Das Theater am Park – Stimmen der Hoffnung - Valentina May - E-Book
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Das Theater am Park – Stimmen der Hoffnung E-Book

Valentina May

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Beschreibung

Hannover 1914: Das Theater am Park erlebt glanzvolle Zeiten. Familienoberhaupt Fritz von Uhlenberg will sich endlich zur Ruhe setzen und bestimmt seinen Sohn Albert zum Nachfolger. Für Tochter Leonora hingegen hat er einen wohlhabenden Ehemann ausgesucht. Doch Leonora träumt von einer Karriere als Opernsängerin und rebelliert gegen die Heiratspläne ihres Vaters. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, verändert sich alles: Albert zieht an die Front, und das Theater verliert Personal, Publikum und Gelder. In dieser schweren Zeit ist es Leonora, die um den Erhalt und die Zukunft des Theaters kämpft. Doch kann sie als Frau in einer von Männern dominierten Welt bestehen?

Der mitreißende Auftakt zu Valentina Mays Familiensaga über das Theater am Park. Ein Lesegenuss für alle Fans von Elaine Winter, Marie Lamballe und Sophie Oliver.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

20. Juni 1913

Neujahrstag 1914

Samstag, 27. Juni 1914

Sonntag, 28. Juni 1914

3. Juli 1914

18. Juli 1914

31. Juli 1914

1. August 1914

1. August 1914 abends

2. August 1914, erster Kriegssonntag

3. August 1914

4. August 1914

6. August 1914, nachmittags

15. September 1914, morgens

28. September 1914

23. Oktober 1914

15. November 1914

Heiligabend 1914

23. Januar 1915

6. Februar 1915

10. Februar 1915

28. Februar 1915

21. März 1915

24. März 1915

6. April 1915

3. Mai 1915

15. Mai 1915

18. Juni 1915

19. Juni 1915, Tag der Tosca-Premiere

28. Juni 1915

29. Juni 1915

4. Juli 1915

29. August 1915

4. September 1915, Premierentag

22. September 1915

8. Oktober 1915

9. Oktober 1915

18. Januar 1916

1. März 1916

21. April 1916

1. Juni 1916

4. August 1916

28. Oktober 1916

10. November 1916, Zürich

11. November 1916, Hannover

12. November 1916

21. November 1916, Zürich

27. November 1916

16. Dezember 1916

12. November 1918

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Hannover 1914: Das Theater am Park erlebt glanzvolle Zeiten. Familienoberhaupt Fritz von Uhlenberg will sich endlich zur Ruhe setzen und bestimmt seinen Sohn Albert zum Nachfolger. Für Tochter Leonora hingegen hat er einen wohlhabenden Ehemann ausgesucht. Doch Leonora träumt von einer Karriere als Opernsängerin und rebelliert gegen den Heiratsplan des Vaters.

Als dann der Erste Weltkrieg ausbricht, verändert sich alles: Albert zieht an die Front, und das Theater verliert Personal, Publikum und Gelder. In dieser schweren Zeit ist es Leonora, die um den Erhalt und die Zukunft des Theaters kämpft. Doch kann sie als Frau in einer von Männern dominierten Welt bestehen?

Valentina May

Das Theater am Park

– Stimmen der Hoffnung

Die Musik ist die Sprache der Leidenschaft.

(Richard Wagner)

20. Juni 1913

Nun beeilt euch! Wir verpassen noch den Kaiser!« Ungeduldig winkte Leonoras Mutter sie und Albert zu sich. Ganz Hannover hatte sich tagelang auf den bevorstehenden Besuch Kaiser Wilhelms II. zur Einweihung des Neuen Rathauses vorbereitet.

Für den Fall, dass er das elterliche Theater besuchen würde, hatte ihre Mutter es festlich schmücken lassen.

Leonora und Albert eilten der Mutter nach, die bestimmt hatte, dass sie zu Fuß gehen sollten. Leonora hatte ihre neuen Schnürschuhe mit hohem Absatz angezogen.

Der Himmel klarte auf. Leonoras Vater hatte eine Probe angesetzt, um dem Spektakel zu entgehen. Es war ihrer Mutter deutlich anzumerken, wie enttäuscht sie von ihm war.

»Kaiserin Auguste Victoria war eine große Verehrerin unseres Vorfahren Frederik«, erklärte ihre Mutter.

Leonora war gespannt darauf, den Kaiser zu sehen.

Ihr Bruder Albert war schon immer Feuer und Flamme für den Monarchen. In den letzten Tagen hatte er nur darüber nachgegrübelt, welche Uniform der Kaiser am heutigen Tag tragen würde.

Die Prunkstraße zum Residenzschloss war über und über mit Girlanden und Fahnen geschmückt. Die Kinder hatten zu Ehren des Kaisers schulfrei bekommen, um ihm zuzujubeln.

Mit der aufgeschlagenen Paradekarte in der Hand schritt ihre Mutter voran.

Leonora und Albert folgten ihr. Nach einer Weile hatte Leonora plötzlich das Gefühl, dass ihnen jemand folgte. Immer wieder warf sie einen Blick zurück, konnte aber niemanden entdecken.

Das Rathaus mit Turm und Kuppel vereinte architektonische Merkmale von Kathedrale und Schloss und lag im Maschpark.

Der Rathausplatz war ringsum abgesperrt und wurde von Polizisten streng kontrolliert. Oben auf dem Balkon des Rathauses stand Bürgermeister Tramm und wartete auf die Ankunft des Kaisers.

Hufgetrappel und Motorengeräusche kündigten das Herannahen des Monarchen und seines Gefolges an. Die Menge schrie und schwenkte Fähnchen.

»Kannst du ihn schon sehen?« Leonora zupfte ihren Bruder am Ärmel. Albert konnte über die Köpfe der anderen hinwegsehen.

»Die Ulanen reiten gerade vorbei! Was für prachtvolle Uniformen!«, rief er. »Dahinten ... da kommt sein Wagen!« Alberts Augen leuchteten.

Leonora stellte sich auf die Zehenspitzen, um auch etwas sehen zu können. Aber zwei hochgewachsene, junge Männer vor ihr versperrten die Sicht. Ihre Mutter hatte es besser getroffen. Leonora wollte zu ihr.

»Er kommt! Er kommt!«, schrie Albert aufgeregt. Die Menschen drängten nach vorn. Jeder von ihnen wollte einen Blick auf den Kaiser erhaschen. Leonora wurde eingequetscht. Ihre Versuche, sich aus dem Pulk zu befreien, scheiterten kläglich.

»Albert!«, schrie Leonora verzweifelt, als sie mitgerissen wurde. Ihre Schreie gingen im lauten Jubel unter. Leonora hielt nach Mutter und Bruder Ausschau. Vergeblich. Irgendwann hatte sie die Orientierung verloren. Sie war den Tränen nahe. Dann bekam sie einen Stoß. Ein drahtiger Mann drängte sich unter Einsatz seiner Ellbogen an ihr vorbei. Ein Hieb in den Rücken ließ sie vor Schmerz aufschreien. Der Kaiser war ihr jetzt egal. Sie wollte nur noch fort. Leonora bahnte sich einen Weg durch die kreischende Menge, bis sie vor einer Häuserzeile stand. Ihr schwirrte der Kopf vom Lärm. Ihr war klar, dass sie Mutter und Bruder in der Menschenmenge nicht wiederfinden würde.

Leonora entschied, den Heimweg anzutreten.

Sie lief hinter den Spalier stehenden Schaulustigen entlang. Nicht weit entfernt lag die Straße, auf der sie hergekommen waren. Sie fand eine Lücke und überquerte den Aegidientorplatz, vorbei an dem für den Kaiser aufgestellten Obelisken. Dann bog sie in eine abgelegene Seitengasse ein. Leonora erschrak, als sie hinter sich Schritte vernahm. Unheilvoll hallten sie von den Hauswänden wider. Sie summte vor sich hin, um sich Mut zu machen. Ein stämmiger Mann überholte sie auf der anderen Straßenseite.

Doch plötzlich überquerte er die Gasse und stellte sich ihr mit grimmiger Miene in den Weg. Breitbeinig, die Arme in die Hüften gestemmt, blickte er sie feindselig an. Leonora schluckte. Niemand würde hier ihre Hilfeschreie hören. Sie war auf sich allein gestellt. Sie beschloss, sich nicht einschüchtern zu lassen.

»Lassen Sie mich durch!«, forderte sie energisch, obwohl sie innerlich vor Furcht bebte.

Sein Blick verdüsterte sich. Schweigend musterte er sie.

»Gehen Sie mir endlich aus dem Weg, oder ich rufe um Hilfe!« Sie wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm.

Der Fremde stand einfach nur da und glotzte sie schweigend an.

Die Sekunden gerannen zur Ewigkeit. Plötzlich beugte er sich vor und spuckte ihr vor die Füße.

»Die Uhlenbergs soll der Teufel holen!«, stieß er heiser hervor. Dann drehte er sich um und eilte davon. Wie betäubt blieb Leonora zurück. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, rannte sie nach Hause.

Erst vor der Gartenpforte der elterlichen Villa blieb sie atemlos stehen.

Am ganzen Leib schlotternd warf sie sich in ihrem Zimmer aufs Bett und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.

Erschöpft schlief sie ein. Sie erwachte, als jemand sanft ihren Arm anstupste. Ihre Mutter saß neben ihr auf der Bettkante.

»Gott sei Dank. Ich bin fast umgekommen vor Sorge. Albert und ich haben überall nach dir gesucht.«

Aufgeregt berichtete Leonora ihrer Mutter, was geschehen war. Ihr entging nicht der seltsame Ausdruck in deren Miene.

»Gut, dass er dir nichts getan hat.« Sie zog Leonora in die Arme.

Leonora spürte, dass die Mutter etwas vor ihr verbarg.

Neujahrstag 1914

Leonora stand am Fenster ihres Zimmers und blickte hinaus in den verschneiten Park der elterlichen Villa. Das Bild einer Märchenlandschaft mit schneebedeckten Bäumen, Hecken und Zäunen. Johannes, der Botenjunge ihres Vaters, versank bis zu den Knien im Schnee.

Sie umklammerte ihren Glücksbringer, einen Notenschlüssel an einem schmalen Goldkettchen. Heimlich hatte Leonora Noten und Liedverse studiert. Ihre Mutter unterrichtete sie nicht nur im Klavierspiel, sondern bezahlte ihr Unterricht bei einem bekannten Sänger. In Hannover nannten ihn alle nur den Maestro. Giovanni de Luca hatte sich von der Bühne verabschiedet und eine Meisterklasse gegründet, in die er nur besondere Talente aufnahm. Leonora hingegen hatte er nur ihrer Mutter zuliebe aufgenommen, die ihn bei Konzerten auf dem Klavier begleitet hatte.

Wenn ihr Vater von den Gesangsstunden wüsste, würde er sie ihr verbieten. In seinen Augen besaß sie nicht genügend Talent. Im Gegensatz zu Albert, der das Wohlwollen des Vaters genoss. Weil er eines Tages das Theater leiten sollte. Doch ihr Bruder interessierte sich mehr für Kanonen und strategische Kriegsführung als für das Theater.

Leonora sollte sich in die Rolle der Ehefrau fügen.

Die Turmuhr der St.-Markus-Kirche schlug zwölf. In zwei Stunden begann im Theater das traditionelle Neujahrskonzert. Es wurde Zeit zum Umkleiden. Danach wartete sie in der Eingangshalle, dass Zofe Berta ihr Wollmantel und Strickschal reichte. Außer Berta gab es noch Köchin Justine, Küchenmädchen Franziska, Dienstmädchen Therese, Herbert, den Sekretär ihres Vaters, Berthold, den Kutscher und Herberts Sohn Johannes, den Laufburschen.

»Beim Dienstpersonal darf man die Zügel nie lockerlassen, sonst tanzen sie einem auf der Nase herum«, pflegte ihr Vater stets zu sagen.

»Frollein Leonora!«, rief Franziska. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass Ihre Eltern bereits vor einer guten Stunde das Haus verlassen haben.«

»Danke. Ist mein Bruder noch zu Hause?«

»Nein, gnädiges Frollein, er ist mit dem gnädigen Herrn ganz früh ins Theater gegangen.«

Leonora war erleichtert. Sie hatte schon befürchtet, ihr Bruder könnte sich wie im vergangenen Jahr zum Neujahrskonzert verspäten. Ihr Vater war so wütend und enttäuscht darüber gewesen, dass er tagelang nicht mit ihm gesprochen hatte.

Hastig nahm Leonora Muff und Hut vom Garderobenständer, bevor sie zur Haustür eilte.

»Frollein, die Kutsche!«, rief Berta ihr nach.

»Ich gehe lieber zu Fuß.«

»Aber Ihre Frau Mutter ...«

Die Luft war klar und eisig. Es hatte zu schneien aufgehört. Leonora fieberte dem Konzert entgegen. Sie liebte die Stimmung hinter den Kulissen vor den Aufführungen. Fröstelnd schlug sie den Mantelkragen hoch, bevor sie durch den Schnee stapfte. Ihr Atem schwebte in weißen Wolken voraus. Tief vergrub sie die Hände im Muff. Bis zum Theater am Park in der Eilenriede war es ein Fußmarsch von einer knappen halben Stunde.

Ein warmes Gefühl durchströmte sie beim Anblick des Theaterkuppeldachs. Ihr Zufluchtsort, ihr wahres Zuhause.

Ein Sonnenstrahl verirrte sich durch die Wolkendecke, als Leonora am Kriegerdenkmal aus der preußischen Zeit auf das Theatergebäude zuschritt. Es besaß zwar nicht die Größe des königlichen Hoftheaters, aber es war ein prächtiger Bau mit kannelierten Säulen, Pilastern und Reliefs, die an das antike Griechenland erinnerten. Eine breite, geschwungene Treppe mit Geländer führte zum Eingang. Die Kuppel leuchtete im Sonnenlicht grün. Vorfahr und Komponist Frederik von Uhlenberg hatte das Theater 1815 auf den Grundmauern eines unbedeutenden Sommertheaters errichten lassen. Es lag am belebten Platz Am Neuen Haus gleich beim Stadtwald Eilenriede.

Leonora erreichte den Platz. Die Bronzeskulptur in der Mitte, ein Offizier aus der Garde Friedrichs des Großen, hatte einst Frederik von Uhlenberg der Stadt gespendet, nachdem Hannover zur preußischen Provinz erklärt worden war. Leonora gönnte dem Denkmal heute keinen Blick. Sie konnte es kaum erwarten, in das Flair des Theaters einzutauchen.

Von allen Seiten strömten die letzten Besucher herbei und drängten sich vor dem Eingangsportal. Das Konzert zum Neujahrstag war über Hannovers Grenzen hinaus beliebt. Leonora betrat das Theaterfoyer. Stimmengewirr schlug ihr entgegen. Über den Köpfen der Besucher wölbte sich die von sieben Säulen getragene Kuppel mit dem Deckengemälde eines bekannten Malers. Das Motiv waren zwölf pausbäckige Engel mit Instrumenten, die auf Wolken sitzend für den Allmächtigen musizierten.

Ihren reservierten Platz in der Loge würde sie bei dem Gedränge nicht pünktlich erreichen. Sie unterdrückte einen Fluch. Auf Zehenspitzen stehend, blickte sie zur Tür in den Bereich hinter der Bühne, für die sie den Schlüssel besaß. Auf keinen Fall wollte sie den Beginn verpassen. Nachdem sie durch die Tür geschlüpft war, tauchte sie in die magische, fantastische Welt hinter den Kulissen ein. Das Lampenfieber der Künstler schwebte in der Luft wie schweres Parfüm. Die Spannung kratzte wie Wolle auf ihrer Haut.

Von Weitem erkannte sie die Treppe hinauf zur Bühne. Für eine Weile das alltägliche Leben vergessen, um jemand anderes sein zu können. Theaterrequisiten reihten sich zu beiden Seiten entlang des Ganges. Am Ende lag ein heller, breiter Korridor, von dem eine Vielzahl Türen abgingen. Der Kostümfundus, die Garderoben der Solokünstler, Übungsräume für Orchestermusiker und das Ballett. Hinter den letzten beiden Türen verbarg sich der Raum des Dirigenten und des Intendanten.

Leonora hoffte, dass ihr Vater sie nicht hinter den Kulissen entdeckte, weil er es ihr verboten hatte. Sie schluckte. Wie gern wäre sie Teil des Ensembles gewesen. Aber sie hatte es beim Vorsingen für den Chor verpatzt.

Was, wenn ihr Vater recht hatte und sie wirklich nicht gut genug singen konnte? Maestro de Luca lobte sie auch nur selten.

Wehmütig betrachtete sie die Tänzerinnen, die sich mit vor Aufregung geröteten Wangen seitlich der Bühne für ihren Auftritt positionierten. Das Orchester spielte einen Walzer von Strauß.

Während Leonora den sanften Klängen lauschte, träumte sie davon, selbst auf der Bühne zu stehen. Nach den Tänzern und Tänzerinnen betrat Sopranistin Hiltrud die Bühne und sang eine unbekannte Arie. Schon beim ersten Ton bekam Leonora beim Klang der kraftvollen, weichen Stimme eine Gänsehaut. Sie beugte sich vor und sah, wie Hiltrud sich tief verneigte.

Plötzlich wurde Leonora grob am Arm zurückgezogen. Sie riss einen Hocker um, der polternd zu Boden fiel. Erschrocken sah sie auf. Sie stand ihrem Vater gegenüber. In der Blüte seiner Jahre war er noch immer drahtig wie ein junger Mann und besaß nicht einmal den Ansatz eines Bauches. Sein volles, dunkelblondes Haar war an den Schläfen ergraut und leuchtete im Schein des Lichts. Mit wütender Miene zog er sie mit sich in eine leere Garderobe und schloss hinter ihnen die Tür.

»Vati ...« Ihr Herz hämmerte dumpf in der Brust, als er sie mit düsterer Miene ansah. Sie hatte ihn nicht erzürnen wollen.

»Ich wollte rechtzeitig ...«

»Hatte ich dir nicht ausdrücklich gesagt, dass dein Platz in der Loge ist?«, fiel er ihr ins Wort.

»Aber ich bin vorhin nicht durch die Halle gekommen, und bevor ich die Vorstellung verpasse ...«, verteidigte sie sich und verspürte ein schlechtes Gewissen.

»Ich möchte, dass du dich sofort auf deinen Platz begibst. So wie ich es dir aufgetragen habe. Deinem Ehemann musst du auch gehorchen.«

Leonora sah ihren Vater erschrocken an.

Ehemann? Er wollte sie doch noch nicht verheiraten?

»Du brauchst jemanden, der dich versorgt und dir die Flausen austreibt. Wenn Albert meine Aufgaben übernimmt, musst auch du deine erfüllen. Du kannst nicht ewig Tochter in der Villa Uhlenberg bleiben.«

Einen Augenblick verschlug es Leonora die Sprache. Nicht in der Villa Uhlenberg bleiben? Ihr Herzschlag wurde dumpf und schwer. Insgeheim hatte Leonora immer gehofft, eines Tages mit ihrem Bruder zusammen das Theater zu leiten.

»Aber Vati, Albert braucht mich ...« Sie stockte unter dem strengen Blick des Vaters.

»Dich? Du bist eine Frau, deren Platz an der Seite eines Ehemannes ist.« Das Lachen ihres Vaters schmerzte.

Leonora fühlte sich für die Ehe noch zu jung.

»Geh jetzt endlich zu deinem Platz!«, befahl er und schob sie zum Ausgang. Leonora gab es auf, ihren Vater umstimmen zu wollen.

Er gab ihren Arm frei.

Leonora rieb die schmerzende Stelle seines Griffs. Schweren Herzens befolgte sie seine Anordnung.

In der Loge saß ihre Mutter im cremefarbenen Abendkleid, mit Perlenkette und mit federgeschmücktem Hut. Leonora hatte das kastanienbraune Haar und die veilchenblauen Augen von ihr geerbt.

Albert trug einen dunkelgrauen Ditto-Anzug mit bunter Fliege und Weste. Auf einen Hut hatte er verzichtet.

»Wo hast du nur wieder gesteckt?« Die Mutter griff nach ihrer Hand. Als sie sich zu Leonora vorbeugte, verströmte sie den Duft ihres teuren Maiglöckchen-Parfüms, das Leonora so gern roch.

»Hinter der Bühne, Mutti.«

Die feingezupften Brauen ihrer Mutter ruckten hoch. Leonora setzte sich neben Albert und war froh, dass im Dunkeln niemand ihre Tränen sah.

Alberts Hand legte sich tröstend auf ihre.

Als das Orchester einen Reigen weiterer, beliebter Walzer spielte, vergaß Leonora die Auseinandersetzung mit ihrem Vater und die Zurechtweisung der Mutter. Im Geist sah sie sich auf der Bühne singen, in einem ähnlich geschneiderten Kleid wie dem ihrer Mutter.

Grob wurde sie aus ihren Träumen gerissen, als ihr Platznachbar aufsprang, »Bravo!« schrie und klatschte. Leonora schaute zu ihrer Mutter und Albert, die sich ebenfalls von ihren Plätzen erhoben hatten. Das Theater bebte unter dem Begeisterungssturm. »Da capo! Zugabe!«, erklang es aus den Reihen.

Es verging eine Weile, bis ihr Vater sich auf die Bühne begab. In seinem schwarzen Frack sah er distinguiert aus. Leonora war stolz auf ihn. Ihr Vater verneigte sich.

»Danke, danke! Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Künstler freuen sich, Ihnen heute als Zugabe ein einzigartiges Liebeslied vorstellen zu dürfen. Unser Konzertmeister Herr Urban hat es für Sie ausgewählt. Lassen Sie sich überraschen!«

Alle harrten mit freudiger Spannung auf das angekündigte Stück. Gleich darauf erfüllten die ersten Töne das Theater. In Moll, sanft und sehnsuchtsvoll. Leonora kannte es nicht, aber die Melodie gefiel ihr. Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der plötzlich seltsam angespannt wirkte. Stille. Kein Applaus. Als würden alle den Atem anhalten. Albert sah sie fragend an. Leonora zuckte mit den Achseln. Ihre Mutter saß verkrampft auf ihrem Platz. Warum klatschte denn keiner? Zum ersten Mal las sie so etwas wie Unsicherheit in den Augen ihres Vaters. Dann sah er den Konzertmeister vorwurfsvoll an.

Als das Licht im Theater unerwartet aufflammte, bemerkte Leonora, wie bleich ihre Mutter war.

Kaum war es hell, ging ein Raunen durch die Reihen. Empörung und Wut war in den Mienen der Zuschauer zu erkennen. Einige schüttelten den Kopf, während andere einfach nur sprachlos dasaßen.

Plötzlich sprang ein älterer Mann mit lichtem Haar von seinem Sitz auf. »Es wurde immer ein Wiener Walzer gespielt, und nicht das Werk eines Verbrechers!«

Verbrecher! Das Wort hallte unheilvoll in Leonoras Kopf weiter.

Das Lächeln auf dem Gesicht ihres Vaters gefror. Seine Mundwinkel zuckten. Andere Zuschauer schlossen sich dem Mann an. Als die Stimmen immer lauter wurden, gab ihr Vater dem Orchester ein Zeichen für eine weitere Zugabe. Dieses Mal ertönte der gewohnte Abschlusswalzer. Doch die Zuschauer waren zu aufgebracht. Sie stürmten aus dem Theatersaal. Leonoras Herz klopfte schwer.

Sie rüttelte an Alberts Arm. »Wer hat das Stück komponiert?«

Aber Albert zuckte nur mit den Schultern, bevor er sich erhob.

»Lasst uns gehen! Sofort!« Der strenge Tonfall der Mutter erstickte jedes Wort.

Bevor sie die Loge verließen, sah sie nach unten, wo sich die Reihen lichteten. Direkt unter ihr stand ein Mann mit Haarkranz, der hasserfüllt zu ihr aufsah, und neben ihm ein anderer, dessen Gesicht ihr bekannt vorkam. Was hatte sie ihm denn getan? Schließlich hatte sie das Lied für die Zugabe ja nicht gewählt!

Das abfällige Grinsen des zweiten Mannes brachte die Erinnerung zurück an den Tag des Kaiserbesuchs. Es war der Mann, der ihr in der Seitengasse den Weg versperrt und vor die Füße gespuckt hatte.

»Da oben sind die Uhlenbergs! Seht! Die Brut eines Mörders!«, schrie er und zeigte zu ihrer Loge hinauf.

»Komm jetzt«, drängte ihre Mutter. Aber Leonora war wie gelähmt.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass plötzlich etwas auf sie zuflog. Sie duckte sich. Etwas prallte an der Logenbrüstung ab, traf unter ihr einen älteren Herrn am Kopf und streckte ihn nieder. Blut spritzte. Menschen schrien.

»Komm jetzt, verdammt noch mal.« Albert riss Leonora mit sich.

Wie betäubt stolperte sie ihrem Bruder hinterher zum Seiteneingang. Dort stieß ihre Mutter zu ihnen, die sich allein durch den Zuschauerstrom gekämpft hatte. Albert schloss die Tür auf, und sie standen draußen.

»Oh, nein, ich habe ihn vergessen.« Leonora schlug mit der flachen Hand gegen ihre Stirn. Zu ärgerlich! In all der Aufregung hatte sie ihren Mantel in der Loge vergessen. Sie fror erbärmlich. Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Albert zog seinen Frack aus und hängte ihn ihr über die Schultern.

»Danke«, sagte sie leise und lächelte ihren Bruder an. Er war immer galant und aufmerksam. Das schätzte sie an ihm.

»Unsere Kutsche wird gleich da sein. Ich hatte Franziska aufgetragen, uns abzuholen.« Die Mutter schaute über Leonoras Schulter zum Platz hinunter.

Durch die Glastür beobachtete Leonora, wie die Zuschauer die Treppen in die Theaterhalle hinunterströmten und einen der Platzanweiser achtlos beiseitestießen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf.

»Verdammter Mob!«, schimpfte Albert.

»Pünktlich! Franziska ist ein Schatz!«, rief ihre Mutter, als die Familienkutsche um die Ecke bog. Sie liefen die Treppe hinunter und stiegen ein. Ihre Mutter setzte sich ihr gegenüber. Leonora hörte den Kutscher schnalzen, und die Pferde setzten sich in Bewegung. Sie musste die Wahrheit wissen.

»Mutti, wer hat das Stück komponiert?« Die Gewaltbereitschaft in den Augen einiger Männer hatte sie erschüttert.

»Frederik«, antwortete ihre Mutter leise.

Für einen Moment verschlug es Leonora die Sprache.

»Unser Gründer? Wieso nennen ihn die Leute Mörder und Verbrecher?«

»Dann stimmen die Gerüchte also?«, mischte Albert sich ein.

Die Miene ihrer Mutter versteinerte.

»Wir wollen darüber schweigen. Vergangen ist vergangen.«

Schweigen? Das konnte Leonora nicht akzeptieren. Schließlich ging es hier um ihre Familie. Sie fasste nach dem Arm der Mutter.

»Nein, Mutti, ich muss wissen, ob es wahr ist, dass Frederik ein Verbrecher ist.« Sie wollte sich nicht mit einer simplen Antwort abspeisen lassen. Ihre Mutter presste die Lippen zusammen.

»Mutti, bitte.«

»Er hat etwas Schreckliches getan, was wir besser vergessen sollten ...«

»Er hat also wirklich einen Menschen getötet? Grundgütiger!«, fiel Albert der Mutter ins Wort.

»Schweig, Albert!«, wies die Mutter den Bruder zurecht.

»Getötet? Wen?«, flüsterte Leonora fassungslos. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihr Vorfahr, der weltberühmte Komponist, ein Mörder?

Wie konnte ihre Mutter ihr das verschweigen?

»Fritz ist jetzt allein. Und dieser Pöbel ...« Es war ihrer Mutter anzusehen, wie sehr sie sich um den Vater sorgte.

»Vati weiß, was er tut. Er wird die Gendarmen rufen.« Albert konnte ihre Mutter tatsächlich beruhigen.

»Ich habe Kopfweh.« Ihre Mutter fasste sich an die Schläfe. Es war eine Weile still in der Kutsche.

Albert schien zu grübeln. Ihre Mutter hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen.

Leonora spielte mit ihrer Perlenkette. Warum hatte ihr Vater nicht als Zugabe den traditionellen Wiener Walzer spielen, sondern den Konzertmeister ein Werk auswählen lassen, das die Gemüter erregte?

»Schuld hat dieser Mahler«, brach ihre Mutter endlich das Schweigen.

»Mahler? Wer ist denn das?«, fragte Leonora.

»Der Kerl, der die Holzkugel nach dir geworfen und Frederik als Mörder bezichtigt hat.« Albert presste verärgert die Lippen aufeinander.

Mahler hieß also der Fremde, der ihr damals den Weg versperrt hatte.

»Aber wir können doch nichts für Frederiks Taten!«

Deutlich hatte Leonora die grimmige Miene des Mannes wieder vor Augen.

Albert öffnete den Mund. Ein warnender Blick der Mutter ließ ihn schweigen.

Leonora spürte, dass beide ihr etwas Wichtiges verschwiegen. Vielleicht zeigte ihr Bruder sich gesprächiger, wenn sie allein waren.

Hatte Frederik tatsächlich ein Menschenleben auf dem Gewissen? Aus welchem Grund hatte er diese Tat begangen? Warum schwiegen alle? Leonora war froh, als sie die Villa erreichten. Der Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlte. Als die Eingangstür hinter ihnen zufiel, sperrte sie die Geschehnisse im Theater aus.

Am Abend desselben Neujahrstags

Der Eklat im Theater ließ Leonora nicht mehr los. Von unten hörte sie die aufgeregte Stimme ihres Vaters. Neugierig schlich sie auf Zehenspitzen zur Galerie. Sie beugte sich über das Geländer und spähte darüber. Die Tür zum Herrenzimmer war einen Spaltbreit geöffnet und gab den Blick auf einen blankpolierten Männerschuh frei. Der Geruch von Zigarillos schwebte zu ihr hinauf. Ihr Vater lief im Zimmer auf und ab.

»Urban hat uns in Teufels Küche gebracht. Ich habe ihn hinausgeworfen!«

»Vergessen Sie den heutigen Eklat. Wenn erst einmal Gras über die Sache gewachsen ist, denkt keiner mehr daran. Das königliche Hoftheater hat einen neuen Tenor verpflichtet. Aus Mailand. Alle Aufführungen sind bereits ausverkauft. Mein lieber von Uhlenberg, Ihr Ensemble braucht ein neues Zugpferd.«

»Vielleicht haben Sie recht, mein lieber von Edel.«

Die sonore Stimme des Gastes gehörte also Bruno von Edel, einem der wichtigsten Mäzene des elterlichen Theaters. Leonora war ihm noch nie persönlich begegnet. Aber sein Tonfall war ihr unsympathisch.

In einem Punkt behielt von Edel mit seiner Kritik recht. Das Ensemble war nicht erste Garnitur. Den meisten fehlten die gewisse Ausstrahlung und der Glanz in der Stimme. Erfolgreiche Künstler forderten eine hohe Gage, die ihr Vater sich nicht immer leisten konnte.

»Woher nehmen, mein lieber von Edel? Gute Sänger wachsen nicht auf den Bäumen.«

»Ich könnte mich ... ein wenig umhören«, bot der Mäzen an.

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte ihr Vater.

»Ich hätte da auch schon jemanden im Auge. Wenn ich mein gutes Geld mal wieder in Ihr Theater investiere, wäre eine Gegenleistung sicher angebracht.«

»Woran haben Sie gedacht?«

Leonora spitzte die Ohren. Als es spannend wurde, schloss ihr Vater die Tür. Zu gern hätte sie erfahren, zu welcher Gegenleistung Bruno von Edel ihren Vater überreden würde. Enttäuscht wandte Leonora sich ab und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Sie musste herausfinden, ob Frederik tatsächlich einen Menschen auf dem Gewissen hatte. Weshalb hatten ihre Eltern nie davon erzählt?

Beim Abendessen war die Stimmung gedrückt. Ihr ohnehin wortkarger Vater löffelte die Suppe und wirkte abwesend. Auch ihre Mutter und Albert sprachen nur das Nötigste. Hin und wieder warf ihr Bruder ihr einen warnenden Blick zu, als spürte er, dass sie nur auf die Gelegenheit wartete, wieder nach Frederik zu fragen.

»Vati, stimmt es denn, dass Frederik wirklich ein Mörder ist?«

Ihr Vater erstarrte. Dann fiel sein Suppenlöffel klirrend auf den Teller. In diesem Augenblick wusste Leonora, dass sie diese Frage lieber nicht hätte stellen sollen. Der nach Kaisermanier gezwirbelte Oberlippenbart des Vaters vibrierte. Es machte sie ganz verrückt, nicht zu wissen, ob der aufgebrachte Fremde im Theater die Wahrheit über Frederik gesagt hatte.

»Ich will nichts davon hören!«, donnerte ihr Vater.

Leonora verstummte, als sie seinen drohenden Blick auffing.

Ihre Mutter legte beschwichtigend die Hand auf den Arm des Vaters. »Vielleicht sollten wir den Kindern lieber sagen ...«

»Nein!«, rief ihr Vater.

Wütend stand er auf und warf die Serviette auf den Tisch, bevor er das Zimmer verließ.

»Aber Fritz, du hast doch noch gar nicht aufge...«, rief ihre Mutter und setzte das »gessen« leiser hinzu, weil der Vater schon aus der Tür war. »Ich möchte nie wieder ein Wort darüber hören, Leonora«, wandte sie sich dann an Leonora.

»Warum darf ich denn nicht fragen?«

»Geh jetzt bitte auf dein Zimmer.«

Leonora verstand nicht, weshalb die Mutter sie fortschickte.

»Und mein Nachtisch?« Gerade heute gab es ihre Leibspeise Birne Helene.

»Tu jetzt, was Mutti verlangt.« Flehend sah Albert sie an.

Beim Anblick der bleichen Mutter bekam Leonora ein schlechtes Gewissen.

Traurig erhob sie sich und verließ das Speisezimmer.

Auf dem Weg zur Treppe sah sie, dass der Salon offen stand. Ihr Vater stand mit einem Glas Weinbrand vor dem Kamin und hatte ihr den Rücken zugekehrt.

Er schien sie nicht zu bemerken. Längst bedauerte Leonora ihre Frage. Der Erfolg des Theaters war einzig seinem eisernen Willen und Gespür für den Geschmack des Publikums zu verdanken.

Kurz war sie versucht, ihn um Verzeihung zu bitten. Sie konnte es nicht ertragen, wenn er böse auf sie war. Grübelnd verharrte sie auf der Schwelle. Als sie nach oben gehen wollte, drehte er sich zu ihr um.

»Komm her«, forderte er sie sanft auf.

Leonora zögerte. Wie gern hätte sie ihn in diesem Augenblick umarmt, sich in seine Arme geschmiegt, wie es andere Töchter bei ihren Vätern taten. Doch zwischen ihnen bestand eine unüberbrückbare Distanz. Langsam ging sie auf ihn zu.

»Du wirst nie mehr ein Wort über Frederik verlieren. Hast du mich verstanden, Leonora?« Seine Hände legten sich schwer auf ihre Schultern.

Leonora kaute grübelnd auf ihrer Unterlippe. Sie begriff nicht, weshalb alles von den Eltern totgeschwiegen wurde.

»Was vorbei ist, ist vorbei. Das musst du einsehen.«

Leonora brannten viele Fragen auf der Zunge. Doch sie spürte, dass sie von ihrem Vater keinesfalls mehr erfahren würde.

Was der Vater gesagt hatte, bewegte Leonora noch, als Berta ihr später beim Auskleiden half. Die Zofe arbeitete schon seit zehn Jahren für ihre Familie. Vielleicht wusste sie mehr über Frederik. Mit flinken Fingern öffnete sie die Knopfleiste an Leonoras Rücken.

»Ich hätte auch so gern das Konzert gehört«, sagte sie und seufzte.

»Beim nächsten Mal bestimmt.«

»Aber gnädiges Fräulein, das ist doch nicht für unsereins.« Berta schüttelte den Kopf.

Für Leonora gehörte sie irgendwie zu Familie. »Ich schenk dir eine Karte. Wenn mir das Theater gehört«, sagte sie leichthin.

Ein strahlendes Lächeln glättete Bertas Gesicht. Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Aber Fräulein Leonora, Sie werden niemals das Theater führen. Was würden denn die Leute dazu sagen? Das ist verkehrte Welt.«

Berta hatte recht. Ihr Vater würde ihr die Leitung nie überlassen. Dabei besaß sie mehr Musikverstand als Albert.

»Nicht traurig sein.« Berta stupste sie liebevoll ans Kinn. »Erzählen Sie mir lieber, wie es beim Konzert gewesen ist.«

Leonora berichtete vom begeisterten Publikum und auch vom anschließenden Tumult wegen der Zugabe.

»Oh, wie furchtbar. Das hätte Herr Urban nicht tun dürfen. Wo doch alle wissen ...« Berta stockte und presste eine Hand auf ihren Mund.

Sofort hakte Leonora nach. »Was wissen alle?«

Die Zofe antwortete nicht.

»Berta, was wissen alle?« Leonora hoffte, endlich mehr über Frederik und dessen angebliche Schuld zu erfahren.

»Man darf nicht darauf hören.«

Sicher sprach Berta von den Gerüchten, die kursierten.

»Nun rede schon.« Voller Ungeduld fasste Leonora die Bedienstete am Arm.

»Und Ihr Vater?« Die Zofe schaute zur Tür, als könnte er sie belauschen. Vorhin hatte ihr Vater das Haus verlassen. Sicher wollte er ins Theater. Wie jeden Abend nach dem Rechten sehen.

»Ist ausgegangen«, fiel Leonora ihr ins Wort. »Bitte sag mir, was du weißt. Ich werde niemandem etwas von unserem Gespräch sagen. Versprochen.«

Berta legte die Stirn in Falten und schien zu überlegen.

»Also gut«, sagte sie nach einer Weile. »Es ist eh nicht viel, aber ich sage Ihnen, was ich weiß. Der Theatergründer soll die Schuld am Tod einer Frau tragen.«

»Weißt du mehr darüber?«

Berta schüttelte den Kopf. Leonora spürte, dass die Zofe ihr auswich.

»Nein. Ich ... ich muss jetzt zu Ihrer Mutter.« Berta hatte es eilig.

Bevor Leonora sie zurückhalten konnte, war sie blitzschnell zur Tür hinaus.

Samstag, 27. Juni 1914

Au!«, schrie Leonora, als sie einen Stich in der Taille verspürte.

»Tut mir leid, gnädiges Fräulein. Nur noch ein kleines Stückchen abstecken.« Die Schneiderin begutachtete Leonoras Taille, zupfte hier und da am Stoff und zog aus dem Kissen an ihrem Handgelenk eine weitere Nadel heraus. Das lange Stillstehen war für Leonora eine Tortur.

»Zappel nicht herum, Kind! Es ist schon ein Zugeständnis von Frau Werner, dass sie dein Kleid so schnell näht.«

Leonora kniff die Lippen zusammen. Ihre Mutter hatte gut reden. Sie musste ja nicht wie sie eine geschlagene Stunde still stehen.

»Geduld gehört nicht zu den Tugenden meiner Tochter«, entschuldigte sich ihre Mutter.

»Ach, Frau von Uhlenberg, das kenne ich«, antwortete Frau Werner augenzwinkernd. »Meine Hedwig ist auch nicht anders.« Die Schneiderin hielt ihren Arm fest und prüfte mit dem Maßband die Ärmellänge.

Am liebsten hätte Leonora sich losgerissen. Doch dann riskierte sie eine erneute Rüge der Mutter, und alles würde nur noch länger dauern. De Luca war penibel und hasste Verspätungen. Schon neulich war sie zu spät gekommen, weil sie für ihre Mutter einen Brief zur Post gebracht hatte. Käme sie wieder zu spät, würde ihr Gesangslehrer sie sicher nach Hause schicken. Das konnte sie sich nicht leisten, wenn sie zu einem Vorsingen wollte. Für eine kleine Solorolle. Im Geist zählte sie bis hundert, während die geschickten Finger der Schneiderin an ihrem Rücken hantierten.

»So, fertig!«, verkündete Frau Werner und richtete sich lächelnd auf. Leonora war nur bis vierzig gekommen. Erleichtert schlug sie die Augen auf. Die Tortur hatte ein Ende.

Frau Werner wickelte das Maßband auf und schnallte das Nadelkissen vom Handgelenk ab. Beides verstaute sie in ihrem Nähkorb, den sie zu jedem Termin mitbrachte. Im einfallenden Sonnenlicht glänzte das graue Haar der Schneiderin silbrig. Frau Werner war nur ein Jahr jünger als ihre Mutter, aber schon mit Mitte zwanzig ergraut.

»Sorgen machen graue Haare«, hatte die Schneiderin erklärt.

Leonora war stolz auf ihr üppiges, kastanienbraunes Haar, das ihr Berta jeden Morgen nach der neuesten Mode hochsteckte und über Polstern zur modischen Frisur toupierte. Auf eine Geste von Frau Werner hin trat Leonora vor den Spiegel und begutachtete sich. Zugegeben, das Kleid saß tadellos, und das Hellblau harmonierte mit ihren veilchenblauen Augen.

Ihre Mutter, schlank und hochgewachsen, überragte die mollige Schneiderin um Haupteslänge. Der Pfau und die graue Maus, dachte Leonora und verkniff sich ein Grinsen.

In dem neuen Seidenkleid fühlte sie sich fast wie eine der kaiserlichen Debütantinnen. Wenn sie sich bewegte, knisterte der Stoff. Nur die viele Spitze im Ausschnitt, die ihre Haut verdeckte, gefiel ihr nicht. Kein bisschen raffiniert.

»Wie gefällt Ihnen das Kleid Ihrer Tochter, gnädige Frau?«, Ihre Mutter betrachtete Leonora mit gerunzelter Stirn. Das lange Warten auf eine Antwort schien die Schneiderin zu verunsichern.

»Superb, Frau Werner. Sehr elegant.«

Frau Werner war die Erleichterung anzumerken. Sie lächelte.

»Danke, Frau von Uhlenberg. Es freut mich, wenn es Ihnen gefällt.«

»Ich möchte weniger Spitze im Ausschnitt. So würde es reichen.« Leonora zeigte, wo die Spitze gekürzt werden sollte.

Entsetzen malte sich auf den Gesichtern von ihrer Mutter und Frau Werner ab.

»Niemals, Leonora! Ein solch tiefer Ausschnitt ist viel zu gewagt!«, rief ihre Mutter voller Empörung.

»Ja, Fräulein von Uhlenberg, da muss ich Ihrer Mutter zustimmen.«

»Ich möchte das Kleid nur, wenn ein Teil der Spitze wegfällt«, beharrte Leonora. Ihre Mutter schnappte nach Luft.

»Bitte, Mutti. Wie soll ich denn einen Verehrer finden, wenn ich wie ein Schulmädchen aussehe?« Ihre Frage löste eine hitzige Debatte zwischen ihnen aus. Leonora blieb hart.

»Frau von Uhlenberg, es wäre noch schicklich, wenn ich die Spitze so weit kürze.« Frau Werner fuhr mit dem Finger über den zarten Stoff.

»Liebste Mutti, bitte stimm zu«, flehte Leonora.

»Also, gut, Frau Werner, aber nur bis dahin und keinen Millimeter weiter.«

Jubelnd fiel Leonora ihrer Mutter um den Hals.

Nachdem Frau Werner einen Teil der Spitze entfernt hatte, drehte Leonora sich vor dem Spiegel. Es war zwar nur ein Kompromiss, aber sie war zufrieden.

»Ich habe dich gewarnt. Jetzt bist du Anzüglichkeiten ausgesetzt.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf.

In diesem neuen Kleid würde sie sicher überall Eindruck schinden.

»Kleider mit Überrock sind gerade der letzte Schrei. Herzogin Sophie trägt sie auch.« Frau Werner rieb sich die Hände. Sie waren gerötet und die Fingerkuppen rissig.

Leonora verspürte Mitleid mit der Witwe, die seit dem Tod ihres Mannes vier Kinder und sich selbst mit der Schneiderei durchbringen musste.

»Wird Ihre Tochter denn im Theater Ihres Gatten vorsingen?«, fragte Frau Werner beiläufig, während sie den Deckel ihres Nähkorbs schloss.

Leonora sah flehend zu ihrer Mutter hinüber und schluckte. Das sollte ihr Geheimnis bleiben. Wenn ihr Vater von einem solchen Vorhaben erführe, wäre es vorbei mit ihren Gesangsstunden.

»Nein, nein, sie wird nur unserer morgigen kleinen Abendgesellschaft ein Lied vortragen. Es ist doch wichtig, dass die Gäste gut unterhalten werden.«

Leonora schmunzelte, bis sie den seltsamen Ausdruck in den Augen ihrer Mutter bemerkte.

»Ja, ja, natürlich. Ich wünschte, meine Kinder hätten ein wenig mehr Musikalität vom lieben Gott mitbekommen.« Frau Werners Miene war zu entnehmen, dass sie das Kleid für diesen Anlass überzogen fand. Doch sie schwieg.

»Soll ich Ihnen noch beim Auskleiden helfen?«, bot sie Leonora an.

»Nein, nein, das brauchen Sie nicht. Unsere Zofe wird sich darum kümmern.« Ihre Mutter rief nach Berta, die kurz darauf erschien. In der Zwischenzeit begleitete ihre Mutter Frau Schneider hinaus.

Die Standuhr in der Diele schlug zweimal.

»Ist mein Vater schon von der Probe zurück?«, fragte Leonora Berta. An manchen Tagen kehrte er zurück, um etwas zu essen.

»Nein. Aber ich weiß von Franziska, dass er morgen Abend Gäste erwartet und eher zurück sein wird.«

»Ihre Mutter hatte eben auch schon Besuch erwähnt. Weißt du, wen meine Eltern erwarten?«

»Das hat er mir nicht gesagt.« Berta senkte den Blick. Ihre Wangen färbten sich rot. Das verriet Leonora, dass ihr Vater die Bediensteten zum Schweigen verdonnert hatte. Bei dieser Heimlichtuerei konnte es sich wirklich nur um einen sehr wichtigen Gast handeln. Leonora platzte vor Neugier.

»Beeil dich, Berta. Ich bin durch die Schneiderin aufgehalten worden. Außerdem muss ich die Villa verlassen, bevor mein Vater zurückkehrt«, drängelte sie. »Und kein Wort. Zu niemandem.«

»Ja, natürlich«, versprach Berta.

Kaum aus dem eleganten Kleid gestiegen, schlüpfte Leonora in ihren vertrauten braunen Wollrock und die cremefarbene Spitzenbluse.

»Das ist aber gar nicht damenhaft, Fräulein Leonora«, tadelte Albert sie und äffte damit Käthe, die pensionierte Theaterassistentin seines Vaters, nach. Leonora boxte ihren Bruder sanft gegen die Schulter.

»Ich will auch keine Dame sein, sondern eine Diva«, stellte sie lächelnd richtig.

»Du bist wirklich unverbesserlich, Schwesterchen.« Albert stöhnte. »Willst du noch immer Opernsängerin werden?«

Leonora nickte eifrig.

»Papa wird dir nie eine Ausbildung bezahlen. Du kannst ja nicht mal alle Noten.«

Wenn du wüsstest ... Seit Monaten lernte sie die Noten, sang die Tonleiter rauf und runter und spielte auf dem Klavier sämtliche Dur- und Mollakkorde. Leonora schluckte eine Antwort hinunter. Nicht einmal Albert konnte sie etwas sagen.

Es hatte Momente gegeben, in denen sie versucht gewesen war, ihrem Vater die Gesangsstunden zu gestehen, damit er endlich begriff, wie ernst es ihr damit war.

Mit jedem Tag wurde es schwieriger, sich aus dem Haus zu stehlen.

Das Notenbuch unter den Arm geklemmt, schlüpfte Leonora leise zur Haustür hinaus. Die elterliche Villa lag am Rand der Eilenriede mit den knorrigen Eichen und Buchen. Im Frühling blühten am Fuße Teppiche von Krokussen und Narzissen. Leonora folgte dem Parkweg zum schmiedeeisernen Gartentor. Bevor sie die Klinke hinunterdrückte, schaute sie noch einmal zurück. Als sie sich nicht beobachtet glaubte, eilte sie hinaus. Es ging vorbei am Vorgarten der Bankiersfamilie Merthenheim, deren Villa der von Uhlenbergs an Größe und Gestaltung in nichts nachstand. Umgeben von sonnenverliebten Rosen und Stauden. Im Juni hatten die ersten Zentifolien ihre Blütenköpfe geöffnet. Tief sog Leonora deren Duft ein.

Bestimmt wartete de Luca schon auf sie.

Schon als junger Tenor hatte er sein Debüt in der Mailänder Scala gegeben. Später war er auf verschiedenen Bühnen Europas aufgetreten. Stolz hatte er Leonora Zeitungsartikel darüber präsentiert. Sein dunkles Haar war schneeweiß geworden. Nach seiner Gesangskarriere widmete er sich der Förderung junger Talente. Wer Schüler in seiner Meisterklasse werden wollte, musste sein Talent beim Vorsingen beweisen.

Leonora rannte ein Stück die Straße entlang.

»Junge Damen rennen nicht«, würde ihre Mutter sie tadeln.

Während sie darüber nachgrübelte, wer am morgigen Abend wohl zu Besuch kommen könnte, erreichte sie das Haus der Symphonie.

Für Leonora sahen die Häuser dieser Gegend alle gleich aus, im Fachwerkstil, mit kleinen, quadratischen Fenstern und hellgeputzten Gefachen. Auf verschiedenen Etagen wurden Studenten von professionellen Musikern ausgebildet.

Im Erdgeschoss zupfte einer auf der Geige. Im Stockwerk darüber übte jemand Trompete. Noch eine Treppe höher spielte jemand unablässig falsch Mozarts Türkischen Marsch auf dem Klavier. Atemlos stürmte sie hinauf und prallte mit einem Mann zusammen. Sie verlor das Gleichgewicht und taumelte rückwärts. Leonora wäre gestürzt, hätte der Fremde sie nicht festgehalten. Seine Hände ruhten auf ihren Schultern. Wärme durchdrang ihre Bluse und löste auf ihrer Haut ein ungewohntes Kribbeln aus.

»Entschuldigung.« Sie war in Eile und wollte an ihm vorbei. Er hielt sie fest. Sein Gesicht war gut geschnitten, mit hohen Wangenknochen und dunklen Augen. Sein lackschwarzes Haar war länger, als es die Mode vorschrieb. Im Gegensatz zu den meisten Männern war er glattrasiert.

»Verzeiht, schönes Fräulein«, antwortete er mit fremdem Dialekt. Sein Kompliment ließ sie erröten.

Leonora besaß nur wenig Erfahrung im Umgang mit jungen Männern. Die meisten traf sie am Theater, und die interessierten sich nicht immer für das weibliche Geschlecht.

Seiner melodischen und volltönenden Stimme nach zu schließen musste er Sänger sein. Vermutlich ein Schüler des Maestros.

»Ich ... ich ... bin schon ziemlich spät dran ... und hatte Sie nicht gesehen. Signore de Luca wird mir den Kopf abreißen.« Der Fremde brachte sie ganz durcheinander. Bestimmt hielt er sie für ein naives Ding.

»Das wird er bei solch einem bezaubernden Fräulein bestimmt nicht tun. Und wenn doch, sagen Sie ihm einfach, dass ich schuld an Ihrer Verspätung bin!«, rief er augenzwinkernd.

»Ja, ja.«

Er lächelte so charmant, dass Leonora ganz weiche Knie bekam.

»Es war mir eine Freude, Sie kennengelernt zu haben.«

Einen Moment glaubte sie, er wolle sie küssen. Stattdessen lief er die Treppe hinunter.

Wie ritterlich von ihm. Leonora beugte sich über das Geländer und sah ihm nach.

»Ich kenne noch nicht mal Ihren Namen!«, rief sie ihm hinterher und war selbst erstaunt über ihre Kühnheit. Er blieb stehen und sah zu ihr hinauf.

»Roman. Ich heiße Roman«, antwortete er. Sein charmantes Lächeln beschleunigte ihren Puls. Leonora sah ihm nach, bis er durch die Tür verschwand.

»Roman«, flüsterte sie. Der Name gefiel ihr.

Leonora klopfte an die Tür des Maestros.

Jemand spielte dahinter Klavier. Eine Melodie aus Händels Messias.

Als der Maestro ihr nicht öffnete, glaubte sie, dass er verärgert war und die Drohung wahrmachte. Sie wollte gerade umkehren, als schlurfende Schritte zu hören waren. Dann wurde die Tür aufgerissen. Wütend sah de Luca sie an.

»Sie sind zu spät, Fräulein von Uhlenberg«, rügte er sie.

»Es ... es tut mir leid. Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, Maestro, aber ein junger Mann ... Roman ... er hat mich fast umgerannt. Eben auf der Treppe«, erklärte sie.

Er stutzte. In seinen Augen blitzte es amüsiert auf. »Roman? Soso.« Die Züge ihres Gegenübers entspannten sich.

Giovanni de Luca war kleiner als sie. Sein dunkler Anzug und das weiße Hemd mit dem Stehkragen spannten über dem Leib. In der Brusttasche steckte stets ein Tuch in den italienischen Landesfarben. Er sprach perfekt Deutsch mit leichtem Akzent.

»Ich will die Entschuldigung ausnahmsweise gelten lassen.«

Leonora war erleichtert, dass sein Ärger verflog. »Danke, Signore de Luca.«

Sie trat ein, als er die Tür weiter aufzog, und folgte ihm durch den engen, muffigen Flur mit den Holzpaneelen, an dessen Ende das Unterrichtszimmer mit dem Flügel lag. Es war spartanisch eingerichtet mit einem Stuhl, dem Flügel mit Hocker, einem Regal voller Partituren und einem Notenständer. Die Mansardenfenster waren geöffnet.

Wie gewohnt setzte sich de Luca an den Flügel und spielte die erste Dur-Tonleiter. Er verplemperte keine Zeit. Das war ihr recht, denn sie musste wieder zu Hause sein, bevor ihr Vater aus dem Theater zurückkehrte.

»Por favore.« Er nickte Leonora zu, die daraufhin die Tonleiter nachsang.

Heute war sie unkonzentriert. Mal verpasste sie den Einsatz, dann stimmten die Töne nicht. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um die geheimnisvollen Gäste.

Hin und wieder kam es vor, dass jemand mit ihnen speiste. Doch bei keinem hatte sie ein solch teures Kleid tragen müssen.

»No, no, no!«, riss der Maestro sie aus den Grübeleien.

»So geht das nicht. Ihre Töne sind ständig zu tief und zu hart!«, warf er ihr vor. »Konzentration! Dolce, Signorina. Dolce!« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und stöhnte, als hätte sie ihm Schmerzen bereitet.

Leonora nickte. Sein Tadel traf sie. Reiß dich zusammen, wenn du es schaffen willst!

»Noch einmal F-Dur, Signorina.« Erneut erklang die Tonleiter auf dem Klavier. Leonora schloss kurz die Augen und lauschte den Tönen, bevor sie sie nachsang. Sie wollte jeden Ton fühlen, bevor er ihre Lippen verließ.

Doch de Luca brach ab. »Nein! Nein! So geht das nicht. Mir scheint, Sie sind nicht ganz bei der Sache. Wir brechen für heute ab. Die Jury erwartet einen perfekten Vortrag. Perfetto! Sie verstehen?«

Der Lehrer wollte die Stunde abbrechen. Sicher würde er einen Brief an ihre Mutter schreiben. Die wäre garantiert nicht sehr erfreut darüber, weil sie die Stunden bezahlte und Leonora ihr hoch und heilig versprochen hatte, fleißig zu sein.

»Bitte, Herr de Luca, können wir es nicht noch einmal versuchen? Ich gebe mir die größte Mühe!«, bettelte sie.

Der Lehrer schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht. Überhaupt möchte ich meine kostbare Zeit nicht an jemanden verschwenden, der nicht voll bei der Sache ist.«

»Bitte geben Sie mir noch eine Chance. Vielleicht morgen?«

Da wusste sie, dass ihr Vater am Nachmittag zu einer wichtigen Orchesterprobe gehen würde.

»Sonntag?«

»Bitte, Signore. Ich strenge mich auch wirklich an.«

Seine Miene verriet, wie sehr er mit sich kämpfte.

»Also gut, morgen Nachmittag gegen drei. Aber nur für eine halbe Stunde«, gab er nach.

Leonora strahlte. »Danke, Signore de Luca.«

Erleichtert griff sie nach ihrem Notenbuch, verabschiedete sich von ihm und stürmte hinaus.

Sonntag, 28. Juni 1914

Es wird regnen«, hatte ihr Vater am sonntäglichen Frühstückstisch verkündet und ihr einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen.

Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die in ihrer Kaffeetasse rührte.

Kurz nach zwei verließ ihr Vater das Haus für die Theaterproben. Die Gelegenheit, um zu de Luca zu gehen.

Gegen halb drei traf sie in der Eingangshalle Berta.

»Gnädiges Fräulein, es braut sich am Himmel was zusammen.«

»Ich muss nur schnell meinem Vater etwas bringen«, log sie und eilte an der Zofe vorbei. Hoffentlich hatte Berta es nicht durchschaut.

Giovanni de Luca spielte Übungen auf dem Flügel. Leonora sang mit.

Obwohl sie sich anstrengte, war der Lehrer nicht zufrieden.

»No, Signorina, Sentimento! Mehr Gefühl. Sie wollen das Herz der Menschen erreichen.« Er tippte gegen seine Brust.

Leonora nickte. Es gelang ihr, sich zu konzentrieren und die Schwingungen der Töne zu fühlen.

»Bravo, Signorina.« De Luca applaudierte ihr.

»Bitte jetzt noch Die Forelle. Und genauso soave e facile, lieblich und leicht wie das Stück eben.«

Leonora freute sich über das seltene Lob des Lehrers.

Beschwingt schlug sie das Liederbuch auf. Seine Finger glitten über die Tasten und ließen die ersten Töne erklingen. Eine Windböe wehte die Notenblätter vom Flügel. Fluchend stand der Maestro auf und schloss das Fenster. Leonora sammelte inzwischen die verstreuten Notenblätter auf. Es war düster geworden draußen.

»Sieht nach Unwetter aus. Lassen Sie uns für heute den Unterricht beenden. Das Dach ist an einer Stelle undicht.« De Luca holte aus dem Nebenraum zwei Eimer, die er rechts und links von der Gaube hinstellte.

»Ich werde Die Forelle nie gut singen können.«

»Lassen Sie sich Zeit.« Er nickte ihr aufmunternd zu.

Seine Zuversicht teilte sie nicht. Immer nur Übungen und Lieder. Sie würde nie auf einer Bühne stehen.

Trotzdem verabschiedete sie sich lächelnd. Immerhin hatte er sie gelobt.

Es war Leonoras innigster Wunsch, sich als Sängerin zu beweisen. Der Vater sollte stolz auf sie sein. Wie auf Georg und Albert. Leonora dachte an ihren älteren Bruder Georg, der mehr musikalisches Talent besessen hatte als sie und Albert zusammen. Das Theater in seine Hände zu legen wäre die richtige Entscheidung gewesen. Doch das Schicksal hatte es anders gewollt. Sein Tod hatte eine Lücke hinterlassen und Albert zu Vaters Nachfolger bestimmt.

Du brauchst jemanden, der dich versorgt. Leonoras Zukunft war an der Seite eines Mannes, der von ihr erwartete, ihm eine Schar Kinder zu schenken. Doch sie wollte frei und unabhängig sein mit einem Engagement am Theater.

Es war drückend schwül geworden. Kein Vogelgesang war zu hören, kein Hufgeklapper oder Motorengeräusch. Nicht einmal das Summen der Bienen. Als würde die Welt den Atem anhalten.

Wenige Straßen vor der elterlichen Villa vernahm sie aufgeregte Stimmen. Ein älteres Pärchen stand kreidebleich vor einem Café.

»Großer Gott! Möge der Herr seiner Seele gnädig sein!«, rief der Mann, während seine Frau in Tränen ausbrach.

Plötzlich strömten von überallher Leute mit betroffenen Mienen herbei. Eine weitere Frau brach in Tränen aus. Neugierig blieb Leonora stehen.

»Was ist denn geschehen?«, wandte sie sich an ein Pärchen.

»Der österreichische Thronfolger ... Er ist in Sarajevo ermordet worden. Er und seine Frau! Das ist ungeheuerlich!«

Leonora war geschockt. Der Thronfolger der Habsburger ermordet?

»Die Serben waren es! Das schreit nach Krieg!«, rief ein anderer. Alle redeten durcheinander.

Das Wort Attentat kreiste in einer Endlosschleife in ihrem Kopf. Das konnte nicht wahr sein! Sie sah den schmucken Thronfolger Franz Ferdinand und seine hübsche Frau Sophie vor sich. Erst neulich hatten ihre Eltern über dessen Jagdleidenschaft gesprochen.

»Oh Gott, wie schrecklich!«, rief sie aus und presste die Hände an die Wangen.

Leonora zitterte vor Aufregung und Empörung am ganzen Körper.

Ob ihre Eltern schon davon wussten? Sie musste nach Hause und drängte sich an den anderen vorbei.

Als ein Blitz über den Himmel zuckte, rannte sie los.

Noch ehe sie am Tor zum elterlichen Park ankam, schüttete es wie aus Kübeln. Klitschnass erreichte sie das Eingangsportal. Erst da bemerkte sie den fremden Wagen, der vor der Villa parkte. Die Gäste! Erschrocken sah sie an sich hinunter. So nass, wie sie war, konnte sie unmöglich den Haupteingang nutzen. Sie eilte zum seitlich gelegenen Dienstboteneingang. Leonora riss die Tür auf. Therese kam ihr mit einem Stapel Wäsche auf den Armen entgegen und schrie erschrocken auf, als Leonora an ihr vorbei die Stufen hinaufstürmte und ihr dabei fast die Wäsche aus den Armen gerissen hätte.

Unbehelligt erreichte sie ihr Zimmer.

Achtlos warf sie ihr Liederbuch aufs Bett und suchte nach trockener Kleidung und Handtüchern. Nachdem sie sich abgetrocknet und die Unterwäsche gewechselt hatte, klopfte es an ihre Tür. Leonora hielt die Luft an und antwortete nicht.

»Leonora?« Sie atmete auf, als sie draußen die Stimme ihrer Mutter vernahm.

»Mutti!« Leonora öffnete ihr die Tür. Wie elegant ihre Mutter heute aussah in ihrem besten Kleid aus brauner Seide und Samt. Sie hatte ihren schönsten Schmuck angelegt.

»Dein neues Kleid hängt hier.« Ihre Mutter zeigte auf das blaue Kleid, das die Schneiderin offensichtlich in der Zwischenzeit gebracht hatte und das nun auf einem Bügel am Kleiderschrank hing.

Ihre Mutter reichte es ihr.

»Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin sind einem Attentat zum Opfer gefallen.«

»Ich weiß«, antwortete sie bewegt. »Unser Gast hat die Hiobsbotschaft mitgebracht. Welch scheußliche Tat.«

Zum Trost umarmten sie sich.

»Wer macht so etwas Schreckliches?« Leonora hatte zum ersten Mal bei Georgs Tod die Endlichkeit des Lebens begriffen. »Was wird jetzt geschehen?«

»Zerbrich dir nicht den Kopf. Wir wollen heute Abend alles Üble vergessen. Beim Speisen sollten wir heiter sein und uns nicht als schlechte Gastgeber präsentieren. Dein Vater hat nämlich einen besonderen Gast geladen.«

Leonora blickte ihre Mutter zweifelnd an. »Ganz Hannover spricht sicher über das Attentat.« Sie schluckte.

»Nicht wir und nicht heute Abend, Leonora«, antwortete ihre Mutter streng.

»Wer ist denn unser Gast?«

»Ein sehr wichtiger Mäzen unseres Theaters in Begleitung. Als Gastgeber sind wir dazu verpflichtet, den beiden einen angenehmen Abend zu bereiten.«

Leonora stutzte. Sie hatte manche Mäzene des Theaters kennengelernt. Die meisten von ihnen waren Männer im gesetzten Alter. Doch bei keinem hatten ihre Eltern so viel Wert darauf gelegt, dass er sich wohlfühlte.

»Ich werde Berta zu dir hinaufschicken. Sie soll dir beim Ankleiden helfen und dein Haar richten. Wir wollen unsere Gäste nicht allzu lange warten lassen.« Sie küsste Leonora auf die Stirn, bevor sie das Zimmer verließ.

Am selben Abend

Mit einem flauen Gefühl im Magen stieg Leonora wenig später die letzten Stufen hinab. In der Fensterscheibe begutachtete sie ihre Frisur. In der Kürze der Zeit hatte Berta mit der modernen Hochsteckfrisur ein kleines Wunder vollbracht. Draußen tobte ein Unwetter. Es fühlte sich an, als hätte das Attentat in Sarajevo den Weltuntergang heraufbeschworen. Die Leute hatten von einem möglichen Krieg geredet.

Vor der Tür zum Speisezimmer angekommen, atmete Leonora tief durch, bevor sie die Klinke hinunterdrückte. Sie liebte den Raum mit der prunkvollen Ausstattung. Besonders das Deckengemälde mit der Jagdszene der Göttin Diana hatte es ihr angetan. Es war vom selben Kunstmaler, der auch das Deckengemälde im Theater angefertigt hatte. Vier weiße Säulen mit goldenem Blattwerk verziert trugen die Decke mit dem Gemälde. Als Kinder waren Leonora und Albert auf Kissen über den glatten, glänzenden Marmorboden geschlittert.

Die lange, ovale Tafel inmitten des Zimmers war festlich gedeckt. Eine weiße Damasttischdecke, silberne Kerzenleuchter, Blumengestecke und Meißener Porzellan vermittelten eine gediegene Atmosphäre. Alles war geschmackvoll bis ins kleinste Detail, von den Serviettenringen bis zu den Weingläsern. Ihre Mutter besaß ein Händchen für Dekorationen. Am Kopf der Tafel thronte ihr Vater in bestem Zwirn gekleidet. Sein Schnurrbart war wie beim Kaiser akkurat nach oben gezwirbelt. Als Gastgeber zeigte er sich wie gewohnt von seiner besten Seite und plauderte angeregt mit seiner Tischnachbarin, einer fülligen Blondine mit Doppelkinn. Neben der Frau mit dem Doppelkinn saß ein Mann gleichen Alters. Sein aufgedunsenes Gesicht war entgegen der Mode rasiert. Er taxierte Leonora aus grauen Augen. Unter seinem durchdringenden Blick lief ihr ein Schauer den Rücken hinab. Das war also der Mäzen. Die beiden Plätze neben ihrer Mutter waren leer. Für Albert und sie. Wo steckte ihr Bruder? Sicher war er wieder zu einer der Bläserorchesterproben gegangen. Alle Männer der von Uhlenbergs waren Mitglieder in einem Orchester gewesen, bis sie eine Solokarriere angestrebt oder das Theater geleitet hatten.

Es störte Leonora, dass der männliche Gast auf Georgs Platz saß.

»Guten Abend«, begrüßte sie alle höflich und rang sich ein Lächeln ab. Der Fremde erhob und verneigte sich.

Silberfäden zogen sich durch sein lichtes, aschblondes Haar. Sein Anzug war maßgeschneidert und elegant.

Leonora vermutete, dass die dunkelblonde Frau neben dem Gast dessen Gattin war.

»Guten Abend«, erwiderten die Gäste. Anschließend sank der Mann schwerfällig zurück auf den Stuhl. Leonora fühlte sich unter seinem anzüglichen Blick unwohl, besonders in Gegenwart seiner Frau. Ihren Eltern schien das zu entgehen.

»Mein lieber von Edel, darf ich vorstellen? Unsere Tochter Leonora.« Mit stolzem Blick deutete ihr Vater auf sie.

Das war also von Edel, von dem ihr Vater oft sprach. Er war ihr auch von Angesicht zu Angesicht unsympathisch. Rasch senkte sie den Blick.

»Mein lieber Freund von Uhlenberg, ich muss Sie tadeln. Sie haben völlig untertrieben mit der Behauptung, Ihre Tochter sei hübsch. Ich muss Sie korrigieren. Sie ist bildschön.«

Bei jedem anderen hätte sie sich geschmeichelt gefühlt.

»Danke.« Ihr Vater lächelte. »Sie haben recht, von Edel ...«

»Und sicher auch musikalisch sehr begabt. Bei dieser Familie«, fiel von Edel ihrem Vater ins Wort.

Ihr Vater räusperte sich. »Nun ... ja, sie besitzt ein gewisses musikalisches Talent. Leider nicht so wie mein Sohn, aber für eine kleine, private Vorführung reicht es allemal.«

Leonora hätte vor Scham im Boden versinken können. Wie konnte ihr Vater sie nur vor dem Mäzen derart bloßstellen?

»Aus Ihnen spricht der Theaterintendant. Ihr reizendes Fräulein Tochter macht ein musikalisches Manko mit ihrer bezaubernden Ausstrahlung wett.« Dann wandte er sich Leonora zu. »Fräulein von Uhlenberg, Ihr Vater hat mir viel von Ihnen erzählt. Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen.«

Sie hätte zu gern gewusst, was ihr Vater dem Mäzen über sie berichtet hatte. Das ungute Gefühl gegenüber von Edel wuchs mit jedem Atemzug. Leonora blickte zu seiner Frau, die mit ausdrucksloser Miene neben ihm saß und sie taxierte.

»Ich bin sicher für einen Mann von Welt wie Sie nicht interessant genug«, sagte Leonora kühl.

»Sie sind sehr ... bescheiden«, antwortete von Edel lächelnd. »Das gefällt mir.«

So wie von Edel sie ansah, keimte in ihr der Verdacht, dass es sich bei der Einladung nicht um einen geschäftlichen Anlass handelte, sondern ihr Vater andere Ambitionen hegte. Nur welche?

Als Bruno von Edel sich ihren Eltern zuwandte, atmete Leonora auf.

Insgeheim verglich sie den Theatermäzen mit dem jungen Sänger Roman, den sie am gestrigen Tag kennengelernt hatte. Von Edel schnitt dabei schlecht ab. Der Sänger besaß angenehme Züge und ein charmantes Lächeln, das sie im Sturm erobert hatte. In einen Mann wie ihn könnte sie sich verlieben.

»Leonora, Herr von Edel unterstützt unser Theater nach besten Kräften«, sagte ihr Vater.

Als wenn ich das nicht wüsste! Dennoch lächelte sie höflich.

»Ja, weil Ihr Theater ein Kleinod ist. Darf ich fragen, Fräulein von Uhlenberg, ob Sie ein Instrument spielen?«, wandte sich von Edels Gattin an Leonora.

»Selbstverständlich dürfen Sie, Frau von Edel.«

»Nicht Frau, sondern Fräulein von Edel, bitte schön. Ich bin Anna von Edel, seine Schwester«, fiel ihr die Frau ins Wort und nickte ihrem Bruder zu.

Hätte sie wissen müssen, dass das seine Schwester war? Aber ihr erzählte ja keiner was. »Verzeihen Sie, Fräulein von Edel, aber das konnte ich wirklich nicht wissen«, sagte Leonora.

»Sei bitte respektvoll zu unserem Gast, Leonora!«, mahnte ihr Vater. »Meine Tochter ist oft recht ... ungestüm.« Er warf Leonora einen wütenden Blick zu.

»Mein lieber Fritz, unsere Eltern haben uns vor jedem Besuch an die Etikette erinnert. Es ist doch wichtig für die Konversation. Ist das bei Ihnen keine gepflegte Sitte?«, erwiderte Anna von Edel. Leonora hätte diese hochnäsige Frau für ihre Bemerkung erwürgen können.

»Waren wir nicht alle mit achtzehn ungestüm, liebste Anna?«, mischte sich nun Bruno von Edel ein. Gänsehaut kroch Leonoras Rücken hinauf, als sie sein kehliges Lachen vernahm. Ihr Vater stimmte ein, und schließlich lachten auch Anna von Edel und ihre Mutter. Leonora lächelte nur.

Die Tür des Speisezimmers öffnete sich, und eine der Küchenhilfen trat mit der Suppenterrine herein, die sie mitten auf die Tafel stellte. Eine zweite folgte ihr und füllte die Teller. Der köstliche Suppenduft verteilte sich im Raum. Leonora lief das Wasser im Mund zusammen.

»Wir essen auch gern Suppe. Aber zweimal in der Woche gibt es bei uns Fleisch. Darauf legt Bruno großen Wert«, verkündete Anna von Edel, nachdem sie die Rindsbouillon gekostet hatte. »Dank seiner guten Beziehungen«, fügte sie hinzu und tätschelte die Hand des Mäzens. »Er unterstützt die Jägerschaft«, fuhr seine Schwester fort.

Leonora mochte diese Lobhudelei nicht. Ihre Eltern nickten höflich und schwiegen.

Während des Essens vermied Leonora es aufzusehen, um Bruno von Edels Blick nicht zu begegnen. Der Mäzen prahlte von seinen Erlebnissen auf seinen Reisen und den Kunstobjekten, die er erworben hatte. Leonora langweilte sich.

Im weiteren Verlauf des Abends antwortete sie nur, wenn sie etwas gefragt wurde. Ihre Eltern schienen gut gelaunt und schienen den Erzählungen der von Edels zu folgen.