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ME/CFS ist eine schwere multisystemische Erkrankung, von der in D ca. 400.000 Menschen betroffen sind. Die Betroffenen leiden auch unter medizinischer und sozialgesundheitlicher Unterversorgung, Fehldiagnosen und kontraproduktiven Therapien. Iva Okërn beschreibt in ihrem neuen Buch das Profil der Krankheit und den Versorgungsbedarf der Betroffenen. Sie gibt zahlreiche wertvolle Impulse für Mediziner*innen, Therapeut*innen, Mitbetroffene und Betroffene selber und schlägt das neue Berufsbild der ME/CFS-Begleitung vor. Das Buch ist nicht zuletzt ein Plädoyer für ein Umdenken in der Medizin, Patient*innen als mündige Experten ihrer Erkrankung anzuerkennen und ihnen in einer dialogischen Arzt-Patient-Beziehung auf Augenhöhe zu begegnen.
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2022
Iva Okërn
ME/CFS begleiten
Eine Handlungshilfe für Behandler*innen, Therapeut*innen, Mitbetroffene und Betroffene
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
I. Die Krankheit und ihr Erscheinungsbild
1. Die Symptome der ME/CFS
2. Die Definition von ME/CFS
3. Der aktuelle Forschungsstand
4. Abgrenzung von anderen Krankheiten
5. Mögliche Therapien im Überblick
Medikamente
Ernährung
Bewegung
Entspannungstherapien
Selbstmanagement
II. Der Versorgungsbedarf der ME/CFS-Patien*innen
1. Die Postexertionale Malaise/ Post-exertionale Neuroimmune Exhaustion
2. Hilfsmittel
3. Behandlung von Komorbiditäten
4. Medizinische Versorgung
Haus- und Facharztpraxen
Krankenhaus und Reha
Medikamente und Co.
Sozialgesundheit
5. Therapeutische Maßnahmen
Physiotherapie
Physikalische Therapie
Ergotherapie
Tiergestützte Therapie
Musik- und Kunsttherapie
Logopädie
6. Psychologische Betreuung
7. Pädagogische Begleitung
8. Alltagshilfe
III. Wie ME/CFS achtsam begleitet werden kann
1. Profil der Begleiter*innen
2. Aufgaben der Begleitung
Alltagsbewältigung
Therapeutische Begleitung
Entspannung
NLP-Training
Logopädische Unterstützung
Pädagogische Begleitung
Pacing
Pflege
Diagnosehelfer
Die Aufgaben der ME/CFS-Begleitung im Überblick
IV. ME/CFS-Begleitung in der Praxis
1. Erstgespräch
2. Kennenlerngespräch(e)
3. Beginn, Verlauf und Abschluss der Begleitung
4. Einsatzbedingungen
5. Die Aufgaben im Einzelnen
Geprächsangebote
Wahrnehmungsangebote
Entspannungsangebote
Bewegungsangebote
Rhythmik
Ernährung
Logopädische Angebote
Raumgestaltung
Erfordernisse im Überblick
V. Vorschlag zum neuen Berufsbild der ME/CFS-Begleiter*innen
1. Profilbild
2. Einsatzart
3. Curriculum
4. Konfliktsituationen
Nachwort
Anhang
Steckbrief von ME/CFS
Dokumentationsbogen
Im Dschungel der ME/CFS-Insider-Begriffe. Glossar
Literatur
Impressum neobooks
ME/CFS
Meine Krankheit ist ein Sterben auf Raten,
ist schrecklich langsame Agonie.
Ich bin gesenkt in ein stetes Erwarten,
von Vorsicht verantwortete Monotonie.
ME/CFS, die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom, ist eine sehr schwere multisystemische Erkrankung, an der mehrere hunderttausend Menschen allein in Deutschland leiden. Dennoch war die Erkrankung bislang kaum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, stand nicht in den Curricula medizinischer Hochschulen und wurde folglich von den Gesundheits- und Sozialbehörden und -systemen selten berücksichtigt. Die Betroffenen sind daher nicht nur Opfer der Erkrankung, sondern auch medizinischer und sozialgesundheitlicher Unterversorgung. Zu Recht nennen sie sich „Vergessene“ und sind darauf angewiesen, sich in Selbsthilfegruppen und -vereinen zu verbinden, um mühsam, stückweise an Informationen über ihre Erkrankung zu gelangen und ihre Anerkennung zu erkämpfen, und das, obwohl im Koalitionsvertrag (Stand 2022) die Forschung über ME/CFS festgeschrieben ist und ein Kompetenznetzwerk geschaffen werden soll.
Bisher steht nur fest, dass ME/CFS durch eine starke Infektion ausgelöst werden kann, die zunächst einmal das Immunsystem betrifft, dessen Irritation sich dann in einer Art Kettenreaktion störend auf weitere körpereigene Systeme auswirkt wie zum Beispiel den Stoffwechsel und das Nervensystem. Häufiger Auslöser ist eine Ansteckung mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), der zum Beispiel das Pfeiffersche Drüsenfieber auslöst. Auch der Erreger SARS-CoV-2, besser bekannt als Coronavirus, kann ME/CFS auslösen. Viele der aktuell unter Long-Covid leidenden Patient*innen sind möglicherweise ME/CFS-Betroffene. Die Symptomatik ist recht ähnlich.
Überhaupt kann ME/CFS derzeit nur anhand der Symptome und unter Ausschlussdiagnostik festgestellt werden. Es gibt keinerlei Biomarker, die die Erkrankung eindeutig anzeigen, die Krankheit kann durch kein bildgebendes Verfahren diagnostiziert werden und die Symptome sind unspezifisch und vielfältig. Zudem geht ME/CFS mit einer Anzahl von Komorbiditäten einher, teils mit ähnlicher, überlappender Symptomatik. Da Mediziner*innen in der Regel ME/CFS als mögliche Erkrankung selten präsent haben, werden die Symptome auf andere, bekannte Krankheiten bezogen, eine Fehldiagnose gestellt und die Betroffenen entsprechend falsch therapiert, häufig mit fatalen Folgen, nämlich einer irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zur Bettlägerigkeit. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS referiert: „Ein Viertel aller Patient*innen kann das Haus nicht mehr verlassen … über 60 Prozent sind arbeitsunfähig“ (DGfMECFS, 2021).
Die Erforschung von ME/CFS stellt höchste Ansprüche an die Wissenschaftler, denn aufgrund der Uneindeutigkeit ihres Wesens und ihrer unscharfen Kontur sind interdisziplinäre Studien nötig, der Ursache und möglichen Biomarkern auf die Spur zu kommen. Aber interdisziplinäre Arbeit erfordert hohe personelle Kompetenzen und bedeutet einen höheren finanziellen Aufwand, die/den zu erbringen unsere Gesellschaft sich erst allmählich bemüht, forciert durch den Schock der Folgen von Covid-Erkrankungen.
Ärzte und Ärztinnen stehen der Erkrankung aktuell hilflos gegenüber und können lediglich die Symptome behandeln, was das Übel natürlich nicht bei seiner Wurzel packt. Sinnvolle, mildernde Therapien werden durch den langen Diagnoseweg oft viel zu spät eingeleitet. Wenn die Behandler befähigt wären, ME/CFS frühzeitig als mögliche Erkrankung zu erkennen, und wenn sie bereits bei Verdacht ihre Patient*innen entsprechend begleiten würden, könnten Fehl- und Falschbehandlungen vermieden und die Betroffenen geschützt werden, um Verschlimmerungen zu verhüten.
Der Hilflosigkeit der Behandler in Praxen, Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken angesichts der Erkrankung und ihrem lückenhaften Wissen über die Betreuung der ME/CFS-Betroffenen soll mit diesem Buch etwas Abhilfe geschaffen werden.
Es wendet sich aber nicht nur an Mediziner*innen und Therapierende, sondern auch an Mitbetroffene und Betroffene selber mit sehr praxisnahen Tipps und Ideen, wie ME/CFS begleitet und ihr leidvolles Leben etwas erträglicher gestaltet werden kann.
Nicht zuletzt soll dieses Buch einen Impuls geben, ein neues Berufsbild, das der ME/CFS-Begleiter*innen, zu schaffen. ME/CFS-Erkrankte benötigen eine ganzheitliche Unterstützung, die über das Maß aller zeitlichen und fachlichen Möglichkeiten von Mediziner*innen und Therapeut*innen sowie persönlichen Assistenten oder Pflegediensten hinausgeht. Ihre Erkrankung greift derart tief in die Identitätsbildung der Betroffenen ein und erfordert, einen neuen Lebensstil zu erlernen, sodass eine hauptsächlich pädagogische Begleitung nötig ist: ME/CFS ist eine einschneidende, bedrohliche Lebenserfahrung, eine herausfordernde Lernerfahrung.
ME/CFS-Betroffene haben sehr besondere Bedürfnisse; die ME/CFS-Begleitung ist genau auf diese Bedürfnisse zugeschnitten. Das Bundesteilhabegesetz von 2020 schafft die Voraussetzung für den Einsatz von ME/CFS-Begleiter*innen.
Im ersten Teil dieses Buches wird die Erkrankung vorgestellt. Anschließend wird der Versorgungsbedarf der Betroffenen geschildert. Ab Kapitel III werden die Bedarfe vertieft, angereichert mit vielen praktischen Tipps für alle Akteure rund um ME/CFS. Abschließend wird ein Konzeptimpuls zum Berufsbild der ME/CFS-Begleiterin*, des ME/CFS-Begleiters* vorgestellt, ein neu zu schaffender pädagogischer Beruf, der angesichts der steigenden Zahl von Betroffenen und Mitbetroffenen notwendig ist, um eine weit klaffende Versorgungslücke zu schließen. Weltweit leiden ca. 25 Millionen Menschen an ME/CFS; 70% der Betroffenen sind arbeitsunfähig, 25% ans Haus gefesselt (OMFC 2021). In Deutschland sind derzeit ca. 240.000 bis 300.000 Menschen betroffen (vgl. Melzer 2021); andere Quellen geben höhere Betroffenenzahlen an, die Dunkelziffer liegt weit darüber.
Vorausschickend: Das Buch ersetzt keinen Arzt- oder Facharztbesuch; die hier genannten Medikamente, Therapien und Nahrungsergänzungsmittel sind nur nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt* oder der behandelnden Ärztin* einzunehmen, bzw. anzuwenden. ME/CFS braucht ärztliche Betreuung. Das hier vorliegende Buch ist von einer Pädagogin, Nicht-Medizinerin und Betroffenen und aus der Sicht von Betroffenen geschrieben, die in Zitaten zu Wort kommen, denn niemand kann die Bedürfnisse der ME/CFS-Patient*innen (momentan noch) besser verstehen als die Betroffenen selber. Denn auch das fordern ME/CFS-Betroffene ein: Patient*innen als mündige Experten ihrer Erkrankung anzuerkennen und in ihrer Individualität wertzuschätzen.
Iva Okërn, Münster, Shkodra Juni 2022
Mantra
Von Tag zu Tag,
von Tag zu Tag,
von Tag zu Tag zu Tag.
Von Pau-se zu Pau-se,
von Pau-se zu Pau-se.
Sechs Stunden tun,
drei Stunden ruh'n.
Sechs Stunden tun,
drei Stunden ruh'n.
- - -
Vergessen,
verschwinden,
verstummen.
Vergessen,
verschwinden,
verstummmmmmm-en...
Eine Krankheit existiert nicht ohne die erkrankte Person. Das will heißen, Gesundheits- und Krankheitsgefühl eines Menschen sind abhängig von seinen personellen Fähigkeiten wie Widerstandskraft, Veranlagung, Resilienzfähigkeit, Temperament, Stimmung, Weltanschauung und Selbstbewusstsein, sowie seiner sozialen Einbindung (z.B. allein oder mit Familie lebend, kulturelles und gesellschaftliches Umfeld). Je nach diesen Einflüssen und je nach Krankheit fühlen sich die Betroffenen mehr oder minder krank. Deshalb entwickelt jede Krankheit ihren eigenen Charakter – es kommt immer auf die Art der Wechselwirkung an, in der sie mit dem Erkrankten steht. Sobald eine Krankheit einen Menschen betrifft, passt sie sich ihm an, verändert sich, wird individuell. Der eine Betroffene zeigt diese, der andere jene Symptome. Für jeden Betroffenen stehen andere Symptome als besonders belastend im Vordergrund. Ausnahmslos jeder Erkrankte benötigt daher neben den auf die jeweilige Krankheit abgestimmten Therapien eine ganzheitliche Betreuung, die den individuellen Verlauf der Erkrankung in den Blick nimmt. Das gilt vor allem für derart individuelle Erkrankungen wie ME/CFS, die myalgische Enzepalomyelitis/chronisches Erschöpfungssyndrom.
Kaum ein*e ME/CFS-Betroffene*r weist exakt die Symptome eines*einer zweiten auf. Gerade eine Erkrankung wie ME/CFS scheint sehr individuelle Züge anzunehmen und geht mit vielen verschiedenen Symptomen unterschiedlicher Ausprägung einher.
Im Zentrum der Symptome einer ME/CFS steht die extreme Erschöpfung, die meist schlagartig nach körperlicher oder geistiger Aktivität auftritt. Die Betroffenen sind gezwungen, ihrer plötzlichen körperliche Schwäche nachzugeben, sich hinzulegen, denn selbst eine sitzende Ruheposition kann körperlich einfach nicht mehr bewältigt werden. Von hier auf jetzt überfällt die Betroffenen ein Gefühl der Abgeschlagenheit. Sie werden blass, extrem müde und kraftlos, sehen plötzlich 'krank' aus und fühlen sich auch so; sie haben Schmerzen, Krämpfe, kognitive Beeinträchtigungen und leiden unter Reizüberempfindlichkeiten. Diese Art Kollaps nennt sich PENE, Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion. Die PENE unterscheidet die ME/CFS deutlich von der Fatigue, der Ermüdung, die sich oft nach schweren Erkrankungen wie Krebs oder Depression oder gravierenden Traumata einstellt, und ist ein eindeutiges Kennzeichen der ME/CFS. Mit der krankhaften Erschöpfung gehen meist Myalgien einher. Die Schmerzen betreffen einzelne oder mehrere Körperstellen – Muskeln, Gelenke, Gewebe und Knochen. Der Schmerz ist von unterschiedlicher Qualität, kann wie ein unaufhörlicher Druck, stechend oder brennend empfunden werden.
Um diese beiden zentralen Symptome ranken sich viele weitere, von denen die Reizüberempfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm sehr häufig verbreitet ist. Auf Geräusche reagieren viele ME/CFS misophon, d.h. mit Hassgefühlen.
Die Muskelschwäche, die ein entscheidendes Merkmal der ME/CFS ist, unter dem die Betroffenen extrem leiden, kann nicht nur die Muskeln der Extremitäten, sondern auch der Kau- und Schluckwerkzeuge sowie der Sprechorgane treffen. Manche ME/CFS haben so wenig Kraft in den Kiefer- und Halsmuskeln, dass ihnen das Kauen und Schlucken schwer fällt oder unmöglich ist. Sie verzichten häufig auf feste Nahrung zugunsten von Breinahrung. Einigen Erkrankten fällt selbst das sowie das Trinken so schwer, dass in solchen Fällen die Ernährung über eine Magensonde und die Flüssigkeitszufuhr per Infusionen sichergestellt werden muss. Zwei Beispiele sollen das Problem der Muskelschwäche verdeutlichen: eine ME/CFS-Patientin nahm während einer Reha an dem dort angebotenen Bogenschießen teil; ihr erster Schuß traf ins Schwarze, alle weiteren abgeschossenen Pfeile erreichten nicht einmal mehr die Zielscheibe, sondern fielen vorher zu Boden, denn ihre Kraft ließ mit jedem Schuß nach. Ein anderer Patient, Flötist, war nicht mehr in der Lage, ein noch so kurzes Flötenstück zuende zu spielen, später nicht einmal mehr in der Lage, die Querflöte zu halten. In beiden Fällen versagte die Kraft in der Arm- und Schultermuskulatur; im Fall des Flötisten verhinderte zudem die Schwäche der Brustmuskeln und des Zwerchfells, dass sich die Lunge zu voller Größe auffalten konnte, weshalb ihm die Atemluft zum Flötenspiel fehlte.
Trotz der massiven Erschöpfung leiden viele ME/CFS unter Ein- und Durchschlafstörungen. Die Schlafstörungen betreffen vor allem Patient*innen mit Schmerzsymptomen. Grundsätzlich gilt für ausnahmslos jeden an ME/CFS Erkrankten, dass weder der Nachtschlaf, noch Schlafpausen tagsüber erholsam sind und ein Wiedererstarken der Kräfte mit sich bringen. Der Schlaf hat seine Wirkung verloren, vebrauchte Energie wieder aufzuladen. Daher trägt ME/CFS den Beinamen 'Low-energy-disease'.
Wenn der Körper auch in liegender Position ruht - Ruhe kennen viele ME/CFS nicht, denn sie leiden unter einem inneren Vibrieren, Brennen und Pulsieren meist in den Beinen, manchmal auch in den Armen. Mehr oder minder stark wirkt sich das sog. Restless-legs-Syndrom aus. Mitunter bleibt es nicht bei Vibrationen und unangenehmem Zittern, sondern steigert sich zu Mißempfinden und Schmerz. Obwohl zu Tode erschöpft, müssen die Betroffenen ihre Beine bewegen, um der Mißempfindung gegenzuarbeiten. Eine Tortur ist es, wenn sie aufgrund ihrer Muskelschwäche gerade dazu nicht mehr in der Lage sind.
Betroffene neigen stark zu häufiger auftretenden Infektionskrankheiten. Schon in ihrer Vorgeschichte fallen sie durch gehäufte Infektionskrankheiten wie grippale Infekte sowie eine Tendenz zu Allergien und Intoleranzen auf. Unter den ME/CFS-Erkrankten reagieren auffallend viele allergisch auf chemische Stoffe (Multiple Chemikalien-Sensitivität, MCS). Einige ME/CFS entwickeln aufgrund ständig überreizter Bronchien chronische Bronchitis oder Asthma. Je schwerer die Grunderkrankung ME/CFS, desto stärker fallen die Infektionen ins Gewicht.
Der Stoffwechsel vieler ME/CFS-Betroffener ist gestört. Sie klagen über Magen-, Darm- und Blasenprobleme, wie Durchfall, Flatulenz oder Verstopfung, häufiges Wasserlassen oder Reflux. Die Symptome können sich bis zur Inkontinenz und zum Reizdarm-Syndrom steigern. Einige leiden unter Übergewicht, das nicht durch Bewegungsmangel oder falsche Ernährung zu erklären ist.
Neben einem gestörten Metabolismus treten häufig Irritationen des Herz-Kreislauf-Systems auf. Bluthochdruck, Posturales Tachykardiesyndrom (POTS – Lageschwindel mit beschleunigtem Puls) oder Herzrhythmusstörungen sind neben zu niedrigem Blutdruck am häufigsten. In diesen Zusammenhang gehört auch der Flush, eine überfallsartige Hautröte mit Hitzegefühl und schnellerem Puls.
Nicht nur der Körper, auch die mentalen Fähigkeiten werden von der Myalgischen enzephalomyelitis beeinträchtigt. Jeder kennt es aus seinem Leben: wer müde ist, dessen Merkfähigkeit, serielles Denken und Konzentration lassen nach. Es trifft jeden nach außerordentlicher Belastung. Die ME/CFS-Betroffenen erleben es bereits nach geringer Belastung und beinahe täglich. Ihre Aufmerksamkeit lässt mit eintretender Erschöpfung stark nach, es gelingt ihnen nicht mehr, sich zu konzentrieren. Sie können 'keinen klaren Gedanken' mehr fassen, was vor allem das serielle Denken, das Denken in aufeinanderfolgenden Handlungsabläufen betrifft. Es ist ihnen unmöglich, etwas gedanklich aufzunehmen und im Gedächtnis abzuspeichern. Die Gedanken verschwimmen zu einem einzigen Gedankenbrei. Die ME/CFS sprechen in diesem Fall von 'brain fog' (umnebelter Verstand). In diesem Zustand sind sie nicht mehr in der Lage zu handeln. Es ist, als würde sich nach dem Körper auch der Geist allmählich ganz abschalten. „Ich arbeite gerne in der Küche. Aber ich kriege seit Jahren keinen ordentlichen Kuchen gebacken. Lange habe ich überlegt, woran es liegt, dass mir kein Kuchen gelingen will, obwohl ich doch nach Rezept vorgehe. Erst nach eingehender Selbstreflexion bin darauf gekommen: wenn ich mal backe, dann nachmittags. Da bin ich schon sehr angeschlagen. Ich lese die Rezepte und trotzdem überlese ich etwas oder kann es mir nur halb merken und mache dadurch Fehler beim Backen und das trotz Hochschulabschluss; mal vergesse ich die Eier, mal siebe ich Backpulver und Mehl nicht und so weiter. Ich habe mich jetzt damit abgefunden, dass ich Rezepte nicht mehr allein lesen kann und immer einen 'Mitbäcker' brauche. Wenn mir jemand hilft, dann gelingen mir auch Kuchen“ (Betroffene). Im Erschöpfungszustand leiden viele Betroffene an Wortfindungsstörungen sowie an Sprechschwierigkeiten; ihre Aussprache verliert an Deutlichkeit. Atemnot stellt sich ein. Die Sprache wirkt abgehackt. Viele ME/CFS verstummen in diesen Momenten; manche verlieren ihre Sprechfreude völlig.
Entzündungsvorgänge im Körper, Aphasie, Kopfschmerz, Schwindel, Fieberschübe, gestörte Temperaturregulation – die Symptomliste kann fast ins Unendliche fortgeschrieben werden. Allein, wenn man bedenkt, dass jeder Körpermuskel von der Krankheit betroffen sein kann, kann man sich vorstellen, welche Krankheitssymptome auftreten können.
ME/CFS prägt sich sehr individuell aus. Die Symptomatik ist von Patient*in zu Patient*in verschieden und die Symptome sind von unterschiedlicher Intensität. Fest steht, dass jede außerordentliche körperliche oder geistige Belastung die Symptomatik und damit die Erkrankung verschlimmert; zu den besonderen Belastungen gehören fix die Übergänge zu den verschiedenen Lebensaltern, Schwangerschaften und Geburten, Phasen hoher Konzentration wie zum Beispiel Prüfungssituationen und körperliche Stresssituationen wie Erkrankungen, schwere Verletzungen, medizinische Eingriffe und so weiter.
ME/CFS ist eine sehr schwere multisystemische Erkrankung mit dem Belastungssyndrom (PEM – Post-Excertional Malaise) als ihrem Hauptmerkmal: „A hallmark of ME/CFS is that symptoms worsen after physical, mental or emotional effort“ (CDC 2021). Jede Art von Anstrengung führt zu einem sehr schnellen Energieverbrauch und neuro-immuner Zustandsverschlechterung. „Myalgic encephalomyelitis [...] affects many body systems, long term Symptom post-excertional malaise (PEM)“ (CDC 2021).
Als Hauptauslöser der Erkrankung werden inzwischen Virus-Infektionen identifiziert. Neben den bereits im Vorwort erwähnten EB- und SARS-CoV-2- Viren stehen der Ross-River-Virus und Adenoviren unter Verdacht. Der Epstein-Barr-Virus gehört zu den Herpesviren. Der RRV, übertragen durch Mücken, löst das Ross-River-Fieber aus, eine 'Tropenkrankheit', die zu Polyarthritis führt. Adenoviren sind dagegen für eine Vielzahl von 'Kinderkrankheiten' verantwortlich, wie zum Beispiel Magen-Darm-Infekte, Mandeln- oder Bindehautentzündungen, aber auch Angina lateralis; die Seitenstrangangina kann im schweren Verlauf ME/CFS auslösen. „Ich hatte als Kind mal eine ganz fiese Seitenstrang-Angina. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich im Fieberwahn glaubte, mein Zimmer schwanke hin und her und überdrehte sich schließlich. Das war furchtbar und machte mir Angst; ich hatte das Gefühl, ich könnte mich nirgends mehr festhalten, nichts wäre stabil. Nach der Erkrankung war ich nicht mehr wie vorher. Ich ermüdete sehr schnell, ich hatte ziemlich wenig Kraft für einen Menschen meines Alters. Situationen, in denen ich vielen Reizen ausgesetzt war, überforderten mich und ich ging ihnen darum aus dem Weg“, wird von einer Betroffenen erzählt.
Offenbar triggert die auslösende Erkrankung ein bereits gestörtes Immunsystem, das nun nicht mehr selbstregulativ arbeitet, sondern veränderte Reaktionen auf Angriffe von außen gibt. Das überempfindliche, nämlich überschießende Immunsystem macht sich bei ME/CFS-Betroffenen bereits im Vorfeld der Erkrankung durch eine erhöhte Allergieanfälligkeit, Neigung zu Intoleranzen und Infektionskrankheiten bemerkbar. Für die Störung des Immunsystems ist höchstwahrscheinlich eine Unterproduktion von Hormonen wie Cortisol verantwortlich. Doch werden Entzündungen im Körper nicht weiter unterdrückt und das Immmunsystem ist ständig gefordert, die Entzündungsherde zu bekämpfen, bis es schließlich kollabiert und chronisch aktiviert wird. Es arbeitet gewissermaßen pausenlos und grundlos weiter und auf jede noch so leicht nuancierte Beeinträchtigung der Gesundheit reagiert es auf höchster Alarmstufe und wendet seine Kampfstrategien an: es zwingt den Körper zur Ruhe, Schmerzsignale auszusenden, zu fiebern, die weißen Blutkörperchen zu aktivieren, den Stoffwechsel umzustellen und so weiter. Dabei verbraucht es jede Menge Energie, die dem Körper an anderer Stelle fehlt; der Energiestoffwechsel wird völlig durcheinandergewirbelt. In viel kürzerer Zeit verbraucht ein*e ME/CFS viel mehr Energie für dieselben Aktivitäten wie ein*e Gesunde*r. Zudem erreicht ihr*sein Energiehaushalt nach Erholung nicht das gleiche Niveau wie bei gesunden Menschen. Der viel genutzte, da sehr anschauliche Vergleich mit einer Batterie verdeutlicht es: im Gegensatz zu Gesunden verfügen ME/CFS-Betroffene nur über eine schwach aufgeladene Batterie, die sich natürlich schneller entleert als eine voll aufgeladene.
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom – der Schrägstich zwischen den beiden Begriffen spricht Bände für die Verlegenheitsbezeichnung der Erkankung: beide beschreiben nur ausgeprägte Krankheitssymptome, benennen aber nicht die Erkrankung selber. Wie denn auch: da die Ursache von ME/CFS noch im Dunkeln liegt, muss eine zutreffende Bezeichnung fehlen.
Vor allem der Begriff Chronic Fatigue Syndrom führt zu Irritationen, da er von der Fatigue nach körperlichen und geistigen Traumata abzugrenzen ist. Die Fatigue (ICD11-MG22) zum Beispiel in Folge einer Krebserkrankung oder eines schweren Unfalls ist durch Aktivierung behandelbar, die CFS ist es nicht. Die CFS hat von der WHO (World Health Organization) in der 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD – International Statistical Classification of Diseases...) das Kennzeichen G93.3. Die aktuelle Revision ICD-11 gilt zwar bereits seit Januar 2022, wird aber erst allmählich die ICD-10 ablösen, die derzeit noch als Klassifikation in Deutschland gilt. Im ICD-11 stehen die Myalgische Enzephalomyelitis sowie das Chronic Fatigue Syndrom unter dem Kennzeichen 8E49 unter dem Oberbegriff 'Postvirales fatigue syndrom'. Damit wird deutlich, dass es sich bei ME/CFS um eine somatische, neurologische Erkrankung handelt.
Beide Bezeichnungen greifen indes zu kurz und erfassen nur zwei Dimensionen der Krankheit. Die Reizüberempfindlichkeit, die Kreislaufbeschwerden, Stoffwechselstörungen und vieles andere werden bei beiden Begriffen ausgeblendet. Und nicht jede*r ME/CFS-Geschädigte hat mit Schmerzen einhergehende, nachweisbare Hirnentzündungen, wie der Begriff 'Myalgische Enzephalomyelitis' annehmen lässt.
Es wurden und werden von medizinischen Fachleuten und Betroffenen immer wieder neue Bezeichnungen der Erkankung ins Feld geführt, die aber allesamt unter demselben Manko leiden, nämlich nur Hauptsymptome zu benennen. Zuletzt schlug das amerikanische Institute of Medicine (IOM) 2015 die Bezeichnung 'Systemic Excertion Intoleranz Disease' (SEID) vor, die aber von Patientenverbänden abgelehnt wurde, weil sie doppeldeutig eine Bewegungsunlust suggeriert. Inzwischen hat sich die Doppelbezeichnung ME/CFS so durchgesetzt, dass sie in Gebrauch bleibt; dem wird daher in diesem Buch gefolgt, obwohl die Autorin persönlich die treffendere Bezeichnung 'Low-energy-disease' vorzieht.
Die Geschichte der Krankheit ist nicht leicht nachzuvollziehen, da viele eindeutige historische Quellen fehlen und die Erkrankung immer schon aufgrund ihrer Symptomatik anderen Erkrankungen zugerechnet wurde, im 19. Jahrhundert beispielweise der Auszehrung, der Neurasthenie, der Hysterie oder der Schwindsucht. In dem Buch „Stell dich nicht so an. Leben mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS“ werden mögliche ME/CFS-Fälle historischer Persönlichkeiten angeführt (Okërn 2021). Auffallenderweise mehrten sich Krankheiten mit ME/CFS-Symptomatiken nach Virusepidemien wie der 'Spanischen Grippe' 1918/1919. Als es 1955 in einem Londoner Krankenhaus zu einer Krankheitswelle mit Symptomen der ME/CFS kam, wurde der Begriff 'Myalgische Enzephalomyelitis' geprägt (vgl. Saskia 2022). In Folge der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie ('Corona') können wieder Ausbrüche von Krankheiten mit ME/CFS-Symptomen beobachtet werden; Long-Covid ist in aller Munde. Möglicherweise bietet die Erforschung von Long-Covid die Chance, auch Aufschluss über die verwandte Erkrankung ME/CFS zu erhalten.
Die WHO hat ME/CFS bereits 1969 als eigenständige Erkrankung anerkannt, trotzdem lässt ihre Anerkennung in der medizinischen Praxis noch auf sich warten, da bisher erschreckend wenig in ihre Erforschung investiert wurde. Immer noch wird daher diese rein somatische Erkrankung fälschlicherweise als psychosomatisch oder psychisch verursacht eingeschätzt oder mit Erkrankungen u.a. des rheumathischen Bereichs verwechselt und entsprechend falsch therapiert. Oft zum Verhängnis der Betroffenen.
In der USA, in der laut CDC bis zu 2,5 Millionen Menschen an ME leiden (vgl. CDC 2021), stehen mehr Gelder zur Verfügung, die Erkrankung zu erforschen, vor allem nach den ersten Erfahrungen mit Long Covid. Der Forschungsstand hier ist dem auf dem Kontinent voraus, doch durch massive Kampagnen der Selbsthilfevereinigungen ME/CFS-Erkrankter wie Fatigatio, die Gesellschaften für ME/CFS, #MillionsMissing und zahlreichen Petitionen in vielen Ländern der Welt, nimmt die Forschung bezüglich ME/CFS allmählich auch in der EU an Fahrt auf.