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ME/CFS ist eine schwere somatische und multisystemische Erkrankung, über die immer noch zu wenige Menschen in unserer Gesellschaft informiert sind. Dabei leiden etwa 500.000 Menschen in D an ihr. Die Betroffenenzahlen steigen seit der Pandemie exponentiell; die Dunkelziffer ist hoch. ME/CFS kann jeden treffen. Die Betroffenen sind medizinisch und sozialgesundheitlich unterversorgt. Sie und ihre pflegenden Angehörigen sind meist auf sich allein gestellt. Noch dazu werden die Erkrankten größtenteils aus Unkenntnis falsch diagnostiziert, psychologisiert und fehltherapiert. Ihre Lage sollte den politischen und medizinischen Entscheidungsträgern bekannt sein, geändert wird an ihrer katastrophalen Situation jedoch kaum etwas. Weil die meisten Betroffenen Frauen sind? Weil es einfacher und kostengünstiger ist, körperlich Kranke in die Psychosomatik abzuschieben, als sich angemessen um sie kümmern zu müssen? Weil es aus sozioökonomischen Gründen nicht sein darf, dass Hundertausende, auch junge Menschen, schwer erkranken und unserem Leistungssystem 'wegbrechen', und die Existenz von ME/CFS deshalb verdrängt wird? In ihrem Tagebuch beschreibt Okërn ein Jahr ihres Lebens mit ME/CFS und geht diesen Fragen nach. So wächst sich das Tagebuch zu einem Manifest der Erkrankten aus, die nach Anerkennung, Fürsorge und einem dialogischen und partizipativen Umgang mit Patient*innen rufen.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2025
Iva Okërn
ME/CFS
Tagebuch und Manifest
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Weihnachten 2023. Ein Vorwort
Januar 2024
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Versöhnlicher Oktober?
Grauer November
Der letzte Monat des Jahres
Impressum neobooks
Unterm Weihnachtsbaum liegend kommt mir die Idee zu einem neuen Buch über ME/CFS. Und zwar deshalb:
Gerade habe ich eine freundliche Grußkarte geöffnet und darin gelesen: „Wir feiern bald den 50. Geburtstag von…, komm‘ doch dann einfach mal vorbei! … würde sich sehr freuen!“
Im ersten Moment freue ich mich über die Einladung. Im zweiten Moment könnte ich den Schreiber verfluchen. Er hat nichts begriffen, obwohl er meine Erkrankung kennt, und stochert – natürlich unbewusst – in meiner Wunde.
Ich kann nicht feiern, auch wenn ich wollte. Ich kann nicht ‚einfach mal‘ irgendwo vorbeikommen, auch wenn ich wollte.
Mein Körper reagiert mit Schmerzen, brain fog, Orientierungsproblemen, Übelkeit und Erschöpfung mit Liegezwang, wenn ich meine baseline, meine persönliche Belastungsgrenze überschreite; ihm fehlt zu schnell die notwendige Energie, alle Körpersysteme aufrecht zu erhalten. Die Kommunikationsabläufe in meinem Körper sind gestört, vermutlich durch ein fehlerhaft arbeitendes Immunsystem. Warum es fehlerhaft arbeitet, weiß keiner, aber ausgelöst wird dieser ‚Defekt‘ hauptsächlich durch eine schwere Virus-Infektion.
Zu den Reizen, die mich sehr schnell über meine Grenze führen, weil meine verschiedenen Körpersysteme sie nicht richtig verarbeiten, gehören unter anderem grelle Lichter, laute Geräusche, starke Düfte wie sie bei Straßenverkehrssituationen, Restaurantbesuchen und Geburtstagsfeiern zu gewärtigen sind.
Ich habe ME/CFS. Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungssyndrom, ICD10 G.93.3 (Krankheiten des Nervensystems). Eine schwere, chronische und multisystemische Erkrankung, die durch extremen Energiemangel gekennzeichnet ist, der den Körper bei Überschreitung einer individuellen Belastungsgrenze in die postexertionale neuroimmune Erschöpfung (PENE) treibt, die sich in ca. bis zu 60 verschiedenen Symptomen zeigen kann.
ME/CFS ist eine gar nicht seltene Erkrankung. Vor allem seit der Corona-Pandemie steigen die Zahlen der Betroffenen stark an. Dennoch wissen zu wenige Menschen über sie Bescheid.
Und – und das ist die wahre Katastrophe für die Betroffenen – vor allem wissen zu wenige Menschen in medizinischen und sozialen Berufen über die Erkrankung Bescheid.
So kommt es immer wieder zu tragischen Fehlentscheidungen von Medizinerinnen (vor allem in Reha-Einrichtungen), Psychologinnen, Therapeutinnen, dem Personal in Sozialbehörden und Bildungseinrichtungen, dem Personal in Krankenhäusern, bei Krankenkassen und bei Rentenversicherungsträgern.
Zu viele Erkrankte werden fehldiagnostiziert, fehltherapiert, bleiben sozialgesundheitlich unversorgt, fallen durch die Netze der sozialen Unterstützung, werden diskriminiert und stigmatisiert.
Cui bono, wem nützt es, stellt sich die Frage, dass den Betroffenen nicht adäquat geholfen wird?
Ich denke, wir alle, die wir rechnen können, wissen, welche Wege Geld zu gehen pflegt, wem es nutzt, Kranke krank zu halten, Krankheiten zu ‚übersehen‘ oder – da preisgünstiger – zu verharmlosen und willkürlich zu deklarieren. Aber dem kann abgeholfen werden…
Die Folgen sind für die Betroffenen und ihre Angehörigen grausam, wenn über eine bedrohliche Erkrankung geschwiegen wird, wenn Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft einer Krankheit gegenüber untätig bleiben, die jeden treffen, jeden komplett aus dem Leben reißen kann: jung und alt, reich und arm, gesund und vorbelastet – jeden.
Als Pädagogin ist mir so viel geballtes Unwissen der gesamten Gesellschaft unseres Landes über diesen schwerwiegenden Sachverhalt ein gewaltiger Dorn im Auge.
Unterm Weihnachtsbaum liegend beschließe ich daher, mit meinen wenigen Kräften einmal mehr mein Möglichstes zu versuchen, um Menschen über ME/CFS zu unterrichten, indem ich sie über ein Jahr lang mitnehme in meinen Alltag, indem ich sie an meinen Gedanken, Empfindungen und Erlebnissen teilhaben lasse, offen und unverblümt.
Ich lade alle Interessierten herzlich ein, ME/CFS und mich durch das Jahr 2024 und zu einem Manifest der Betroffenen zu begleiten.
Iva Okërn, Münster/Thurso 2024
Gender-Hinweis: zur besseren Lesbarkeit von Personenbezeichnungen und personenbezogenen Wörtern wird die weibliche Form genutzt. Darin sind alle Geschlechter inkludiert.
29. Dezember 2023
In meinem Körper rumort der Schmerz.
Er bohrt sich ein. – In dieser ruhelosen Nacht
besiegt er mich. Mein atemloses Herz
hängt bedrängt im entleerten Skelett, der Macht
seines Pulsens beraubt, ein flatternder Balg.
Die Stunden rasen, sie lassen mich zurück.
Ich bin zu langsam. – Raketengleich der Zeiten
Flug; ein Largo, aus einem Requiem ein Stück
der Sequenz mein Tempo. Leblos unangepasstes Gleiten
parallel zu Tagen, Wochen, Jahren…
Ein Nebel verfängt sich in meinen Gedanken.
Er dehnt sich aus. – In die Finsternis
drängt er meine Worte. Des Vergessens Schranken
heben sich, ihn dunsten zu lassen, ohne Hindernis
sich auszubreiten, Buchstaben zu drehen.
Meine Stimme versagt sich das Sprechen.
Mein Atem stockt. – Keiner weiß mehr,
dass ich bin, bin, um aufzubrechen
die Regel von Leben und Sterben, dass ich leer
im Leben liege, im vorgezogenen Tod.
(Veronika Beci)
Neujahr
Gestern musste ich mich nach dem festlichen Abendessen doch wieder hinlegen; dabei wollte ich bis Mitternacht aushalten. Ich lag in der dunkelsten Sofaecke. In den letzten Sekunden vor dem Jahreswechsel stand ich auf, wünschte meinem Mann ein gutes Neues Jahr und dann wagte ich einen Blick hinaus auf die Funkenregen, die ringsumher vor dem Nachthimmel losplatzten. Ich öffnete sogar die Terrassentür – das war aber wieder zu viel des Guten, der reinste Übermut. Er wurde sogleich mit Kopfschmerzen ‚bestraft‘. Ich sollte es doch langsam wissen: den Abend zu bestehen, grelle Lichter anschauen und dazu noch Krach, damit prallen zu viele Reize auf mich ein und bringen mich im Handumdrehen über meine baseline, meine persönliche Belastungsgrenze.
Während mein Mann nach draußen ging, um der Nachbarschaft Neujahrswünsche auszusprechen und ein wenig mit ihr zu feiern, ging ich zu Bett und da blieb ich bis gegen zehn Uhr, mal schlafend, mal nicht: mal weckten mich das Brennen in den Oberarmen, dann jähe Atemnot, weil Zungen- und Rachenmuskeln erschlafften, dann wieder riss mich der stechende Schmerz in der Hüfte aus meinem tranigen Dösen.
Wenn ich nämlich einschlafen kann, dann für maximal zwei Stündchen am Stück, ehe mich wieder irgendein Schmerz irgendwo im Körper weckt. Einen neuen Rekord habe ich seit Wochen nicht aufstellen können; zwei Stunden Schlaf am Stück bleibt anscheinend die Höchstleistung – aber ich gebe die Hoffnung nicht auf!
Seit ich aufgestanden bin, habe ich mehrere Tassen Kaffee getankt, was aber nicht viel gegen meine Schlappheit hilft, die ich auch 2024 in gewohnt gekonnter Weise an den Tag lege.
Ich weiß, ich weiß, ich weiß: zu viel Kaffee ist schädlich, die aufputschende Wirkung ist nur bedingt, bla, bla, bla. Lasst mich mit solchen Anmerkungen bloß in Ruhe, denn erstens habe ich das alles selbst bedacht und zweitens bleibt mir in meinem Leben sehr wenig – auch Sündiges, und darum halte ich an meinem Kaffeekonsum fest. Übrigens begrenzt er sich sowieso auf maximal fünf Tassen täglich, was ich für ein noch gesundes Maß halte.
Überhaupt: diese Anmerkungen von Menschen, die es ‚gut meinen‘, die keine Ahnung von meiner Erkrankung haben, es aber besser wissen – ich glaube, das ist fast das Schlimmste an der ME/CFS. Hoffentlich bleibe ich 2024 von Gutmeinenden und Besserwissern verschont. Das wünsche ich mir noch vor Weltfrieden und globaler Klimaneutralität.
Was ich Neujahr noch so gemacht habe: eine halbe Stunde Spaziergang, gestützt auf meinen Mann, kurzatmig und immer langsamer werdend, aber ich will in Bewegung bleiben, weil ich es liebe, um fit für die Arbeit zu sein und dem Muskelabbau entgegenzuwirken. Danach ausgepowert vom Stuhl aufs Sofa, vom Sofa aufs Bett und wieder zurück. Ein wenig gelesen, genau fünf Seiten aus Stefan Zweigs Biographie-Roman „Joseph Fouché“, eine geniale Abrechnung mit politischen Drahtziehern; fünf Seiten, denn zu mehr reicht meine Konzentration nicht aus und auch nicht die Kraft, das Taschenbuch in der Hand zu halten. Außerdem können meine Augen irgendwann nicht mehr den Zeilen folgen, mein Blick rutscht immer wieder weg und das verdirbt den Lesespaß.
2. Januar
Den Tag mit Ballett-Übungen begonnen.
Ja, richtig gelesen: Ballett.
Ballett ist kunstvoller Leistungssport; Ballett zielt auf die Beherrschung der gesamten Muskulatur, bis in die der kleinen Zehe; Ballett lebt von fließenden Bewegungen und Haltung. Ballett fördert neben der Gesamtmotorik Ausdauer, Konzentration, Aufmerksamkeit, Ausdrucksfähigkeit und Disziplin; viel mehr als jede andere Sportart. Außerdem wird von Balletttänzerinnen künstlerische Auffassungsgabe gefordert – der Anspruch übertrifft die meisten anderen Sportarten.
Von mir sind natürlich keine hohen Dégagés und Développés zu erwarten, auch keine gewaltigen Sprünge und Tanzen en pointe. Ich erarbeite mir, wann immer ich kann (wenn es gut geht, ist das mindestens dreimal wöchentlich), Teile des täglichen Workouts des NY-City-Ballett und anschließend wechsele ich zu ballettbasierten Bewegungen, insgesamt höchstens eine halbe Stunde lang – ich muss immer scharf darauf achten, meine Belastungsgrenze nicht zu überschreiten.
Die Bewegungsübungen sind übrigens nicht schwer; sie bestehen aus den Grundübungen des Balletts und umfassen viel Stretching und Anspannungs-Entspannungs-Abfolgen. Bei meinen Problemen mit den Schulter- und Ellenbogengelenken sind die Port-de-bras-Übungen vorteilhaft, das ‚Tragen der Arme‘.
Da das alles im Zusammenhang mit Musik steht, macht es mir großen Spaß.
Ich bin nach einer halben Stunde Ballett erst einmal pausenreif. Ich habe es immer geliebt, mich viel zu bewegen. Bis vor einem Jahr fuhr ich täglich mit dem Rad eine Stunde hin zur Arbeit und eine Stunde zurück. Plus Ballett. Bis ich es nicht mehr leisten konnte und mich in Wohnortnähe versetzen lassen musste.
Tag für Tag wird mir ein Stück mehr Bewegungsfähigkeit genommen, aber ich trotze dem.
Schnell duschen. Zähne putzen, und zwar im Sitzen. Ich muss lachen, denn es ist schon ein Klischee, dass ME/CFS-Betroffene ihre Zähne im Sitzen putzen. Es geht aber nicht anders, denn ich kann nicht mehr stehen.
Das Anziehen ist eine Qual. Auch, wenn ich nicht vorher meine Bewegungsübungen gemacht habe.
Wie viele BHs habe ich zerrissen, ehe ich so intelligent war, die Dinger vorne zu schließen, dann herumzudrehen und die Arme durch die Träger zu stecken!
Nach jedem Kleidungsstück sitze ich auf der Bettkante, um zu verschnaufen.
Dann geht es die Treppe hinunter in die Küche. Mein Frühstück besteht heute aus zwei Tassen Kaffee und meiner ersten bunten Mischung Tabletten: leckeres Cortison und Vitamin B12, heruntergespült mit Zitronenwasser, dann noch mein Antiasthmatikum inhalieren zur Erweiterung der Bronchien – bei meiner chronischen Bronchitis eine Notwendigkeit, sonst fällt mir das Atmen zu schwer.
Fertig.
Hunger habe ich mal wieder nicht.
Ich mache mich, solange ich noch durchhalte, auf den Weg zum Briefkasten, um Neujahrsbriefe an liebe Menschen einzuwerfen. Gut, dass ich heute noch nicht zur Arbeit muss und die letzten Tage brav gepact habe, also streng auf meine baseline geachtet habe. So kann ich mir diesen kleinen Ausflug leisten.
Nach zehn Minuten Fußweg humpele ich wegen der Hüftschmerzen und verfluche mich, weil ich meinen Gehstock nicht mitgenommen habe. Nun bin ich aber auch schon beim Briefkasten. Die zehn Minuten Rückweg hangele ich mich an den Gartenzäunen und Hecken entlang. Für die Unbeteiligte sehe ich sicher aus wie ein schrulliger Mr. Monk, der jeden Laternenpfahl begrapschen muss.
Zuhause sitze ich erst mal lange Zeit auf dem Hocker neben der Haustür.
Wie so oft.
Atem holen, Schmerzen sortieren. Aha: Kopfschmerzen vorn und hinterm linken Auge, Oberarmbrennen rechts, gelähmter Zeigefinger rechts, stechender Hüftschmerz links, Muskelkrampf im Spann rechts und Schmerzen in den Zehengelenken rechts. Das Übliche nach zwanzig Minuten Spazierengehen.
Ich warte geduldig, bis ich wieder zu etwas Energie komme. Dann erst kann ich mich mühsam von Jacke und Schuhen befreien, einen großen Schluck Zitronenwasser trinken und mich kraftlos aufs Sofa werfen. Ausruhen.
Die Belastungsgrenze ist erreicht, wie die Schmerzen mir sagen. Von jetzt an muss ich noch strenger mit meiner Energie haushalten. Aber das waren mir das Ballett und der Spaziergang wert – ich gebe halt meine Energie an einigen Tagen auch mal für das aus, was mir, nur mir, Lebensfreude spendet.
Ich liege ca. zwei Stunden mit geschlossenen Augen, denn das Licht tut mir jetzt nicht gut. Dann gehe ich langsam, mich an Möbeln, Wänden, Türklinken abstützend, bis zur Toilette. Muss leider sein – ich wäre gerne noch liegen geblieben, aber meine Blase hat einen eigenen Willen. Übrigens einen, den ich zwischenzeitlich schon fürchten musste, weil nämlich vor einigen Monaten ein paar Tage lang meine Blasenmuskulatur versagte. Was das heißt? Pipi in die Hose natürlich. Ich musste mit Wäscheschutz zur Arbeit gehen – das war mir sehr unangenehm; ich fürchtete die gesamte Zeit, nach Nashorngehege zu stinken. Zum Glück arbeitete die Muskulatur nach einigen Tagen wieder, aber jetzt weiß ich, womit ich vielleicht in nicht allzu langer Zeit zu rechnen habe.
Die Windeln liegen bereit.
Ich habe ja frei! Also kann ich noch etwas ausruhen. Da ich meine Beine nicht mehr anheben kann, krabbele ich auf allen Vieren die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Mache ich öfter so, wenn mich keiner sieht. Ich liege erst auf dem Bett nach der anstrengenden Krabbelei, dann setze ich mich an den PC, kurz die Mails checken und einmal ein paar Posts und Tweets und Trööts und dergleichen überfliegen. Wie immer lese ich nur das, was mir ganz oben angezeigt wird, weil für mehr die Konzentration nicht reicht.
Interessante Neuigkeiten: Charles Darwin und Marie Curie sollen an ME/CFS gelitten haben, heißt es in den sozialen Medien. Ich bin baff. Die also auch! Von Florence Nightingale, Elizabeth Barrett Browning, Rahel Varnhagen, Emily Dickinson und einigen Berühmtheiten mehr weiß ich es. Ich forsche derzeit nämlich über das Thema ‚Historische Persönlichkeiten mit ME/CFS‘. Darwins Betroffenheit kommt mir nachvollziehbar, Marie Curie eher spekulativ vor, das werde ich recherchieren müssen.
Am frühen Nachmittag rappele ich mich auf, um Essen für die Familie zu kochen. Erbsengemüse, dazu Brot. Ich nehme ein paar Bissen. Grundlage für meine Dosis an Opioiden wegen der Schmerzen. Dann wieder eine große Pause auf dem Sofa.
Nachdem die Familie eingetrudelt ist und ich alle begrüßt und gekuschelt habe, verschwinde ich wieder in mein Bett, denn der Lärm, den diese (lieben) Menschen veranstalten, namentlich das Schrappen von Besteck über Teller und das anschließende Aufknacken von Walnüssen ist für mich furchtbar und löst Kopfschmerzen aus.
Bis zum Abend liege ich wieder. Dann stehe ich auf, um eine Orange zu essen, etwas zu trinken und die nächsten Tabletten zu schlucken. Diesmal sind es der Blutdrucksenker und ein Tütchen hochdosiertes Magnesium gegen Muskelkrämpfe. Ich wechsele ein paar Worte mit meinem Mann, das Wichtigste vom Tage. Dann schaue ich noch die Tagesschau, aber ich habe fünf Minuten später den Inhalt wieder vergessen.
Mit zwei Tassen Pfefferminztee als Begleiter setze ich mich ein wenig an meine Schreibarbeit. Dieser Tagebucheintrag hier. Gleich muss ich noch einmal meine Gute Nacht-Tabletten nehmen: ein Antidepressivum gegen Schmerzen und zwei Sedativa, die hoffentlich mal wirken. Vom Baldrian, dass ich genommen habe, brauchte ich zuletzt vier Stück, um überhaupt etwas Entspannung zu fühlen. Aktuell versuche ich es mit einem Passionsblumenmix. Vielleicht brauche ich auch da bald ‚richtige‘ Bomben, Hypnotika, nicht mehr nur die pflanzlichen Pillen.
Und das war mein ‚aufregender‘ zweiter Januar 2024 – ein wahrhaft denkwürdiger Tag.
Dreikönigstag
Tatatataaaaa! Der erste Neujahrsvorsatz ist schon wieder passé!
Von wegen: ich schreibe jeden Tag darüber, wie ich mit ME/CFS meinen Alltag bestreite.
Am ersten Arbeitstag, den dritten Januar, habe ich mich schon dermaßen angestrengt, dass ich nach der Arbeit beim besten Willen nichts mehr tun konnte. Ich saß nur wie halb betäubt auf dem Sofa und mühte mich gegen 21:30 Uhr (nach der Einnahme der letzten Tablettenration) ins Bett. Dort blieb ich dann, innerlich angespannt bis zum Äußersten, mit brennenden Oberarmmuskeln, unangenehm kribbelnden Beinen und diesem eigentümlichen Druck in der Gegend der Thymusdrüse mit geschlossenen Augen liegen, ohne einschlafen zu können. Wenigstens ausruhen, dachte ich, wenn ich schon nicht schlafen kann.
Gegen halb drei morgens reichte es mir dann doch, denn ich überlegte mir, dass ich den nächsten Arbeitstag ohne Schlaf vielleicht nicht würde überstehen können. Also her mit den Sedativa!
Ich nahm gleich drei Stück der Beruhigungstabletten auf einmal, denn weniger schlägt schon gar nicht bei mir an – Erfahrungswert. Um halb vier schaute ich das letzte Mal auf die Uhr. Um sechs Uhr läutete der Wecker.
Frühdienst nach zwei Stunden Schlaf – das Leben kann so erfrischend sein!
Donnerstag und Freitag verliefen nicht anders – nach einer längeren Pause wie den Weihnachtsferien gewöhnt sich mein Körper nur langsam wieder an den Arbeitsalltag; er kann nicht, wie ein gesunder Leib, von Pause auf Action und Action auf Pause umschalten.
Gut, dass ich von Natur aus eine kleine Lerche bin. Frühes Aufstehen hat mir noch nie etwas ausgemacht. Morgens habe ich daher weniger Probleme mit meinem Körper.
Ich schüttele kurz die Nacht von mir ab. Dann beginnt das schon beschriebene Morgenritual, in schneckengleichem Tempo, und ohne Ballett-Einlage. Denn bei mir geht nur eins von beidem: entweder morgens Arbeit oder Ballett/Spaziergang oder eine andere Aktivität. Nur sehr selten geht beides zusammen.
Was wäre, wenn ich meine Arbeit nicht lieben würde? Wenn ich nicht mit Freude auf die vor mir liegenden sechs Stunden blicken könnte? – Ich glaube, dann wüsste ich keinen Ausweg mehr.
Ich liebe meinen Beruf, denn er ist zugleich meine Berufung: die jüngsten Menschen auf ihrem Bildungsweg, vor allem im Hinblick auf Sprache, zu begleiten und ihre erwachsenen Bildungspartnerinnen zu allen die Sprache umfassenden und sie tangierenden Themen fort- und weiterzubilden; vor allem Partizipation und Inklusion liegen mir dabei am Herzen. Heute, da ich als beeinträchtigter Mensch am eigenen Leib spüre, dass Deutschland alles andere als ein Land des inklusiven und partizipativen Miteinanders ist, noch mehr als gestern.
Daraus speist sich meine Mission: die Jüngsten genau dorthin zu führen, nämlich zu einem Leben miteinander, nicht gegeneinander.
Verdammt: ich bin ja eine Idealistin!
Idealisten haben es immer schwer.
Genau mein Ding. Ich habe Herausforderungen von jeher geliebt und mich gelangweilt, sobald alles in geregelten Bahnen verläuft. Ich brauche Hürden in meinem Leben. - Vielleicht brauche ich ME/CFS, meine Dauerhürde?
Apropos Arbeit: wenn jemand mit Erschöpfung und einigen anderen Symptomen beim Arzt* vorstellig wird und es lassen sich mit den üblichen ersten Untersuchungen (Labor und bildgebende Verfahren) keine Biomarker finden, dann steht die Vermutung einer psychosomatischen oder psychischen Erkrankung im Raum. Bei kranken Arbeitnehmern steht Burnout ganz oben auf der Verdachtsliste.
Burnout ist eine emotionale Erschöpfung, ausgelöst durch überfordernde Lebensumstände, zu denen meist die Arbeitsbedingungen gehören. Weitere Symptome des Burnouts können zum Beispiel Konzentrationsstörungen, Verlust der Kreativität und Motivation, Entscheidungsunfähigkeit und körperliche Auffälligkeiten wie Bluthochdruck, Herzrasen, Schweißausbrüche und depressive Verstimmungen sein.
Burnout ist ein Einfallstor für Angststörungen und Depressionen.
Burnout ist im ICD 10 unter Z73.0 zu finden – in dem ICD (‚International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems‘), der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird und demnach nahezu weltweit gilt, sind alle Krankheiten mit ihren Kennzeichen aufgeführt.
Es kommt häufig zu Verwechslungen von Burnout und ME/CFS, dabei liegt der Unterschied klar auf der Hand. Bei Burnout ist es die emotionale, bei ME/CFS die körperliche Erschöpfung, bei Burnout gehen Fantasie, Initiative und Vorstellungsvermögen verloren, bei ME/CFS ist das nicht der Fall; im Gegenteil stecken ME/CFS-Menschen meist voller Pläne und wünschen sich zurück in ihre Arbeit.
Mit einer sorgfältigen Anamnese könnte schon die erste behandelnde Ärztin, meist die Familienärztin, ein Burnout ausschließen.
Könnte.
Wenn sie von ME/CFS wüsste, und wenn sie Zeit für eine sorgfältige Anamnese hätte.
Und da liegt der Hund begraben: ME/CFS ist noch nicht bekannt genug und Ärztinnen haben zu wenig bezahlte Zeit für ihre Patientinnen. Doch das ist ein Kapitel für sich…
Sonntag, 7. Januar
Habe gestern fast den ganzen Tag nur gelegen, außer, um zur Toilette zu gehen und mein Soll in diesem Tagebuch zu erfüllen. Mit meiner Familie habe ich mich ein wenig ausgetauscht, ehe ich mich wieder in mein Zimmer, in mein Bett zurückziehen musste.
Wenn ich zehn Minuten, selten mehr, mit jemandem gesprochen habe, dann muss ich mich erst wieder zurückziehen und pausieren, denn Gespräche, vor allem, wenn die emotionale Beteiligung hoch ist, strengen mich sehr an: all die Muskeln, die zur Sprachproduktion nötig sind, von der Atem- bis hin zur Mundmuskulatur, nicht zu vergessen der ‚Denkmuskel‘, der beim Sprechen tunlichst eigeschaltet sein sollte (obwohl es, glaube ich, heutzutage kaum noch auffällt, wenn er es nicht ist)!
11. Januar
Montag, Dienstag, Mittwoch – an jedem Tag findet dasselbe Spiel statt: aufstehen, arbeiten, kurz nach 14 Uhr aufs Sofa fallen, erst einmal so viel Kraft tanken, um nach oben in die Schlafzimmeretage zu gelangen. Anderthalb Stunden später schaffe ich es hinauf, auf allen Vieren. An jedem der Tage schlafe ich vor Erschöpfung ein und wache erst gegen 18 Uhr wieder auf. Wobei mir auffällt, dass ich ja doch mehr als zwei Stunden täglich schlafe, nämlich 4-5 Stunden, nur verteilt auf Tag und Nacht.
„Siehste, Mäuschen“, sage ich zu mir: „Es ist mal wieder halb so wild.“
In Japan, so erinnere ich mich, machen sich viele Menschen einen Spaß daraus, so kurz wie möglich zu schlafen. Dafür halten sie untertags viele kurze Power-naps. Vielleicht habe ich eine japanische Seele; wer weiß das schon.
Jeden Tag balsamiere ich mich tüchtig mit Cannabis-Creme ein. Sie hilft mir besser als die üblichen Thermosalben bei meinen Gelenk- und Muskelschmerzen: Schultern, Knie, Ellenbogen, Fußgelenke, Oberarme, Oberschenkel… Gibt es eigentlich außer meinem Kopf noch eine Körperstelle, die nicht eingecremt werden muss?
Trotzdem sitze, oder besser, liege ich wieder auf dem Sofa im Wohnzimmer mit einer Wärmeflasche. Mir ist eiskalt.
Die Kälte ist keine äußerliche Kälte, die man spürt, wenn man bei Minus-Temperaturen oder eisigem Wind einige Zeit draußen war. Die Kälte, die mich befällt, scheint aus dem Inneren zu kommen. Und mit warmen Decken, warmem Tee und Wärmflasche, selbst mit einem heißen Vollbad bekomme ich die Kälte nicht so leicht aus den Knochen. Sogar mit Bewegung nicht – nicht einmal eine gute Dosis meines Balletts kann die Kälte vertreiben, wenn sie sich einmal in mir festgesetzt hat. Mein Bett ist darum voller Kissen, Plüschtierchen (viele von meinen Kindern ‚geerbt‘), Decken und ich liege darin mit dicken Schals um den Hals, dicken Tüchern um die Schultern, Wärmeflaschen und Kuschelsocken an den Füßen – doch die Kälte bleibt.
Ich nenne die Kälte spaßeshalber immer den ‚Schauer des Todes‘, wenn sie mich überfällt. Anscheinend hat mein Körper in diesen ‚wunderbar frostigen‘ Stunden nicht mehr die Energie, die Körpertemperatur zu regulieren.
Genauso gibt es Tage, an denen mir so heiß wird, dass ich glaube, hohes Fieber zu haben. Doch das täuscht. Die Körpertemperatur ist normal. Mein Nervensystem erhält nur mal wieder verwirrende Informationen, da die Reizverarbeitung nicht gelingen will, und glaubt, mir wäre warm, das dumme Ding. Mir bricht der Schweiß aus, Hitzewelle um Hitzewelle überschwemmt mich, ich bekomme ein hochrotes Gesicht, fühle mich fieberkrank. Mit dem bereits überstandenen Klimakterium hat das übrigens nichts zu tun – ich kenne solche vermeintlichen ‚Fieberschübe‘, Flushs genannt, seit meiner Jugend.
An den Tagen könnte ich wintertags bei steifem Ostwind im T-Shirt über die Straße rennen und würde nicht einen Augenblick frieren. Könnte – ich habe das schon getan, weil ich keine Jacke am Leib ertragen konnte. Natürlich wurde ich prompt krank, was wiederum meine Symptome verstärkte und einen Crash nach sich zog.
Menschen mit ME/CFS haben Probleme mit der Temperaturregulation.
Am heutigen Donnerstag dann habe ich die Arbeit nur bis halb elf problemlos durchgehalten. Von hier auf jetzt kam die Erschöpfung. Früher als sonst. Ich zitterte am ganzen Leib. Jedes Geräusch war eine Qual. Meine Muskelkraft nahm rapide ab. Schmerzen taten sich im ganzen Körper auf, in den Füßen, in der Hüfte, im rechten Oberschenkel und in der rechten Schulter. Meine Reaktions- und Merkfähigkeit war gleich null. Ich biss auf die Zähne, schluckte schnell meine Notfall-Schmerztabletten. Eine halbe Stunde fühlte ich mich elend. Ich ging dem größten Lärm geschickt aus dem Weg, zog mich einen Moment lang raus – zum Glück habe ich verständnisvolle Kolleginnen, die in solchen Momenten die Arbeitslast für mich mittragen; das Glück hat auch nicht jeder. Als die Wirkung der Tablette einsetzte, hielt ich noch bis zum Arbeitsende eisern durch. Wie so oft mussten Wille, Selbstdisziplin und Selbstkontrolle mal wieder den tödlich erschöpften Körper weiterschleifen.
Mein Leben ist seit meinem zehnten Geburtstag ein Leben voller ungeheurer Selbstdisziplin, Selbstüberwindung, ein Leben von hoher Anpassungsleistung. – Mir imponieren so schnell keine sportlichen Extrem- oder geistigen Hochleistungen anderer. Das habe ich seit nunmehr achtundvierzig Jahren, an 365 Tagen im Jahr, an sieben Tagen die Woche, an 24 Stunden am Tag – pausenlos.
Mit starken Schmerzmitteln aufgeputscht und nach zweistündigem Erschöpfungsschlaf auf dem Sofa, nachdem ich von der Arbeit nach Hause gehumpelt war, bin ich jetzt wieder in der Lage, diese wenigen Zeilen zu notieren.
Aber nun packt mich das Kopfweh, die Augen schmerzen, der Kopf steckt wie in Watte.
Ich will nur noch liegen, die Augen schließen, nichts mehr…
Mittwoch, 17. 01.
Und wieder ist eine Woche weg, in der ich nach der Arbeit nur noch liegen konnte, oftmals im Halbdunkel.
Zum Glück ist es Winter. Dann muss ich mich dem Tag nicht verschließen, nicht mit Rollo und Lamellen die Sonne aussperren, was mich frustriert. Die ganze Welt wiegt sich jetzt in dem angenehmen Dämmerlicht, das ich gut aushalte.
Licht…
Die Zeit, die ich am Laptop sitzen kann, wird auch immer kürzer. Seit den Weihnachtsferien war ich nur ein paarmal für wenige Minuten auf den sozialen Medien unterwegs, um einige neue Nachrichten aus der ME/CFS-Community zu lesen, denn das Laptop-Licht stört mich extrem. Es gibt spezielle Brillen gegen das blaue Licht, aber ich glaube, es ist gesünder auf PC-Zeiten zu verzichten.
Und dann das Licht bei der Arbeit!
Ganz schlimm ist es, wenn ich jetzt aus dem Dunkel des frühen Wintermorgens in die hell erleuchtete Einrichtung komme. Es blendet mich nicht nur, es löst Schmerzen hinter den Augäpfeln aus.
Das Licht ist immer der erste Schmerz am Tag, der mich trifft.
Heute war es nicht nur das Licht. Auch der Lärm machte mir bereits nach zwei Stunden Arbeit Probleme. Mir war übel, mir wurde schwindlig, Schmerzen pochten in verschiedenen Stellen meines Körpers.
Extrem sind immer die Schmerzen in der Hüfte oder in den Fingern und Zehen. Dabei war an diesem Arbeitstag nichts anders als sonst – nur mir ging es halt schlechter als üblich.
Kurzer Rückzug in die Abstellkammer, wo ich in Ruhe ein Opioid schlucken und fünf Minuten die Wirkung abwarten kann.
Opioide nenne ich immer zärtlich „Opium fürs Volk‘. Es nimmt dem Schmerz zumindest die Spitze.
Und wie immer halte ich durch, obwohl ich mehr als einmal das Gefühl habe, ich würde im nächsten Moment glatt in der Mitte durchbrechen.
Licht und Lärm.
Tja, wer ME/CFS hat, der muss sich schleunigst an eine miserable Reizverarbeitung gewöhnen. Die Kommunikation zwischen den Sinnesorganen und den Nerven funktioniere nicht mehr einwandfrei, habe ich mir sagen lassen.
Ich überstehe den Rest des Tages mit Schafswolleknübbelchen in den Gehörgängen. Zum Glück habe ich eine firme Kollegin, die mit homöopathischen Wassern gewaschen ist; sie hat mir den Trick mit der Schafswolle empfohlen. Sie dämmt in der Tat wunderbar den Lärm, ohne das Hören zu sehr einzuschränken, wie es der Fall bei Gehörstöpseln wäre.
Mir scheint, ich überlebe in dieser Welt nur noch mit Tricks und Tipps.
Donnerstag, 18.01.
Nein!
Es ist eingetroffen, wovor ich mich grusele, seit ich es vor einigen Monaten bereits einmal erlebte. Ich will es nicht sagen, aber ich verrate es doch, getreu meinem Anspruch, nichts aus meinem Alltag zu verheimlichen.
Also bitte: ich habe mitten in der Arbeit in die Hose gemacht.
Jetzt ist es raus.
Es war nicht peinlich viel Urin, aber ich merkte, dass ich einfach loströpfelte; kein Muskel wollte mehr funktionieren, die Misere aufzuhalten. Ich organisierte mir schnell eine Vorlage (in meinem Alter trotzdem eine auffällige Angelegenheit). Gottlob musste ich nicht mehr lange leicht angepinkelt arbeiten und hatte bald Feierabend.
Bei jedem Schritt nach Hause tröpfelte ich munter für mich hin wie eine ‚Dröppelminna‘. Wieder Glück: mir begegnete unterwegs keine Menschenseele. Gott hatte sicher ein Einsehen mit mir armem Würmchen und hat dort oben auf seiner Wolke sitzend gesprochen: „So, jetzt geht mir keiner auf die Straße, solange meine kleine Dröppelminna nach Hause läuft.“
Wenn man bedenkt, wie viele Muskeln der Mensch besitzt, wo sich die Muskeln befinden, und was geschehen kann, wenn diese Muskeln ausfallen, weil der Körper plötzlich keine Energie mehr hat, sie zu bewegen, dann kann sich jeder unschwer vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten ME/CFS-Erkrankte leben müssen – und wie gefährlich, lebensgefährlich die Krankheit werden kann! Selbst schon für moderat betroffene Menschen wie ich einer bin.
Den Rest des Tages war ich wieder ‚out of order‘. Und die Tröpfelei verschwand nach ein paar Stunden, die Beckenmuskulatur hatte sich wieder erholt.
Seltsamerweise konnte ich, ausgetröpfelt wie ich war, diesmal sehr gut schlafen, ganze fünf Stunden am Stück – ein Segen!
Samstag
Ausgerechnet nach dieser schmerzhaften, unangenehmen Woche musste ich heute zum ‚Tag der offenen Tür‘ in meiner Arbeitsstätte antanzen. Vorbereitung – endlose Gespräche führen, Fragen beantworten (und wie immer in solchen Fällen dieselbe Frage ein Dutzendmal) – Aufräumen. Und dabei brauche ich die zwei Tage Wochenende, um einigermaßen wieder auf die Beine zu kommen, damit ich die nächste Woche bestehe.
Ich würde ja auch gerne mal wieder etwas mit meiner Familie machen. Auch ein schwer kranker Mensch hat noch ein Privatleben und nicht nur ein Arbeitsleben und dann nichts mehr… Manchmal gelingt es mir an einem Wochenende, sonntags wieder so weit Energie zu haben, dass ich einen kurzen Spaziergang mit meinem Mann oder einen nicht langen Spieleabend mit meinen Kindern machen kann. Fällt an diesem Wochenende aus, denn dafür habe ich nach der Mehrarbeit keine Kraft mehr.
Ich würde auch gerne mal wieder etwas handarbeiten oder lesen; es stapeln sich auf meinem Schreibtisch neue philosophische Fachartikel und ich möchte beruflich auf dem Laufenden bleiben.
Sie müssen noch länger liegen bleiben. Ich bin zu erschöpft, sie verstehend lesen zu können.
Ich habe einen Antrag auf Schwerbehinderung gestellt. Mir ist u.a. aufgrund der heftigen Myalgien, der chronischen Erschöpfung, meiner chronischen Bronchitis und meines Bluthochdrucks ein Grad der Behinderung von 40% zuerkannt worden.
ME/CFS selbst wurde nicht berücksichtigt.
Also keine Schwerbehinderung.
Aber nur die würde Menschen mit ME/CFS nützen, denn eine Schwerbehinderung (ab einem Grad der Behinderung von 50%) schützt vor Mehrarbeit, vor Kündigung und beinhaltet fünf zusätzliche, arbeitsfreie Erholungstage.
Und diese drei Möglichkeiten brauchen Menschen mit ME/CFS dringend. Sie schaffen keine Mehrarbeit wie Überstunden oder zusätzliche Wochenendarbeit, zu der ich heute mal wieder verpflichtet war. Das geht zumeist über ihre Belastungsgrenze. Sie benötigen dringend die zusätzlichen fünf Urlaubstage, denn für jeden Termin, den andere Menschen kurz nebenbei erledigen, eben noch schnell am Nachmittag nach der Arbeit, muss der ME/CFS-Erkrankte einen ganzen Tag einrechnen. In meinem Fall: für den Frisör, einen Termin beim Amt, einen Arzttermin, zum Zahnarzt, einen Einkauf muss ich einen Urlaubstag nutzen. Oder mit drastischeren Worten. Während andere in ihrem Urlaub tatsächlich im Urlaub sein können, absolviere ich im Urlaub notwendige Arzttermine oder andere wichtige Termine. Die erste Novemberwoche beispielsweise nehme ich mir seit Jahren frei und besuche dann Frauenarzt, Zahnarzt und Frisör, immer mit einem Erholungstag dazwischen. Anders schaffe ich es nicht.
Will ich meine alten Eltern besuchen, dann geht das nur, wenn ich mich vor dem Besuch mit langem Anfahrtsweg ein paar Tage von der Arbeit erholt habe und danach noch ein paar Tage meine Kräfte wiedererlangen kann, also ist auch hier mindestens ein verlängertes Wochenende nötig, wieder Urlaubstage, an denen ich im Halbdunkel mit Schmerzen liegen darf.
Und so könnte ich die Liste munter fortsetzen.
Im „Lexikon ME/CFS“ steht als Forderung, dass ME/CFS-Erkrankte mindestens zwei zusätzliche Urlaubstage pro Monat bräuchten, um ihnen einen annähernd gerechten Ausgleich für ihre geringe Lebensqualität zu schaffen und ihre Teilhabe an der Gesellschaft wenigstens zu einem Bruchteil zu ermöglichen.
Aber warum klage ich hier. Verlorene Energie, weiß ich doch, dass alles Reden über Teilhabe, Inklusion, Ausgleich nur leere Reden sind. Chronisch Kranke und Menschen mit Beeinträchtigung haben, genau wie Kinder und Arme, keine Lobby in diesem Land; mit ihnen sind keine Gewinne zu erzielen und mit ihnen ist kein Staat zu machen. Also können sie noch so lange um ein wenig mehr Gerechtigkeit flehen, sie kriegen sie in alle Ewigkeit nicht!
In meinen wüstesten Momenten sage ich mir mit funkelnden Augen und geballter Faust: aber wehe denen, die sich so lange nicht um Menschen ohne Lobby kümmern – die Beiseite-Geschobenen haben nichts mehr zu verlieren, und wenn sie sich auflehnen und aufstehen, ha, das würde dem Spartacus-Aufstand im alten Rom ähneln, oder den ebenso blutigen Bauernaufständen der Lutherzeit; wer nichts zu verlieren hat und um sein Leben nicht mehr zu bangen braucht, sondern dessen Ende als Ende der Not und des Unrechts als erleichternd empfände, der ist unberechenbar.
Moneo civis!
Manometer, jetzt war ich aber furchtbar wütend, nicht wahr? Das gehört eben zu meinem Schwur, alles zu offenbaren, was mich mit meiner ME/CFS bewegt und was ich erlebe. Dazu gehört Unbequemes, unangenehme Wahrheiten… und eben auch mein gerechter Zorn.
26.01.
Anruf von einer Freundin, die ebenfalls zu den Menschen mit moderater ME/CFS gehört. Wie ich arbeitet sie noch halbtags in ihrem Beruf, den sie liebt. Erste vorsichtige Frage am Telefon: „Kannst Du jetzt mit mir reden?“
„Ja, ich kann.“ Gut, dass sie auch ME/CFS hat und deshalb ohne lange Vorreden auf den Punkt kommt, um keine Energie für unnötiges Geplänkel zu verlieren.
„Iva, ich bin angepisst. – Ich habe in der Community gepostet, dass ich nach einem Arbeitstag mit schwerem brain fog zu kämpfen hatte. Daraufhin erhielt ich Kommentare wie der: ‚arbeiten gehen wäre Selbstmord auf Raten‘. Dem widersprach ich, indem ich postete, dass ich das nicht so empfände, sondern die Arbeit für mich eine Kraftquelle wäre, weil ich meine Arbeit liebe. Mit anderen Worten: für mich hat Arbeit auch Lebensqualität. Darauf erhielt ich die schulmeisterliche, um nicht zu sagen beckmesserische Antwort, ‚Einsicht wäre der erste Weg zur Besserung‘.“
„Das hast du aber hoffentlich nicht durchgehen lassen, denn das war übergriffig – lass mich raten, diese ‚Belehrung‘ kam sicher von einem Mann.“
„Na, klar, dem Namen nach zu schließen, auch noch unser Alter, also höchstwahrscheinlich einer von denen, der sich schlauer als alle anderen, vor allem Frauen, fühlt.“
„Wie hast Du geantwortet?“
„Ich habe geschrieben: Danke – Smiley mit Augenzwinkern – bin selbst Pädagogin.“ Sie lacht und ich muss auch lachen.
„Da warst du aber noch nett. Meinst du, die feine Replik wird verstanden, dass du keine Belehrung nötig hast?“
„Ach, das juckt mich nicht. Hauptsache, ich habe Dampf abgelassen. Normalerweise ignoriere ich blöde Kommentare; ich weiß ja, dass man mit ME/CFS auch mal reizbarer ist und Blödsinn vom Stapel lässt, aber da musste ich reagieren, denn ich glaube, zurzeit weitet sich in der Community eine Kluft zwischen denen mit faciler bis moderater und denen mit moderater bis severer ME/CFS und diese Uneinigkeit schmerzt mich.“
„Ich weiß, was du meinst. Das ist mir auch schon aufgefallen. Wenn leicht oder moderat Betroffene davon berichten, sie hätten einen Ausflug, eine kleine Reise unternommen oder, wie du, sie hätten dies und das nach der Arbeit erlebt, dann kommen sofort entweder diese Zurechtweisungen, wie du sie erlebt hast, oder Ungläubigkeit wie: ‚Du kannst noch reisen/arbeiten – dann hast du kein ME/CFS.‘“
„Ja, genau so. Und keiner berücksichtigt, mit welchen Problemen Reisen, Ausflüge und Arbeit für die Kranken verbunden sind. Oder keiner gönnt es einem, dass das noch möglich ist, trotz Erkrankung. Ist das der Neid?“
„Ach, ich glaube, dass ist Vieles: Neid, dass leichter Erkrankten noch einiges möglich ist; dann die Empfindung, selbst der einzige wahre Experte der Erkrankung zu sein; damit verbunden Überheblichkeit; und dann ein bestimmtes, fest umzirkeltes Krankheitsbild, an das sich viele Erkrankte festhalten, die verdrängen, dass eine Krankheit sich entwickelt, von leicht zu schwer, dass sie sich individuell ausprägt.“
„Jaja. Die Symptome bei ME/CFS sind ja sehr individuell bis auf die uns allen gemeinsame PENE und so ähnelt auch kein Lebensentwurf eines Patienten dem eines anderen – jeder definiert seine Lebensqualität anders, jeder setzt sich andere Prioritäten im Leben. Du mit deinem Ballett z.B. – ich dagegen kann überhaupt keinen Sport, nicht mal Bewegungsübungen machen, ohne zu crashen. Dafür habe ich nicht diese Probleme mit dem Licht, wie du. Ich kann deutlich länger am PC und vor dem Fernseher verbringen – das haben wir ja schon einmal verglichen – ich kann auch im Sommer ohne Sonnenbrille nach draußen – du nicht und so weiter.“
„Ich denke, der Kommentator war nur etwas kurzsichtig, sagen wir mal freundlich: unreflektiert. Das war bestimmt nicht böse gemeint.“
„Ja, sehe ich jetzt auch so. Ich fand seinen Kommentar nur so kotzbrockig selbstgerecht.“ Sie lacht: „Ach, ich muss auch gestehen, dass ich an manchen Tagen dünnhäutiger bin als an anderen.“
„Ich antworte grundsätzlich nur auf sachliche oder freundliche Kommentare. Alles andere belächele ich im Stillen.“
„Das werde ich in Zukunft auch so halten. – Versuche es zumindest; du kennst ja mein Temperament…“
Ich lache: „Den Zorn der Gerechten. Den kenne ich auch.“
Sie lacht: „Genau der. – Und sonst?“
„Wie im Herbst. Keine Verschlechterung.“
„Supi! Bei mir auch nicht.“
„Na, dann, auf dass es so bleibt! Viel Kraft, du Liebe!“
„Dir auch: Energie! Ciao!“
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