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Noam Chomsky

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Beschreibung

Nicht erst im Irakkrieg spielten die US-Massenmedien eine fatale Rolle als Propagandainstrumente der Außenpolitik. Noam Chomsky, einer der wichtigsten Querdenker der USA, wirft den Medien vor, unbequeme Tatsachen bereitwillig zu verschleiern und die Verbrechen des »Feindes« wie mit der Lupe zu betrachten. Obwohl sie keiner direkten staatlichen Kontrolle unterliegen, verstehen sich die Massenmedien in den USA nicht als kritische Gegner, sondern als Partner der Regierung und ihrer hegemonialen Ziele.

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Haupt

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

4. Auflage 2010

ISBN 978-3-492-96253-7

© 1989 Noam Chomsky Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Media Control«, Seven Stories Press, New York 2002 Deutschsprachige Ausgabe: © 2006 Piper Verlag GmbH, München Deutsche Erstausgabe: Europa Verlag, Leipzig 2003 Umschlaggestaltung: Petra Dorkenwald, München

Vorwort

Die im folgenden behandelten Probleme haben ihre Wurzeln in der Eigenart westlicher Industriegesellschaften und sind von Anfang an Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen. In kapitalistischen Demokratien ist die politische Macht in einem Spannungsfeld angesiedelt. Demokratie heißt im Prinzip Herrschaft des Volks. Aber die Entscheidungsbefugnis über zentrale Bereiche des Lebens liegt in privaten Händen, was weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaftsordnung hat. Eine Möglichkeit, die Spannung zu vermindern, läge in der Ausdehnung des demokratischen Systems auf wirtschaftliche Investitionsentscheidungen, die Organisation von Arbeit usw. Das würde zu einer umfassenden sozialen Revolution führen, in der, zumindest meiner Ansicht nach, die politischen Revolutionen vergangener Zeiten ihre Vollendung fänden und einige der libertären Grundsätze, auf denen sie z.T. beruhten, verwirklicht werden könnten. Oder man vermindert die Spannung, indem man, wie es bisweilen geschieht, den Einfluß der Öffentlichkeit auf die staatliche und privatwirtschaftliche Macht beseitigt. In den fortgeschrittenen Industriegesellschaften bedient man sich im allgemeinen einer Vielzahl von Maßnahmen, um die demokratisch verfaßten Strukturen ihres wesentlichen Gehalts zu berauben, ohne ihre formale Funktionsweise anzutasten. Ein großer Teil dieser Aufgabe wird von ideologischen Institutionen übernommen, die Gedanken und Einstellungen so kanalisieren, daß einer potentiellen Opposition gegen die etablierten Mächte von vornherein der Stachel genommen wird. Mich interessiert dabei vor allem eine Frage: Auf welche Weise sorgen die nationalen Medien in den USA und mit ihnen zusammenhängende Elemente der elitären intellektuellen Kultur für die Kontrolle der Gedanken?

Einleitung

I. Über den »Krieg gegen den Terrorismus« Bericht eines Journalisten vom Mars1

Ein für die Feier des fünfzehnten Jahrestags von FAIR (Fairness and Accuracy in Reporting) geeignetes Thema liegt, wie ich meine, auf der Hand: Es ist die Frage, wie die Medien das große Ereignis der letzten Monate, den so genannten »Krieg gegen den Terrorismus«, behandelt haben, in den islamischen Ländern und hier bei uns, wobei ich das Spektrum der US-amerikanischen Medien möglichst breit fassen möchte und dazu auch meinungsbildende und kritische Zeitschriften, d.h. im Grunde die intellektuelle Kultur allgemein rechne.

Der »Krieg gegen den Terrorismus« ist ein wichtiges Thema, das, u.a. von FAIR, regelmäßig aufgegriffen wurde. Es eignet sich indes nicht für einen Vortrag dieser Art, weil eine detaillierte Analyse den Rahmen meiner Ausführungen sprengen würde. Insofern möchte ich einen etwas anderen Zugang wählen und fragen, wie das Thema in Übereinstimmung mit allgemein akzeptierten Richtlinien – Fairneß, Genauigkeit, Bedeutung usw. – behandelt werden sollte.

Machen wir eine Art Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, daß ein intelligenter Marsbewohner, der die Journalistenschulen von Harvard und Columbia besucht und dort lauter anspruchsvolle Dinge gelernt hat, die er zudem noch für richtig hält, den Auftrag bekommt, über den »Krieg gegen den Terrorismus« zu berichten. Wie würde er das machen?

Wahrscheinlich würde er der Marszeitung, für die er arbeitet, zunächst ein paar Tatsachen berichten. Dazu gehört die Beobachtung, daß der Krieg gegen den Terrorismus nicht erst am 11.September 2001, sondern, unter Verwendung vergleichbarer rhetorischer Mittel, bereits zwanzig Jahre zuvor erklärt wurde. Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, kündigte die Regierung Reagan schon bald nach ihrem Amtsantritt an, daß ein solcher Krieg zu den zentralen Aufgaben der US-Außenpolitik gehöre. Zugleich verdammte sie, in den Worten des Präsidenten, die »bösartige Geißel des Terrorismus«.2 Hauptangriffsziel sollte der staatlich unterstützte internationale Terrorismus sein, der in der islamischen Welt und damals auch in Mittelamerika sein Unwesen trieb. Er galt als Pest, die von »verworfenen Gegnern der Zivilisation« in einer »Rückkehr zur Barbarei im Zeitalter der Moderne« verbreitet wurde.3 So jedenfalls ließ sich der zu den gemäßigten Regierungskräften zählende Außenminister George Shultz vernehmen.

Die von mir zitierte Äußerung Reagans bezog sich auf den Nahen Osten des Jahres 1985. Damals wurde der internationale Terrorismus in dieser Region laut einer Umfrage von Associated Press bei Chefredakteuren zur Titelgeschichte des Jahres erklärt. Unser Marsbewohner würde also als erstes berichten, daß 2001 dieses Thema zum zweiten Mal zur Titelgeschichte des Jahres gekürt und der Krieg gegen den Terrorismus mit ganz ähnlichen Worten wie sechzehn Jahre zuvor ausgerufen wurde.

Zudem gibt es auch hinsichtlich des Führungspersonals eine augenfällige Kontinuität. Donald Rumsfeld, der jetzt die militärische Leitung des Antiterrorkriegs innehat, war unter Reagan Sonderbotschafter im Nahen Osten. Die diplomatische Komponente des Kriegs wird seit einigen Monaten von John Negroponte bei den Vereinten Nationen vertreten, der unter Reagan die US-Operationen in Honduras, dem damaligen Hauptstützpunkt im Kampf gegen den Terrorismus, beaufsichtigte.

Das Element der Macht

1985 stand der Nahe Osten im Vordergrund, gefolgt von Mittelamerika. Den dort grassierenden Terrorismus hielt George Shultz gar für so bedrohlich, daß er ihn »als Krebsgeschwür in unserer Hemisphäre« bezeichnete,4 das man schnell ausmerzen müsse, weil es ganz offen die von Hitler in Mein Kampf gepredigten Ziele verfolge und schon dabei sei, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Die Gefahr war so groß, daß Präsident Reagan am Law Day 1985 den nationalen Notstand ausrief, weil »die nationale Sicherheit und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten in außergewöhnlicher Weise bedroht sind«, (Law Day, der 1.Mai, gilt in den meisten anderen Ländern als Tag der Arbeit(erbewegung); in den USA bricht jedoch lediglich nationalistischer Taumel aus.)

Der Notstand wurde nun Jahr um Jahr erneut ausgerufen, bis das Krebsgeschwür beseitigt worden war. Am 14.April 1986 verkündete Außenminister Shultz: »Verhandlungen sind nur ein Euphemismus für Kapitulation, solange nicht der Schatten der Macht auf den Verhandlungstisch fällt.« Er wandte sich gegen all jene, die »utopische Rechtsmittel wie Vermittlung seitens Dritter, die Vereinten Nationen und den Weltgerichtshof anwenden wollen und dabei das Element der Macht in der Gleichung übersehen«.

Dieses Element spielten die Vereinigten Staaten damals aus: Sie unterstützten in Honduras Söldnertruppen und verhinderten den Einsatz von Rechtsmitteln, auf den der Weltgerichtshof, die Länder Lateinamerikas und natürlich das Krebsgeschwür selbst drängten.

Die Medien unterstützten den Kurs der Regierung und stritten sich lediglich um taktische Fragen. Es gab die übliche Diskussion zwischen Tauben und Falken. Die Position der Falken fand ihren Ausdruck in einem Leitartikel des New Republic (vom 4.April 1984), in dem die Herausgeber forderten, die USA sollten den »Latinofaschisten« auch weiterhin Militärhilfe gewähren, »egal, wie viele Leute ermordet werden«, weil Amerika »höhere Zielsetzungen hat als die Wahrung der Menschenrechte in El Salvador« oder anderswo.

Die Tauben meinten dagegen, diese Mittel würden nicht zum Erfolg führen und man müsse Nicaragua, das hauptsächliche Krebsgeschwür, auf andere Weise »den mittelamerikanischen Verhältnissen«und den »in der Region üblichen Maßstäben anpassen«, So las man es in der Washington Post (14. und 19.März 1986). Diese Verhältnisse und Maßstäbe hatten ihr Vorbild in den Terrorstaaten Guatemala und El Salvador, wo es Massaker, Folterungen und Zerstörung zuhauf gab. So sollte es auch in Nicaragua wieder zugehen.

Die Kommentare und Leitartikel in der US-amerikanischen Presse vertraten zu etwa gleichen Teilen die Position der Falken bzw. der Tauben. Es gab Ausnahmen, die jedoch statistisch Randerscheinungen blieben. Im Hinblick auf die andere »Terrorregion«, den Nahen Osten, war die Einstimmigkeit sogar noch größer.

Derselbe Krieg, unterschiedliche Ziele

Der Marsbewohner würde seiner Zeitung also berichten, daß der Krieg gegen den Terrorismus jetzt von denselben Personen erneut verkündet wird, wobei die Ziele sich leicht verändert haben.

Die »verworfenen Gegner der Zivilisation« von heute waren in den achtziger Jahren jene Freiheitskämpfer, die von der CIA bewaffnet und von Spezialeinheiten ausgebildet wurden. Genau diese Spezialeinheiten suchen jetzt nach ihnen in den Höhlen der Berge von Afghanistan.

Die »Freiheitskämpfer« von damals waren Bestandteil des Kriegs gegen den Terror, die ganz offen ihren eigenen Terrorkrieg führten und weiterhin führen. 1981 ermordeten sie den ägyptischen Präsidenten, Anwar as-Sadat, und lancierten Terrorangriffe in der Sowjetunion, die so heftig waren, daß sie fast zu einem Krieg mit Pakistan geführt hätten. Allerdings hörten diese Angriffe nach dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan auf, während das zerstörte Land in die Hände von US- Protégés fiel, deren Herrschaft zu den schlimmsten Kapiteln in der Geschichte Afghanistans gehört. Sie sind, außerhalb von Kabul, bereits wieder an der Macht und treiben ihre alten Kriegsspiele, die sich, wie die "Washington Post (am 22.Januar 2001) berichtete, zu einem größeren Krieg ausweiten können.

All dies führt zu Schlagzeilen in der Marspresse, wobei auch die Folgen für die Zivilbevölkerung erörtert werden, die Monate nach dem Krieg immer noch Mangel leidet, weil vorhandene Nahrungsmittel nicht verteilt werden.

Die Folgen können wir nicht abschätzen und werden dazu auch nie in der Lage sein, denn es gehört zu den Prinzipien der geistigen Kultur, daß man die Verbrechen von Feinden mit größter Genauigkeit untersucht, jedoch niemals die eigenen. Insofern lassen sich immer nur Vermutungen darüber anstellen, wie viele tote Vietnamesen oder Salvadorianer oder Afghanen wir auf dem Gewissen haben.

Das Gleichgewicht der Moral: Ein ketzerischer Grundsatz

Das wären, wie gesagt, die Schlagzeilen in der Marspresse. Unser Marsreporter würde aber auch einige grundlegende Vorstellungen klären wollen. Zunächst möchte er wissen, was genau Terrorismus ist, sodann, wie man adäquat auf ihn reagieren kann. Wie immer die Antwort auf diese zweite Frage ausfallen mag, so muß die angemessene Reaktion von ein paar moralischen Binsenweisheiten geleitet sein, die der Marsreporter leicht entdecken kann, denn die selbsternannten Führer des Kriegs gegen den Terrorismus bekräftigen, daß sie gläubige Christen sind, die das Neue Testament in Ehren halten. Insofern wissen sie wahrscheinlich auch, was die Evangelien unter einem Heuchler verstehen – ein Heuchler ist ein Mensch, der moralische Maßstäbe nur für andere, nicht aber für sich selbst gelten läßt.

Daraus schließt der Marsianer, daß eine moralische Minimalbedingung in der Anerkennung gleicher Rechte besteht: Wenn eine Handlung für uns richtig ist, dann auch für andere, und wenn andere etwas Falsches machen, wird es nicht richtig, wenn wir es tun. Das nun ist die elementarste moralische Binsenweisheit, und wenn der Marsbewohner dies erkannt hat, kann er eigentlich seine Koffer packen und auf seinen Planeten zurückkehren, weil seine Forschungen damit beendet sind. Er würde nämlich in den ganzen Kommentaren über den Antiterrorkrieg keine einzige Äußerung finden, die der Minimalbedingung Genüge täte. Sie müssen mir das nicht glauben, sondern können selbst den Versuch unternehmen, eine solche Äußerung aufzutreiben. Ich will auch nicht übertreiben – vielleicht finden Sie hier und da sogar etwas außerhalb des Mainstreams.

Natürlich kennt man diese moralische Binsenweisheit auch im Mainstream, wo man sie als gefährliche Ketzerei begreift, gegen die unüberwindbare Barrieren errichtet werden müssen, damit sie sich nicht ausbreiten kann. Gegen eventuelle Verfechter werden bestimmte Begriffe ins Feld geführt – sie machen sich des »moralischen Relativismus« schuldig oder der »moralischen Äquivalenz«, ein Terminus, den, wie ich glaube, Jeane Kirkpatrick eingeführt hat, um die Gefahr abzuwehren, daß jemand sich untersteht, unsere eigenen Verbrechen unter die Lupe zu nehmen.

Oder man bezichtigt die Verfechter dieses »moralischen Relativismus« des »Anti-Amerikanismus«, Das ist ein interessanter Begriff, der vorwiegend in totalitären Staaten verwendet wurde; in der einstigen UdSSR galt »Anti-Sowjetismus« als schlimmstes Verbrechen. Würde aber z.B. in Italien ein Buch über »Anti-Italianismus« veröffentlicht, läßt sich wohl vorstellen, wie man in Mailand oder Rom darauf reagierte.

Eine unbrauchbare Definition

Aber nehmen wir an, daß der Marsbewohner sich von all diesen Tiraden und Schmähungen nicht beeindrucken läßt, sondern an den moralischen Binsenwahrheiten festhält und neugierig genug ist, um ein bißchen weiter zu forschen. Er wendet sich also der wichtigen Frage zu: Was ist Terrorismus?

Es gibt für ihn eine geeignete Methode, um die Antwort zu finden: Wie definieren die Personen, die dem Terrorismus den Krieg erklärt haben, was Terrorismus ist? Eine solche Bestimmung findet sich in US-amerikanischen Gesetzestexten und Armeehandbüchern. Sie ist sehr kurz. Terrorismus sei, so heißt es dort, die »kalkulierte Anwendung oder Androhung von Gewalt … um durch Einschüchterung, Zwang oder Furchteinflößung Ziele zu erreichen, die ihrem Wesen nach politisch, religiös oder ideologisch sind«, Das klingt einfach und ist, soweit ich sehen kann, angemessen. Andererseits lesen wir immer wieder, daß es ein höchst schwieriges Problem sei, Terrorismus zu definieren, und der Marsbewohner könnte sich fragen, ob das wahr ist. Darauf gibt es eine Antwort.

Die Definition ist – aus mindestens zwei Gründen – unbrauchbar. Zum einen stellt sie eine sehr enge Umschreibung der offiziellen Regierungspolitik dar, die in solchen Fällen »Konflikt niederer Intensität« oder »Gegenterror« genannt wird.5 Es ist weltweit üblich, Terror als Gegenterror auszugeben, und schon darum ist die offizielle Definition unbrauchbar. Der andere Grund ist sehr viel einfacher: Sie gibt die falschen Antworten auf die Frage, wer die Terroristen sind. Mithin muß die offizielle Definition aufgegeben und eine ausgeklügeltere erfunden werden, die die richtigen Antworten gibt, und das ist nicht einfach. Darum wird gesagt, es sei ein schwieriges Thema, mit dem selbst große Geister zu kämpfen hätten etc.

Glücklicherweise gibt es eine Lösung. Sie besteht darin, Terrorismus als das zu definieren, was andere gegen uns, wer immer wir sein mögen, ausüben. Das ist, soweit ich weiß, eine universelle Definition – dem Journalismus genauso geläufig wie der Wissenschaft; und es ist auch eine historisch universelle Bestimmung. Zumindest habe ich kein Land gefunden, das diese Praxis nicht betriebe. Und aus dieser nützlichen Charakterisierung des Terrorismus können wir die üblichen Folgerungen ziehen, die allerorten gezogen werden: Wir und unsere Verbündeten sind die Hauptangriffsziele des Terrorismus als einer Waffe der Schwachen.

Natürlich ist der Terrorismus im offiziellen Sinn eine Waffe der Starken, wie die meisten Waffen, per definitionem jedoch ein Mittel der Schwachen, sobald man akzeptiert hat, daß »Terrorismus« etwas ist, das gegen uns ausgeübt wird. Dann wird der Begriff zu einer auf konventioneller Übereinstimmung beruhenden Tautologie.

Terrorismus nach dem Lehrbuch

Nehmen wir an, daß der Marsbewohner auch weiterhin derlei anscheinend universelle Konventionen ablehnt und tatsächlich die öffentlich gepredigten moralischen Binsenweisheiten und auch die offizielle US-amerikanische Definition von Terrorismus akzeptiert. Wenn er so weit geht, lassen sich sicherlich klare Beispiele für Terrorismus finden. Der 11.September 2001 ist ein besonders erschreckendes Beispiel für eine terroristische Gewalttat. Ebenso exemplarisch ist die Reaktion der Briten und Amerikaner, die Admiral Sir Michael Boyce, Leiter des britischen Verteidigungsstabs, verkündete. Die New York Times berichtete darüber in einer Titelgeschichte am 28.Oktober 2001. Boyce setzte die afghanische Bevölkerung davon in Kenntnis, daß die Vereinigten Staaten und Großbritannien ihre Angriffe gegen Afghanistan solange fortsetzen würden, »bis das Land eine andere Führung hat«,

Das ist, in Übereinstimmung mit der offiziellen Definition, eine geradezu lehrbuchmäßige Illustration für internationalen Terrorismus.

Zwei Wochen zuvor hatte George W Bush der afghanischen Bevölkerung mitgeteilt, daß der Angriff weitergehen werde, bis die gewünschten Verdächtigen ausgeliefert würden. Erinnern wir uns daran, daß der Sturz des Taliban-Regimes als Kriegsziel erst einige Wochen nach Beginn der Bombardements lanciert wurde, damit die Intellektuellen die Gerechtigkeit dieses Kriegs preisen konnten.

Auch George W Bush verkündete einen Terrorismus gemäß dem Lehrbuch: Wir werden euch solange bombardieren, bis ihr die von uns gesuchten Personen ausliefert. Die Taliban fragten nach Beweisen, was von der US-Regierung ebenso verachtungsvoll abgelehnt wurde wie Auslieferungsangebote, deren Ernsthaftigkeit ungeprüft blieb.

Das alles würde der Marsbewohner vermerken und, wenn er recherchefreudig ist, auch die Gründe für dieses Verhalten nebst weiteren Beispielen herausfinden. Diese Gründe sind ganz einfach: Weltmächte beugen sich keiner Autorität und akzeptieren insofern auch nicht die Forderung, Beweise vorzulegen oder um Auslieferung nachzusuchen. Aufgrund dieser Logik lehnten die USA eine Autorisierung ihrer Vorgehensweise durch den UN-Sicherheitsrat strikt ab, obwohl es nicht schwer gewesen wäre, diese zu erhalten.

Natürlich hat sich die US-Regierung dabei etwas gedacht, und in der internationalen Politik und Diplomatie gibt es sogar einen Terminus dafür: Man muß »Glaubwürdigkeit demonstrieren«. Es ließen sich auch andere Ausdrücke verwenden: Wir sind ein terroristischer Staat, also seht euch vor, falls ihr uns in die Quere kommt. Aber das hieße, »Terrorismus« gemäß der bereits erwähnten offiziellen Bedeutung zu verwenden, und das geht, wie ich gezeigt habe, nicht.

Eindeutige Fälle

Kommen wir noch einmal auf die moralische Binsenweisheit zurück. Gemäß der offiziellen, allgemein akzeptierten und als gerecht und bewunderungswürdig gepriesenen Lehre sind die Vereinigten Staaten dazu berechtigt, einen Terrorkrieg gegen die Afghanen zu führen, bis diese die gesuchten Verdächtigen ausliefern, oder, wie Boyce später formulierte, ihre politischen Führer auswechseln. Demzufolge müßten alle, die keine Heuchler im Sinne der Evangelien sind, den Schluß ziehen, daß Haiti das Recht zu umfangreichen terroristischen Maßnahmen gegen die USA besitzt, solange diese nicht den Mörder Emmanuel Constant ausliefern. Er führte jene Terrorgruppen an, die für den Tod von vier- bis fünftausend Haitianern verantwortlich sind, und ist bereits rechtskräftig verurteilt worden.

Die Beweise sind eindeutig, und die haitianische Regierung hat wiederholt, zuletzt am 30.September 2001, als der Krieg gegen Afghanistan bereits erwogen wurde, Constants Auslieferung beantragt. Aber in diesem Fall geht es nur um ein paar tausend tote Farbige.

Vielleicht sollte Haiti Terror in den Vereinigten Staaten ausüben. Da Bombardements nicht möglich sind, könnte man auf Bioterror oder ähnliches zurückgreifen, bis die USA ihre politischen Führer auswechseln. Schließlich sind einige US-Präsidenten verantwortlich für schreckliche Verbrechen, die im Laufe des 20.Jahrhunderts gegen die haitianische Bevölkerung verübt wurden.

Auch Nicaragua hätte das Recht, Maßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die dem Terrorismus erneut den Krieg erklärt haben. Viele von ihnen tragen Verantwortung für den terroristischen Angriff auf Nicaragua, der opferreicher war als die Ereignisse vom 11.September: Zehntausende wurden getötet und das Land verwüstet.

Auch in diesem Fall ist die Beweislage eindeutig. Der Weltgerichtshof verurteilte den internationalen Terrorismus der USA, und der UN-Sicherheitsrat forderte in einer Resolution alle Staaten auf, die internationalen Gesetze zu respektieren. Niemand wurde im einzelnen genannt, aber alle wußten, wer gemeint war. Die USA legten ihr Veto ein, Großbritannien enthielt sich. Die Generalversammlung bekräftigte die Aufforderung des Sicherheitsrats in weiteren Resolutionen, die von den USA und einigen Vasallenstaaten abgelehnt wurden. Der Weltgerichtshof forderte die USA auf, den Terrorkrieg gegen Nicaragua zu beenden und umfangreiche Reparationen zu zahlen. Die USA reagierten darauf mit der von Demokraten und Republikanern gleichermaßen getragenen Entscheidung, den Angriff sofort zu eskalieren. Wie die Medien damit umgingen, habe ich bereits beschrieben. Nicaragua wurde unter Druck gesetzt, bis das »Krebsgeschwür« zerstört war und noch darüber hinaus.

Als im November 2001 – der Krieg in Afghanistan hatte soeben begonnen – in Nicaragua Wahlen abgehalten wurden, mischten sich die Vereinigten Staaten dort auf massive Weise ein, indem sie vor einem (in ihrem Sinne) falschen Ergebnis warnten und dafür auch den Grund angaben. Das Außenministerium erklärte, man dürfe Nicaraguas Rolle im internationalen Terrorismus der achtziger Jahre nicht vergessen. Gemeint war der Widerstand gegen die Angriffe, die zur Verurteilung der USA seitens der höchsten internationalen Institutionen führten.

In unserer dem Terrorismus und der Heuchelei ergebenen intellektuellen Kultur ruft das keine weiteren Kommentare hervor, aber vielleicht in der Marspresse. Auf jeden Fall kann man sehen, wie das Thema hier behandelt wurde. Oder man könnte, bei diesem unzweifelhaften Beispiel, die je eigene Lieblingstheorie vom »gerechten Krieg« erproben.

Die Domestizierung der Bevölkerungsmehrheit

Immerhin war Nicaragua den terroristischen Angriffen der USA nicht völlig schutzlos ausgeliefert, denn es besaß eine Armee, die auf Seiten der Sandinisten stand. In den anderen mittelamerikanischen Staaten gehörte die Armee zu den Terrorgruppen, die von den USA und ihren Vasallen bewaffnet und ausgebildet wurden, so daß die Greueltaten ein viel größeres Ausmaß annahmen. Aber in diesem Fall war das Opfer nicht der Staat, und so gab es niemanden, der sich an den Weltgerichtshof oder den Sicherheitsrat wenden konnte, auch wenn deren Urteile und Resolutionen von den USA auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurden.

Der Terror in Mittelamerika hatte weitreichende Folgen. In den Vereinigten Staaten ist man – völlig zu Recht – besorgt über die Auswirkungen des Terrorangriffs vom 11.September. So fragt z.B. die New York Times (am 22.Januar 2002) in einem Aufmacher auf der Titelseite nach den Menschen, die Opfer der Tragödie geworden sind. Das würde natürlich auch für die Opfer viel schlimmerer terroristischer Verbrechen gelten, aber davon erfährt man höchstens auf dem Mars.

So könnte man etwa versuchen, den Bericht über eine Konferenz salvadorianischer Jesuiten zu finden, die vor einigen Jahren stattfand. Diese Jesuiten hatten mit dem US-Terrorismus besonders gravierende Erfahrungen gemacht. Ihre Bemerkungen6 zur »Kultur des Terrorismus« betonen vor allem deren längerfristige Auswirkungen, wozu auch die Domestizierung des Erwartungshorizonts der Bevölkerungsmehrheit gehört, die einsehen muß, daß es besser ist, sich den Anordnungen des führenden Terrorstaats und seiner lokalen Agenturen zu fügen, um nicht erneut den von den US-amerikanischen Tauben empfohlenen »mittelamerikanischen Verhältnissen« unterworfen zu werden. Hierzulande blieb der Bericht unerwähnt, aber vielleicht bekommt er auf dem Mars ein paar Schlagzeilen.

Begeisterte Partner

Der Marsreporter könnte noch weitere interessante Ähnlichkeiten zwischen der ersten und der zweiten Phase des Terrorkriegs bemerken. 2001 schlossen sich alle möglichen Terrorstaaten eifrig der Koalition gegen den Terrorismus an. Die Gründe dafür sind nicht schwer zu finden.

Die Russen waren begeistert, weil sie sich von den USA Unterstützung für ihre terroristischen Aktivitäten in Tschetschenien erhofften.

Noch enthusiastischer reagierte die Türkei. Sie bot als erstes Land die Entsendung von Truppen an, denn man war, wie der Premierminister erklärte, den USA für umfangreiche Waffenlieferungen dankbar – zur Zeit der Regierung Clinton kamen achtzig Prozent der türkischen Waffen aus den Vereinigten Staaten-, mittels derer man die ethnischen Säuberungsaktionen der neunziger Jahre durchführen konnte. Da die USA der einzige Lieferant waren, zeigte sich die Türkei ihnen gegenüber besonders verpflichtet. Natürlich galten die Aktionen gegen die kurdische Bevölkerung nicht als Terrorismus.

Ähnliche Zusammenhänge lassen sich in der ersten Phase des Antiterrorkriegs beobachten. So war die von mir bereits zitierte Ankündigung von Admiral Boyce eine Paraphrase von Äußerungen des bekannten israelischen Politikers Abba Eban aus dem Jahre 1981. Er rechtfertigte israelische Greueltaten im Libanon, die, wie er zugab, ziemlich schrecklich waren, aber dem Ziel dienten, »die Bevölkerung so zu beeindrucken, daß sie Druck ausüben würde, der zur Einstellung der Feindseligkeiten führen könnte«.7 Auch dies ist eine lehrbuchmäßige Illustration für internationalen Terrorismus in der offiziellen Bedeutung des Wortes.

Die Kampfhandlungen, auf die Eban sich bezog, fanden an der israelisch-libanesischen Grenze statt. Sie gingen zumeist von Israel aus, oftmals wurde noch nicht einmal ein Vorwand angegeben, aber die Vereinigten Staaten unterstützten dieses Vorgehen, das mithin konventionellerweise nicht zum Terrorismus und seiner Geschichte zählt. Damals bombardierte Israel den Libanon, um Rechtfertigungsgründe für eine geplante Invasion zu finden. Das gelang zwar nicht, aber die Israelis marschierten dennoch in den Libanon ein, wobei an die 18000 Personen den Tod fanden, und hielten den Südlibanon weitere zwanzig Jahre besetzt, doch all das zählt nicht als Terrorismus, weil die USA Israel Rückendeckung gaben.

Preiswürdige Greueltaten

Das Jahr 1985 bildete den Höhepunkt der US-amerikanischen und israelischen Greueltaten im Südlibanon. Die von Premierminister Schimon Peres ins Werk gesetzte Operation »Eiserne Faust« bestand aus zahlreichen Massakern und Deportationen, deren Opfer von den Oberkommandieren so genannte »terroristische Dorfbewohner« waren. »Eiserne Faust« gehörte zu den Kandidaten für das schlimmste terroristische Verbrechen des Jahres 1985, also zu jenem Zeitpunkt, als der »internationale Terrorismus« weltweit Schlagzeilen machte.

Es gab noch Mitbewerber. Zu ihnen zählte das Attentat mittels einer Autobombe, die Anfang 1985 in Beirut gezündet wurde. Sie war darauf eingestellt, in dem Augenblick hochzugehen, da die Besucher einer Moschee den Gottesdienst verließen, weil eine möglichst hohe Zahl von Opfern angepeilt worden war. Einem ziemlich gruseligen Bericht der Washington Post zufolge wurden achtzig Personen getötet und mehr als zweihundertundfünfzig verwundet.8 Die schwere Bombe tötete nicht nur Frauen und Mädchen, sondern sogar Säuglinge in ihren Betten. Aber das ist kein Terrorismus, weil diese Aktion von der CIA und dem britischen Geheimdienst organisiert wurde und damit als Kandidat ausfällt.

Somit bleibt noch ein Mitbewerber für den Preis, nämlich Israels Bombardierung von Tunis, bei der fünfundsiebzig Personen starben; in der israelischen Presse gab es darüber einige Berichte von guten Reportern. Die USA waren an dieser Greueltat beteiligt, weil sie ihren tunesischen Verbündeten nicht über den bevorstehenden Angriff informierten. Vielmehr setzte Außenminister George Shultz den israelischen Außenminister, Jitzhak Schamir, davon in Kenntnis, daß die USA diese Aktion mit einiger Sympathie betrachteten, zog jedoch seine Befürwortung zurück, als der UN-Sicherheitsrat das Vorgehen einmütig als bewaffnete Aggression verurteilte (die USA enthielten sich der Stimme).

Wir wollen, wie im Fall Nicaraguas, Washington und seinen Vasallen, ein in dubio pro reo einräumen und davon ausgehen, daß die Bombardierung von Tunis lediglich ein Akt des internationalen Terrorismus war und nicht etwa, wie der Sicherheitsrat entschied, bewaffnete Aggression, weil wir sonst als Vergleichsmaßstab die Nürnberger Prozesse heranziehen müßten.

Diese drei Fälle sind die Höhepunkte der zahlreichen Greueltaten des Jahres 1985. Ein paar Wochen nach der Bombardierung von Tunis kam Premierminister Schimon Peres nach Washington, um gemeinsam mit Präsident Reagan die »Geißel des Terrorismus« im Nahen Osten zu beklagen. Das rief keine Kommentare hervor, weil die Bombardierung von Tunis ja kein Terrorismus war. Terrorismus ist, was man uns antut. Wenn wir anderen noch Schlimmeres antun, ist das kein Terrorismus. Zumindest der Marsbewohner könnte diese Diskrepanz bemerken.

Meine absolute Lieblingsrezension bekam ich, als ich vor einigen Jahren über dieses Thema schrieb. In der Washington Post (vom 18.September 1988) widmete deren Nahostkorrespondent meinem Artikel zwei Worte; er beschrieb ihn als »breathlessly deranged« – auf atemlose Weise geistig verwirrt. Das gefällt mir. Mit der Atemlosigkeit hatte er sicherlich nicht recht, der Artikel war in eher ruhigem Tonfall verfaßt – aber »geistig verwirrt« ist richtig. Man muß wohl geistig verwirrt sein, um elementare moralische Binsenweisheiten zu akzeptieren und Tatsachen zu beschreiben, die nicht beschrieben werden sollten.

Verachtenswürdige Entschuldigungen

Kehren wir zu unserem Marsreporter zurück. Er könnte sich fragen, warum im Hinblick auf den internationalen Terrorismus im Nahen Osten gerade das Jahr 1985 den Höhepunkt für die Rückkehr zur Barbarei durch die Gegner der Zivilisation darstellen soll. Er könnte sich das fragen, weil selbst die schlimmsten Beispiele für internationalen Terrorismus in dieser Region wie auch in Mittelamerika in den schwarzen Löchern des historischen Gedächtnisses verschwunden sind. Und mit ihnen viele andere, von denen manche sich erst kürzlich ereignet haben.

Einige Fälle von 1985 sind jedoch noch gut in Erinnerung. Der offizielle Preis gebührt der Entführung der Achille Lauro und dem Mord an dem körperlich behinderten Amerikaner Leon Klinghoffer. Das war zweifellos, wie wir alle noch wissen, eine schreckliche Untat. Allerdings bezeichneten deren Urheber sie als Vergeltung für die Bombardierung von Tunis, die ein weitaus dramatischerer Fall von internationalem Terrorismus war, aber wir haben diese Rechtfertigung mit der ihr gebührenden Verachtung zurückgewiesen.

Und all jene, die sich nicht als Feiglinge und Heuchler begreifen, werden diese grundsätzliche Haltung gegenüber allen anderen gewaltsamen Vergeltungsakten einnehmen, zu denen auch der Krieg in Afghanistan gehört, der mit der unzweideutigen Erwartung begonnen wurde, daß er Millionen von Menschen in den Hungertod führen könne. Wir werden das, wie ich sagte, aus prinzipiellen Erwägungen heraus nie erfahren.

Oder denken wir an mindere Gewalttaten, wie die gegenwärtigen Vergeltungsmaßnahmen in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten, die, wie immer, mit Billigung der USA durchgeführt werden und darum nicht als Terrorismus gelten. Der Marsbewohner würde sicherlich auf der Titelseite berichten, daß die USA gerade jetzt den Krieg gegen den Terror als Vorwand benutzen, um den Terrorismus ihres führenden Vasallenstaats zu protegieren oder gar zu eskalieren.

Die jüngste Phase dieses Terrorismus begann am 1.Oktober 2000, gleich nach Beginn der zweiten Intifada. Israelische Helikopter griffen unbewaffnete Palästinenser mit Marschflugkörpern an, wobei Dutzende getötet und verwundet wurden. Von Selbstverteidigung war nicht einmal als Vorwand die Rede. (Nebenbei gesagt: »Israelische Helikopter« sind US-amerikanische Helikopter mit israelischen Piloten, die eine entsprechende Ausbildung genossen haben.)

Präsident Clinton reagierte sofort auf diese Gewalttaten. Schon am 3.Oktober, also zwei Tage später, sorgte er dafür, daß Israel die umfangreichste Lieferung an Helikoptern innerhalb eines Jahrzehnts erhalten sollte. Dazu kamen noch Ersatzteile für Apache-Militärhubschrauber, die im September geliefert worden waren. Die Presse kollaborierte, indem sie die Berichterstattung verweigerte – verweigerte, nicht etwa versäumte, denn die Details waren ihr sehr wohl bekannt.

Im letzten Monat hätten die Marszeitungen sicherlich Washingtons Intervention zur weiteren Beschleunigung des Terrorkreislaufs im Nahen Osten auf die Titelseiten gesetzt. Am 14.Dezember legten die USA ihr Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats ein, in der die Umsetzung der Mitchell-Vorschläge und die Entsendung internationaler Beobachter für die Deeskalation der Gewalttätigkeiten gefordert wurde. Die Resolution ging dann an die Generalversammlung, wo sie ebenfalls von den USA und Israel angefochten wurde. Auch hierüber gab es in den US-Medien keine Zeile.

Eine Woche zuvor hatte es in Genf eine Konferenz der Signatarstaaten der Vierten Genfer Konvention gegeben, die zur Durchsetzung dieser Konvention vertraglich verpflichtet sind. Sie war bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen worden, um die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten gerichtlich verfolgen zu können. Die Vierte Konvention verbietet praktisch alles, was die USA und Israel in den besetzten Gebieten unternehmen. Dazu gehören auch die Siedlungen, die mit US-amerikanischer Wirtschaftshilfe errichtet und ausgedehnt wurden. Diese Unterstützungsmaßnahmen wurden unter Clinton und Barak während der Verhandlungen von Camp David noch erweitert. Nur Israel weist die Vorwürfe, gegen die Genfer Konvention zu verstoßen, zurück.

Als das Thema im Oktober 2000 im UN-Sicherheitsrat zur Sprache kam, enthielten sich die USA der Stimme. Offensichtlich wollten sie nicht mit der Verletzung grundlegender Prinzipien des internationalen Rechts in Verbindung gebracht werden, schon gar nicht angesichts der Umstände, unter denen dieser Verstoß stattfand. Deshalb verurteilte der Sicherheitsrat mit vierzehn gegen null Stimmen Israel zur Einhaltung der Konvention. Vor Clinton hatten die USA zusammen mit anderen Mitgliedern des Sicherheitsrats gegen die »flagrante Verletzung« der Konvention durch Israel gestimmt. Die Enthaltung paßt zu Clintons Praxis, die internationale Gesetzgebung und frühere UN-Resolutionen praktisch zu annullieren.

Den Medien zufolge sind die Araber der Auffassung, daß die Konvention für die von Israel besetzten Gebiete gelte. Das ist nicht falsch, aber zuwenig – die Araber sind dieser Auffassung und alle anderen Nationen ebenfalls. Das Treffen vom 5.Dezember 2001, auf dem sämtliche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union anwesend waren, bestätigte die Gültigkeit der Genfer Konvention für die besetzten Gebiete und die Illegalität der Siedlungspolitik; Israel (und damit indirekt die USA) wurde aufgefordert, das internationale Recht zu beachten. Das Treffen scheiterte, weil die USA es boykottierten. Auch in diesem Fall war die Berichterstattung in den USA gleich null.

Dadurch wurde der Terrorismus im Nahen Osten erneut angeheizt, und die Medien trugen dazu das ihrige bei.

Antworten auf den Terrorismus

Nehmen wir schließlich an, daß wir uns – wie der Marsreporter – von der konventionellen Definition des Terrorismus verabschieden. Wir akzeptieren die moralischen Binsenweisheiten. Nur wenn uns das gelingt, können wir uns aufrichtig der Frage stellen, wie mit terroristischen Verbrechen umzugehen ist.

Man könnte dem Vorbild der gesetzestreuen Staaten, also dem Beispiel Nicaraguas, folgen. Aber das wäre zum Scheitern verurteilt, weil die Welt nicht vom Gesetz beherrscht wird, sondern von der Gewalt. Vielleicht müßte dieses Vorgehen im Hinblick auf die USA nicht scheitern, aber ich habe in der umfangreichen Berichterstattung über die Vorgänge der letzten Monate dazu keinen einzigen Satz gelesen. Also ist das wohl ausgeschlossen.

Eine andere Antwort gaben Bush und Boyce, aber wir verwerfen sie sofort, weil niemand glaubt, daß Haiti oder Nicaragua oder Kuba oder andere Staaten das Recht haben, gegen die USA und ihre Vasallen oder andere reiche und mächtige Staaten mit terroristischer Gewalt vorzugehen.

Eine vernünftigere Antwort gaben andere Quellen, darunter der Vatikan und der herausragende britische Historiker Michael Howard.9 Dieser Gelehrte verfügt über alles, was zur Glaubwürdigkeit gehört: Er hat viel Prestige und ist ein großer Bewunderer des britischen Empires und mehr noch von dessen Nachfolger in Sachen Weltherrschaft, weshalb man ihn auch nicht des moralischen Relativismus oder ähnlicher Verbrechen bezichtigen kann.

Im Hinblick auf den 11.September empfahl Howard eine Polizeioperation gegen eine kriminelle Verschwörung, deren Mitglieder verfolgt und vor einen internationalen Gerichtshof gebracht werden sollten, wo sie einen fairen Prozeß und, im Falle eines Schuldspruchs, ein angemessenes Urteil zu erwarten hätten. Darüber wurde anderenorts natürlich nicht nachgedacht, aber es scheint mir vernünftig zu sein, denn dieses Verfahren ließe sich auch bei anderen Verbrechen oder noch schlimmeren terroristischen Gewalttaten anwenden, z.B. hinsichtlich des terroristischen Angriffs der USA auf Nicaragua. Auch das wird nicht erwogen, aber aus ganz anderen Gründen.

Die Aufrichtigkeit stellt uns also vor ein Dilemma. Die einfache Antwort ist die der konventionellen Heuchelei. Die andere Option vertritt unser Reporter vom Mars, der ehrlich an die Grundsätze glaubt, die wir mit so großartiger Selbstgerechtigkeit verkünden. Diese Option läßt sich sehr viel schwieriger durchsetzen, doch ist das unerläßlich, wenn der Welt noch größere Katastrophen erspart bleiben sollen.

II. Über die spektakulären Erfolge der Propaganda

Die Rolle der Medien in der gegenwärtigen Politik zwingt uns zu der Frage, in was für einer Welt und in was für einer Gesellschaft wir leben wollen, und vor allem, in welchem Sinn diese Gesellschaft demokratisch verfaßt sein soll. Ich möchte zunächst zwei unterschiedliche Konzeptionen von Demokratie einander gegenüberstellen. Die eine geht davon aus, daß in einer demokratischen Gesellschaft die Bevölkerung die Möglichkeit hat, sich auf sinnvolle Weise an der Regelung ihrer Angelegenheiten zu beteiligen und ungehinderten Zugang zu den Informationsmitteln besitzt. Wenn man in einem Lexikon den Begriff »Demokratie« nachschlägt, wird man eine Definition dieser Art erhalten.

Eine andere Konzeption besagt, daß die Bevölkerung von der Regelung ihrer Angelegenheit ausgeschlossen und der Zugang zu den Informationsmitteln streng begrenzt und kontrolliert werden muß. Das mag sich seltsam anhören, aber diese Konzeption von Demokratie ist die vorherrschende, und das schon seit langem, in der Theorie ebenso wie in der Praxis. Es ist eine Geschichte, die bis zu den frühesten demokratischen Revolutionen im England des 17.Jahrhunderts zurückreicht. Ich betrachte im folgenden die Epoche der Moderne, sage etwas zur Entwicklung des Demokratiebegriffs und erörtere, wie und warum das Problem der Medien und der Desinformation in diesem Zusammenhang auftaucht.

Frühgeschichte der Propaganda

Beginnen wir mit der ersten modernen Propagandaoperation einer Regierung. Sie fand während der Amtszeit von Woodrow Wilson statt, der 1916 mit dem Slogan »Frieden ohne Sieg« zum Präsidenten der USA gewählt worden war. Zu der Zeit, Mitte des Ersten Weltkriegs, war die amerikanische Bevölkerung äußerst pazifistisch gesonnen und sah keinen Grund, sich in einen europäischen Krieg hineinziehen zu lassen. Die Regierung Wilson hatte sich jedoch auf den Kriegseintritt festgelegt und mußte nun etwas gegen die friedfertige Stimmung unternehmen. Es wurde eine Propaganda-Agentur, die so genannte Creel-Kommission, auf die Beine gestellt, der es innerhalb von sechs Monaten gelang, die Bevölkerung in eine hysterische Begeisterung zu versetzen. Jetzt auf einmal wollte man alles Deutsche vernichten, die Deutschen in Stücke reißen, in den Krieg ziehen und die Welt retten. Dieser propagandistische Erfolg führte zu weiteren Unternehmungen ähnlicher Art: Nach dem Krieg benutzte man die gleichen Techniken, um die »Angst vor den Roten« (Red Scare) zu schüren, wobei es gelang, der Gewerkschaftsbewegung schweren Schaden zuzufügen und so gefährliche Probleme wie die politische Meinungs- und Pressefreiheit zu beseitigen. Geschäftswelt und Medien sekundierten bei diesem Unterfangen, das insgesamt ein großer Erfolg wurde.

Zu denen, die sich aktiv und begeistert an Wilsons Kriegstreiberei beteiligten, gehörten auch progressive Intellektuelle aus dem Kreis um John Dewey, die, wie man ihren Schriften entnehmen kann, sehr stolz darauf waren, daß es den (so ihre Worte) »intelligenteren Mitgliedern der Gemeinschaft«, nämlich ihnen selbst, gelungen war, durch Verbreitung von Schreckbildern und nationalistischem Fanatismus der Bevölkerung den Krieg schmackhaft zu machen. Dazu waren ihnen so ziemlich alle Mittel recht, wie etwa die »Greuelpropaganda«, die den abfällig »Hunnen« genannten Deutschen das Zerstückeln belgischer Kinder und andere Grausamkeiten andichtete, die in manchen Geschichtsbüchern immer noch zu lesen sind. Vieles davon beruhte auf Erfindungen des britischen Propagandaministeriums, das damals, wie sich geheimen Unterlagen entnehmen läßt, das Ziel verfolgte, »die Gedanken fast der gesamten Welt zu lenken«, Vor allem aber wollte man die Gedanken der »intelligenteren Mitglieder der Gemeinschaft« in den Vereinigten Staaten lenken, damit die von den Briten zusammengekochte Propaganda dort Verbreitung finden und eine friedliche Bevölkerung in Kriegshysterie stürzen könne. Das gelang sehr gut, und man konnte eine Lehre daraus ziehen: Die Wirkungen staatlicher Propaganda sind umso größer, je mehr sie von den gebildeten Schichten unterstützt und keine Kritik daran zugelassen wird. Diese Lektion haben Hitler und viele andere gelernt, bis auf den heutigen Tag.

Demokratie für Zuschauer

Ebenso beeindruckt von diesen Erfolgen waren liberal-demokratische Theoretiker und führende Persönlichkeiten der Medien wie etwa Walter Lippmann, der Doyen der amerikanischen Journalisten, ein einflußreicher Kritiker der Innen- und Außenpolitik der USA und ein großer Theoretiker der liberalen Demokratie. Lippmann war an den Propagandakommissionen beteiligt gewesen und hatte den Wert ihrer Errungenschaften erkannt. Er meinte, daß eine von ihm so genannte »Revolution in der Kunst der Demokratie« dazu führen könnte, »Konsens herzustellen« (manufacturing consent), d.h. mittels der neuen Propagandatechniken die Öffentlichkeit auf Ereignisse einzustimmen, die sie eigentlich ablehnt. Er hielt dies für eine gute, ja sogar notwendige Idee, weil, wie er sagte, »das Interesse des Gemeinwesens sich der öffentlichen Meinung völlig entzieht« und nur von einer »spezialisierten Klasse … verantwortlicher Männer«, die über das notwendige Wissen verfügen, begriffen und in Angriff genommen werden kann. Seiner Theorie zufolge kann lediglich eine kleine Elite – die Gemeinschaft der Intellektuellen, von der die Dewey-Anhänger sprachen – das Interesse der Allgemeinheit adäquat in die Tat umsetzen. Das ist eine sehr alte und zugleich typisch leninistische Sichtweise, die hervorragend mit Lenins Konzept einer revolutionären Avantgarde harmoniert. Diese Avantgarde ist, so Lenin, dazu befugt, aufgrund einer allgemeinen Revolution die Staatsmacht zu übernehmen, um die Bevölkerung dann einer Zukunft entgegenzuführen, die außerhalb der begrifflichen Reichweite der dumpfen Massen liegt. Insofern gehen liberal-demokratische Theorie und Marxismus-Leninismus von gemeinsamen ideologischen Voraussetzungen aus.«10

Lippmann unterfütterte diese Anschauungen mit einer ziemlich ausgefeilten Demokratie-Theorie. Eine gut funktionierende Demokratie bestehe, so meint er, aus zwei unterschiedlichen Klassen von Bürgern. Zur einen Klasse gehören diejenigen, die aktiv mit den Angelegenheiten der Allgemeinheit betraut sind, d.h. analysieren, Entscheidungen treffen und ausführen und in den politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Systemen die Dinge ins Rollen bringen. Diese Klasse von Spezialisten umfaßt allerdings nur einen kleinen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung. Der Rest gehört zu »den anderen«, den Handlungsobjekten der Spezialisten. Sie machen, so Lippmann, die »verwirrte Herde« aus, vor deren »Getrampel und Gelärm« wir, die Spezialisten, uns schützen müssen. Beide Klassen haben in der funktionierenden Demokratie eine festumrissene Funktion. Die Spezialisten und Planer kümmern sich um das Interesse der Allgemeinheit, während die »verwirrte Herde« die Rolle von Zuschauern spielt, hin und wieder jedoch einem Mitglied der Spezialistenklasse Gewicht verleihen darf, indem sie ihm die politische Führung zuspricht. Denn schließlich leben Hüter und Herde in einer Demokratie und nicht in einem totalitären Staat. Deshalb gibt es Wahlen, nach denen die Herde jedoch wieder in die Zuschauerrolle zurückfällt und an den Planungs- und Entscheidungsvorgängen nicht weiter beteiligt ist.

Hinter dieser Theorie steckt eine Logik und sogar ein zwingendes Moralprinzip. Es besagt, daß die Masse der Bevölkerung zu dumm ist, um größere Zusammenhänge zu begreifen. Wenn sie den Versuch unternimmt, sich an der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zu beteiligen, stört sie lediglich den reibungslosen Ablauf. Darum wäre es unmoralisch und unverantwortlich, dergleichen von ihr zu verlangen. Wir müssen die Herde zähmen, damit sie nicht alles zertrampelt. Ihr die Beteiligung an Entscheidungsprozessen zuzugestehen, wäre ebenso unklug wie ein dreijähriges Kind allein über die Straße laufen zu lassen, weil es mit dieser Freiheit sich selbst und andere gefährden könnte.

Wir müssen also die Herde mittels einer neuen Revolution in der Kunst demokratischen Regierens zähmen, nämlich mit der »Herstellung von Konsens«, Medien, Schulen und Alltagskultur müssen zweigeteilt werden. Der politischen Klasse, den Spezialisten, vermitteln sie einen angemessenen Wirklichkeitssinn und die richtigen Überzeugungen. Konsens kann nämlich nur hergestellt werden, wenn eine entscheidende Voraussetzung zwar vorhanden ist, aber nicht ausgesprochen wird: Die Spezialisten gelangen nur an die Entscheidungshebel der Macht, indem sie – was sie auch vor sich selbst verbergen müssen – den wirklich Mächtigen dienen, den Eigentümern der Gesellschaft, einer ganz kleinen Gruppe von Personen. Nur wenn die Spezialisten bereit sind, deren Interessen zu dienen, gehören sie zu den Entscheidungsträgern. Aber das muß unter der Decke gehalten werden, und darum bekommen die Spezialisten jene Überzeugungen und Doktrinen eingetrichtert, mit denen sie den Interessen der privaten Macht dienen können. Mithin gibt es ein Erziehungssystem, in dem die zukünftigen Spezialisten sich die Werte und Interessen der Privatwirtschaft und des sie repräsentierenden staatlich-ökonomischen Sektors zu eigen machen, während die verwirrte Herde einfach abgelenkt und von den Fleischtöpfen der Macht ferngehalten werden muß.

Diese Anschauungen sind von zahlreichen anderen Personen auf ähnliche Weise entwickelt worden. So ging z.B. der berühmte Politologe und Theologe Reinhold Niebuhr – der »Theologe des Establishments« und Guru von George Kennan und den Kennedy-Intellektuellen – davon aus, daß Rationalität eine nicht eben weit verbreitete menschliche Eigenschaft sei. Die meisten Leute ließen sich von ihren Gefühlen und Impulsen leiten. Die mit Rationalität Begabten hätten die Aufgabe, »notwendige Illusionen« und emotional einflußreiche »Übervereinfachungen« zu schaffen, um die naiven Einfaltspinsel auf Kurs zu halten. Das wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren zu einer Standardhypothese der Politischen Wissenschaft. Damals erklärte Harold Lasswell, Begründer der modernen Kommunikationstheorie und einer der führenden Politologen, daß wir uns nicht dem »demokratischen Dogmatismus« hingeben und etwa glauben sollten, »die Menschen könnten ihre je eigenen Interessen selbst am besten beurteilen«. Das nämlich können nur wir, die Spezialisten. Darum müssen wir, schon aus Gründen gewöhnlicher Moralität, dafür sorgen, daß die Massen nicht die Gelegenheit bekommen, ihre Fehlurteile in Taten umzusetzen. In Diktaturen ist das einfacher. Man hält die Knute bereit, und wer aus der Reihe tanzt, bekommt sie zu spüren. Aber in freieren und demokratischeren Gesellschaften geht so etwas nicht. Deshalb ist hier das Mittel der Propaganda so wichtig. Sie ist für die Demokratie, was für die Diktatur die Knute. Jedoch ist die »verwirrte Herde« weder im einen, noch im anderen Fall fähig, die Interessen der Allgemeinheit zu erkennen.

Public Relations

Die Vereinigten Staaten waren das Pionierland der PR-Industrie. Ihr Ziel war, wie es deren Vorreiter formulierten, »das Bewußtsein der Öffentlichkeit (public mind) zu kontrollieren«, Sie hatten eine Menge aus den Erfolgen der Creel-Kommission und der antikommunistischen Feldzüge gelernt. In den zwanziger Jahren blühte die PR-Industrie auf und konnte die Öffentlichkeit für einige Zeit fast vollständig der Herrschaft der Geschäftswelt unterwerfen, so daß zu Beginn der dreißiger Jahre sogar Untersuchungsausschüsse des Kongresses sich mit ihrer Rolle beschäftigten. Viele Informationen über die Machenschaften der PR-Industrie stammen aus dieser Zeit.

Mittlerweile gibt die PR-Industrie etwa eine Milliarde Dollar pro Jahr für ihre Aktivitäten aus, immer noch mit der Absicht, »das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu kontrollieren«, In den dreißiger Jahren gab es dazu Anlaß genug. Die Wirtschaftskrise florierte, und die Arbeiter organisierten sich. 1935 errang die Arbeiterbewegung mit dem Wagner-Gesetz ihren ersten (und letzten) Sieg in der Legislative, nämlich das Recht auf freie gewerkschaftliche Organisation. Damit ergaben sich aus Sicht der »Spezialisten« zwei ernsthafte Probleme. Zum einen funktionierte die Demokratie nicht richtig. Die »verwirrte Herde« hatte einen Sieg errungen, der in der Demokratie der Spezialisten nicht vorgesehen war. Zum anderen war es mit dem Wagner-Gesetz für die Arbeiter möglich geworden, sich zu organisieren und damit aus der Rolle des Zuschauers herauszutreten. Sie waren nicht länger atomisierte Individuen. Sie und andere Leute mit begrenzten Ressourcen konnten die politische Arena betreten, und das war äußerst bedrohlich. Die Privatwirtschaft leitete eine Großoffensive ein, um sicherzustellen, daß das Wagner-Gesetz der letzte Sieg für die Arbeiterbewegung auf dieser Ebene gewesen sein sollte, und sie hatte Erfolg. Ab 1935 nahm die Fähigkeit der Gewerkschaften zu organisiertem Handeln ständig ab, und die Zahl der Mitglieder, die während des Zweiten Weltkriegs noch einmal kurzfristig anstieg, begann zu sinken. Das geschah keineswegs zufällig, denn die Geschäftswelt widmete diesem Problem sehr viel Geld und Aufmerksamkeit. Sie spannte die PR-Industrie und andere Organisationen wie etwa die National Association of Manufacturers und den Business Roundtable für ihre Zwecke ein, um diese Entartung der Demokratie im Keim zu ersticken.

Die erste Gelegenheit dazu ergab sich bereits 1937. Im Westen von Pennsylvanien, in Johnstown, streikten die Stahlarbeiter, und die Geschäftswelt wollte diesen Streik mit neuen Methoden brechen. Man schickte nicht mehr, wie früher, Schlägertrupps los, die es auf die Kniescheiben von Streikwilligen abgesehen hatten, sondern bediente sich der subtileren Mittel der Propaganda, um die Öffentlichkeit gegen die Streikenden aufzuwiegeln, die als schädliche Störenfriede präsentiert wurden, deren Aktivitäten den Interessen der Allgemeinheit zuwiderliefen. Die Interessen der Allgemeinheit sind »unsere« Interessen: die des Geschäftsmanns, des Arbeiters, der Hausfrau. »Wir alle« sind ja Amerikaner und wollen in Frieden und Harmonie zusammenarbeiten. Aber die Streikenden stören diesen Frieden und sind darum unamerikanische Subjekte. Wenn »wir alle« miteinander leben wollen, müssen wir sie stoppen. Der Konzernchef und die Reinmachefrau haben die gleichen Interessen. Diese Botschaft wurde der Öffentlichkeit mit großem Aufwand verkauft, schließlich kontrollierte die Geschäftswelt die Medien und ließ sich die Kampagne etwas kosten, die dann auch Erfolg hatte. Man sprach später von der »Mohawk-Valley-Formel« und benutzte sie noch häufig, um Streiks zu brechen. Es war, wie man sagte, eine »wissenschaftliche Methode«, die darauf abzielte, die öffentliche Meinung mit leeren Begriffen wie »Amerikanismus« gegen Aktionen der Arbeiterbewegung einzunehmen. Wer will schon gegen Amerikanismus oder Harmonie sein? Oder gegen die im Golfkrieg erhobene Forderung: »Unterstützt unsere Truppen«? Oder gegen gelbe Bänder, mit denen man die Heimkehrenden begrüßt?

Was bedeutete es denn, wenn z.B. jemand fragte: »Unterstützt ihr die Leute in Iowa?« Wäre die Antwort: »]a, wir unterstützen sie« oder »Nein, wir tun es nicht«? Es ist noch nicht einmal eine Frage, sondern nur eine bedeutungslose Äußerung. Und darum geht es. PR-Slogans wie »Unterstützt unsere Truppen« bedeuten nichts und sollen nichts bedeuten. Genausogut könnte die Frage lauten: »Unterstützt ihr die Leute in Iowa?« Natürlich gibt es eine grundlegendere Frage. Sie lautet: »Unterstützt ihr unsere Politik?« Aber gerade darüber sollen die Leute nicht nachdenken. Gute Propaganda erfindet einen Slogan, dem alle zustimmen können, ohne wissen zu müssen, was er bedeutet, weil er nämlich nichts bedeutet. Sein Wert besteht gerade darin, von der wirklich bedeutungsvollen Frage abzulenken: »Unterstützt ihr unsere Politik?« Statt dessen denken die Leute über die Frage nach, ob sie die Truppen unterstützen sollten. »Natürlich bin ich nicht dagegen, das zu tun.« Damit hat die Propaganda gewonnen.

Das in den dreißiger Jahren erdachte Konzept funktioniert bis heute, und die PR-Industrie setzt weiterhin auf eine Demokratie, in der die Spezialisten im Dienst der Wirtschaft stehen, während die übrige Bevölkerung aller Möglichkeiten, sich zu organisieren, beraubt ist, weil der Kampf um Rechte nur Ärger verursacht. Die Leute sollen vor dem Fernseher sitzen und sich die Botschaft einhämmern lassen, es sei am wichtigsten, dieses oder jenes Produkt zu kaufen und das Leben der reichen Mittelschichtfamilie zu führen, die einem auf dem Bildschirm vorgeführt wird, und ansonsten möglichst harmonisch und amerikanisch zu sein. Das ist alles. Manch einer mag sich denken, es müsse doch noch mehr im Leben geben, aber da er allein vorm Kasten sitzt, kann er nur annehmen, verrückt zu sein, weil so etwas in den Soaps und Werbespots nicht vorkommt. Und da es nicht die Möglichkeit gibt, sich zu organisieren – ein ganz entscheidender Punkt –, können die Leute nicht herausfinden, ob sie verrückt sind, und nehmen eben an, sie seien es, weil es keine Alternative zu geben scheint.

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