

Mauerpogo

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

1982

1 000 Volt

Datschendienst

Das große Geweihe

La Boom

Peace

Doremifasola

VoraN, voran

Neptun

MarscH, marsch

Straßenkönigin

Gummibaum

Okay, reicht!

Pressluftschuppen

Breschnew

Pioniere

1983

100 Jahre tote Hose

Nicht auf die Rillen

KARNICKELHELD

Ratte

Einschusslöcher

Symphonie aus Staub

Musik, Musik, Musik

Schmetterlinge

Punk’s not dead

Verstärker

Hört die Signale

Scheißfuckingfreiheit

Nicht aufhören

Abrasiert

Mach die Augen zu

Crash

Brausepulver

Strümpfe

Wir sind Diamanten

Echsen

Meer

Glasbausteine

Zu Haus

Frankie

Einfach so

Der Fluss ist schwarz

Kein Zurück

Danksagung

Songs und Texte

Impressum

Stimmt. So ist es nicht gewesen.

1982

1 000 Volt

Ein Ruck, und der Knoten sitzt fest am Hals.

In Zweierreihen strömen wir aus den Klassenzimmern auf den Hof. Wer sein Tuch vergessen hat, muss nach hinten zu den Christen. Die Lehrerinnen sind heute extra scharf, weil der Antifaschist aus dem Lager zum Appell gekommen ist. Immer, wenn meine Hände zum Knoten wandern, treffen mich ihre Blicke. Untermalt vom strengen Knirschen des Schulhofschotters sortieren wir uns ins halbe Quadrat, jeder auf seinen Platz.

»Augen geradeaus!«

Das Fahnenkommando kommt anmarschiert. Beim Grüßen bewege ich heimlich das Kinn, aber nichts lockert sich, das Schaben von Stoff viel zu nah auf der Haut macht es nur schlimmer, wie Rollkragenpulli, wie Wollstrumpfhose, Mein Stolz ist mein Halstuch, jede Zelle schüttelt sich. Ich schiele zu Frankie, wie immer perfekt, kerzengerade neben mir, wieso macht ihn das nicht wahnsinnig?

Vorn öffnet der Direktor den Mund, die gesamte Schule schaltet auf Durchzug. Antiimperialistischer Kampf, ich kann schon jetzt nicht mehr stehen. Die Fahne klackert gegen den Mast, dabei geht kaum ein Wind, klackert die Minuten herunter. Ich schlucke gegen die Enge an. Der Schulhof bleibt stillgestanden. Die Stimme des Direktors weht über unsere Köpfe.

Nach einer Unendlichkeit tritt der Antifaschist ans Mikrofon. »Ich bin heute hier und bei euch für lediglich einige wenige Worte – «, das sagt er jedes Mal.

Eine Taube wackelt über das platte Schuldach, Hunderte Augen verfolgen sie. Am Himmel bildet sich eine einzelne Wolke, löst sich wieder auf. Mein Mund trocknet aus, der Druck auf meiner Kehle wird stärker.

»Wir werden den Kampf nicht aufgeben«, leiert der Antifaschist. Ich kralle die Finger in die Hosennaht, um mir nicht das Tuch abzureißen.

»… Aufbau einer neuen Welt …«, sagt der Antifaschist – na klar – »… Frieden und Freiheit«, das Schlusssignal. Er tritt einen Schritt zurück.

Jetzt die Ehrungen, bald geschafft. Irgendwer hat vorzeigemäßig Subbotnik gemacht, verdient, verdient!, dann Polit, vorgetreten!, Händeschütteln, vorbildliche Agitation gegen den Klassenfeind!, dann die Bestnoten, Carola strafft sich, wächst einen halben Meter, schon bevor ihr Name fällt, Meisterschüler in irgendwas, ganz hervorragend!, ausgezeichnet!

»Josefine Färber und Frank Schellenberger.«

Kurz ist nur der Fahnenmast zu hören.

Sind ja wir, ich stoße Frankie an, wir schottern nach vorn. Der Direktor schüttelt mir trocken die Hand, »besonderer Einsatz für die Freundschaft der Völker«, ach so, unsere Wandzeitung für die Kinder aus Nicaragua, mit Frankies Bildern und meinem Gedicht:

Bruderland, dein Kampf ist schwer,

mit Schulbuch, Spaten und Gewehr,

siehst du auch keine Hoffnung heute,

wir stehen fest an deiner Seite.

Neben mir der Antifaschist, noch nie hab ich ihn von so nah gesehen. Der zu kurze Anzug. Die Nummer am Arm.

Vor uns das Heer aus Knotenhälsen, in Reih und Glied, schweigend und schotterfarben, die Fahne hängt gelähmt am Mast. Der Direktor knarzt: »Für Frieden und Sozialismus!«

Wir heben die Daumen zum Scheitel. Die hohen Stimmen der Pioniere, die tieferen der FDJ.

»Jetzt lasst uns zum Abschluss gemeinsam singen.«

Der Antifaschist steht ausdruckslos, als ob er schläft. Wenn der Appell vorbei ist, bekommt er seinen Korn im Lehrerzimmer, an jeder Schule, jedes Mal.

Wir recken geschlossen das Kinn. »Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor, wir sind die Moorsoldaten …«

Der Unterricht schleicht an mir vorbei, gleich fall ich mit der Taube tot vom Dach. Am absoluten Nullpunkt läutet die Glocke. Ich raffe mich auf, packe in Zeitlupe meine Sachen, im Ranzen unten liegt das Halstuch im Schimmel vergessener Pausenstullen.

»Ihh!«

Von draußen ein Schrei.

Im Hof schwirren alle um Carola, die auf dem Betonpapierkorb sitzt.

»Wie hässlich!«

Wie sie das ruft, klingt es klasse. Ich greife nach dem Ranzen, stürze ins Freie.

»Das tut doch weh!« – verzückter Grusel aus der Menge, die sich immer dichter drängt.

»Was denn?«, – aber keiner macht Platz, ich kämpfe mich zwischen den Schultern durch, bis ich einen halben Blick auf Carolas Schoß ergattern kann, darauf eine Zeitschrift, weit aufgeschlagen, ein Foto in hartem Schwarzweiß.

»Das ist England.« Ihre Stimme vibriert, als wüsste sie mehr als wir alle zusammen.

Ich verrenke mir den Hals, die Grimassen der anderen wecken ein seltsames Kribbeln, »jetzt zeig doch mal!«

»Genug geglotzt«, sagt Carola.

Jemand dreht sich, mit einem Mal sehe ich das Gesicht auf dem Bild, mein Herz schlägt schneller, ich muss sie unbedingt haben, sofort –

»Finger weg!«

–, aber im Rennen bin ich richtig gut, im vollen Lauf die Seite raus, sie flattert in meiner Hand, ich fange den Blick: Gewitteraugen, verschmierter Mund, aufgerissen, als ob er schreit – ich verstehe nicht, was, doch das Echo hallt durch meinen Kopf, mein fliegender Atem und dieser Schrei.

Erst bei der Friedhofsbrache höre ich auf zu rennen. Stecke sie vorsichtig in mein Geobuch. Bestimmt hat Carola schon gepetzt. Kann sie machen. Die weiße Bluse ist bis auf die Knochen durchgeschwitzt, fühlt sich endlich richtig an. Hinter den Brennnesseln schlüpfe ich durch das Loch in der Mauer, nur noch die Böschung runterklettern –, niemand weit und breit.

Heute ist der Fluss grün, das ist die beste Farbe. Phosphorgrün, Pfefferminzgrün, es leuchtet stärker als das Gras am Ufer, stärker als die Frühjahrsweiden, die ihre Finger ins Wasser tunken, es schäumt und schillert an mir vorbei. Schuhe aus und rein, das wär’s, bis meine Füße grün leuchten, sogar im Dunkeln, ich bin die Außerirdische mit strahlender Haut. Aber vergiss es, die Turnschuhe bleiben an, vom Fluss kriegt man eh nur Ausschlag. Egal, ob sie im Kombinat auf dem Hügel gerade gelbe Stoffe machen, rote oder blaue – juckt alles gleich. Bei Grün wird’s nicht anders sein.

Ich klettere auf meinen Ast, schmiege mich an die kratzige Borke. Umarme den Ranzen wie einen Schatz. Darunter klopft mein Herz.

Ich öffne das Geobuch.

Da ist sie, zwischen Alaska und Sibirien. Sitzt auf der Straße, trägt Risse und Löcher, Ketten um die Stiefel gewickelt, geheime Abzeichen. Ihr steckt eine Sicherheitsnadel in der Wange, am Mundwinkel durchgezogen. Neben ihr ein Typ mit Stacheln auf dem Kopf. King’s Road steht unter dem Bild, London. Ihr Blick bohrt sich in meinen, ihr Haar steht in alle Richtungen.

Straßenkönigin.

Ich beuge mich vor, spucke von oben in den Fluss. Der weiße Schaum fliegt auf dem Grün davon. Waldmeistergrün. Meine Lieblingssorte, nur gibt’s die nie. Und falls doch, ruft immer jemand in der Eiswagenschlange: »krebserregend!«

Ich berühre vorsichtig die Sicherheitsnadel. Sie hat bestimmt nicht mit der Wimper gezuckt. Sie hat es einfach getan.

Zu Hause blockiert Hanne das Sofa, hat den Fernseher laufen, das Wohnzimmer hängt voll mit seiner Laune. Ich setze mich mittenrein auf den Boden.

»Du bist im Bild!«

»Bin ich nicht.«

»Mach die Flocke!«

»Mach selbst.«

Er pfeffert mir das Kissen von Oma an den Kopf, das schicke, das früher mit Perlen bestickt war, manchmal taucht noch eine unter dem Teppich oder in einer verborgenen Ritze auf. Hanne muss im Herbst zur Fahne, für unendlich lang, selbst schuld, hat er so gewollt. Als er sich verpflichtet hat, hatte er noch die schlimmsten Pickel im Gesicht. Die immer roter geworden sind, als er beim Abendbrot zwischen Zwiebelschmalz und Tomaten nach seiner entschlossensten Stimme gesucht hat. »Soldaten gehen für uns durchs Feuer.«

Zwetschge hat feuchte Augen gekriegt, obwohl sie gar nicht schnallt, worum es geht. »Im Feuer verbrennst du nur«, hat Papa gesagt. Ein Seufzen von Mutsch. Hanne hat ernst geguckt und gleichzeitig gelächelt, das hat seinen Mund schief gemacht. Er ist immer noch schief.

Ich setze mich auf das Perlenkissen. Wenn er sich bei den Offizieren ranschmeißt, bekomme ich sein Zimmer, höchste Zeit. Mit Zwetschge in einem Raum ist es nicht auszuhalten. Ständig Alarm, nachts auf Murmeln treten, tut bis über beide Ohren weh, im Dunkeln erst recht. Und teil mal den Kassettenspieler mit einer Achtjährigen, die nur auf Schnulzen steht. Über sieben Brücken musst du gehen, zwanzig Mal am Tag.

Beim letzten Streit hab ich ihr ins Halstuch geschneuzt, und anstatt zu heulen, ist sie das erste Mal richtig wütend geworden, das fand ich dann wieder anständig. Das blaue Tuch ist Zwetschge mordsheilig.

»Chaotische Jugendproteste«, sagt der Sprecher im Fernseher, »die asoziale Punkerbewegung greift um sich.«

Sofort reiße ich die Augen auf. Da sind Stachelköpfe in Lederjacken, genau wie auf meinem Bild, das gibt’s doch nicht. »Mach lauter!«

»Den Scheiß?«

Hanne versteht wie immer null. Ich muss näher zum Fernseher, näher an die roten und schwarzen Haare heran, ich rutsche zu den zerfetzten Hosen, bis ich an der Scheibe klebe, bis es auf der Haut britzelt, ich die Stachelhalsbänder anfassen kann, glänzende Silbernieten, da hängen Nadeln am Ohr, die Klamotten sind explodiert, sie ist aus meinem Geobuch ausgebrochen und läuft frei rum, läuft durch unser Wohnzimmer. Die Straßenkönigin.

»Total krank«, sagt Hanne irgendwo hinter mir.

Mein Gesicht wird warm, ich nehme es in die Hände.

Der Sprecher redet von Arbeitslosigkeit, Drogen im Westen, Untergang, dann flackert der Bildschirm. Nicht, dass wieder jemand an der Antenne dreht. »Ey!«

Da kommt das Bild zurück, donnert der Ton extralaut, einer schreit ins Mikrofon, beißt rein, schärft sich die Zähne. Körper springen wie in die Steckdose gefasst, prallen aufeinander.

»Abartig«, sagt Hanne. »Haben die Anfälle?«

Ich muss was vom Gesang verstehen, etwas, das sich reimt, ein Erkennungswort.

»Klingt wie Schweine schlachten.« Er schaltet aus.

Ich will aufspringen, ihn schütteln, aber etwas hält mich in Bann, auf der grauen Fläche flimmern die Bilder nach, dehnen sich aus. Tänzer, die in der Luft zusammenknallen, wie eine Umarmung, die in Stücke fliegt. Etwas ist im Raum, mir unter die Haut gekrochen. Unser Wohnzimmer spiegelt sich in der Mattscheibe, nur in klein: das Sofa mit der knorrigen Stehlampe, mein Bruder, der Couchtisch, der staubige Gummibaum, den nie einer gießt. Das Perlenkissen. Wo ich eben noch gesessen habe und jetzt nicht mehr. Ich kann meinen rasenden Atem hören. 1 000 Volt auf der Zunge.

Datschendienst

Ich muss Frankie das Foto aus London zeigen, sofort, aber heute schleppt seine Mutter ihn Anzug kaufen. Das große Geweihe ist nächste Woche, macht alle krabbelig, der Schwur vor den ganzen Leuten. Ich wette, Frankie kriegt einen Schlips verordnet, er kommt aus einer Schlipsfamilie hoch drei, dazu glänzende Lederschuhe und Mittelscheitel. Dabei sieht Frankie gescheitelt wie frisch vom Knabenchor aus.

Für mich hat Mutsch Gardine besorgt und daraus einen Rock genäht. »Stell dich nicht so an, du weißt doch, wie’s ist. Mädchen müssen mit Rock.«

Seitdem hängt der spuckhässlich am Schrank und wartet auf seinen Auftritt, einmal und nie wieder. Dafür gibt’s am Ende Geschenke. Ich hab mir einen Zuschuss zum Stern-Rekorder gewünscht, R 4100 – diesmal klappt es. Dann kann Zwetschge das abgenudelte alte Ding allein für sich, ihre Märchen und die Schnulzenkassette behalten.

Ich hole die Milch aus dem Kühlschrank, trinke aus dem Beutel. Das sollen wir nicht, Benehmen und so und weil’s immer tropft, aber wenn es keiner mitkriegt, ist es nicht passiert. Auf der Tafel an der Wand ist mein Name dreifach eingekreist, gestern ist es noch zweifach gewesen. Datschendienst.

Da bin ich seit Wochen nicht hingefahren, seh’s nicht ein.

Hanne hat die Tafel aufgehängt, weil er auf Bienchen, Lob und Lorbeern steht, seine eigenen Dienste erledigt er immer wie Hand-auf-heißer-Herdplatte und malt einen derartigen Haken dran, dass die Kreide bröckelt. Müll runterbringen. Kohlen hoch. Tomatenketchup organisieren.

Haken Haken Haken, sogar beim Ketchup. Musterknabe.

Bei Zwetschge steht: Hausaufgaben. Steht da immer. Ich nehm lieber ihr Rechenheft als Datschendienst, warum hab ich das abgekriegt? Die Tafel ist zwar so was von Hanne, aber diesen ganz speziellen Posten hat Mutsch sich für mich ausgedacht.

»Guck mal nach den Beeten«, heißt es offiziell. Man soll den Garten richtig pflegen, sagen die Kolonieleute, sagt Mutsch. Dabei geht’s ihr echt nicht ums Gemüse. Noch dazu türmt sie immer zwei Büchsen Gelbe Bohnensuppe unter der Spüle auf, die ich mitschleppen soll. Beim Abwaschen stoßen wir uns die Zehen dran.

»Für den Vorratsschrank.«

Schon klar.

Und dann der Name der Kolonie. Frohe Zukunft. Steht groß auf dem stolzgeschmiedeten Torbogen. Und wenn man durchgeht, bleibt trotzdem alles, wie es war. Nix Zukunft.

Soll ich das Foto einstecken? Mit der Straßenkönigin in die Laubensiedlung? Aber das wird den eh nicht interessieren, nichts interessiert den mehr, und was ich mache, schon besonders nicht. Egal. Ich kratze einen Riesenhaken hinter den Datschendienst, Kreidefingernagel, der über die Tafel quietscht. Fast erledigt.

Ich kralle mir das Fahrrad. Auf dem Fenstersims im Hof liegt eine tote Maus, das heißt: der Kopf und säuberlich daneben der Rest. Ein Geschenk. Für die Katzenfrau aus dem Parterre, die wir die Fürstin Koschka nennen, wenn sie in ihrer Flickenjacke morgens am Fenster sitzt. Ob sie sich über den Schädel freut? Sie kriegt immer das Gleiche.

Ich trete mich in Schwung, Slalom über die Schienen der Straßenbahn, mein Rad zieht eine endlose Schlangenlinie die Engelsstraße hinunter.

Datschendienst gibt’s seit dem Weihnachtsstreit. Zumindest kriegt man bei uns zu Hause jetzt wieder Luft, der Schatten ist weg, das Wohnzimmer frei. Sogar der vertrocknete Gummibaum hat einen Schub gemacht und ist ein Stück gewachsen. Respekt. Fehlt nur, dass er vor Erleichterung Blüten kriegt.

Auf der Kopfsteinstraße klappert mein Schutzblech, der Sattel vibriert, der Lenker zittert, aus meinem Mund kommt ein zerrüttelter Ton – a – a – a –

Als ich klein war, habe ich gedacht, das wäre volles Abenteuer: Campingbeutel packen, Lieblingshose, Lieblingspulli, drei Tüten Erdnussflips und dann allein auf die Datsche ziehen. Denk ich nicht mehr.

Die Gardine vor dem Fenster ist zugezogen. Ich lehne das Fahrrad gegen den Zaun, drücke die rostige Tür zum Garten auf. Gehe zum Apfelbaum, streiche über den Stamm, lange nicht gesehen, gehe zu den Beeten, bohre die Schuhspitze in die schlappe Erde, beobachte die Gardine, rührt sich nichts, kicke mit der Hacke ein Loch ins Beet. Ein Krater unter meinem Fuß, ich trete einen Schritt zurück, ziele und spucke. Daneben.

Ich könnte die Gelbe Bohnensuppe einfach auf die Fußmatte stellen. Mission beendet.

Am Gartenzaun liegen Steinchen, vier, fünf, sechs, sie klackern in meiner Hand. Hart und rund. Einen feuere ich gegen die Datschentür. Die hässliche Gardine bewegt sich nicht. Stein zwei und drei. Der vierte macht eine Delle ins Holz. Ich weiß, dass er da ist. Beim fünften zuckt die Gardine, wird langsam zur Seite geschoben, sein Gesicht taucht auf. Erst tut er nichts, ich denke, das war’s, dann öffnet er das Fenster.

»Ach so.«

»Du musst echt mal lüften, Papa.«

»Das brauchst du doch nicht. Also herkommen deswegen.«

»Bin aber da.«

Er blinzelt aus der Laube nach draußen. Eben ist das Gesicht noch gefroren gewesen, jetzt tut sich was um den Mund herum. Er lächelt mühsam.

»Na, komm erst mal rein, ich mach Kaffee.«

Ich lasse das sechste Steinchen fallen.

Der Geruch ist wie früher plus Zigaretten. Süßlicher Muff. Als Kind hab ich mich da reingekuschelt, lag abends nach dem Grillfest auf dem Datschensofa, in seinem uralten schweren Duft, die Sprungfedern haben mich festgehalten, tief unter mir geknarzt, und dann bin ich weggeträumt.

Papa legt sich zurück aufs Sofa und zieht die Wolldecke hoch. Er liegt da, seit Mutsch ihn ausgesetzt hat. Ich hole die Büchsen aus dem Einkaufsbeutel, der Campingtisch ist voll mit Aschenbechern, Papierkügelchen, Kaffeetassen und Zeug. Wohin jetzt damit? Stell ich die Bohnen halt auf die ungeöffneten Briefe, die ich letztes Mal mitgebracht hab.

»Für den Vorratsschrank«, sage ich.

Seine Finger bearbeiten die Fransen der Decke, ziehen sie einzeln in die Länge.

»Willst du Kaffee?«

»Trink ich nicht.«

Die Finger fummeln Knoten in die Wollfäden, sehen gelb und schrumpelig aus, nach Zigarettengestank.

»Ach ja.«

»Mutsch will, dass du Sachen pflanzt.«

Die Schrumpelfinger krabbeln durch den Fransensaum, knüpfen Knoten an Knoten.

»Denkt sie also noch an mich.«

Auf dem Stuhl liegen rafflig übereinandergeworfene Hölzer, die haben da schon vor Wochen gelegen. Die könnte ich auf den Boden kippen –, aber ich will hier gar nicht sitzen. Ich stelle mich mit dem Rücken zum offenen Fenster, draußen ist Frühling.

»Ich bau ein Vogelhaus«, sagt Papa, sein Blick schwappt zum Ramschholz. »Hab alles da.«

Letztes Mal ist sein Kopf noch nicht so grau gewesen. Er hat hinten eine weiße Stelle, mit der ist er auf die Welt gekommen, die weigert sich, Farbe anzunehmen. Keiner sonst hat das. Als Kinder haben wir gerätselt, was der weiße Fleck zu bedeuten hat. Der Fingerabdruck einer Hexe? Ein zweites Gesicht, das nach hinten schaut? Der Umriss von einem Land? Dabei ist es einfach eine Krankheit. Und der Rest vom Kopf wird mit der Zeit immer mehr wie der Fleck aussehen.

»Vogelhaus für die Spatzen.« Er quält sich ein Lächeln ab, dann ist es aufgebraucht.

»Die Fete nach der Jugendweihe ist übrigens im Schützenhof.«

Warum auch immer ich das sage.

»Ach so.«

Die gelben Leichenfinger haben alle Fransen einmal durchgeknüpft, springen wieder nach vorn, fangen mit Doppelknoten an. Sein Blick wandert vom Holzhaufen hoch.

»Jugendweihe?«

»Du hast doch die Einladung. Erst schick Stadthalle, dann Schützenhof.«

Er sieht mich an. Die Finger knoten einfach weiter. Wie die voranhetzen, ohne Sinn, man sollte ihnen die Decke wegschnappen, aus dem Fenster werfen, draußen scheint die Sonne.

»Vergiss es, Papa. Das wird eh scheiße.«

Er richtet sich auf, die Sprungfedern seufzen.

»Aber ich hab’s nicht vergessen. Ich komme.«

»Dann wird’s besonders scheiße.«

»Tut mir leid.«

Die Finger lassen die Decke los, wandern jetzt über den Campingtisch, schütteln leere Karoschachteln, ob nicht irgendwo eine Zigarette ist, heben Tassen und Papiere hoch.

»Ich will euch nicht das Fest verderben.«

Schließlich ziehen sie einen verknickten Stummel aus einem der Aschenbecher, stecken ihn in den Mund, nesteln sich wieder durch all das Zeug, suchen nach Feuer.

Ein Knall – die Vogelhaushölzer ballern auf den Boden, der Stummel klebt an seiner Unterlippe, wippt vor Schreck, sieht grausam bescheuert aus. Er sagt eine ganze Weile nichts.

Dann: »Tut mir leid.«

Dabei habe ich gegen den blöden Stuhl getreten.

Ich war das.

In der Kaufhalle drücke ich mich bei den Zigaretten herum, eine Schachtel Karo kostet 1.60, Papa raucht echt die billigsten. Ich könnte der Frau an der Kasse sagen, dass ich schon 16 bin, ob die das glaubt? Oder dass die für meinen Vater sind, der seinen Arsch nie wieder aus den Sprungfedern kriegt, ob nun Jugendweihe ist oder Weltuntergang oder um ein paar schlaffe Radieschen zu züchten. Egal. Ich geh nicht zurück in die Datsche. Morgen hat der eh vergessen, wie ich die Tür zugeknallt hab, ohne Abschiedswort. Vogelhaus. Du mich auch.

Ich will wieder raus aus dem Laden, da entdecke ich einen Korb mit verspäteten Eierfarben, die interessieren zwei Wochen nach Ostern eh niemanden mehr. Aber vielleicht was für Zwetschge. Rot, Gelb, Blau, Violett. Und Grün. Tütchen voll Grün, mein Gesicht wird heiß, ich vergrabe die Hände im Korb.

Das große Geweihe

Ich springe aus dem Bett, Fenster auf, stelle mich im Schlüpfer in den Morgenwind, mache die kühle Luft mit meiner Haut warm. Zwetschge stöhnt und steckt den Kopf unters Kissen. Aber ich habe nicht vor, mein Leben zu verpennen.

Ich atme tief ein, sofort wird alles kribbelig. Ich glaube, die Brüste sind wieder gewachsen. Unter meinen Händen braut sich was zusammen, drüben ziehen sie den Vorhang zu. Ich drücke die Brustwarzen vorsichtig rein, direkt darunter ist gewaltig was los, es tut sogar weh.

Mutsch hat mir letztes Jahr einen BH gekauft. »Du wächst schon noch rein.« Angeblich Hautfarbe, mein Beileid für alle mit solcher Haut. Vorn riesig, halbe Kegelkugeln, hinten ein enger Metallverschluss. Ich hab ihn nur einmal umgeschnallt, Hanne hat komisch geguckt, aber nichts gesagt, es sind rote Striemen von den Seiten bis zum Rücken geblieben. Kann ich echt nicht gebrauchen. Muss ich?

Hoffentlich werden sie nicht größer und größer.

Carola und die anderen haben eine Wette am Laufen: Wer mit dem vollsten BH zur Jugendweihe kommt, gewinnt. Die Siegerin kriegt den Titel Miss Atombusen Eisenwerda. Carola liegt klar vorn. Aber Lina will mit Watte nachstopfen, weiß ich zufällig, und sie wird nicht die Einzige sein. Manu hätte auch Chancen auf den ersten Platz, aber seit ihr der Busen wächst, macht sie Buckel, um sich zu verstecken. Sie bekommt auch die blödesten Sprüche ab. Carola ist stolz auf jeden Pfiff und noch den lahmsten Medizinball-Joke. Beim 3 000-Meter-Lauf hält sie sich die überschwappenden Brüste.

Zwetschge taucht unter dem Kissen auf. »Was machst du da?«

»Schlaf weiter.«

Das Hautfarbenbiest liegt im Sockenfach, ganz hinten zusammengeknüllt. Die Schublade sträubt sich beim Aufziehen. Soll ich? Die dicksten Wollstrümpfe rechts und links. Aber Brüste kann jeder. Ich mach mir meine Mutprobe selbst – unterm Kopfkissen warten die Färbestreifen.

Auf Zehenspitzen schleiche ich durch den Flur. Mutsch klappert schon in der Küche und verbreitet Kaffeedunst, ihren Lieblingsduft, heute hat sie sogar dienstfrei und Glückwünsche von den Kollegen gekriegt, weil ich ab nachher erwachsen bin. Von mir aus. Angeblich wird man nach dem Geweihe in der Schule gesiezt. Bin gespannt, ob Fräulein Ehring Sie zu mir sagt.

Ich klemme den Wäschestuhl unter die Klinke, reißt ja gern wer die Badtür auf, wenn’s am wenigsten feierlich ist. Der Apfelessig steht hinterm Klo, hab ich vorhin schon reingeschmuggelt. Beim Eierfärben soll Essig mit rein, hoffentlich klappt das bei Haaren auch. Hell genug sind meine ja. Mir ist ganz flatterig, die Straßenkönigin öffnet die Augen.

Los jetzt.

Der Putzeimer passt grad so ins Waschbecken, Schluck Essig, Farbstreifen und kaltes Wasser drauf. Ich rühre mit der Hand, eine dunkel schillernde Brühe. Dann stelle ich den Eimer auf den Boden, knie mich auf den Wannenvorleger und tauche kopfüber ein. Es schwappt und hallt, riecht blitzartig nach Sommer: aufgebrochene Kirschen, von Würmern durchtunnelt, Gras auf der Zunge, geköpfte Gänseblümchen hinterm Ohr, ich bin im Baum ganz oben, Wespen tanzen um meinen Kopf – ein Piksen im Finger. Kinder schreien, und die Rasenmäher knattern, das komplette Sonntagsgebrumm. Danach Essig auf den Wespenstich – ist gut gegen Gift –, dieser ganz bestimmte Geruch, bei dem sich alles zusammenzieht.

Irgendwo draußen klopft es dumpf, Hanne ist wach und will ins Bad. Wenn ich aus dem Essigeimer rufe, denkt er, ich stecke im Klo. Bloß nicht lachen, kopfüber kann man nie mehr aufhören damit. So langsam läuft alles Blut zum Gehirn, und die Nase verstopft. Keine Ahnung, wie lange das einwirken muss.

Hanne poltert gegen die Tür, rüttelt an der Klinke, die Stuhllehne hält stand. Warum pinkelt der nicht in seine Schachpokale? Dann sind die mal für was gut. Ich lasse den Haarschopf im Eimer, drehe mich seitlich, bis ich an die Wanne stoße, steige mit den Füßen auf den Rand. Dann mache ich mich lang, taste in der Luft, bis meine Zehen den Wasserhahn greifen, versuchen, das alte Ding aufzudrehen. Das Wasser rauscht los, dickster Strahl. Jetzt denkt Hanne, ich bin duschen, kann er nichts machen.

Danach stehe ich lange vor dem Spiegel, muss einfach nur grinsen. Es ist richtig übelst geworden.

Im Bus will niemand neben mir sitzen. Nur Zwetschge habe ich gepackt, bevor sie entwischen kann, jetzt macht sie einen auf Anstandsdrachen.

»Du musst die Beine übereinander.«

»Wieso denn?«

»Weil du Rock anhast.«

»Wer hat dir den Quatsch erzählt?«

Ich setze mich noch breiter hin, Hanne und Mutsch starren zwei Reihen weiter vorn aus dem Fenster. Weiß nicht, was es da zu sehen gibt.

»Versuch auch mal«, sage ich.

Zwetschge streicht über ihr Plisseeröckchen, schüttelt den Kopf.

»So klein und schon so verödet.«

Ich stoße sie mit dem Ellenbogen, bis sie endlich zurückhaut. Dann stellt sie vorsichtig beide Füße auf den Boden, schiebt die Beine in den schneeweißen Kniestrümpfen immer weiter auseinander, bis ein Pferd dazwischenpasst.

»Und? Wie fühlt sich das an?«

Es riecht nach Essig, die Leute hinter uns flüstern, ich mache ihr Gewisper nach, bis Zwetschge sich krümmt, um nicht loszuprusten. Niemand ist so leicht zum Lachen zu bringen. Zum Heulen allerdings auch.

Nächster Halt: Zenti. Mutsch drängt ohne ein Wort aus dem Bus, Hanne sieht mich vorwurfsvoll an. Ich würde mich am liebsten am Straßenrand neben eins der Autos hocken, um mich im Seitenspiegel zu bewundern. Aber Mutsch rennt los. »Wir kommen alle zu spät!« Dabei liegt die Stadthalle gleich um die Ecke. Und ich bin pünktlich gewesen, habe die ganze Zeit fertig angezogen im Flur gestanden, mit glänzenden Absatzschuhen, die eigentlich meiner Cousine gehören, gebügelter Bluse und Feinstrümpfen, die jetzt schon kratzen. Ich tue immer, was Mutsch sagt. Es liegt also echt nicht an mir.

»Josefine!«

Sie weiß, ich mag das nicht. Ich heiße Jo.

Aber ihr Augenlid hat schon im Flur losgezuckt, im Bus ist das bestimmt nicht besser geworden, und jetzt rennen wir alle. Beim Laufen klackern die Schuhe und beißen in die Zehen, schwingt der Gardinenrock, ein Luftzug zwischen meinen Beinen.

Als Mutsch den Armleuchter erreicht, wird sie langsamer, hält sich die Seite. Hier wollten wir Fotos machen, das ist Tradition. Das Wahrzeichen von Eisenwerda, ein wahnsinnsmäßiger Klotz, aus dem sich ein Arm rausstreckt, in der Faust eine brennende Fackel. Aus Bronze und Zillionen Tonnen schwer. Die Faust heißt Monument für den Frieden, das sagt nur keiner, angeblich kann man sie vom Mond aus sehen. Papa hat früher behauptet, es sei der Arm von Rübezahl, der in der Erde steckt, und mit dem richtigen Zauberspruch kommt er frei. Daher die Risse im Boden, Rübezahl rüttelt und schüttelt sich, doch niemand kennt das geheime Wort.

Ich will unbedingt das Foto vorm Armleuchter machen. Bloß hat Mutsch die Kamera aus ihrer Handtasche geholt und zurück in die Küchenschublade gerummst.

»Was sollen wir jetzt noch damit? Sag mir das mal! Am besten bleiben wir ganz zu Hause.«

Sie hat so müde ausgesehen wie drei Schichten Krankenhaus hintereinander, all der Kaffee umsonst.

Die Tür zum Großen Saal ist schon geschlossen. Ich presse mein Ohr gegen das Holz.

»Selbst schuld«, sagt Hanne, »jetzt hast du Bammel.«

»Hab ich nicht.«

»Dürfen wir nicht mehr rein?« Zwetschge ist noch außer Atem, zu kurze Beine.

»Quatsch«, sage ich.

Mutsch schaut mich nicht an.

Einmal habe ich die Fingerspitze auf ihr Zuckauge gelegt, es pochte wie der Herzschlag eines winzigen Tiers.

Innen rauscht es, Applaus, ich stecke den Kopf von ganz hinten in den Saal. Er ist miefbraun getäfelt, die Stuhlreihen sind fast bis auf den letzten Platz gefüllt, hochfrisierte Haare, festlich gereckte Kragen. Der Direktor steht vorn auf der Bühne und ruckelt den Mikrofonständer zurecht, zu seinen Füßen liegt grabmäßige Blumendeko mit Sprüchen. Frieden für uns, für alle, für immer! Direkt vor den Sträußen müsste meine Klasse sitzen. Ob Frankie mir was freigehalten hat? Ich versuche, unter all den Hinterköpfen jemand Vertrautes zu erspähen, vielleicht die Tanten, die kommen wollten, oder Herrn Stampf aus der Patenbrigade mit seiner Schweißerjacke und dem Rußgesicht.

Oder Papa.

Mutsch drängt an mir vorbei, steuert die freien Plätze in der letzten Reihe an. Hanne und Zwetschge folgen leise, typisch, bloß nicht auffallen. Der Applaus verstummt. Räuspern.

»Liebe junge Freunde – «

Eine Rückkopplung kreischt durch den Saal, die Frisuren zittern. Der Direktor kämpft mit dem Mikroständer.

Ich könnte seitlich an den Stuhlreihen vorbei nach vorne schleichen, immer an der Miefwand entlang. Bestimmt dachten die von der Stadthalle, mit Braun wird’s gemütlich, Braun senkt den Puls. Von wegen.

Tuscheln. Eine Frau aus den hinteren Reihen schaut über die Schulter, guckt empört weg, guckt wieder her. Was denn? Die schicke Bluse klebt in meinen Achseln.

Der Direktor versucht es noch mal. »Euer feierlicher Eintritt ins Erwachsenenalter steht bevor …«

Hoch über ihm baumeln zwei Girlanden, schon am Ausbleichen. Faschingsleichen. Es dreht sich noch jemand zu mir um, plus die daneben, wie Domino. Mutsch jetzt auch, sie macht einen Schwinger mit dem Kinn, weil ich unsichtbar werden soll, dabei trage ich alles, was sie wollte. Und meine Ohren habe ich lange geschrubbt, die Hände auch, sind bloß um die Nägel noch ein bisschen grün. Vielleicht kann ich mich beim nächsten Applaus nach vorne schummeln, wenn alle mit Klatschen beschäftigt sind. Bloß dauert das noch hundert Jahre, der Direktor hält die endlosesten Reden der Welt, und ich will jetzt auf meinen Platz neben Frankie, wehe, er hat nichts freigehalten.

Die komplette letzte Reihe dreht sich um, einige grinsen, andere versteinern, haben was Abartiges gesehen. Soll ich winken? Tot umfallen?

Eine weitere Rückkopplung pfeift, so schrill, dass sie Laufmaschen reißt, meine Füße setzen sich in Bewegung, nur fühlt es sich nicht wie auf Beinen an, sondern wie auf wackligen Stelzen. Der Saal ist zu warm, liegt bestimmt an dem Braun, nur unterbrochen von ein paar schmalen Fenstern, die fest geschlossen sind. Einen Riesenfächer bräuchte man, der Luft bis in alle Poren bläst.

Ich stelze einen Fuß vor den nächsten, rieche aus dem Publikum dunstende Wolken, die ineinanderquellen, knallsüße Dekolletés, das fiese Apfelshampoo, schwitzige Achseln unter Nylon, kesselweise Schwarzer Samt. Die Köpfe drehen sich, schon bevor ich komme, meine Absätze klackern durch die Festtagsrede, ziehen Zischeln und Raunen hinter sich her. Der Weg zur Bühne ist unfassbar lang, am liebsten würde ich rennen, dass der Rock wieder weht, Rennen hilft sowieso immer. Aber ich gehe Klack für Klack durch den Gang.

Der Direktor schaut auf.

In dem Moment sehe ich Licht von oben durch eins der Fensterchen fallen, mit dem nächsten Schritt trete ich in den hellen Streifen und spüre, wie mein Haar erstrahlt, alle sehen es, halten die Luft an – Blitzgrün. Ich trage das Leuchten auf dem Kopf, als ich ausatme und langsam weitergehe, ein Tropfen läuft mir den Rücken runter, perfekt in der Mitte.

Klack und Klack und Klack, meine Schuhe machen den Applaus. Dann entdecke ich Frankie in der zweiten Reihe – er mich auch. Seine Augen schocken auf. Frankie trägt eine Fliege, die größer ist als er selbst, sein karottenblondes Haar ist brav gescheitelt, die Anzugjacke hat er ordentlich neben sich gehängt, über den einzigen freien Stuhl. Die gesamte Klasse staunt, wie ich zu meinem Platz marschiere, volle Show, kein Mensch interessiert sich mehr für den Direktor und sein Weihegelaber – bewusste Bürger, vollwertige Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft –

In der ersten Reihe sitzt Carola, klar, immer ganz vorn, sie zischt: »Siehst verschimmelt aus.«

Aber in ihren geknifften Augen zerfällt das Atombusenwettrüsten zu Staub, weil mein Haar mehr als alles andere strahlt.

»Du stinkst wie saure Gurken«, flüstert Frankie, ich kneife ihn in den Arm.

Die restlichen Reden sind gar nicht schlimm. Zuletzt die Krönung, wir sind dran. Die Pupillen unserer Klassenlehrerin sausen hektisch hin und her, aufstehen, in Zweierreihen hoch zur Bühne, würdevoll gucken, wir werden schließlich geweiht.

»Nicht nuscheln« – das hat Fräulein Ehring bis zum Abwinken mit uns geübt. »Kinn hoch. Laut und deutlich!«

Jetzt flüstert sie, »was hast du dir bloß gedacht, Josefine?«, versucht, mich nach hinten abzuschieben, in den toten Winkel, aber ich schlüpfe wieder vor, ein Wispern geht durch die Menge. Fräulein Ehring hat dunkel getränkte Achseln, dafür mag ich sie irgendwie. Als wir auf Reihe sind, bringt sich der Pionierleiter mit seinem Walrossbart in Stellung, im Saal wird es still. Blankgeputzte Gesichter, alle auf uns gerichtet. Ich leuchte. Ob das Auge von Mutsch noch zuckt?

Das Walross straft mich mit einem wütenden Blick, dann legt es los: »Seid ihr bereit, als junge Bürger …«

Fräulein Ehring sieht blass aus, sie hat solche Angst gehabt, dass wir unseren Einsatz verpassen, den Mund nicht aufkriegen, dabei verstehe ich nicht, wie man bei der Sache überhaupt etwas falsch machen kann. Ich nicke ihr zu, sie weiß, dass sie auf mich zählen kann – nicht nuscheln und extra laut.

»… und das revolutionäre Erbe des Volkes …«

Ich hebe das Kinn, Frankie neben mir auch, unsere Arme berühren sich, wir holen gleichzeitig Luft.

»Ja, das geloben wir!«

Unser Chor hallt bis hinten durch, ganz ohne Mikro, beim nächsten Mal wird es noch besser, ich schmettere: »JA, DAS GELOBEN WIR!«

Der Pionierleiter sieht von seinem Textblatt auf, kann er nicht mal auswendig, doch dann streckt er die Brust vor, wird lauter: »… stets in kameradschaftlicher Zusammenarbeit, gegenseitiger Achtung und Hilfe zu handeln und euren Weg zum persönlichen Glück …«

Unsere Klasse schaukelt sich hoch, sogar Frankie schreit plötzlich los, richtig von unten: »JA, DAS GELOBEN WIR!«

Die Walrosshaare zittern, »… den FRIEDEN zu schützen und den SOZIALISMUS …«

Gleich kommt der letzte Refrain, ich reiße die Lunge auf, Carola brüllt in mein Ohr: »DAS GELOBEN WIR!

La Boom

Die Garderobe ist im Nullkommanix mit Blumensträußen und Der Sozialismus – Deine Welt vollgemüllt, echt grandioses Geschenk, Schwitzflecken werden aus Jacketts gelüftet, Schlipse gelockert, auf dem Buffet stehen acht Eimer Mandarinenbowle. Die hat einen Ruf wie Rakete, fürs Rezept braucht’s ’nen Waffenschein, das schwören alle. Die Mandarinenkonserven bunkert der Schützenhofchef wie die allerfeinste Spezialmunition. Aber erst mal belagern wir den Käseigel, fressen die Stacheln ab, während der Rest der Welt sich in den Gulaschkanonendampf drängelt. Die Familien sind direkt von der Stadthalle zum Karlsberg gepilgert, ohne sich groß umzuziehen, die Straßenbahn hat die Feiergesellschaft happenweise den Berg hochgebracht, knurrende Mägen in den Waggons, aufgedrehtes Schwatzen, Hitzewallung.

Auf der Tanzfläche nebenan pfeift der Wind, leer bis auf ein paar trudelnde Luftballons. Der Diskotheker kaut Kaugummi, spielt als Schongang noch Quotenmusik – Lachen trägt die Zeit, die unvergessen bleibt –, stockt in der Kaubewegung, als er meine Haare sieht. Nachher will ich tanzen. So heftig es geht. Unbedingt.

Frankie greift sich immer wieder eine meiner Strähnen und zieht, voller Schauder und Bewunderung. Dann rücken seine Eltern an, steuern mit gefüllten Tellern auf den Biertisch mit Mutsch und Hanne zu. Hanne will aufstehen, artig Hände schütteln, aber Frankies Vater macht eine seiner weit ausholenden Nicht-nötig-Gesten, weil hier alles so spitze zwanglos ist. Hanne hängt mit dem Arsch in der Luft, Herr Schellenberger ballert zur Begrüßung dreimal auf den Tisch. Er ist einer von den Weitobenen und trägt das pausenlos vor sich her, genau wie seine dschungelmäßigen Nasenhaare, vor denen Frankie sich ekelt, weil er Angst hat, eines Morgens aufzuwachen, und sie wuchern ihm selbst aus den Löchern.

Wird nie passieren, hab ich ihm hundertmal versprochen. Frankie ist das Gegenteil von seinem Vater. Oft haben wir uns ausgemalt, wie seine Mutter einen Ausrutscher mit einem jungen Studenten hatte, einem feuerroten Schlaks, gepunktet bis zum Schniedel, den sie eine Nacht splitternackt im Schrank verstecken musste und danach nie wiedersah. Neun Monate später hat Frau Schellenberger Frankie ausgespuckt. Eine echt gute Tat. Niemand sonst hat so durchsichtige Haut und Sommersprossen auf den Lippen.

Die Schellenbergers endlagern mit Gepolter bei Mutsch am Tisch, schalten auf angeregte Unterhaltung, was man am heftig nickenden Hinterkopf von Frankies Vater sehen kann, der Kragen schrappt über den Nacken, hobelt bergeweise Fitzelchen von der Haut. Da dreht er sich um, Frankie will abtauchen – zu spät, Herr Schellenberger winkt uns ran.

»Ich dachte, der hasst mich«, sage ich.

Frankie schluckt seinen Käsewürfel. »Und wie!«

Der Schellenberger macht weite Kreisbewegungen mit dem Arm, Schmeißbewegungen, als könnte er es kaum erwarten, uns um seinen dicken Bauch zu haben.

»Vielleicht will der ja nur gratulieren«, sage ich.

Von Frankie kommt bloß ein lahmes Stöhnen.

»Josefine!«

Herr Schellenberger schnappt tatsächlich nach meiner Hand, glaube nicht, dass ich ihm die gegeben habe.

»Ich heiße Jo«, sage ich.

Er schüttelt übertrieben, mustert mein Haar.

»Eine eigensinnige junge Frau bist du geworden, was?«

Er zwinkert Mutsch zu, tut mir fast leid, dass sie nicht fliehen kann. Hanne verschränkt die Arme vor der Brust.

Frankies Vater drückt meine Hand, als ob er was in mich reinquetschen will. »In deinem Alter kann man schon mal über die Stränge schlagen.«

Der Schellenberger redet immer zu laut, weil alles aus seinem Mund für die halbe Stadt bestimmt ist. Mit dieser gönnerhaften Freundlichkeit. Ich will mich losmachen, geht nicht.

»Das liegt an der Körperbiologie.«

Was grabscht der sich an mir fest? Ich drücke auch zu.

Er wird fester. »Da gerät man in Wallung. Wer kennt das nicht?«

Das ist nicht Schütteln, das ist Händewürgen, ich greif dem gleich in den Nasenwald, was soll das? Nur den Daumen krieg ich frei, bohre den Nagel in die feiste Klaue, die auch voller Haare ist, Herr Schellenberger lacht auf. Ich will bis zum Knochen bohren. Frankie windet sich neben mir, vor Scham hüpft ihm der Knubbel im Hals.

»Lass doch, Papa.« Ausgerechnet jetzt kiekst ihm die Stimme hoch, Frankie wird rot. Schellenberger lässt los, sortiert seine Körpermasse.

»Na, na, wer wird denn gleich die Gesichtsfarbe wechseln? Kleine Rothaut.« Er kneift Frankie in die Wange, fixiert dabei Mutsch.

»Deine Tochter ist grün auf dem Kopf, unser Frank hinter den Ohren. Aber die kriegen wir schon noch geschliffen, was? Wie Diamanten.«

Mutsch lächelt müde, ihr Auge ist wieder stillgelegt, dabei gäb’s hier allen Grund zu zucken. Sie beißt in ein gefülltes Ei. Hanne hält weiter die Arme verschränkt. Frankies Vater sieht sich um. »Wir sitzen ja auf dem Trockenen!« Er klatscht in die Hände, um seinem verschärften Einfall mehr Schwung zu geben, und weg ist er, auf zur Bar.

Frau Schellenberger zeigt auf die russischen Eier. »Die schmecken gut, oder?«

Mutsch nickt.

Ich knete meine Hand.

»Wie entsetzlich peinlich du bist«, zischt Hanne mir zu.

Mein Plastebecher wiegt ein Kilo, so viele Mandarinen hat Frankie reingeschippt, die sind das Entscheidende, der Sekt ist nur Tarnung, den trinken wir als Erstes ab. Schießt sofort in die Nase, blubbersüß. Carola rennt wieder zum Diskotheker, klebt ihren Mund an sein Ohr, seiner kaut nonstop Kaugummi.

Frankie muss aufstoßen. »Hast du die Früchte schon?«

»Nee«, sage ich.

»Auf drei.«

Wir setzen die Becher an, zum x-ten Mal kommt das Lied. Driems … dadadada dadaaa.

»Drei.«

Ein Batzen Mandarinenschnitze klatscht mir auf die Zunge, ich glitsche sie im Mund herum, sauge sie aus, bis es mich schüttelt. Im Magen glimmert es warm.

»Die sind in Wodka eingelegt.« Frankie spuckt orangene Fetzen. »Nicht wie Kinderbowle.«

Bier hab ich schon oft probiert, die Reste aus vergessenen Gläsern. Und unseren selbstgemachten Eierlikör – als Kind. Das Blubbern kenn ich vom Sekt mit Oma. Einmal hab ich ihre Pralinen ausgesaugt. Und letzten Sommer beim Hoffest hab ich am Blauen Würger geschnuppert, der stinkt wie etwas, mit dem man die Klos im Krankenhaus schrubbt.

»Soll ich noch zwei?«, fragt Frankie.

Ich zerwuschel ihm den Rest vom Mittelscheitel. »Und zwar turbo.«

Er springt los, ich strecke die Arme auf der Sofalehne aus. Der Bezug war mal Plüsch, jetzt fühlt er sich an wie ein abgeliebtes Kuscheltier. Ob sich wer zu mir setzt? Immer wieder schaut jemand rüber, bohrt den Blick in mein Grün, zieht eine Augenbraue hoch oder schüttelt den Kopf. Ich schlage die Beine übereinander. Dann stelle ich sie wieder breit auf.

Carola lehnt am Musikpult, wiegt verträumt den Kopf, das hat sie bestimmt vorm Spiegel geübt. Schlimmstes Verknalllied. Die Platte hat sie selbst eingeschmuggelt, in Papier gewickelt und unter den Arm geklemmt, aber so, dass es jeder gesehen hat. Der Diskotheker hat sie ausgepackt und Carola ein Grinsekauen zurückgeschenkt. Die Scheibe gibt’s nicht im Laden, jede Wette, und jetzt ist er unverschämt stolz, die als Erster im Land auf den Teller zu hauen. Man kann nichts als Klammerblues dazu tanzen. Carola wartet, sie nimmt nur die älteren Jungs. Wie zufällig lungern sie an der Tanzfläche, Hände am Bierglas, Zigaretten hinterm Ohr. Dagegen sind die aus unserer Klasse Pickelbabys, ihre Anzüge schlackern, Schlipse wie aus dem Kostümverleih. »Jugendweichlinge«, sagen die Großen, die die Weihe längst hinter sich haben, zur Fete Jeans und Turnschuhe tragen. Schon schlendert einer rüber. Die Sache mit den Brüsten hat sich glatt gelohnt. Und Carolas Haar, über das die Leute einfach so drüberstreichen, Mähne des Volkes, weil es schön glänzt und nach Schaumbad riecht. Sie lächelt immer dazu, lässt alle machen. Und während die Typen beim Klammerblues ihre Oberkörper auf Carola abladen, schmachtet sie zum Diskopult.

Hohe Absätze und Gummitreter, die umeinander rutschen, nackte Beine und Nietenjeans, eng aneinandergepresste Hüften. Angeschmiegte Wangen. Hände, die zum Hintern gleiten. Carola bewegt die Lippen zum Lied, macht Wimpernaufschlag zum Diskotheker.

Halb versteckt an der Säule hofft Manu seit einer Ewigkeit, dass einer sie entdeckt. Aber keiner will mit ihr Pärchen sein. Frankie balanciert wieder ran, Becher bis zum Rand gefüllt. »Lahme Musik«, sage ich. »Warum ist in dieser Stadt nie was Richtiges los?«

»Wetten, die knutschen heut Abend noch?« Er schwappt aufs Sofa.

»Hä? Wer denn?«

»Na, Miss Atombusen und der Schallplattenunterhalter.« Frankie schlürft die Becher ab. »Siehste doch.«

Er will rülpsen, doch ich halte ihm Mund und Nase zu, sodass es nach innen krepiert.

»Ich geh pinkeln.« Ich grabsche mir meine Mandarinenbowle, stakse los.

So ein Oberscheiß. Die Schuhe drücken, totale Quälerei. Meine Cousine wollte die erst nicht verleihen, sie meint, mordselegant, angeblich aus dem Westen. Ich versteh nicht, wie die anderen das ohne Betäubung ertragen, haben die sich die Füße mit Pflastern verklebt? Ich mache den Becher halb leer.

Aus dem Fressraum dröhnt schlimme Musik, einmal um die ganze Welt und die Taschen voller Geld. Die Erwachsenen haben den Rekorder angeschmissen, manche singen mit, andere übertönen die Schlager mit Biertischblabla, zwei Minijungs zerquetschen Luftballons. Knallendes Gummi und Gequieke. Der Schellenberger giert überall rum, schießt Fotos. »Spaghettiiiii!« Mein Bild kriegt der nicht.

Das Buffet ist halb abgegrast, zwei Bowleeimer schon leer. Eine fremde Stimme fährt mir von hinten rein. »Mädel, hast du dich hässlich gemacht! Eine Schande!«

Der nächste Luftballon platzt.

Das Frauenklo ist maximal vollgezwängt, Gekicher steigt aus dem Deosprühnebel, Bürsten ratschen Haare hoch, Mundgeruchcheck, ich quetsche mich durch, böse Blicke im Spiegel, überm Waschbecken ein verschmierter Lippenstiftkuss. Eine sperrt der anderen mit den Fingern das Auge auf, pikt den Stift in den rosafarbenen Rand.

»Das tut weh!«

»Dann is richtig.«

Die mit Kritzeleien übersäte Kabinenwand.

Elster und Neiße reimt sich auf Scheiße.

Ramona ist eine Schlampe. Durchgestrichen.

Astrid ist eine Schlampe.

Strumpfhose mit Schlüpfer runter und los, oben schlucke ich Bowle nach, unten Geplätscher. Jemand singt das Diskolied. »Driems tadadada tadaaa«.

Urinsteindampf pestet hoch.

»Immer Lippen feucht machen«, sagt die Augenstecherin am Waschbecken. »Nie ganz schließen, sieht am besten aus.«

»Hä, wie soll das gehen?«

»Soll ich dir jetzt helfen oder was? Und beim Küssen die Augen zu! Sonst glotzt man sich dabei an, total eklig.«

Was haben die alle mit ihrem Knutschen? Hört sich nicht an wie der blanke Spaß, eher wie Strick um den Hals.

»Den musst du ausdrücken! Der ist reif!«

Ich kratze die juckenden Strümpfe. Neben mir geht die Spülung und quält sich, als müsste sie das Wasser von unglaublich tief unten holen. Aus mir läuft immer noch Bowle. Wieso hör ich hier eigentlich sonst keinen pinkeln? Tröpfeln die mit Absicht an den Rand? Ich mache immer den vollen Sound, mache Niagarafälle. Zwei Paar Pumps klackern in die Kabine rechts, ich beuge mich runter, mal sehen, ob die Fersen rotgescheuert sind, irgendwo heimliche Pflaster kleben. Nix, nur ein Luftschlangenfetzen unterm Absatz.

»Was? Auf dem Friedhof? Hat’s wehgetan?«

Sie flüstern. »Wenigstens hast du’s hinter dir.«

Draußen herrscht auf einmal Stille. Kein Kreischen, kein Munkeln, nicht mal das Ziepen einer Bürste.

Eine Dose Disco Club taucht unter der Türkante auf, zischt in meine Kabine, vor Schreck springe ich auf, reiße Schlüpfer und Strumpfhose hoch. Überschnappendes Gegacker. Der Geschmack von Haarspray auf meiner Zunge.

»Ey!« Ich stoße die Kabinentür auf.

»Iiiiiih, die Schimmelpest kommt!«

Die Mädchen sind noch nicht mal aus meiner Klasse, die Sprühdose zielt auf mich, Gelächter bricht los, ich schaue an mir herunter, der Rock klemmt in meiner Unterhose.

»Na witzig«, ich rupfe ihn raus.

»Es kann sprechen!«

Sie kichern im Chor. Nicht zu fassen. Ich will mir die Hände waschen, das Gesicht, alle springen zur Seite.

»Das ist sicher ansteckend!« – »Voll verseucht!«

Spray schießt mir in den Rücken. »Die hat noch nicht mal gespült!« – »Ihre Pisse ist bestimmt auch popelgrün.«

Spray schießt mir nach bis auf den Flur.

Drüben ist das Diskolicht schummriger geworden, unser Sofa von anderen besetzt. Wo ist Frankie? Ich dränge mich durch das Halbdunkel der Körper, einen frischen Becher in der Hand. Auf der Tanzfläche hat sich ein Strudel gebildet, alle starren wie weggetreten hinein. In der Mitte dreht sich Carola mit Manu. Manus Arme umschlingen Carolas Nacken, Carolas Hände Manus Hüften. Die Brüste der beiden berühren sich, sinken ineinander. Manu hat die Augen geschlossen. Ich trinke alles in einem Zug aus. Schon wieder dieses Lied. Dem Diskotheker steht der Mund halb offen, gleich fällt der alte Kaugummi raus. Der Raum kreist um Carola und Manu, die Hitze, den Atem am Hals.

»Machen die extra.«

Ich schrecke auf, Frankie lallt in meinen Nacken. »Hassu noch Marienbowle?«

»Lallsdu?«

»Du auch.«

Stimmt überhaupt nicht. Ich fingere ihm zwei Mandarinenschnitze raus, lasse mir den Rest auf die Zunge plumpsen. Ob Carolas BH Hautfarbe hat? Die gaffenden Jungs. Bestimmt trägt sie einen von den knallweißen wie in Hannes schief ausgeschnittenen Bildern aus dem Otto-Katalog, keine Ahnung, wer ihm den besorgt hat.

»Seit wann interessierst du dich für Mode?«

»Gib sofort her!«

Ob Manu die Blicke spüren kann? Vielleicht wird sie die Augen nie wieder öffnen. Ich zerquetsche die Mandarinen am Gaumen. Platzende Brüste. Etwas zieht mir durch den Körper, drängt überall rein, meine Haut unter dem klebrigen Unterhemd, der Stoff reibt über die Millionen Härchen.

»Raus hier!«, ich zerre Frankie durch die Menge. Wir stolpern auf den Gang, da liegen Mandarinenschnitze, ein Stöckelschuh tritt mittenrein.

»Was’n los?«

»Rasend öde Fete«, sage ich.

Frankie blinzelt aus geröteten Augen.

»Spaghettiii!«

Ein greller Blitz, ich stürze zum Ausgang, verliere Frankies Hand.

Peace

Draußen dämmert es. Ich atme, bis das Flimmern um mich herum verschwindet, der Kopf klarer wird. Frühlingsluft, die nach Erde schmeckt. Eigentlich mag ich den Karlsberg, man kann durch den Wald bis zur Spitze steigen, von oben sieht man die Stadt komplett. Der Schützenhof liegt auf halber Höhe, mit seinem ausrangierten Karussell und der großen Wiese, auf der im Sommer in einer Tour Hochzeit ist.

Ich steuere den verlassenen Spielplatz an, Wippe, Rutsche, Klettergerüst und zwei Fahrzeuge aus dem Kinderkarussell: ein rotes Feuerwehrauto, ein Panzer aus Plaste. Die Kletterstangen sind kühl, geben ihren Eisengeruch an meine Hände ab, ich ziehe mich auf die unterste Sprosse, eine höher, noch eine, bis ich ganz oben bin. Die Füße puckern. Ich heble eine Hacke hoch, befreie mich vom ersten Schuh, der zweite hinterher. Erst tut’s noch schlimmer weh, weil die zerscheuerte Haut plötzlich Luft bekommt, dann ist es, wie wenn man das Fenster aufreißt und mit Karacho in den Hinterhof niest – es hallt bis übers Dach, danach breiten sich Frieden und Ruhe aus.

Ich klemme die Kniekehlen um das Metall, falle, die Welt kippt, der Rock saust hinterher. Ich pendle kopfüber am Klettergerüst, Gardinenstoff vorm Gesicht.

Aus dem Schützenhof schwallt Lärm, ich zupfe den Rock von den Augen, die Eingangstür spuckt Frankie aus. Schöner Anblick, so andersrum, Frankies Füße am Himmel festgeklebt. Über seiner Hand schwebt ein Eimer Mandarinenbowle.

Wir baumeln nebeneinander.