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Nach der Trennung von ihrem Mann zieht es Merle gemeinsam mit ihrem Hund Alfi in ein kleines Dorf an der Ostsee, wo sie schon als Kind unbeschwerte Sommer verbracht hat. In der charmanten Pension »Meerblick« triff sie auf die warmherzige Besitzerin Edda. Die beiden Frauen fassen kurzerhand den Plan, die etwas in die Jahre gekommene Pension in ein Hundehotel für Urlauber mit Vierbeinern zu verwandeln!
Zwischen Farbeimern und Hundebetten scheint in Merles neuem Leben kein Platz für die Liebe zu sein - bis sie Jonas begegnet. Der smarte Bauingenieur verbringt mit seinem Golden Retriever Urlaub am Meer und wirbelt Merles Gefühle gehörig durcheinander. Doch als sie ihr Herz langsam für ihn öffnet, droht eine folgenschwere Entscheidung alles zu verändern...
Ein warmherziger Wohlfühlroman mit Herz und Pfote!
Alle Romane dieser Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Wir haben die Geschichten sorgsam für dich ausgewählt. Für alle Tierfreunde und Leserinnen und Leser von wunderschönen Liebesromanen mit Herz und Pfote.
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Epilog
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Nach der Trennung von ihrem Mann zieht es Merle gemeinsam mit ihrem Hund Alfi in ein kleines Dorf an der Ostsee, wo sie schon als Kind unbeschwerte Sommer verbracht hat. In der charmanten Pension »Meerblick« triff sie auf die warmherzige Besitzerin Edda. Die beiden Frauen fassen kurzerhand den Plan, die etwas in die Jahre gekommene Pension in ein Hundehotel für Urlauber mit Vierbeinern zu verwandeln!
Zwischen Farbeimern und Hundebetten scheint in Merles neuem Leben kein Platz für die Liebe zu sein – bis sie Jonas begegnet. Der smarte Bauingenieur verbringt mit seinem Golden Retriever Urlaub am Meer und wirbelt Merles Gefühle gehörig durcheinander. Doch als sie ihr Herz langsam für ihn öffnet, droht eine folgenschwere Entscheidung alles zu verändern...
Ein warmherziger Wohlfühlroman mit Herz und Pfote!
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert. Titel
Möhnesee lag hinter ihr und vor ihr eine ungewisse Zukunft. Merle starrte angestrengt nach vorn. Ihre Finger umklammerten das Lenkrad. War ihr nächtlicher Aufbruch trotz aller Vorsicht bemerkt worden? Seit einer Weile folgte ihr ein hellblauer Lieferwagen. Zum Glück bog er im nächsten Ort an einer Kreuzung ab.
Die Eindrücke der letzten Tage ließen sie nicht los. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die beiden Umzugskartons mit ihren Habseligkeiten, die im Hausflur gestanden hatten, die großzügigen Zimmer, die nun gähnend leer waren, und der Blick in den von ihr liebevoll gepflegten Garten aus der Küche. All das würde sie vermissen.
Es goss in Strömen. Der Scheibenwischer zog seine Bahnen über die Windschutzscheibe. Sie fuhr nur ungern bei Dunkelheit, noch dazu bei diesem Wetter. Weil ihr alter Wagen kein eingebautes Navigationssystem besaß, nutzte sie ihr Handy. Hin und wieder schaute sie in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgte.
Ihr Ziel war Boltenhagen an der Ostsee. Seit einer Ewigkeit war sie nicht mehr dort gewesen.
Alfi schnarchte auf seiner Kuscheldecke auf dem Beifahrersitz. Merle schmunzelte. Sie hätte nie gedacht, dass ein kleiner Hund so laut schnarchen konnte.
Alfi war ein Geschenk zu ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag. Merle schluckte. Die Tage davor gehörten zu den traurigsten in ihrem Leben. Die Geburtstagsfeier hatte sie ausfallen lassen, weil die Möbel ausgeräumt waren. Noch immer schmerzte die Erinnerung daran.
Es ist Zeit, dein altes Leben hinter dir zu lassen und nur noch an die Zukunft zu denken.
Auf der Fahrt regnete es ununterbrochen. Dennoch hob sich Merles Stimmung mit jedem Kilometer, den sie sich von Möhnesee entfernte. Nach einer Weile knurrte ihr Magen. Vor lauter Aufregung hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
Sie entschied, eine kurze Pause einzulegen. Auf einem Schild wurde auf die Raststätte hingewiesen, in der sie als Kind auf den Urlaubsfahrten mit den Eltern gegessen hatte. Sie nahm die Ausfahrt und hielt vor dem Gebäude, dessen Fassade jetzt viel moderner aussah, mit Leuchtreklame und dem Logo einer Gastronomiekette. Merle hatte der rustikale Stil von damals besser gefallen. Ein kurzer Blick zu Alfi verriet, dass er tief schlief. Er hob nicht mal den Kopf, als sie ausstieg.
Entschlossen stieß sie die Glastür der Raststätte auf und trat ein. Bis auf zwei Tische und den Kassentresen war der Gastraum leer. Es roch nach Frittierfett und Würstchen wie in einem Schnellimbiss. Auch waren die fröhlichen Kellner von damals zugunsten einer Selbstbedienung abgeschafft worden. Selbst die Bonbonniere mit den Karamellen neben der Kasse existierte nicht mehr. Schade.
Sie kaufte sich ein belegtes Brötchen und einen Cappuccino zum Mitnehmen. Sie wollte zurück sein, bevor Alfi ihre Abwesenheit bemerkte und zu bellen begann.
Als sie den Deckel auf den Pappbecher drückte, sah sie sich in der Scheibe der Brötchenvitrine. Himmel! Mit dem strähnigen Haar, dem blassen Teint und dem verlaufenen Kajal sah sie aus wie eine Wasserleiche. Das war nicht mehr die attraktive und taffe Frau, nach der sich die Männer reihenweise umdrehten. Ihre Markenkleidung hatte sie verkaufen müssen und gegen billige eingetauscht, weil sie sich schicke Teile nicht mehr leisten konnte. Ihren letzten Friseurtermin hatte sie auch aus finanziellen Gründen absagen müssen. Wenigstens war ihr Blond Natur und damit gratis.
Während ihrer Ausbildung zur Köchin hatte sie alles, was sie erübrigen konnte, für Mode und Styling ausgegeben. Nachdem sie ihren Job in einer Restaurantküche gekündigt hatte, war es oft vorgekommen, dass sie je nach Laune ihre Haarfarbe gewechselt hatte. Heute spürte sie, dass sie sich selbst gesucht hatte. Sie hatte immer gewusst, was sie wollte, bis sie viel zu oft mutterseelenallein und unglücklich in ihrem Haus gesessen hatte. Doch sie war zum Teil selbst schuld an ihrer Situation gewesen. Sie hätte durchaus etwas dagegen unternehmen können, Henny hatte ihr oft genug Vorschläge unterbreitet. Aber sie hatte sich lieber in ihrer Küche eingeschlossen.
Was hatte sie für Träume gehabt, von einem liebenden Mann, einem hübschen Haus und einer Schar Kindern. Leider würde sich das nicht erfüllen. Mit vierunddreißig war sie zwar noch jung genug, aber sie würde sich nicht mehr so schnell auf einen Mann einlassen.
Seufzend öffnete Merle ihren Wagen. Im selben Augenblick schlug Alfi die Augen auf. Er schnüffelte und starrte begehrlich auf die Brötchentüte.
»Du hast deine Portion für heute schon bekommen, mein Lieber«, erklärte sie ihm. Alfi neigte den Kopf und begann zu winseln, als sie ins Brötchen biss. Wer konnte schon dem flehenden Blick schwarzer Knopfaugen widerstehen? Der Malteser und sie waren Leidensgenossen, die ihr Schicksal teilten. Von heute auf morgen obdachlos.
»Aber nur ein winziges Stück.« Sie rupfte ein Stück Wurst ab und reichte es ihm in den Hundekorb. Gierig verschlang Alfi den Bissen und leckte sich das Mäulchen ab. Auf seine unnachahmliche Weise neigte er wieder den Kopf zur Seite und sah sie auffordernd an.
»Nein, Alfi, mehr bekommt dir nicht.«
Enttäuscht legte der Hund seinen Kopf auf die Pfötchen und sah sie traurig an.
Während Merle im Wagen ihr Brötchen aß, schaute sie hinaus in die Dunkelheit. Sie fühlte sich einsam und allein wie damals nach dem Tod der Eltern. Wieder musste sie neu beginnen. Sie wischte sich den Mund ab, bevor sie den Kopf ans Lenkrad lehnte und ihren Kummer hinausweinte.
Nach einer Weile begann Alfi zu kläffen, als hätte er genug von ihren Tränen. Schniefend sah Merle ihn an.
»Du hast ja recht. Das Heulen hilft auch nicht weiter. Wir wollen positiv in die Zukunft schauen.«
Sie startete den Motor und kehrte auf die Autobahn zurück.
Als Merle am nächsten Morgen erwachte, wusste sie erst nicht, wo sie war. Ach ja, sie hatte die Nacht im Wagen auf einem Parkplatz verbracht. Alfi saß schwanzwedelnd im Hundekorb und sah sie auffordernd an.
»Ich weiß, du musst.« Merle war hundemüde.
Sie reckte sich und gähnte. Was hätte sie jetzt für eine Tasse schwarzen Kaffee und ein Buttercroissant von Henny gegeben. Das hätte ihre Sinne belebt. Sie stieg aus dem Wagen und ließ Alfi nach dem Anleinen hinaus. Sofort begab sich der Hund auf Entdeckungstour. Seine Lebendigkeit hob Merles Stimmung ein wenig. Ohne Alfi wäre sie in den letzten Wochen verzweifelt. Sie verließen den Parkplatz und betraten eine abschüssige Wiese.
Die aufgehende Sonne übergoss die Landschaft mit rotgoldenem Schimmer. Merle blieb stehen, um den Anblick zu genießen. Irgendwo da hinten am Horizont lag das Meer.
Plötzlich verspürte sie den Wunsch, mit Alfi am Strand entlangzuspazieren.
»Komm wieder ins Auto, Alfi, ich möchte dir etwas Besonderes zeigen.«
Nachdem Alfi wieder in seinem Körbchen auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, fuhr Merle in Richtung Meer. Sie ließ das Fenster ein Stück herunter und genoss die salzige Luft. Während sie dem Strand entgegenfieberte, saß der Hund ruhig neben ihr. Merle war gespannt, wie er reagieren würde, wenn er das erste Mal das Meer sah.
Wenig später hielt sie auf einem leeren Parkplatz an, der nur wenige Schritte vom feinen Sandstrand entfernt lag. Merle stieg aus und genoss den Anblick der kobaltblauen Ostsee. Die Wellen glitzerten leicht in der Morgensonne. Die sanfte Brise umschmeichelte ihr Gesicht. Am Horizont glitt ein riesiges Schiff auf dem Wasser. Hier war der perfekte Ort für einen Neuanfang. Sie leinte Alfi an und ging mit ihm hinunter zum Meer. Sprang er anfänglich euphorisch herum, wurden seine Schritte immer langsamer, als sie sich dem Wasser näherten. Obwohl es kühl war, zog Merle Schuhe und Strümpfe aus, um den Sand zu spüren. Wie damals als Kind. Dann rannte sie zum Wasser. Die Wellen rollten sanft über den Sand. Alfi blieb stehen und beobachtete ängstlich das Wellenspiel. Er stemmte seine vier kräftigen Beinchen in den Sand, als sie ihn zum Wasser ziehen wollte.
»Du wirst sehen, es wird dir Spaß machen«, redete sie ihm gut zu. Aber Alfi blieb skeptisch und rührte sich nicht von der Stelle. Merle erkannte, dass es keinen Zweck hatte, ihn dazu zu zwingen.
»Wenn du nicht willst, Pech gehabt. Ich liebe das Meer.«
Kurzerhand nahm sie ihn auf den Arm, trat in die kalte Wellenauslaufzone und drehte sich wie damals im Kreis. Auf ihrem Arm begann Alfi aufgeregt zu bellen, bis sie damit aufhörte. Behutsam beugte sie sich mit ihm zum Wasser hinunter. Sie benetzte sein Fell. Zitternd drückte Alfi sich an sie. Erst als eine Möwe neben ihnen durch den Sand hüpfte, sprang er Merle vom Arm, um den Vogel zu vertreiben. Dabei störte ihn das Wasser nicht, das seine Beinchen umspülte, als er der Möwe hinterherhetzte. Merle lachte. Als der Vogel sich in die Luft erhob, kehrte Alfi zu ihr zurück und wollte wieder auf den Arm.
»Nein, mein Lieber. Deine Pfoten sind ganz sandig, und das Wasser hat dir nichts ausgemacht. Nun kannst du neben mir hergehen.« Sie klinkte die Leine wieder in sein Geschirr und spazierte mit Alfi den Strand entlang.
Die Ferientage mit ihren Eltern an der Ostsee waren immer die schönsten im ganzen Jahr gewesen. Sie schloss die Augen. Leichter Wind kam auf, und Möwen flogen kreischend über ihr. Tief sog Merle die salzige Luft ein. Ihre Gedanken reisten in ihre glücklichste Zeit zurück. Sie war wieder das Mädchen mit den Zöpfen, das im Sand nach Muscheln suchte, um eine Kette daraus zu basteln. Sie spürte den Sand unter ihren Füßen und das Wasser, das ihre Knöchel umspülte.
Es war die richtige Entscheidung gewesen herzukommen, die Zukunft fühlte sich wieder gut an.
Merles Magen knurrte, und auch Alfi wurde unruhig, nachdem er sein Geschäft verrichtet hatte. Zeit fürs Frühstück und sich nach einer geeigneten Unterkunft umzusehen. Als sie zum Wagen zurückkehrten, hörte sie ihr Handy brummen. Sie hatte es in der Mittelkonsole vergessen. Merle schloss den Wagen auf und griff nach dem Telefon. Auf dem Display war eine allzu vertraute Nummer zu sehen. Sie sah sein wutverzerrtes Gesicht wieder vor sich. Er hatte immer nur an sich gedacht. Und sie hatte nie widersprochen. Warum nur hatte sie alles hingenommen? Rasch drückte sie den Anruf weg. Sie wollte sich nicht den Tag verderben lassen. Ab jetzt würde sich ihr Leben ändern.
In Boltenhagen fuhr sie Hotels und Pensionen an.
»Es ist nun einmal so, dass in unserem Haus Hunde im Zimmer nicht gestattet sind. Sie wissen schon«, erklärte ihr beim dritten Versuch eine Blondine mit langen Fingernägeln hinter der Rezeption.
»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Merle. »Können Sie denn nicht mal für eine Nacht eine Ausnahme machen? Bitte.«
»Das geht beim besten Willen nicht, das müssen Sie verstehen. Es gibt viele Allergiker unter den Gästen.«
»Früher ist der Ort immer sehr hundefreundlich gewesen.«
Das Lächeln der Blondine gefror. »Mag sein. Tut mir leid, aber in unserem Haus sind Tiere nun mal unerwünscht. Die ...«
Die folgenden Worte hörte Merle nicht mehr, denn sie hatte sich bereits umgedreht und war auf dem Weg hinaus. Wieder konnte sie eine Unterkunft auf ihrer Liste abhaken. Jetzt blieben ihr nur noch vier Unterbringungsmöglichkeiten, die sie anfahren wollte.
Auch bei diesen wollte keiner Alfi einquartieren.
Ihre Beteuerungen, dass Alfi ruhig war und die Nacht ausschließlich in seinem Hundekorb verbrachte, konnten niemanden erweichen.
Merle war frustriert.
Sie konnte sich noch gut an ihre einstigen Ferien erinnern. Damals hatten viele Feriengäste des Ortes einen Hund besessen.
Es dämmerte bereits, als sie wieder auf die Landstraße einbog. Mussten sie etwa noch eine Nacht im Wagen verbringen?
»Was machen wir nur? Kein Zimmer für uns«, klagte sie Alfi.
Die Zimmersuche hatte sie sich leichter vorgestellt. Unter dem Hundekorb auf dem Beifahrersitz lugte die Ecke eines Prospekts hervor, den sie in einem der Hotels eingesteckt hatte. Später. Unweit der Straße lag die kobaltblaue Ostsee mit ihrem langen Sandstrand, über die sich der glutrote Himmel wölbte. Alfi hatte sich erst vor den Wellen gefürchtet. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Jetzt schlief er neben ihr. Merle genoss die abendliche Stimmung, auch wenn ihr vor einer zweiten Nacht im Auto grauste. Die Erinnerungen an die glücklichen Ferientage kehrten zurück. Während Merle mit anderen Kindern Sandburgen gebaut hatte, hatten es sich die Eltern in einem gemieteten Strandkorb gemütlich gemacht. Gegen Abend waren sie zu dritt zur Ferienpension aufgebrochen und hatten unterwegs Muscheln gesammelt. Leider gab es die Pension von damals nicht mehr. Jedenfalls hatte sie diese weder in einem Reiseprospekt noch im Internet gefunden. Wenn sie noch existieren würde, hätte es für Alfi dort bestimmt einen Platz gegeben. Aber seit damals hatte sich viel geändert.
Alfi bellte und riss Merle in die Gegenwart zurück. Beim nächsten Parkplatz hielt sie an. Nachdem Alfi sich erleichtert hatte, unternahmen sie einen kleinen Spaziergang. Hinter dem Parkplatz führte ein Weg zu einem nahegelegenen Wäldchen. Merle folgte ihm mit Alfi, vorbei an einer Wiese mit grasenden Kühen. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Nach halber Strecke erreichten sie eine landwirtschaftliche Straße, die Merle bekannt vorkam. Ein Stück weiter abwärts weckte ein verwittertes Holzschild ihre Neugier.
»Komm, Alfi, wir gehen dorthin.« Widerwillig folgte der Hund ihrem Vorschlag. Das Schild war zum Teil von Efeu überwuchert. Merle zog die Pflanzenstränge herunter und las. Zum Ferienhof Meerblick 3 Kilometer. Sie traute ihren Augen nicht. Erinnerungen stiegen in ihr auf. Der Zufall hatte sie hierhergeführt. Das war der Ort, an dem sie die glücklichsten Tage ihres Lebens verbracht hatte. Jetzt wollte sie wissen, was aus ihrem einstigen Ferienparadies geworden war, und beschloss, mit dem Wagen hinzufahren. Sie konnte es kaum erwarten, an den Ort der Vergangenheit zurückzukehren.
Die Straße zum Hof war voller Schlaglöcher und zwang sie zum Slalomfahren. So hatte sie das nicht in Erinnerung. Die Wegstrecke zog sich scheinbar endlos dahin.
»Das sind doch niemals nur drei Kilometer!«
Sie überprüfte das Navi. Irgendetwas stimmte nicht. Wenn sie der Bildschirmanzeige glauben sollte, gab es hier gar keine Straße. Dabei war sie sich sicher gewesen, dass damals eine asphaltierte Straße zum Ferienhof geführt hatte.
Die hatte hinter der Pension geendet. Sie musste eine Abzweigung verpasst haben. Es blieb ihr nur, umzukehren oder den wenig einladenden Feldweg mit den Schlaglöchern zu wählen.
Sie wandte sich zu Alfi um. »Was sagst du denn dazu? Der Feldweg oder lieber umkehren?« Der Hund reckte den Hals, als hätte er ihre Worte verstanden, blickte nach vorn und bellte.
Die Entscheidung war gefallen. Merle trat aufs Gaspedal.
Der Feldweg war nicht nur holpriger, sondern der Boden vom letzten Regen matschig, dass sie nur im Schritttempo vorankam. Nach einer Weile schlug etwas unter den Wagenboden, dann folgte ein Knirschen von Metall auf Stein. Merle schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass ihrem Wagen nichts geschehen war. Eine Reparatur konnte sie nicht bezahlen. Der Wagen war das einzige Stück Mobilität, was ihr noch geblieben war. Erschrocken trat sie auf die Bremse. Der Wagen hielt, und Merle keuchte. Das Herz schlug ihr vor lauter Aufregung bis zum Hals. Alfi schaute zu ihr auf, als spüre er, was in ihr vorging.
Sie trat das Gaspedal. Die Räder drehten durch.
»So ein Mist!«, schimpfte sie und startete einen zweiten Versuch. Matsch spritzte, nur der Wagen bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Sie wusste nicht, ob Alfis Knurren ihr oder dem Schlamm galt. Genervt stellte sie den Motor ab.
»Alles gut, Alfi«, sagte sie, obwohl genau das Gegenteil der Fall war. Nicht auszudenken, wenn sie hier feststeckte. Für ein Abschleppunternehmen besaß sie nicht genügend Geld. Du hast genügend schwierige Situationen gemeistert.
»Wär doch gelacht, wenn ich den Wagen nicht von der Stelle bewegen könnte. Selbst ist die Frau«, sprach sie und streifte die Ärmel ihres Pullovers hoch, bevor sie aus dem Wagen stieg. Alfis Knopfaugen blickten sie voller Skepsis und Vorwurf an. Bald würde es wieder dunkel sein. Ihre Freundin Henny hatte sie davor gewarnt, dass ihre Flucht in einer Katastrophe enden könnte und sie dann mutterseelenallein in der Fremde säße.
Merle lugte unter den Wagen. Ein dicker Ast hatte sich darunter verkeilt. Schlimmer war, dass etwas Metallenes herunterhing, was da nicht hingehörte. Das sieht nicht gut aus. Wie konnte ich den Ast nur übersehen? Weil du in Erinnerungen geschwelgt hast! Merle war wütend auf sich selbst. Mit aller Kraft zerrte sie den Ast unter dem Wagen weg. Dann säuberte sie ihre Hände mit einem Tuch, bevor sie sich wieder hinters Lenkrad setzte und den Wagen startete. Der Motor heulte auf, und die Räder drehten erneut durch.
Alles schien sich gegen sie verschworen zu haben. Ihre Zukunft war nicht nur ungewiss, sondern düster.
Merle war den Tränen nah. Was für eine Schnapsidee war es doch gewesen, herzukommen, um alte Kindheitserinnerungen wieder aufleben zu lassen. Sie schlug mit der Faust gegen das Lenkrad, woraufhin Alfi ängstlich bellte.
Sie war müde, hungrig, und ihre Nerven lagen blank. Merle lehnte die Stirn gegen das Lenkrad. Sollte sie wirklich noch eine weitere Nacht im Wagen verbringen müssen? Liebevoll stupste Alfi sie mit seiner nassen schwarzen Nase an.
»Wir lassen uns nicht unterkriegen, stimmt's?«
Merle hatte einfach nur Möhnesee verlassen wollen, wo sie unglücklich gewesen war. Viele hatten sie um ihr Leben beneidet. Dass sie nicht arbeiten, sondern sich nur um Haus, Garten und Hund kümmern musste und aus Spaß bei Henny aushalf. Niemand hatte gewusst, wie erdrückend ihre Probleme und Sorgen gewesen waren. Es lag ihr nicht, anderen gegenüber zu jammern.
Merle schaute hinaus in die idyllische Landschaft. Wenn sie sich richtig erinnerte, konnte es bis zum Ferienhof nicht mehr weit sein. Wenn dort noch jemand wohnte, könnte sie um Hilfe bitten. An diese Hoffnung klammerte sie sich.
Die Friedrichsens hatten immer einen Traktor besessen, der ihren Wagen mit Leichtigkeit aus dem Matsch ziehen könnte.
»Komm, Alfi, wir müssen das letzte Stück zu Fuß gehen.« Sie wusste selbst nicht, woher sie den Optimismus nahm, nach allem, was sie erlebt hatte. Zügig folgte sie dem Feldweg. Ihre Schuhe versanken im Matsch. Zwanzig Jahre waren seit ihrem letzten Besuch vergangen. Was würde sie vorfinden? War der Hof vielleicht eine Ruine?
Die Dunkelheit kam rasch, und Merle war froh, Alfi an ihrer Seite zu wissen.
Sie war erleichtert, als der Weg nach einer Weile auf die Asphaltstraße mündete, die sie von früher kannte, und sie ein Haus sah. In einem der Fenster brannte Licht. Auf dem Hof der Friedrichsens hatte früher reger landwirtschaftlicher Betrieb geherrscht. Doch je mehr sie sich näherte, desto verlassener kam ihr das Gehöft vor. Sollten ihre Befürchtungen sich bewahrheiten? Als sie vor dem Gartentor stand, bemerkte sie im letzten Abendlicht den bröckelnden Putz der Fassade. Die Gebäude brauchten dringend einen neuen Anstrich, und auf den Dächern von Kuhstall und Scheune fehlten Pfannen. Hier ist schon lange nichts mehr gemacht worden! Merle war enttäuscht. Der einst prächtige Hof war heruntergekommen und öde.
Unter dem Schauer, der den Traktoren und Landmaschinen Schutz geboten hatte, lagerten fein säuberlich aufgestapelte Holzscheite. Vor den Stallfenstern hingen Spinnweben, kein Tier schaute heraus. Merle öffnete das Gartentor und ging auf das alte Fachwerkhaus zu, in dem sie früher viel gespielt hatte. Auch an ihm hatte der Zahn der Zeit genagt. Im Geist verglich sie es mit dem Haus in Möhnesee, das sie anstelle des modernen Hauses lieber besessen hätte. Alte Häuser erzählten Geschichten und besaßen Charakter. Sie schreckte eine schwarz-weiße Katze auf, die zwischen zwei Regentonnen verschwand. Alfi wollte ihr nachsetzen und zerrte an der Leine, dass Merle ihn zur Ordnung rufen musste. Er beruhigte sich erst, als die Katze mit weiten Sätzen in den Garten verschwand.
Von Alfis Gebell alarmiert, öffnete sich plötzlich die Haustür. Eine Frau mit grauen Haaren spähte hinaus.
»Hallo? Ist da jemand?«, rief sie.
Auch wenn die Stimme älter klang, erkannte Merle sofort in der Frau auf der Schwelle Edda Friedrichsen. Mutig trat sie näher.
»Entschuldigung, ich brauche Ihre Hilfe.«
Edda Friedrichsen zog die Tür weiter auf. Der einst dunkelblonde Dutt war einem mit weißen Strähnen durchzogenen Kurzhaarschnitt gewichen. Tiefe Falten zogen sich durch ihr Gesicht. Nur in ihrem Blick lag die gleiche Lebendigkeit von damals. Merle schätzte sie auf Ende sechzig. Ihr linker Arm war in einer Schlinge, die Hand eingegipst.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Auto ist auf dem morastigen Feldweg da hinten stecken geblieben.« Sie deutete mit dem Arm zurück.
»Dann sollten Sie einen der gelben Engel rufen. Ich gebe Ihnen gern die Nummer.« Frau Friedrichsen wandte sich ab, um ins Haus zu gehen.
»Aber es ist schon spät ... Frau Friedrichsen.«
Als sie ihren Namen hörte, hielt die alte Dame inne und schaute Merle erstaunt an.
»Kennen wir uns?«
»Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich. Ich bin Merle. Merle Habermann. Das Mädchen mit den dicken Zöpfen und der Zahnspange. Ich habe jedes Jahr mit meinen Eltern auf diesem Hof meine Ferien verbracht.«
Habermann war ihr Mädchenname.
Hinter der gerunzelten Stirn von Frau Friedrichsen schien es zu arbeiten.
»Habermann, ... Habermann ... Doch nicht etwa die kleene Merle, die sich ihren Rock am frisch gestrichenen Zaun versaut hat?«
Merle fiel ein Stein vom Herzen. Mit Frau Friedrichsen zu sprechen, fühlte sich wunderbar vertraut an.
»Genau die. Ich habe immer mit Ihren Töchtern Femke und Levke gespielt. Erinnern Sie sich?«
»Und ob.«
Frau Friedrichsens Miene hellte auf. Sie kam auf Merle zu.
Ihre Eltern waren damals sehr verärgert gewesen, weil sie mit ihrem neuen Rock an den frisch mit Karbolineum gestrichenen Zaun gekommen war.
Der Wind frischte auf, fuhr durch Merles Kleidung und ließ sie frösteln. Die letzten Maitage zeigten sich von ihrer wechselhaften Seite.
»Was für eine Überraschung! Komm rein, min Deern, bevor es gleich wieder regnet. Ich koche dir auch wie früher deinen Hagebuttentee, und dann erzählst du mir, was dich in unsere Einsamkeit geführt hat.« Sie winkte Merle zu sich. Min Deern, so hatte Frau Friedrichsen sie früher immer genannt. Plötzlich erschien es ihr, als wäre die Zeit stehen geblieben und sie wäre wieder das Kind von damals. Es störte sie nicht, dass die ältere Frau sie duzte.
Dem Angebot einzutreten, konnte Merle nicht widerstehen. Sie sehnte sich nach Wärme, und die Aussicht auf einen heißen Tee war zu verlockend.
Dennoch zögerte sie. Sie wollte Frau Friedrichsen mit dem Gips an der Hand keine Arbeit bereiten. Und dann noch Alfi. Sie sah zu ihrem Hund hinunter, dessen Blick zwischen Frau Friedrichsen und ihr hin und her schweifte.
»Der kleene Pinscher ist natürlich auch herzlich willkommen, das weißt du doch noch von damals.«
»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen ...« Merle zeigte auf die eingegipste Hand. Insgeheim hoffte sie, dass sie hier wenigstens für eine Nacht bleiben könnte.
»Papperlapapp. Das macht mir keine Umstände. Im Gegenteil, ich freue mich über deinen Besuch. Nun komm schon rin.«
Das Papperlapapp klang so vertraut, dass in Merle ein wenig Wehmut aufstieg.
Sie nickte. Nach der erfolglosen Zimmersuche tat es gut, jemanden zu treffen, der ein Herz für Hunde besaß.
Unerwartet zog Alfi ihr mit einem Ruck die Leine aus der Hand und stürmte selbstbewusst an Edda Friedrichsen vorbei ins Haus.
»Alfi!«, rief Merle entsetzt. So frech hatte sie ihren Hund noch nie erlebt.
»Der ist gescheit. Er spürt sicher das aufziehende Gewitter.« Frau Friedrichsen lachte.
Gemeinsam gingen sie ins Haus.
Die Deele war noch genauso, wie sie sie in Erinnerung hatte, bis auf den mit Bändern geschmückten Erntekranz, der fehlte.
»Es ist doch in Ordnung, wenn ich dich duze?« Frau Friedrichsen lächelte sie warm an, dass Merle sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder geborgen fühlte. Die Atmosphäre des alten Hauses trug auch dazu bei. Trotz der komfortablen Hightech-Küche hatte sie sich in ihrem eigenen Haus nie so richtig wohlgefühlt. Es hatte gegen das Fachwerkhaus mit seinen offengelegten Holzbalken kühl, fast steril gewirkt. Wie er. Sie verbot sich, wieder ins Grübeln zu verfallen.
»Ja, ja, natürlich, Frau Friedrichsen.«
Edda Friedrichsen schritt voran in die Küche mit dem riesigen Kachelofen, auf dessen Bank Merle früher immer so gern gesessen hatte.
Oben auf dem Ofen lag eingerollt die schwarz-weiße Katze und schlief. Merle war froh, dass Alfi sie nicht bemerkt hatte, sonst hätte er sicher die ganze Zeit gekläfft.
»Meine Minka«, erklärte Frau Friedrichsen, der Merles Blick nicht entgangen war. »Ich habe gerade Wasser gekocht. Dauert nur ein Momentchen, bis der Tee gezogen ist.«
Merle wollte Frau Friedrichsen helfen, der das einhändige Hantieren offensichtlich schwerfiel. Aber die winkte ab.
»So weit kommt's noch, dass ich einen Gast das machen lasse.«
Merle ließ ihren Blick durch die großzügige Bauernküche schweifen, die noch genauso aussah wie damals. Braune Echtholzfronten und von einem Metallgestell über dem alten Herd baumelten Kupferpfannen und -kellen. Vor den Fenstern hingen noch immer die gleichen Häkelgardinen. Selbst der hölzerne Kaffeefilterbehälter hing an derselben Stelle.
Die Raufasertapete brauchte dringend einen neuen Anstrich, und die Bezüge der Küchenstühle waren vom vielen Gebrauch abgewetzt. Aber auch wenn einiges in die Jahre gekommen war, vermittelte die Einrichtung ein anheimelndes Flair. Oft hatte sie als Kind mit Frau Friedrichsen und deren Töchtern am großen Tisch in der Küche gesessen.
»Ich habe seit Neuestem eine Maschine für Espresso und so.« Frau Friedrichsen zeigte stolz auf eine moderne italienische Kaffeemaschine. Merle nickte anerkennend.
»Was hat dich hierhergeführt? Ein Job? Oder willst du einfach mal ausspannen?« Sie stellte die Tasse mit dem dampfenden Tee vor Merle auf den Tisch.
»Ich hatte in letzter Zeit viel Stress und brauche eine Auszeit.« Das war nicht gelogen. Welche Art von Stress wollte sie lieber für sich behalten.
»Eine Auszeit. Mal abschalten. Das tut gut. Dünn und blass biste, Deern«, sagte sie. Der prüfende Blick der Bauersfrau ruhte auf ihr.
Merle erinnerte sich noch gut daran, wie geschickt Edda Friedrichsen alles erfuhr, was sie wissen wollte.
Aber Merle war nicht dazu bereit, mehr von sich preiszugeben. Aus Scham und weil sie nicht mehr an die Zeit erinnert werden wollte, die hinter ihr lag.
Um von sich abzulenken, erzählte Merle von ihrer erfolglosen Zimmersuche.
»Keine Pension, kein Hotel, die Alfi aufnehmen wollten.«
Sie hielt inne. Wie peinlich war das denn! Hoffentlich denkt Frau Friedrichsen nicht, dass ich unbedingt bei ihr nächtigen will!
Merle räusperte sich verlegen und stand auf.
»Ach, ich bin schon viel zu lange hier und stehle Ihnen Ihre kostbare Zeit. Trotzdem fand ich es sehr schön, dass wir uns wiedergesehen haben. Komm, Alfi, wir müssen weiter.« Sie winkte den Hund heran, der, anstatt ihr zu folgen, sich auf den Rücken warf und alle Beine nach oben streckte. Das machte er immer, wenn er bleiben wollte.
»Du stiehlst mir nicht die Zeit. Im Gegenteil. Es war schön an früher zu denken. Außerdem freue ich mich über jeden Besuch. Ist manchmal ganz schön einsam auf dem Hof. Möchtest du noch eine Tasse Tee? Ist doch angenehmer hier drinnen als bei dem Schietwetter draußen.« Frau Friedrichsen holte die Teekanne und bedeutete Merle, sich wieder zu setzen.
Zögernd folgte sie der Aufforderung. Draußen stürmte und regnete es. Da verging einem wirklich die Lust, das Haus zu verlassen.
»Danke.«
Frau Friedrichsen goss ihr ein.
Alfi schien sich wie zu Hause zu fühlen, denn er rollte sich auf einer bunten Decke an der Küchenwand ein. Gleich daneben stand ein Napf mit Wasser und ein Teller mit zwei Leckerlis. Merle schüttete Kandis in die Tasse und rührte. Erneut schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit.
»Es war immer so schön bei Ihnen. Mit den vielen Tieren.«
»Die sind alle verkauft. Nur meine Katze Minka habe ich behalten.« Traurigkeit schwang in der Stimme von Frau Friedrichsen mit.
»Ich habe mich auf jede Ferien hier gefreut. Was machen eigentlich Ihre Töchter Femke und Levke?«
Merle hatte die beiden Schwestern bei der ersten Begegnung für Zwillinge gehalten, weil sie sich so ähnlich gewesen waren. Femke war jedoch ein Jahr älter als ihre Schwester. Eine ruhige, disziplinierte Person voller trockenem Humor. Levke hingegen war ein Wirbelwind mit lauter Flausen im Kopf gewesen, die ständig in irgendwelche Fettnäpfchen trat.
»Femke lebt jetzt in Südafrika. Ihr Mann hatte in Hamburg Agrarökonomie studiert und dann die Farm seiner Eltern bei Kapstadt übernommen. Levke wohnt Gott sei Dank nur zwei Orte weiter von hier und ist Mutter meiner drei süßen Enkelchen. Zweimal die Woche sind die Lütten bei mir. Dann wird es ganz schön turbulent hier.«
Merle konnte sich die quirlige Levke nur schwer als Mutter vorstellen. Doch dann sagte sie sich, dass die Menschen sich im Lauf ihres Lebens veränderten. Auch sie selbst war, von Erfahrungen geformt, eine andere geworden. Nicht mehr die lebensfrohe, selbstsichere Merle. Weil er dir nichts zugetraut hat. Weil du eine Niete bist.
»Das freut mich für Sie und natürlich auch für Levke.«
»Tja, ohne die Kinder ...« Ein Schatten fiel über Frau Friedrichsens Gesicht.
Sie erzählte, dass ihr Mann vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt gestorben sei. Merle spürte deutlich, wie sehr Frau Friedrichsen ihn vermisste.
»Nach seinem Tod habe ich das alles hier allein nicht mehr geschafft. Die viele Arbeit. Schweren Herzens habe ich die Landwirtschaft aufgegeben, die Tiere verkauft und alle Ländereien verpachtet. Doch dem Hof fehlt die Seele. Kannst du das verstehen?«
Merle nickte. Was war ein Bauernhof ohne Tiere und Landwirtschaft? Die leeren Ställe wirkten trostlos.
Dabei hatte der Hof einiges zu bieten, viel Platz und Ruhe für Erholungssuchende, umgeben von einer idyllischen Landschaft.
»Haben Sie noch Gäste?« Merle blickte Frau Friedrichsen über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Die Gästezimmer auf dem Hof waren immer ausgebucht gewesen, dass ihre Eltern den nächsten Urlaub gleich beim Aufenthalt reserviert hatten.
»Es kommen lange nicht mehr so viele wie früher. Meistens ältere Leutchen. Hier gibt es ›no action‹, wie ein Jugendlicher neulich gesagt hat.«
»Man müsste vielleicht noch etwas anbieten, das nicht jeder in dieser Gegend hat, was Kinder und Jugendliche mögen.« Vielleicht Tiere ...
Durch ihre Freundin Henny, die ein kleines Café besaß, hatte Merle viel über zielgerichtete Werbung gelernt.
Außerdem war sie handwerklich sehr geschickt. In ihrem Haus hatte sie die Räume selbst tapeziert, sogar die Wände gestrichen, Stühle aufgepolstert und Gardinen genäht. Für Henny hatte sie zwei antike Möbelstücke aufgearbeitet.
»Na, ich weiß nicht ...« Edda Friedrichsen schien der Gedanke einer kleinen Runderneuerung wenig zu gefallen.
Merle hingegen sprühte vor Ideen. Besonders eine ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie dachte an ihre Suche nach einer Unterkunft, die auch einen Hund aufnahm. Hier war Platz genug und vieles auf Tiere ausgerichtet.
»Sie könnten hier zum Beispiel ein kleines Hundehotel eröffnen. Hier würden nicht nur Herrchen und Frauchen sich erholen, sondern auch ihre Vierbeiner.«
»Ein Hundehotel?« Edda Friedrichsen sah sie skeptisch an.
»Es gibt viele Menschen, die eine geeignete Unterkunft für sich und ihre Vierbeiner für den Urlaub suchen. Noch immer bieten das viel zu wenige an. Ich habe das gerade hinter mir.«
Alfi hob den Kopf und spitzte die Ohren, als würde er jedes Wort verstehen.
Der Gedanke, aus dem Friedrichsen-Hof ein Hundehotel zu machen, gefiel Merle.
»Haben Sie noch die Obstbaumwiese und den Kinderspielplatz?« Merle erinnerte sich an die weitläufige Wiese von über zwei Hektar, auf der die Obstbäume standen, und an den eingezäunten Platz, auf dem sie früher mit den beiden Friedrichsen-Töchtern gespielt hatte.
»Die Schaukeln und Klettergeräte hat mein Mann abgebaut, als die Kinder aus dem Haus gegangen sind.«
»Steht der Zaun noch?«
»Ja ... der ist noch da. Ich wollte eigentlich einen Gemüsegarten dort anlegen. Aber das kann ich dieses Jahr mit dem Handbruch wohl vergessen.«
»Das verstehe ich. Ich könnte Ihnen ein paar Tipps geben, wie Sie mit wenig Aufwand etwas verbessern können, damit mehr Gäste kommen.«
»Veränderungen kosten viel Geld, und das habe ich nicht. Ich komme gerade so über die Runden. Und mit meinem gebrochenen Gelenk schaffe ich das allein nicht. Da bräuchte ich Hilfe. Levke hat genug mit ihrer Rasselbande zu tun.«
»Mit ein wenig Engagement könnten Sie bestimmt richtig gut verdienen und müssten sich keinen Kopf um die Finanzen machen.« Merle wollte Frau Friedrichsen helfen. Sie war sich sicher, dass ihre Ideen viel bewirken könnten.
Der ehemalige Spielplatz war groß und ideal für einen Hunde-Agilityplatz oder einfach nur für einen Hundeauslauf.
Am liebsten hätte sie Edda Friedrichsen all ihre Ideen sofort erklärt. Aber da meldete sich eine kritische Stimme in ihrem Hinterkopf. Was machst du dir Gedanken um einen Hof, der dir nicht gehört? Wie damals, als sie mit Henny eine Werbekampagne für das Café geplant hatte. Merles Blick fiel auf die Uhr. Sie erschrak, weil sie schon zwei Stunden bei Frau Friedrichsen saß und ganz vergessen hatte, den Abschleppdienst anzurufen.
»Gibt es denn jemanden, der meinen Wagen abschleppen könnte?«
»Um die Zeit nicht mehr, min Deern. Bleib doch hier. Die Gästezimmer sind sauber, die Betten frisch bezogen. Und Frühstück gibt es bei mir auch. Morgen sehen wir mit deinem Wagen weiter.«
Merle hatte nicht zu hoffen gewagt, dieses Angebot zu erhalten. Andererseits musste sie es auch bezahlen können.
»Wie viel kostet denn ein Zimmer bei Ihnen?« Im Geist rechnete sie aus, wie viel sie erübrigen konnte.
»Nichts. Du bist mein Gast. Ich freue mich, dass du da bist.«
»Das kann ich nicht annehmen«, wehrte Merle ab. »Dann möchte ich mich anderweitig bei Ihnen erkenntlich zeigen. Ich könnte abwaschen und das Frühstück zubereiten«, schlug Merle vor.
»Gut. Abgemacht.«
»Danke.« Merle lächelte ihr Gegenüber an. »Aber meine und Alfis Sachen sind noch im Wagen.«
Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheiben. Bei dem Gedanken, durch den Regen laufen zu müssen, grauste es ihr.
»Du willst doch nicht ernsthaft bei dem Schietwetter raus?«, fragte Frau Friedrichsen, als Merle aufstand. »Ich werde schon etwas für euch finden. Komm, ich zeige dir dein Zimmer.«
Merle war erleichtert.
»Aber Alfis Futter ist noch im Auto.«
»Bei mir ist noch keiner verhungert. Ich habe immer etwas Hundefutter im Haus. Manchmal kommt der Hund von einem Nachbarn vorbei«, antwortete sie augenzwinkernd.
Alfi schlummerte auf der Decke, als Frau Friedrichsen Merle in den ehemaligen Schweinestall führte, dessen Umbau noch zu Lebzeiten ihres Mannes begonnen hatte. Früher hatten sie das Haus verlassen müssen, um den Schweinestall zu betreten. Jetzt waren Stall und Haus miteinander verbunden. In den Ferien hatte Merle hierin immer die Ferkel bewundert, die grunzend und quiekend durchs Stroh gerannt waren. Sie war gespannt auf den Umbau.
»Mein Gunnar hätte den Umbau sicher gern fertig gesehen. Er hatte noch so viele Ideen. Aber dazu ist es nicht gekommen. Seit seinem Tod liegt vieles brach. Doch mit den paar Gästen kann ich den Hof nicht mehr lange halten.«
Ob das Schicksal mich hierhergeführt hat, um ihr zu helfen? Merle musste sich zur Ordnung rufen. Wie denn, abgebrannt, wie sie war.
Als Edda Friedrichsen die Tür zum Anbau öffnete, war Merle überrascht. So modern und hell hätte sie es sich nicht vorgestellt. Es roch nach Holz. Frau Friedrichsen führte sie durch die unteren Zimmer und das Apartment. Die Räume versprühten durch die Deckenbalken und Holzböden rustikalen Charme. Dennoch waren sie modern und geschmackvoll ausgestattet. Im ehemaligen Schweinestall waren auf zwei Ebenen vier Zimmer und zwei Apartments untergebracht. Jedes von ihnen war in einer anderen Farbe gehalten.
»Oben sind das Brombeer-, das Kirschenzimmer und das Pfirsichapartment«, erklärte ihre Gastgeberin und ging auf eine Treppe zu.
Doch Merle war müde von der Fahrt und hielt Frau Friedrichsen zurück. »Lassen Sie mich das morgen ansehen, ja?« Sie unterdrückte ein Gähnen.
»Such' dir ein Zimmer aus«, schlug Frau Friedrichsen vor. Merle entschied sich für das Zimmer Lindgrün mit Frühlingsblühern auf Tapete, Gardinen und Bettwäsche. Es war geräumig und hatte eine Tür nach draußen, die zu einer kleinen Terrasse führte. Wenn man diese einzäunte, könnten die Gäste ihren Hund nach draußen lassen.
Platz für ein Hundebett gab es auch. Das angrenzende Badezimmer war mit weißen Metrofliesen und einer grünen Mosaikbordüre ausgestattet und bot jeglichen Komfort mit modernen Armaturen und einer großzügigen, barrierefreien Dusche. Grüne Dekorartikel verliehen dem Bad Pepp.
»Das ist ja traumhaft!«, rief Merle. Sie war sich sicher, dass Gäste das Ambiente schätzen und Hunde sich hier genauso wohlfühlen würden.
»Am Anfang lief es gut, aber dann kamen immer weniger Gäste. Die wollten alle immer etwas Besonderes.« Sie rollte mit den Augen.
Merle ging zum Fenster und schaute hinaus. Im Schein der Außenbeleuchtung erkannte sie, dass sich über die Terrasse eine hölzerne Pergola spannte, die an heißen Tagen Schatten spendete. Eigentlich besaßen die Gästezimmer alles, was das Herz begehrte. Aber es musste mehr für die Hunde geboten und die Werbung angepasst werden.
»Die oberen Zimmer haben anstelle der Terrasse einen Balkon«, berichtete Frau Friedrichsen, die neben sie getreten war und in die stürmische Frühlingsnacht schaute.
Der ehemalige Schweinestall war ein Kleinod. Hier könnten Träume wahr werden! Rasch bremste Merle sich aus. Das alles gehörte ihr nicht. Doch von solch einem Ort mit unzähligen Möglichkeiten hatte sie immer geträumt. Schon als Jugendliche hatten ihr ständig irgendwelche Ideen im Kopf herumgespukt, die sie hatte verwirklichen wollen. Im Geist hörte sie sein Gelächter, als sie ihre Träume im Gespräch mit Freunden verraten hatte. Von da an hatte er sie spöttisch Traumsuse genannt. Sie war sich so albern und dumm vorgekommen. Henny hatte sich immer darüber aufgeregt und sie kreativ genannt. Eine Pension für Hunde und ihre Menschen wäre genau das Passende. Außer dem Schweinestall gab es noch den Kuhstall und die große Scheune, in der Feste gefeiert werden konnten. Vielleicht könnte Frau Friedrichsen ein paar von Merles Ideen verwerten, bevor sie ungenutzt in ihrem Kopf verblieben.
»Also für Hundefreunde ist das wirklich passend ...«, murmelte sie.
»Ach!« Frau Friedrichsen schnaubte. »Die meisten geben ihre Fellnasen lieber in einer Pension ab, damit sie ihre Ruhe haben.«
»Die meisten, die ich kenne, verreisen lieber mit ihren Hunden. Die wollen natürlich am Bett von Frauchen und Herrchen schlafen. Wenn in jedem Zimmer ein Hundebett, ein Futter- und Wassernapf stünde, würden sich viele Gäste mit ihren Vierbeinern darum reißen, hier ihren Urlaub zu verbringen.«
Frau Friedrichsen wiegte den Kopf. »Bist du sicher? Aber es müsste viel renoviert werden auf dem Hof, damit er wieder attraktiv aussieht. Das schaffe ich nicht allein. Außerdem fehlt mir das Know-how ... und jetzt noch meine Hand.«
Edda Friedrichsen hielt ihre eingegipste Hand hoch. Merle nickte und hatte Mitleid mit ihrem Gegenüber.
»Wie ist das denn eigentlich passiert?«
»Ich wollte den Wäschekorb nach unten tragen, bin mit meinem Schlappen an einer Stufe hängen geblieben und die Treppe hinuntergestürzt.«
»Oh, nein! Sie hätten sich das Genick brechen können. Zum Glück hatten Sie einen Schutzengel.« Merle drückte erschrocken die Hand auf den Mund.
Frau Friedrichsen winkte ab. »Ich hab schon Schlimmeres überstanden. Diesen verdammten Gips muss ich noch drei Wochen tragen.« Sie zog eine Grimasse.
»Die gehen sicher schnell rum«, tröstete Merle. »Wäre das okay, wenn Alfi heute Nacht bei mir schläft?«
»Kein Problem. Unsere alte Heidi lag nachts auch immer neben unserem Bett, falls du dich erinnern kannst. Du kannst gern die Decke nehmen, auf der er jetzt liegt. Ein Hundebett habe ich leider nicht.«
»Super. Danke.«
Heidi war die alte Schäferhündin der Friedrichsens gewesen. Ein herzensgutes Tier, aber hellwach und aufmerksam. Sie schlug sofort an, wenn jemand seinen Fuß auf den Hof setzte.
Heidi war es gewesen, die in Merle den Wunsch nach einem eigenen Hund geweckt hatte.
»Im Badezimmerschrank findest du neben Handtüchern auch Duschgel, Shampoo, Zahnbürste und Zahnpasta. Es gibt ja immer wieder Gäste, die was vergessen. Ich leihe dir gern ein Nachthemd von Femke. Ihr müsstet die gleiche Größe haben.«
»Danke.« Merle war erleichtert. Statt der zweiten Nacht wie eine Landstreicherin hatte sie ein so hübsches Zimmer!
Frau Friedrichsen blieb noch einen Moment neben ihr am Fenster stehen. Der Regen hatte aufgehört, aber die nächste Wolkenwand würde den Mond, der sich herausgewagt hatte, gleich verdecken.
»Bist du eigentlich allein?«, fragte sie. Diese Frage hatte Merle schon befürchtet. Sie konnte nicht darüber sprechen.
»Ja.« Rasch senkte sie den Blick. Am liebsten würde sie das unglückliche Kapitel ihres Lebens streichen. Der dumpfe Druck in ihrem Magen kehrte zurück.
»Was für eine Sünde! Solch eine hübsche Deern wie du und noch allein! Wie kommt's?«
Merle zuckte mit den Achseln. Sie wollte sich in keine Lügen verstricken.
»Den Richtigen zu finden, ist schwer.«
Merle war froh, dass Frau Friedrichsen nicht weiterbohrte.
Seitdem sie Möhnesee verlassen hatte, ging es ihr besser. Sie hatte kaum noch an ihre Probleme gedacht und sich nur auf einen Neuanfang gefreut. Ihr Magen knurrte.
»Hast du heute schon was gegessen?«
»Eine Banane und einen Schokoriegel«, gestand Merle. Sie musste Geld sparen, bis sie einen neuen Job gefunden hatte.
»Davon wird man doch nicht satt. Ich habe noch einen Rest Nudelauflauf vom Mittag. Ich koche immer etwas mehr, falls Levke mit den Kindern vorbeikommt.«
»Hört sich gut an. Aber nur, wenn ich niemandem etwas wegesse.« Merle lief das Wasser im Mund zusammen.
»Na, dann lass uns mal wieder nach drüben gehen, damit ich ihn dir aufwärmen kann.«
Spaniens Sonne brannte erbarmungslos auf ihn herab. Endlich konnte er den gelben Schutzhelm abnehmen, den er den ganzen Tag auf der Baustelle getragen hatte. Davon hatte er schon Kopfschmerzen bekommen. Jonas wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Die vielen Überstunden in den letzten Wochen hatten an ihm gezehrt. Er fühlte sich ausgelaugt. Heute war Freitag und sein letzter Arbeitstag in Spanien. Das Bauprojekt war erfolgreich beendet. Im nächsten Monat wartete eine Großbaustelle in Dubai auf ihn. Die gut zwei Wochen dazwischen wollte er Urlaub machen. Endlich wieder Zeit mit seinem Hund Jasper verbringen und stressfreie Tage genießen. Noch einmal schlafen, bevor er in der Früh nach Deutschland zurückkehren würde. Müde schlurfte Jonas zum Baucontainer, um seine Sachen zu holen.
Kurz davor blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Vor einem Jahr hatte er die Bauleitung für das fünfstöckige Haus im Auftrag einer Hotelkette übernommen, nachdem sein Vorgänger einen Unfall auf der Baustelle gehabt hatte. Ein lukrativer, aber auch anstrengender Job, der ihn an seine Grenzen hatte stoßen lassen. Doch er war stolz, dass es ihm gelungen war, es in der vorgegebenen Zeit zu errichten, und weil es zu den schönsten an der Küste gehörte.
Jonas wollte den Urlaub auch nutzen, um über Jaspers Zukunft nachzudenken. Für seinen Hund wäre ein weiterer Umzug ins Ausland wieder mit sehr viel Stress verbunden. Der Golden Retriever war mittlerweile sieben Jahre alt und hatte bereits die ganze Welt bereist. Im heißen Dubai würde sich Jasper nur in klimatisierten Räumen aufhalten können. Hinzu kam, dass Jonas während der Bauphase nur wenig Zeit für seinen treuen Gefährten hatte. Er spürte, dass der Hund litt, auch wenn er immer liebevoll von einem Tier-Sitter betreut worden war. Einerseits war es Jonas' Wunsch, mehr Zeit mit Jasper zu verbringen, andererseits war ihm sein internationales Ansehen wichtig. Außerdem liebte er es, andere Länder kennenzulernen. Immer öfter fragte er sich jedoch, ob er Jasper schon wieder eine solch strapaziöse Reise zumuten könnte. Er hatte sogar kurz mit dem Gedanken gespielt, seinen Hund an eine Familie zu vermitteln, bei der er ein festes Zuhause besaß. Bei dem Gedanken wurde es Jonas schwer ums Herz. »Für die Karriere muss man Opfer bringen«, hatte sein Chef zu ihm gesagt. Doch musste es ausgerechnet Jasper sein? Jonas beschloss, die Entscheidung auf später zu verschieben. Im Urlaub würde er genügend Zeit und Abstand haben, um in Ruhe über alles nachzudenken.
Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Jonas zuckte leicht zusammen.
»Du willst doch nicht einfach sang- und klanglos verschwinden. Das wäre ja noch schöner.«
Jonas drehte sich um und stand seinem Polier Dirk gegenüber. Ein bulliger Kerl mit riesigen Händen, die zupacken konnten, wenn es erforderlich war. Im Gegensatz zu seinem Aussehen war Dirk sensibel und nahm sich alles sehr zu Herzen.
»Ich wollte mich selbstverständlich von allen verabschieden, bevor ich nach Deutschland zurückfliege.« Es war nicht Jonas' Art, ohne Abschied zu gehen.
»Na dann. Wir wollten in der Bodega um die Ecke unseren letzten Abend mit einem guten Wein begießen. So gegen acht?«
Eigentlich fühlte Jonas sich zu müde für diese feuchtfröhliche Runde, aber er wollte das Team, das hart für ihn gearbeitet hatte, nicht enttäuschen.
»Okay. Gegen acht in der Bodega.«
Dirk strahlte.
Nachdem Jonas geduscht und sich legere Jeans und Sweatshirt angezogen hatte, begab er sich auf den Weg zur Bodega. Ein wenig traurig war er schon. Schließlich hatte er ein Jahr eng mit seinem Team zusammengearbeitet und würde jeden Einzelnen vermissen. Keiner von ihnen würde in Dubai mit von der Partie sein, weil sie auf anderen Baustellen arbeiten würden.
In der Bodega hatten sie sich oft getroffen, um den Feierabend bei einem guten Glas Rotwein ausklingen zu lassen. Das Weinlokal war ein Geheimtipp in Sevilla, besonders für Pärchen, weil es zwei, drei Tische gab, die abseits in Nischen standen. Auch Jonas hatte einst mit seiner Ex-Freundin Kerstin das Weinlokal besucht und die Stunden trauter Zweisamkeit genossen. Es hatte so vielversprechend mit ihnen begonnen. Doch vor einem guten halben Jahr hatte Kerstin sich von ihm getrennt, angeblich, weil sie keine Fernbeziehung führen wollte. Die Fremdsprachenkorrespondentin war für eine Stelle nach Dortmund zurückgekehrt. Er konnte sich noch gut an ihren letzten Streit erinnern, bei dem sie ihm vorgeworfen hatte, nur an sich zu denken und mit seinem Job verheiratet zu sein. Aber Spanien bedeutete für ihn einen großen Sprung auf der Karriereleiter, den er sich nicht entgehen lassen konnte und wollte. Er hätte sich mehr Verständnis von ihr gewünscht. Dennoch hatten ihre Worte ihm ein schlechtes Gewissen verursacht.
Wie sich dann herausstellte, hatte sie in Dortmund längst einen anderen gehabt. Das hatte ihm einen schweren Schlag versetzt. Immer wieder hatte er sich gefragt, ob es nicht wirklich egoistisch von ihm gewesen war, so viel unterwegs zu sein, bis seine Schwester Riccarda ihm die Zweifel genommen hatte.
»Du hattest ihr angeboten, nach Spanien keinen Auftrag im Ausland mehr zu übernehmen. Ein Jahr! Was ist das schon im Vergleich zu den Jahren, die ihr wahrscheinlich zusammen verbracht hättet«, waren ihre Worte gewesen.
Dennoch erinnerte er sich beim Betreten der Bodega wieder an die Zeit, in der er mit Kerstin an einem der Nischentische verliebte Blicke ausgetauscht hatte. An manchen Tagen fühlte er sich einsam. Ein wenig neidisch betrachtete er die Pärchen, die sich zärtlich an den Händen hielten.