Das Theater am Park – Ruf der Heimat - Valentina May - E-Book

Das Theater am Park – Ruf der Heimat E-Book

Valentina May

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Beschreibung

Hannover 1939: Die blinde Pianistin Florentina verlässt Deutschland und flüchtet nach Italien. Auf ihrer Reise lernt sie den begabten Sänger Matteo kennen, der ihr Herz im Sturm erobert. Die Schönheit der Musik verbindet die beiden, und sie verlieben sich ineinander. Doch die dunklen Schatten der Vergangenheit lassen Florentina nicht los und belasten die Beziehung. Nach Kriegsende kehrt Florentina in ihre Heimat zurück. Kann sie das Erbe ihrer Familie aus den Trümmern retten? Und hat ihre Liebe zu Matteo trotz aller Widrigkeiten eine Chance?

Band 3 der Familiensaga um das Theater am Park ist ein bewegender Roman über die Kraft der Liebe, überwältigende Hindernisse und die Hoffnung auf ein besseres Leben.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

15. November 1938 – Im Zug nach Florenz

Am Abend desselben Tages

Am selben Tag in Florenz

Zur selben Zeit in Florenz

24. November 1938 – Sant’ Anna di Stazzema

25. November 1938 – Florenz

26. November 1938 – In der Nähe von Sant’ Anna di Stazzema

Am selben Tag in Sant’ Anna di Stazzema

7. Dezember 1938 – Florenz

Heiligabend 1938 – Sant’ Anna di Stazzema

Am selben Abend in Sant’ Anna di Stazzema

25. Dezember 1938 – Florenz

Am selben Tag in Sant’ Anna

26. Dezember 1938 – Santo Stefano in Florenz

13. Januar 1939 – Sant’ Anna di Stazzema

19. März 1939 – Florenz

3. Mai 1939 – Florenz

23. Mai 1939 – Florenz

6. Juli 1939 – Florenz

3. September 1939 – Florenz

Zur selben Zeit in Florenz

Später am selben Abend

17. Oktober 1939 – Florenz

11. Juni 1940 – Sant’ Anna di Stazzema

3. Januar 1941 – München

5. August 1941 – Sant’ Anna di Stazzema

7. August 1942 – Florenz

8. September 1942 – Florenz

4. Oktober 1942 – Florenz

5. Oktober 1942 – Florenz

7. Oktober 1942 – Sant’ Anna di Stazzema

Am selben Tag in Florenz

10. Oktober 1942 – Sant’ Anna di Stazzema

28. Juli 1943 – Sant’ Anna di Stazzema

4. September 1943 – Gefängnis von Florenz

5. September 1943 – Sant’ Anna di Stazzema

11. August 1944 – Sant’ Anna di Stazzema

12. August 1944 –Sant’ Anna di Stazzema

21. August 1944 – Konzertabend Florenz

23. August 1944 – Florenz

3. Februar 1945 – Florenz

11. August 1945 – Celle

13. August 1945 – Hannover

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Hannover 1939: Die blinde Pianistin Florentina verlässt Deutschland und flüchtet nach Italien. Auf ihrer Reise lernt sie den begabten Sänger Matteo kennen, der ihr Herz im Sturm erobert. Die Schönheit der Musik verbindet die beiden, und sie verlieben sich ineinander. Doch die dunklen Schatten der Vergangenheit lassen Florentina nicht los und belasten die Beziehung.Nach Kriegsende kehrt Florentina in ihre Heimat zurück. Kann sie das Erbe ihrer Familie aus den Trümmern retten? Und hat ihre Liebe zu Matteo trotz aller Widrigkeiten eine Chance?

Die größte Kraft auf der Welt ist das Pianissimo.

Maurice Ravel

15. November 1938 – Im Zug nach Florenz

Allein in die weite Welt! Florentina konnte es noch immer nicht fassen. Einerseits war es ein wunderbares Gefühl, auf eigenen Füßen zu stehen und sich als Blinde in der Fremde beweisen zu können. Andererseits war ihre Reise überschattet von den vorangegangenen Erlebnissen. Noch immer lief ihr ein eisiger Schauer den Rücken hinab, wenn sie an die Reichskristallnacht dachte. Der Brandgeruch, die Schreie ... Beides hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt.

In Italien würde sie neu beginnen. Eines Tages wollte sie als Pianistin die Konzertsäle Europas füllen. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als ihr bewusst wurde, dass ihre Finger auf dem Schoß Mozarts Türkischen Marsch spielten.

Italien war ihre Chance, losgelöst von der familiären Fürsorge, die ihr die Luft zum Atmen nahm.

Du kannst die Erinnerungen nicht verdrängen, auch wenn du es dir noch so sehr wünschst.

Florentina lehnte den Kopf zurück und dachte an Tante Linas Haus. Draußen und drinnen hatte es immer so wunderbar nach Basilikum, Oregano, Salbei und Rosmarin gerochen. An lauen Abenden waren im Garten die Zikaden zu hören. Im Schoß von Tante Linas Familie hatte sie viele glückliche Stunden erlebt. Trubel und Gelächter beherrschten deren Familienleben. Während es zu Hause immer steif bei den Mahlzeiten zugegangen war, redeten bei ihrer Tante alle durcheinander. Cousine Gianna und Onkel Federico lieferten sich bei Tisch stets einen verbalen Schlagabtausch, der alle zum Lachen brachte. In ihrer Mitte, so hoffte Florentina, würde sie ihren Seelenfrieden wiederfinden. Keine Furcht vor den Nazis und deren Repressalien oder davor, dass sie das Theater schließen würden. Nach der Reichskristallnacht hatte sie sich nicht mehr allein aus dem Haus gewagt. In dieser Nacht war sie ... nicht dran denken. Florentina summte leise vor sich hin, um sich abzulenken. Schwere Schritte auf dem Gang vor dem Abteil ließen sie verstummen. Die Tür wurde aufgeschoben.

„Grüß Gott. Ihre Fahrkarte bitte, Fräulein.“

Die Stimme des Schaffners klang ungeduldig. Florentina zog vorsichtig das Ledertäschchen unter ihrem Gürtel hervor, in dem sie die Fahrkarte aufbewahrte, und reichte sie ihm.

„Ah, Florenz. Der Blick vom Ponte Vecchio über den Arno ist atemberaubend.“

Sie lächelte. Ihr Gegenüber schien nicht bemerkt zu haben, dass sie blind war. Als sie die Brille abnahm, spürte sie, wie er zusammenzuckte. Ihr Vater hatte diese spezielle Brille mit getönten Gläsern für sie anfertigen lassen.

„Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht ...“ Sie hörte an seinem Tonfall, wie unangenehm es ihm war.

„Dass ich blind bin? Natürlich werde ich mir die Stadt ansehen. Auf meine Art.“

Mit ihren Händen würde sie jeden Stein ertasten, mit ihrer Nase den Geruch der Stadt aufnehmen und mit den Ohren jedes Geräusch erfassen. Jede Stadt besaß eine eigene Geräuschkulisse, einen einzigartigen Geruch. Durch ihre Sinne kehrte Farbe in ihre Dunkelheit ein und half ihr, sich zurechtzufinden.

„Ja, ja, verstehe.“ Rasch drückte er ihr die Fahrkarte in die Hand und verließ das Abteil. Tante Linas Familie hatte sie nie wie eine Blinde behandelt, sondern ihren Fähigkeiten vertraut. Wenn sie allerdings an ihr bevorstehendes Vorspiel am Konservatorium dachte, klopfte ihr Herz Takte schneller. Sie musste fehlerfrei und ausdrucksstark spielen, wenn sie ein Stipendium erhalten wollte. Das Lampenfieber war ihr Gegner. Sie wollte den Eltern beweisen: Seht her, ich habe es geschafft. Allein.

Sie hatte viel über das Florenzer Conservatorio gehört. Die Erwartungshaltung der Dozenten an die Stipendiaten war hoch. Viele bekannte Musiker hatten dort studiert. Sie musste nicht nur die Aufnahme schaffen, sondern auch genügend Durchhaltevermögen und Disziplin beweisen.

Der Zug beschleunigte das Tempo. Sie hörte das Rattern der Räder auf den Schienen und den immer schneller werdenden Auspuffschlag der Dampflok.

Rauch drang durchs geöffnete Fenster und trug Rußpartikel mit sich, die nicht nur in ihrem Hals kratzten, sondern auch auf die Kleidung rieselten. Berta hatte ihr extra dafür eine Bürste eingesteckt. Bevor es schlimmer wurde, schloss sie rasch das Fenster. Anschließend klopfte sie den Rußstaub aus der Kleidung. Wenn sie mit dem Zug gefahren war, hatte Violetta stets darauf bestanden, das Fenster geschlossen zu halten. Florentina wurde das Herz schwer. Sie vermisste ihre Zwillingsschwester schon jetzt. Florentina faltete die Hände.

Gott lege deine schützende Hand über sie und Hans, dass sie England gesund erreichen.

Als sie sich wieder setzte, verspürte sie plötzlich wieder diesen stechenden Schmerz in ihrem Leib, der seit Tagen zu ihrem ständigen Begleiter geworden war. Er überfiel sie aus heiterem Himmel, bevor er genauso schnell wieder verschwand. Gegen den Schmerz half ihr oft das Atmen. Sie versuchte, sich so gut wie möglich zu entspannen. Das hatte ihr die Mutter beigebracht. Heute ebbte der Schmerz bereits nach wenigen Atemzügen ab. Erleichtert sank sie gegen das Polster. In Florenz würde es ihr besser gehen.

Morgen würde sie ihr Ziel erreichen. Tante Lina und Gianna hatten versprochen, sie vom Bahnhof abzuholen. Florentina freute sich sehr, die beiden wiederzutreffen. Bis dahin musste sie die Zeit im Zug totschlagen. In ihrem Gepäck befanden sich ein paar Geschicklichkeitsspiele für die Finger und ein Buch in Blindenschrift. Florentina war froh, dass ihr Vater das Abteil für sie allein gebucht hatte.

Sie lehnte ihren Langstock ans Fenster. Zärtlich strich sie über den glatt polierten, runden Knauf. Ein Geschenk ihres Vaters, nachdem sie ihren alten in der Reichskristallnacht verloren hatte. Florentina lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.

Das gleichmäßige Rattern des Zuges machte sie schläfrig. Sie wollte nicht einschlafen, weil sie sich vor Albträumen fürchtete. Trotz aller Bemühungen, wach zu bleiben, verlangte die Natur ihr Recht, und sie schlummerte ein.

Wieder quälte sie der Albtraum. Darin irrte sie in der Reichskristallnacht hilflos vor ihren Verfolgern durch Hannover. Die SS-Männer hatten ihr den Langstock aus der Hand gerissen und zerbrochen.

„Gutes Anzündholz!“, hatte einer von ihnen gerufen.

Die Hitze des Feuers brannte auf ihrem Gesicht. Florentina wusste nicht, wo sie war und wie sie nach Hause kommen konnte. Immer wieder stieß sie gegen einen Zaun oder eine Straßenlaterne. Das Keuchen ihres Verfolgers kam näher. In Panik rutschte sie auf Knien übers Pflaster. Ihr Verfolger lachte. Es bereitete ihm Spaß, sie kriechen zu sehen.

„Du entkommst mir nicht.“

Er roch nach Alkohol.

Warum kam ihr niemand zu Hilfe? Florentina stieß gegen eine Bank. Warum hatte sie nicht auf ihren Vater gehört und sich mit ihrer Freundin Hannah vom Chauffeur fahren lassen?

Vielleicht besaß die Bank eine Gravur, die sie kannte. Im selben Augenblick, als sie sich daran hochzog, packte er sie grob an der Schulter.

Ihr Schrei wurde von einer Hand erstickt. Vor lauter Angst war sie wie gelähmt. Das heisere, kehlige Lachen des Fremden bescherte ihr einen eisigen Schauer. Sie begann, um sich zu schlagen.

„Fräulein ... aber Fräulein, beruhigen Sie sich doch.“

Nur träge drang die Stimme in ihr Bewusstsein. Er hielt ihre Arme fest.

„Sie sind ja wie von Sinnen! Ich will Ihnen doch nichts!“

Das war nicht die Männerstimme ihres Peinigers. Sie hörte auf, sich zu wehren, ließ die Arme sinken.

„Wer ... wer sind Sie?“, fragte sie verschlafen.

„Der Schaffner.“

„Der Schaffner?“ Langsam dämmerte es ihr wieder. Natürlich! Sie saß im Zug nach Florenz und musste trotz des Vorsatzes eingeschlafen sein.

„Sind wir denn schon da?“

„Nein, aber Sie müssen bald umsteigen. Wir erreichen gleich München.“

Florentina nickte. „Ja, danke. Bitte verzeihen Sie, ich habe schlecht geträumt.“

„Hm. Schon gut. Bitte ziehen Sie Ihren Mantel an. Ich komme gleich zurück und begleite Sie zur Tür. Halten Sie sich gut fest, wenn der Zug bremst.“

„Danke.“ Florentina tastete nach ihrem Mantel, den sie neben sich an den Haken gehängt hatte.

Kaum hatte sie ihn übergestreift, kehrte der Schaffner zurück. Sie griff nach ihrem Langstock und hörte das Ächzen des Mannes, der ihr Gepäck von der Ablage hievte. Er drückte ihr ein Lederband in die Hand. „So können Sie mir besser folgen.“

Ihre Finger schlossen sich fest um das Leder.

Auf dem Bahnsteig blies ein scharfer Wind, dass sie fröstelte. Das Lederband umklammernd, ließ sie sich vom Schaffner zum anderen Gleis ziehen. Es ging eine Treppe hinunter und eine wieder hinauf. Auf dem Bahnsteig stank es nach Ruß und Urin, dass ihr Magen rebellierte.

„Moment bitte.“ Der Schaffner hielt an und ließ das Lederband los.

„Fassen Sie bitte meine Hand, Fräulein.“

Florentina streckte den Arm aus, und ihre Hände fanden sich.

Ihr Langstock stieß gegen etwas Metallisches.

„Vorsicht Stufe“, hörte sie hinter sich eine angenehme Männerstimme sagen. Dann fasste sie jemand am Ellbogen und an der Hüfte, während der Schaffner an ihrem Arm zog. Sie versteifte sich einen Moment. Reiß dich zusammen! Nicht jeder will dir Böses.

„Kommen Sie“, drängelte der Schaffner.

Florentina nahm die Stufe. Als sie auf dem metallenen Tritt stand, bekam sie den Haltegriff neben der Tür zu fassen.

„Sie können mich jetzt bitte loslassen“, sagte sie zu dem Fremden, dessen Hände sie noch immer hielten.

„Schaffen Sie es denn allein weiter?“

Als wenn sie das nicht könnte!

„Ich bin zwar blind, aber nicht hilflos“, erwiderte sie.

„Scusi.“ Er ließ sie los.

Florentina atmete auf und schwieg. Die zweite Stufe nahm sie leichter. Im Zug ließ sie sich wieder vom Schaffner durch den Gang zum Abteil ziehen.

Seufzend sank sie auf den Sitz. Endlich begann der zweite Teil ihrer Reise.

„Sie müssen Ihr Abteil leider mit einem Fahrgast teilen“, erklärte ihr der neue Schaffner. Florentina traute ihren Ohren nicht.

„Unmöglich! Mein Vater hat das ganze Abteil für mich allein reserviert!“

Der Schaffner räusperte sich. Sie verspürte keine Lust auf Gesellschaft. „Aber das sind besondere Umstände, Fräulein ...“

„Die interessieren mich nicht. Setzen Sie doch den Fahrgast zu jemand anderem.“

„Alle Abteile sind schon besetzt. Nur Sie sind hier allein ...“

Einerseits verspürte sie keine Lust auf Gesellschaft, andererseits würde ihr das die Langeweile vertreiben. Der Schaffner würde doch so viel Anstand besitzen, ihr keinen Herrn ins Abteil zu schicken. Eine Dame gleich welchen Alters wäre ihr recht.

„In Herrgotts Namen bringen Sie sie zu mir. Wir werden uns schon irgendwie arrangieren.“

„Aber, Fräulein, es ...“

„Bitte, bevor ich es mir noch anders überlege“, fiel sie ihm ins Wort.

„Ganz wie Sie wünschen, Fräulein.“

Vielleicht war die Frau ebenfalls musikbegeistert oder kannte Florenz, sodass sich interessante Gespräche entwickeln könnten.

Schritte auf dem Gang näherten sich, die Abteiltür wurde aufgeschoben.

„So, Fräulein, hier ist der junge Herr, mit dem Sie das Abteil teilen werden.“

„Buon giorno.“

Das war doch die Stimme des Mannes, der ihr beim Einsteigen geholfen hatte.

Ein Mann! Wütend sprang Florentina von ihrem Sitz auf.

„Sie setzen einen Mann zu mir ins Abteil?“

Auf dem Gang entfernten sich Schritte. Offensichtlich war der Schaffner gegangen.

„Hallo, Herr Schaffner?“, rief sie, erhielt aber keine Antwort mehr. Der konnte sie doch unmöglich mit diesem Fremden allein lassen.

„Er ist leider schon gegangen“, antwortete an dessen Stelle der Fremde.

Wütend kniff Florentina die Lippen zusammen. Sie tastete nach ihrem Langstock, um nach dem Schaffner zu suchen und ihn zur Rede zu stellen.

„Tut mir leid, Signorina. Wenn Ihnen meine Anwesenheit unangenehm ist, setze ich mich natürlich draußen auf den Gang“, sagte der Fremde.

Seine Stimme war voluminös und klangvoll wie die eines Sängers.

„Sind Sie Musiker?“, fragte sie.

„Ja, hört man das so deutlich?“

„Natürlich.“

„Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.“

Florentina bekam ein schlechtes Gewissen. Sie konnte ihn doch nicht die ganze Nacht draußen auf dem Gang verbringen lassen.

„Schon gut, Sie können bleiben. Aber ich bitte Sie, eine gewisse Distanz zu mir zu wahren.“ Seit der verhängnisvollen Nacht war ihr die Nähe von Fremden unangenehm.

„Selbstverständlich. Vielen Dank, dass ich das Abteil mit Ihnen teilen darf.“

Sie hörte, wie er sein Gepäck schwungvoll auf die Ablage hob, bevor er ihr gegenüber Platz nahm. Er roch angenehm nach frischer Seife und Rasierwasser.

„Mein Name ist Matteo. Matteo Bianchi. Mit wem habe ich die Ehre, Signorina?“

Sie mochte seine warme Stimme.

„Florentina“, antwortete sie. Ihren Nachnamen verschwieg sie ihm. Wenn er wirklich Sänger war, könnte er vielleicht den Namen Schwarz kennen und unnötige Fragen stellen. Darauf konnte sie gut und gern verzichten. „Florentina und wie weiter?“

„Nur Florentina.“

„Gut, dann rede ich Sie mit Signorina Florentina an.“

Er schien enttäuscht zu sein. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Florentina lehnte sich zurück und tat, als würde sie schlafen. Sie verspürte keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihm. Doch sie fand keine Ruhe, denn er ging ihr gehörig auf die Nerven. Mal raschelte er mit Papier, dann hörte sie ihn kauen, und es roch penetrant nach Fisch. Florentinas Sinne waren geschärft. Violetta hatte deshalb immer neckend behauptet, sie könnte die Mäuse niesen hören. Violetta. Sie würden sich nicht so bald wiedersehen. Florentina mochte Hans. Ein bescheidener, zurückhaltender Mann mit einer sanften Stimme. Eine Spur zu zurückhaltend für das überschäumende Temperament Violettas. Das entsetzliche Ereignis in der Reichskristallnacht hatte sie niemandem anvertraut. Zu groß waren Scham und Demütigung gewesen. Sie musste endlich aufhören, ständig daran zu denken.

Der Fremde gegenüber begann etwas zu summen, das ihr bekannt vorkam. Sie räusperte sich

„Mein Summen stört Sie, Fräulein Florentina?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Das Stück kenne ich.“

„Wirklich? Ich übe es gerade. Eine Arie eines deutschen Komponisten. Frederik von Uhlenberg. Ich kannte noch nichts von ihm. Erst als ich am Münchner Opernhaus gewesen bin, habe ich vom dortigen Intendanten Holzer von ihm erfahren. Haben Sie schon von ihm gehört? Sie sind doch aus Deutschland, oder?“

Florentina erstarrte. Holzer. Welch ein Zufall! Ihre Mutter hatte den Namen mehr als einmal erwähnt. Weil er als Intendant des Hannoverschen Opernhauses ein Konkurrent und der Besitzer der einstigen Familienvilla gewesen war. Das war fast mehr als Zufall. Hatte ihr Gegenüber das erwähnt, weil er sie erkannt hatte? Über die letzten erfolgreichen Aufführungen im elterlichen Theater war in den Zeitungen berichtet worden. Mit Fotos von ihr.

„Den Namen habe ich schon mal gehört“, log sie und verkniff sich ein Schmunzeln. „Sie waren an der Oper tätig?“ Mit dieser Frage versuchte sie von sich abzulenken.

„Ja, ich hatte dort ein, zwei Gastauftritte.“

„Welche Stimmlage?“

Seine kräftige, warme Stimme besaß Schmelz. Ihr feines Gehör erfasste sofort, wie gut er die Resonanzräume seines Körpers nutzte. Ganz wie ihre Eltern und Violetta.

Sie war gespannt, ob sie mit ihrer Einschätzung richtig lag.

„Bariton. Sind Sie auch Sängerin?“

„Nein.“

„Aber Sie spielen ein Instrument?“

Florentina wollte einem Fremden nur wenig von sich preisgeben.

„Leidlich.“ Warum konnte er nicht aufhören zu fragen?

„Wenn ich mir Ihre langen, schlanken Hände so anschaue, tippe ich mal auf Klavier. Richtig?“

Er war wirklich scharfsinnig.

„Wie gesagt leidlich, nur für den Hausgebrauch.“ Vermutlich würden sie sich nicht wieder begegnen. Sie hoffte das Thema Musik ein für alle Mal beendet zu haben.

„Was haben Sie denn schon so gespielt?“

Florentina stöhnte innerlich auf. Der Kerl lässt nicht locker.

„Kinderlieder.“ Das war noch nicht einmal gelogen.

„Ich mag deutsche Kinderlieder.“

„Schön.“

Er musste doch endlich merken, dass sie keine Lust auf Konversation verspürte. Eine Weile kehrte Schweigen ein, und sie atmete auf.

„Darf ich fragen, wohin Sie reisen, Signorina?“

„Fragen Sie eigentlich jeden aus, der mit Ihnen reist?“

„Menschen faszinieren mich nun einmal. Ich fahre nach Florenz. Eine ziemlich lange und langweilige Fahrt.“

Sie hatte gehofft, dass er früher aussteigen würde.

Eine Weile plauderten sie über Florenz und dessen Geschichte. Florentinas Antworten fielen knapp aus. Immer wenn sie glaubte, das Thema wäre erschöpft, fand er ein neues. Irgendwann verließ er zu ihrer Erleichterung das Abteil.

Die Stille war Balsam. Doch sie hielt nicht lange an, denn nach kurzer Zeit kehrte er wieder zurück. Diesmal sprach er sie nicht an. Stattdessen wippte er mit den Füßen, summte, seufzte und trommelte mit den Fingern auf dem Polster. Offenbar schien er sich zu langweilen. Wenigstens blieb er schweigsam. Zumindest kurz.

„Es gibt nur drei Gründe für eine junge Frau wie Sie, nach Florenz zu wollen. Entweder Verwandte besuchen, Sehenswürdigkeiten besichtigen oder am Konservatorium studieren. Ich tippe auf Letzteres. Sie spielen bestimmt nicht nur für den Hausgebrauch.“

„Da muss ich Sie leider enttäuschen.“

„Schade, ich habe gehofft, wir könnten dort einmal zusammen musizieren.“

Das hat mir gerade noch gefehlt!

„Nichts für ungut, Herr ...“ Ihr fiel sein Nachname nicht mehr ein.

„Matteo.“

„Matteo. Ich denke nicht. Ich bin im Klavierspiel nicht sehr versiert.“

„Macht nichts. Ein paar Freunde und ich treffen uns regelmäßig zum Musizieren. Jemand, der Klavier spielt, fehlt uns eigentlich noch.“

Es hatte ihr immer Spaß gemacht, mit anderen zu musizieren. Doch jetzt blieb sie lieber allein.

„Sie werden sicher jemand anderes finden. Ich besuche Verwandte.“

„Wirklich schade. Falls Sie es sich doch noch anders überlegen sollten, fragen Sie einfach im Teatro Communale di Firenze nach mir.“

Sie nickte.

„Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns. Draußen ist es dunkel. Ich werde jetzt ein Nickerchen halten.“

Fast hätte Florentina laut vor Erleichterung geseufzt. Stoff raschelte, dann war es still. Auch sie lehnte sich zurück.

Bloß nicht einschlafen! Florentina bemühte sich krampfhaft, wach zu bleiben.

Am Abend desselben Tages

Gegen ihren Willen schweiften Florentinas Gedanken zurück zur Reichskristallnacht. Nach der Theaterprobe waren sie und ihre Freundin Hannah froh gewesen, der stickigen Theaterluft entrinnen zu können, und hatten deshalb entschieden, zu Fuß nach Hause zu gehen. Auf dem Nachhauseweg hatten sie sich die Erlebnisse des Tages erzählt. Alles war wieder gegenwärtig.

Als Balletttänzerin träumte Hannah davon, Primaballerina zu werden. Während sie ununterbrochen geplaudert hatte, war ihnen die gespenstische Stille in der Stadt entgangen.

Ein unerwartetes Rucken riss Florentina aus den Erinnerungen. Der Zug blieb stehen. Matteos gleichmäßigen Atemzügen entnahm sie, dass er schlief.

Warum hielten sie? Auf dem Gang waren aufgeregte Stimmen zu hören. Florentina tippte Matteo an. Er zuckte zusammen.

„Sind wir schon da?“, fragte er verschlafen.

„Ich denke nicht. Der Schaffner wollte mir Bescheid geben, wenn wir Florenz erreicht haben. Der Zug hat plötzlich angehalten.“

Sie hörte, wie er die Abteiltür aufzog, dann spürte sie einen Luftzug.

„Keine Ahnung, warum wir mitten in der Gegend halten. Vielleicht müssen wir einen anderen Zug durchlassen.“

Seine Stimme war angespannt. Florentina glaubte, dass er etwas gesehen hatte und es ihr verschwieg.

„Hm, hm“, antwortete sie.

Irgendetwas ging vor sich, etwas Bedrohliches, das fühlte sie.

Feste Tritte näherten sich ihrem Abteil. „Aus dem Weg!“, rief jemand auf Italienisch.

„Grenzpolizei“, erklärte Matteo.

Türen wurden aufgeschoben.

„Pässe!“, verlangte einer der Polizisten streng.

Sie bemerkte, wie Matteo die Luft anhielt, als es im Abteil nebenan laut wurde. Eine Frau schrie und beschwor die Polizisten, ihrem Mann nichts zu tun. Das erinnerte Florentina an die Vorkommnisse im Theater, als die Gestapo einige Künstler jüdischer Herkunft, Homosexuelle und einen Roma verhaftet hatte. Ihre Eltern hatten Hans Brünn, den Verlobten ihrer Schwester, verstecken müssen. Die Angst war wieder gegenwärtig.

„Was ist denn da los?“, fragte sie Matteo.

„Die Polizei ist auf der Suche nach jemandem.“ Auch Matteo klang beunruhigt.

Die Schritte wurden lauter. Gleich würden die Polizisten ihr Abteil erreichen. Wenige Atemzüge später hielten sie davor inne und flüsterten. Florentina spitzte die Ohren und fing Brocken auf, wie Fascista und Resistenza.

Die Abteiltür wurde schwungvoll aufgezogen. Ein Luftzug streifte ihr Gesicht. Der Geruch von Lederstiefeln und Mottenkugeln drang herein.

„Ihre Pässe!“

„Natürlich, einen Moment bitte.“ Florentina tastete in dem Ledertäschchen unter ihrem Gürtel und zog den Pass heraus.

„Signorina Schwarz?“ Der Polizist klang eine Spur freundlicher.

„Ja, das bin ich.“

„Warum reisen Sie nach Italien?“

Sie hatte mit dieser Frage gerechnet.

„Ich besuche Verwandte nahe Florenz.“

„Sie kommen aus Deutschland?“

„Ja, aus Hannover.“

„Gäste aus Deutschland sind bei uns immer sehr willkommen“, erklärte er.

Mussolini und Hitler eiferten den gleichen Ideologien nach und zeigten sich öffentlich gemeinsam. Florentina schluckte.

„Danke.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. Die Erfahrungen hatten sie gelehrt, Konflikte mit der Polizei zu vermeiden. Deutlich spürte sie Matteos Anspannung.

„Ihr Pass, Signore“, forderte der Polizist von ihrem Gegenüber.

„Signore Bianchi, Matteo Bianchi?“

„Ja“, bestätigte Matteo mit gepresster Stimme.

„Woher kommen Sie und was ist Ihr Ziel?“ Die Stimme des Polizisten klang plötzlich grob. Spannung lag in der Luft.

„München. Ich kehre nach Florenz zurück. Das ist doch nicht verboten, Commissario, oder?“

Matteos provokante Antwort erinnerte sie an ihren Vater. Dennoch war es riskant, den Polizisten gegen sich aufzubringen. Sie hörte, wie der Beamte tief Luft holte.

„Zu wem?“, hakte der Commissario nach.

„Zu meinem Vater Luigi Bianchi.“

„Welchen Beruf üben Sie aus?“

„Musiker.“ Matteos Stimme klang gereizt.

„Sie haben aber keine Instrumententasche bei sich.“

„Weil ich Sänger bin.“

„Öffnen Sie bitte Ihre Tasche“, verlangte der Polizist.

„Ich muss Sie leider enttäuschen, Commissario, außer Kleidung und Noten werden Sie nichts darin finden.“

„Öffnen!“

Sie hörte wie Matteo seine Reisetasche von der Ablage herunternahm. Er gab sich keine Mühe, seinen Unwillen zu verbergen.

Das Klicken zweier Schnappverschlüsse war zu hören, dann das leise Rascheln von Stoff und anschließend von Papier.

„Sehen Sie, Commissario, nur Kleidung und Notenbücher.“

Sie hörte jemanden blättern.

„Und das hier?“

Florentina spürte, wie Matteo den Atem anhielt.

„Das sind Noten, Commissario.“ Matteo klang gereizt.

„Bella Ciao, das Lied der Mondine, der Reispflückerinnen! Ein Rebellenlied!“, rief der Polizist voller Verachtung. „Folgen Sie uns!“

Sie hörte, wie Matteo tief Luft holte, und ahnte, dass er kurz davor stand zu explodieren. Wenn er nicht aufpasste, würden sie ihn womöglich verhaften. Aber doch nicht wegen eines Liedes! Das konnte sie nicht zulassen. Florentina nahm all ihren Mut zusammen.

„Signore Commissario, bitte entschuldigen Sie mein Einmischen. Nur weil mein Begleiter die Noten dieses alten Liedes bei sich trägt, ist er noch lange kein Rebell. Ich verbürge mich für ihn.“

Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Matteo nicht widersprach und der Polizist ihr glaubte.

„Wie Sie sehen können, bin ich auf die Hilfe von Signore Bianchi angewiesen.“

„Signorina Schwarz, Signore Bianchi ist wirklich Ihr Begleiter?“

Hoffentlich würde Matteo nicht widersprechen. Er schwieg.

„Ja, das ist er. Darf ich fragen, wen Sie suchen?“

„Wir suchen einen Mann, der den Widerstand unterstützt.“

Florentinas Magen zog sich zusammen. Deutlich hatte sie den Eifer in der Stimme des Commissarios gehört.

Sollte Matteo zur Widerstandsbewegung gehören, die den Duce stürzen wollte? So wirkte er nicht auf sie.

„Signore Bianchi arbeitet ganz sicher nicht für den Widerstand. Nicht wahr, Matteo?“

„Ich bin Musiker.“

„Sie haben mein Wort, Commissario, dass es stimmt, was Ihnen Signore Bianchi versichert hat.“ Sie hätte erwartet, dass Matteo das bestätigte, aber er schwieg.

„Stimmt das, Signore Bianchi? Sie wissen, was Ihnen droht, wenn Sie lügen.“

„Ich versichere Ihnen, ich bin Signorina Schwarz’ Begleiter“, bestätigte Matteo.

Der Polizist zerriss die Noten.

„Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Weiterfahrt, Signorina. Ich hoffe, Signore Bianchi wird sich als vertrauenswürdig erweisen.“

Florentina lächelte und nickte.

Sie atmete auf, als die Polizisten das Abteil verließen.

„Wie konnten Sie nur die Noten eines Revoluzzerlieds einstecken! Sie haben sich in Teufels Küche gebracht.“

„Weil es nur Noten sind. Ich konnte nicht wissen, dass die sich so aufregen. Ist noch mal alles gut gegangen. Mille grazie“, bedankte sich Matteo. „Ohne Sie würde ich vielleicht die Nacht im Gefängnis verbringen.“

Unerwartet ergriff er ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken, was ein Kribbeln auf ihrer Haut hinterließ. Für einen kurzen Moment versteifte sie sich. Jedes Mal, wenn ein Mann sie berührte, weckte das erneut die unangenehmen Erinnerungen an die schreckliche Nacht.

„Was fällt Ihnen ein, mich anzufassen?“, fuhr sie ihn an und riss ihre Hand zurück.

„Scusi, Signorina. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Es geschah aus reiner Dankbarkeit.“

Offenbar war ihr Gegenüber genauso impulsiv wie ihr Vater.

„Das hoffe ich.“

Florentina war froh darüber, dass Matteo schwieg. Noch immer spürte sie den Lippenabdruck auf ihrem Handrücken.

Nach einer Weile, als sie Matteos gleichmäßige Atemzüge hörte, zog sie aus ihrer Handtasche ein Tuch und ein winziges Parfümfläschchen hervor. Sie benetzte das Taschentuch mit ein paar Tropfen Parfüm und rieb damit über ihren Handrücken, als könne sie das Gefühl des Kussabdruckes wegwischen.

Ihre Haut auf dem Handrücken brannte. Plötzlich glaubte sie Matteos Blick zu spüren. Hitze schoss in ihre Wangen. Hastig faltete sie die Hände auf dem Schoß.

Sie lehnte den Kopf zurück. Der Zug hielt noch immer. Die Stille um sie herum machte sie schläfrig. Trotz aller Bemühungen, wach zu bleiben, schlief sie dennoch ein.

Es war immer der gleiche Traum, der sie heimsuchte. So real wie das Erlebte.

Ihre Freundin Hannah und sie eilten durch das abendliche Hannover. Das Klackern der Absätze auf dem Pflaster hallte durch die Straßen. Während Hannah immer ausschweifender erzählte, legte Florentina sich im Geist Worte der Entschuldigung für ihre Eltern wegen ihrer Verspätung zurecht.

Plötzlich blieb Florentina stehen und tastete nach Hannahs Arm.

„Was ist denn mit dir, Flo? Du bist heute so seltsam“, beschwerte sich Hannah.

„Findest du es nicht auch so merkwürdig still?“

„So ist es doch immer.“

Bevor Florentina etwas antworten konnte, roch sie Rauch und hörte das leise Knistern von Feuer. Dann hallte ein markerschütternder Schrei durch die Straßen. Etwas Furchtbares war geschehen.

„Florentina!“ Hannah wurde ungeduldig.

Florentina legte ihr den Finger auf den Mund.

„Was ist denn? Du machst mir Angst, Flo“, sagte Hannah furchtsam. Kaum hatte sie das gesagt, waren weitere Schreie zu hören. Jemand rief Befehle. „Alle Weiber auf diese Seite! Los! Macht schon, verfluchtes Pack!“

Florentina zuckte zusammen, als sie das klirrende Geräusch splitternden Glases hörte. Hannah fasste nach ihrer Hand.

„Großer Gott!“

„Was ist denn, Hannah?“

„Der Himmel ist ganz rot.“

Hannah lief los und riss Florentina mit sich, bis sie unerwartet innehielt. Florentina spürte, wie sehr Hannah zitterte.

„Was ist denn, Hannah?“

„Unsere Synagoge brennt. Das waren die Nazis. Sie hassen uns.“

„Das können die doch nicht einfach so machen.“ Florentina traute den Nazis vieles zu, aber dass sie so weit gingen und Synagogen in Brand steckten, mochte sie nicht glauben.

„Wir müssen hier weg! Schnell! Bevor sie uns entdecken.“

Ehe Florentina protestieren konnte, zog Hannah sie erneut mit sich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzulaufen. Doch Hannah wurde immer schneller, dass sie immer öfter ins Stolpern geriet.

„Halt!“, wurden sie gestoppt.

Florentina prallte gegen Hannah.

„Warum haben es die Fräuleins denn so eilig?“

Der lauernde Unterton in der Stimme des Mannes weckte Florentinas Widerwillen.

„Meine Eltern erwarten uns zum Abendessen“, antwortete sie, als die zittrige Hannah schwieg. Die eiskalte Hand der Freundin ruhte in ihrer.

„Wer sind denn Ihre Eltern, Fräulein ...?“

Die Stimme des Mannes klang herablassend.

„Schwarz. Florentina Schwarz“, antwortete sie mit fester Stimme.

„Die Tochter dieser ... dieser Intendantin? Vom Theater am Park?“

Wie abfällig er das Wort Intendantin aussprach, machte Florentina wütend.

„Ja. Und wer sind Sie?“

„Sturmbannführer Rothenberg. Und wer ist Ihre Begleitung, Fräulein Schwarz?“

Fieberhaft überlegte Florentina, was sie ihm antworten konnte, denn Hannah war Jüdin. Sanft drückte sie Hannahs Hand und hoffte, dass die Freundin sie verstand.

„Meine Cousine Gianna aus Italien. Leider spricht sie kein Deutsch“, log sie.

„Aus Italien.“ Das klang schon eine Spur freundlicher aus seinem Mund.

Federnde Schritte näherten sich ihnen. Florentina schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihre Lüge nicht auffliegen möge.

„Heil Hitler, Herr Sturmbannführer. Befehl wurde ordnungsgemäß ausgeführt. Ein Dutzend Juden festgenommen.“

„Wer meldet das?“, fragte der Sturmbannführer streng.

„SA-Scharführer Grabert.“ Die Stimme klang jünger als die des Sturmbannführers.

Grabert? Den Namen hatte Florentina noch nie gehört.

Hannahs Finger krallten sich um ihre. Florentina biss die Zähne zusammen, damit ihr kein Schmerzenslaut über die Lippen kam. Die Männer schwiegen. Hannah hielt die Luft an und rührte sich nicht. Deutlich fühlte Florentina, dass etwas schieflief.

„Wen haben wir denn da?“, fragte SA-Scharführer Grabert mit einem hämischen Unterton. Florentina hörte, dass er auf sie zuging.

„Das sind Fräulein Schwarz und ihre italienische Cousine“, erklärte ihm der Sturmbannführer.

„Die Schwarzhaarige kenne ich nicht“, warf Grabert ein. „Die andere da schon. Das ist Hannah Simonsohn, die älteste Tochter des jüdischen Schlachters.“

Jetzt wusste der Sturmbannführer, dass sie gelogen hatte. Furcht schnürte Florentinas Kehle zu. Mehr aus Angst um Hannah als um sich selbst. Von ihren Eltern wusste sie, dass Juden in Arbeitslager geschafft wurden. Das wäre womöglich das Aus für die Ballettkarriere der zarten Ballerina Hannah.

Durch ihre Schuld waren sie den beiden Männern ausgeliefert.

„Die Nachkommen der von Uhlenbergs sind stark. Kopf hoch, Florentina, du wirst alles schaffen, wenn du nur willst“, klangen ihr die Worte der Großmutter in den Ohren. Doch in diesem Augenblick trösteten sie sie wenig.

Jemand berührte Florentina an der Schulter. Sie wachte auf.

„Wir erreichen in wenigen Minuten Florenz“, erklärte Matteo.

„Schon?“, fragte sie und gähnte. Florentina reckte ihre Glieder, die vom langen Sitzen ganz steif geworden waren.

Gleich würde sie Tante Lina und Gianna in die Arme fallen. Die Vorfreude auf beide ließ sie ihren Albtraum schnell vergessen.

Langsam fuhr der Zug in den Bahnhof ein.

„Dieser Duft, diese Farben ... Es tut gut, wieder zu Hause zu sein“, sagte Matteo. Seine Worte lösten in Florentina ein gewisses Heimweh aus.

„Darf ich Sie zum Ausstieg begleiten, Signorina?“, unterbrach Matteo ihre Gedanken.

„Ich schaffe das schon allein.“ Es ärgerte sie, dass alle Leute sie scheinbar für hilflos hielten.

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Signorina. Ich wollte nur höflich sein.“

Charmant war er ja.

Florentina bereute, ihn abgewiesen zu haben.

„Also gut.“

Sie hob die Arme und tastete nach ihrem Gepäck auf der Ablage. Ihre Finger schlossen sich um den Griff. Sie zog, aber die Tasche hatte sich im Gepäcknetz verfangen.

„Warten Sie, ich hebe Ihnen die Reisetasche herunter. Der Zug hält hier nicht lange.“

„Danke.“

Sie hörte, wie er sie von der Ablage hob.

„Ich nehme sie selbst“, verlangte sie.

„Wie Sie wünschen, Signorina.“

Er drückte ihr den Taschengriff in die Hand.

Erneut zuckte sie zusammen, als er ihren Ellbogen fasste. Sein Griff war sanft, aber bestimmt, als er sie nach vorn schob. Sie wehrte sich nicht, als er ihr beim Ausstieg half. Seine Berührungen waren ihr unangenehm. Dennoch war sie froh, wie geschickt und umsichtig er sich anstellte.

„Werden Sie abgeholt, Florentina?“

Hörte sie da etwa einen hoffnungsvollen Unterton heraus?

„Ja, von meiner Tante und meiner Cousine.“ Sie konnte es kaum erwarten, die beiden endlich in die Arme zu schließen.

„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Florenz. Vielleicht laufen wir uns noch einmal über den Weg.“

„Danke schön. Passen Sie auf sich auf, Matteo!“

Er wandte sich um und eilte davon. Florentina stand auf dem Bahnsteig und kam sich mit einem Mal verloren vor. Die Reise im Zug war wie im Flug vergangen. Trotz aller Bedenken hatte sie sich von ihm unterhalten gefühlt. Er war nett und galant gewesen.

Mit ihrem Langstock tastete sie sich durch die Bahnhofshalle, bis sie die vertrauten Stimmen von Tante und Cousine hörte.

Am selben Tag in Florenz

Diese Florentina hatte etwas Anziehendes und Geheimnisvolles an sich gehabt, das ihn fasziniert hatte. Er sah ihr schmales, schönes Gesicht vor sich, umgeben von schwarz gelocktem Haar. Sicher ahnte sie nicht, wie hinreißend sie aussah. Wenn sie lächelte, waren zwei Grübchen sichtbar.

Im Schlaf hatte sie zerbrechlich gewirkt, dem Commissario gegenüber sehr selbstbewusst. Wie viel wusste sie über den Widerstand in seinem Heimatland?

Seit Juli war er durch das vom Duce verabschiedete Manifest der Rassen gewachsen. Juden wurden von arischen Italienern abgegrenzt. Immer hatten in Italien alle friedlich nebeneinander gelebt. Als Kommunist war sein Vater Gegner von Mussolinis Politik. Natürlich hatte er gewusst, dass das Lied der Mondine ein Zeichen des Widerstands war. Sein Freund Eugenio hatte ihm die Noten mitgegeben. In Eile hatte Matteo Noten und Kleidung in den Koffer gestopft, um den Zug nicht zu verpassen. Er wollte seinen Vater nicht enttäuschen und wie versprochen zum Abendessen da sein. Viel zu früh hatte Matteo seine Mutter und seine älteren Geschwister an Tuberkulose verloren.

Matteo ärgerte sich über seine Unachtsamkeit.

Er schob sich durch das Gedränge im Bahnhofsgebäude. Der beste Freund seines Vaters hatte ihm versprochen, ihn abzuholen.

Eugenio hatte ihn gebeten, seinem Bruder einen Brief zu überbringen. Eigentlich hatte der Freund ihn nach Florenz begleiten wollen, doch der Tenor hatte noch zwei Vorstellungen geben müssen und konnte sich finanziell keinen Ausfall erlauben.

„Überreiche ihn Giorgio bitte persönlich. Ich möchte sichergehen, dass er ihn auch bekommt.“ Mit diesen Worten hatte Eugenio ihm den Umschlag überreicht. „Die Adresse in Florenz steht auf dem Kuvert. Es ist nicht für jedermanns Augen bestimmt. Also pass bitte gut darauf auf.“

Matteo hatte das Kuvert in seinen Strumpf geschoben. Es kratzte an seiner Wade.

Ein seltsames Gefühl hatte ihn dabei beschlichen, dass er drauf und dran gewesen war, seinem Freund die Bitte abzuschlagen. Andererseits war Eugenio immer sehr hilfsbereit und hatte öfter etwas für Matteos Vater mitgenommen. Eugenio hatte ihm vor einiger Zeit anvertraut, sich den Kommunisten angeschlossen zu haben. Die Mitglieder der kommunistischen Partei waren Staatsfeinde und standen ganz oben auf der Liste der Fascista-Partei. In diesem Augenblick kam Matteo der Gedanke, dass die Polizei vielleicht nach seinem Freund gesucht haben könnte. Eugenio hatte schon einmal Ärger bekommen, weil er schlecht über Mussolini geredet hatte.

Was mochte nur im Kuvert stecken? Eine verschlüsselte Botschaft der Kommunisten oder etwas Harmloses? Matteo war einen Moment lang versucht gewesen, den Umschlag zu öffnen. Doch dann hatte er sich dagegen entschieden, weil es ihn nichts anging.

Was Florentina sich wohl dabei gedacht hatte, ihren Nachnamen zu verschweigen? Er würde es nicht erfahren. Sie würden sich nicht mehr wiedersehen.

Es war früher Nachmittag, als Matteo das Bahnhofsgebäude verließ. Ein modernes Gebäude mit geraden Linien ohne jeden Schnörkel, dessen Grundstein 1936 gelegt worden war. Es bildete einen Kontrast zu den eher verspielt und üppig verzierten Häusern aus der Zeit der Medicis. Matteo liebte die Renaissancebauten. Auch sein Elternhaus war reich verziert, eine kleine Stadtvilla nahe des Arno, in der sein Vater nach dem Tod der Mutter allein lebte.

Die milden Temperaturen in Florenz ließen Matteo seinen Mantel ablegen.

Fünf Jahre hatte er in München gelebt und fast vergessen, wie sonnenverwöhnt seine Heimat, die Toskana war. Vor dem Bahnhofsausgang stand eine Gruppe Touristen, die auf ihren Reiseführer wartete, um die Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt zu erkunden.

Das Leben in Florenz war ganz anders als das in München. Bunter, fröhlicher und lauter. Anfänglich hatte er sich auch in München wohlgefühlt. Sein Engagement an der Oper war ein Meilenstein für seine Gesangskarriere. Seit der antisemitischen Politik des Führers erschien ihm das Leben in München nicht mehr so facettenreich. Jetzt in Florenz spürte Matteo, wie sehr ihm das vielfältige Leben hier gefehlt hatte. Im Mai hatte er für ein paar Tage seinen Vater besucht. In dieser Zeit war auch Hitler hier gewesen, auf Einladung seines Verbündeten, dem Duce. Was hatte Matteos Vater gegen diesen Besuch gewettert. Er hatte sich geweigert, den beiden Staatsmännern zuzujubeln.

Diese Bilder hatten sich in Matteos Gedächtnis gebrannt. Neben dem prallen, fettglänzenden Gesicht des Duce hatte Hitlers dagegen faltig, fast verhärmt gewirkt. Noch heute stieg Wut in Matteo auf. Rasch verdrängte er die Erinnerungen und überquerte mit weit ausholenden Schritten den Bahnhofsvorplatz. Sein Elternhaus lag nur zwanzig Minuten zu Fuß vom Bahnhof Santa Maria Novella und nur eine Seitenstraße vom Arno entfernt. Morgens konnte er die Schiffe auf dem Fluss hören.

Matteo freute sich, seinen Vater wiederzusehen.

Vor dem Eingang seines Elternhauses blieb er kurz stehen, um es zu betrachten. Er konnte nicht glauben, dass er wieder zu Hause war.

Nur der Karriere wegen hatte Matteo die Heimat verlassen. Nach seinem Studium am hiesigen Konservatorium hatte er sich an vielen Bühnen Italiens beworben, aber immer nur Absagen erhalten. Eine Chance auf ein festes Engagement hatte sich erst durch Eugenio geboten, der an der Münchener Oper gesungen hatte. Auf dessen Drängen hin hatte sich Matteo dort ebenfalls um ein Engagement beworben und war angenommen worden. In den Jahren an der Oper hatte er viel gelernt und sich weiterentwickelt. Der damalige Intendant Anton Holzer hatte sein Talent erkannt und ihn gefördert. Dennoch gehörte Matteo nicht zum Stammensemble der Oper, und sein Vertrag lief zum Jahresende aus. Zeit, sich um ein neues Engagement zu bemühen. So hatte er beschlossen, nach Florenz zurückzukehren und hier sein Glück zu versuchen. Die Münchner Oper als Referenz würde ihm hoffentlich den Weg ebnen. Sein Vater sollte stolz auf ihn sein.

Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete Matteo die Eingangstür. Nichts hatte sich in der väterlichen Villa verändert. Die marmornen Schachbrettfliesen in der Eingangshalle und die Stuckverzierungen an den Wänden und Decken hießen jeden willkommen. In der Mitte der Eingangshalle plätscherte ein Springbrunnen. Matteo ahnte, wo er seinen Vater finden würde. Normalerweise erschien beim Öffnen der Tür Aurelia, die Haushälterin. Heute jedoch kam sie ihm nicht entgegen.

Im Leben seines Vaters Luigi besaß die Musik einen hohen Stellenwert. Er war ein Naturtalent, auch wenn er weder das Konservatorium besucht noch an einer großen Bühne gesungen hatte. Eine Weile war er der Stern eines Laientheaters gewesen. Dann war er Weinhändler geworden und leitete ein Geschäft in Florenz.

Matteo war froh, dass er seine volltönende Stimme und das schauspielerische Talent geerbt hatte.

Als er die Eingangshalle durchquerte, hörte er ihn im hinteren Teil des Hauses ein Lied singen.

„O sole mio.“

Das Lied sang sein Vater gern, wenn er in der Küche hantierte. Kochen war nach der Musik seine zweite Leidenschaft.

Geduldig wartete Matteo, bis er zu Ende gesungen hatte. Noch hatte sein Vater ihn nicht bemerkt, sondern war eifrig damit beschäftigt, Paprika in kleine Stücke zu schneiden, die er anschließend in den dampfenden Topf warf, der auf dem Herd stand. Er war einen Kopf kleiner als Matteo und im fortgeschrittenen Alter untersetzter geworden. Volles, graues Haar schmiegte sich an seinen Kopf und mündete in einen ebenso grauen Vollbart. Früher war es genauso haselnussbraun gewesen wie Matteos. Er zuckte zusammen, als er seinen Sohn bemerkte. Dann strahlten seine Augen.

„Matteo, mein Junge!“ Mit ausgebreiteten Armen kam der Vater auf Matteo zu und drückte ihn an sich. Während der Umarmung klopfte er ihm auf den Rücken.

„Es ist so gut, dass du wieder zu Hause bist. Ich habe dich sehr vermisst, mein Sohn.“

„Ich dich auch, Papa. Aber du kannst mich jetzt wieder loslassen, ich bekomme keine Luft mehr“, scherzte Matteo. Er war froh, als sein Vater den Griff lockerte.

„Es ist wirklich eine Schande, dass du nicht wie ich Sänger geworden bist, Papa. Als Tenor hättest du das Publikum begeistert.“

„Ach.“ Sein Vater winkte ab und widmete sich dem Raspeln der Karotten. „Erzähl mir lieber, wie es mit deiner Gesangskarriere ist.“ Er warf die ersten Karottenstückchen, gefolgt von Zwiebeln, in den Topf.

„Warum kochst du? Ich dachte eigentlich, dass Aurelia das übernommen hat, wo du doch mit dem Weinhandel so viel zu tun hast. Wo steckt sie eigentlich?“

„Aurelia ist zu ihrer schwerkranken Schwester nach Positano gefahren. Außerdem weißt du doch, dass ich niemanden wirklich in meiner Küche dulde. Was macht die Münchner Oper?“

„Mein Vertrag läuft zum Jahresende aus.“

Der Vater hielt mit dem Schneiden inne und blickte ihn besorgt an. „Und dann? Ich dachte, du wärst glücklich in München.“

„War ich ja auch. Aber ich wollte wieder hierher zurück.“

„Ich bin überzeugt, dass du auch hier ein Engagement bekommen wirst.“

Matteo teilte die Zuversicht des Vaters. „Das hoffe ich doch. Soll ich dir vielleicht beim Kochen helfen?“

Empört funkelte der Vater ihn an.

„Das fehlte mir gerade noch. Lass mich mal alleine machen. In einer Stunde ist das Essen fertig. Dir zu Ehren bereite ich dir dein Lieblingsessen zu“, erklärte er lächelnd.

Matteo lief das Wasser im Mund zusammen. Er leckte sich über die Lippen. Die Ravioli seines Vaters waren einzigartig, besonders die in Zitronenbutter geschwenkten. Sein Vater besaß viele Talente. Er konnte nicht nur gut singen und kochen, sondern war ein sehr guter Porträtzeichner. Begabungen, die er nicht zum Beruf gemacht hatte. Seine Zugehörigkeit zu den Kommunisten hatte ihm viele Türen verschlossen.

Bis zum Essen war noch Zeit genug, den Brief bei Eugenios Bruder abzugeben, der nur zwanzig Minuten entfernt wohnte.

„Ich schau noch kurz bei Giorgio Ricci vorbei. Sein Bruder hat mir einen Brief für ihn mitgegeben.“

Für einen Moment trat in die Augen seines Vaters ein seltsamer Ausdruck, der Matteo nachdenklich stimmte.

„Ich kann natürlich auch hierbleiben und etwas auf dem Klavier spielen, wenn dir das lieber ist ...“

„Nein, nein, kein Problem. Geh nur zu Giorgio. Wir essen später zusammen. Aber bleib nicht zu lang.“

Matteo war erleichtert. „Bis nachher, Papa. Ich freue mich sehr auf das Essen.“

„Pass auf dich auf, mein Junge.“

Das hatte sein Vater das letzte Mal zu ihm gesagt, als er sieben gewesen war.

In der Eingangshalle zog Matteo endlich den Brief aus dem Strumpf.

Die Wohnung von Eugenios Bruder befand sich in einer Gasse in der Nähe der Piazza San Marco. Dieser Teil der Stadt besaß viele historische Gebäude und war daher sehr belebt. Matteo begegnete einer Reisegruppe auf dem Weg zur Kirche San Marco.

Die Wohnung Giorgios lag in einem dreistöckigen Renaissancebau unter dem Dach. Kindergeschrei und Gelächter schallten durch die Straße. Kurz beobachtete Matteo zwei Jungen, die zum Vergnügen der Erwachsenen mit einem Jo-Jo spielten.

Matteo war Giorgio bislang nur einmal begegnet. Er hatte kein Interesse an Musik oder anderer Kunst. Bei der ersten Begegnung hatte er sehr verschlossen gewirkt. Von Eugenio wusste er, dass dessen Bruder in einer Fabrik arbeitete. Nachdenklich blickte Matteo auf das Kuvert in seiner Hand. Die elegante und schwungvolle Handschrift gehörte vermutlich einer Frau. Mit keinem Wort hatte sein Freund erwähnt, dass die Angebetete seines Bruders in Deutschland lebte. Überhaupt hatte er nur selten über Giorgio gesprochen. Im Gegenteil, sein Freund wurde immer sehr reserviert, wenn man ihn nach seinem Bruder fragte. Die Suche der Polizisten, der Brief, der Giorgio nur persönlich übergeben werden durfte und dessen Inhalt er nicht kannte, brachten ihn ins Grübeln. Was ging es ihn an, was in diesem Brief stand? Vielmehr hatte er Eugenio versprochen, Giorgio den Brief zu überreichen. Entschlossen öffnete Matteo die Eingangstür und stieg die Treppen hinauf zum Dachgeschoss. Im Treppenhaus roch es stockig, und auf allen Etagen lärmte es. In diesem Haus hätte er es nicht lange ausgehalten. Matteo brauchte Ruhe, um sich auf seine Partien vorbereiten zu können. Unwillkürlich musste er an die hübsche Blinde aus dem Zug denken, die sich offenbar nach Stille gesehnt hatte.

Die Tür zu Giorgios Wohnung war schäbig. Die Zarge wies am Schlüsselblatt Einkerbungen auf, als hätte jemand versucht, sie gewaltsam zu öffnen.

Matteo klopfte an. Zu seinem Erstaunen sprang die Tür knarrend auf.

„Hallo? Giorgio?“

Der Geruch von Wein und Schweiß schwebte in der Luft. In der Wohnung war es stockdunkel. Eugenios Bruder hatte die Fensterläden geschlossen. In der Dunkelheit suchten Matteos Augen vergeblich nach einer Kontur, die die Gegenwart Giorgios verraten hätte.

Plötzlich spürte Matteo jemanden hinter sich und bekam im selben Moment einen Stoß in den Rücken. Hart knallte er auf den Holzboden und schrie. Seine Rippen schmerzten. Als er auf dem Boden lag, kniete sich jemand auf seinen Rücken und hielt seine Arme fest, sodass er sich nicht bewegen konnte.

„Giorgio?“, stieß Matteo keuchend hervor, während er sich bemühte, den anderen abzuwerfen.

„Halt’s Maul!“

„Giorgio, erkennst du mich nicht? Ich bin’s doch, Matteo. Matteo Bianchi.“

Er spürte, wie sich der andere aufrichtete.

„Was willst du, Matteo?“

Matteo rang nach Atem.

„Dein Bruder ... schickt mich. Jetzt geh endlich von mir runter, damit ich mit dir reden kann.“

Warum hatte Giorgio ihn zu Boden gestoßen? Das Verhalten von Eugenios Bruder war befremdlich. Wen hatte er erwartet oder besser befürchtet?

Nach kurzem Zögern ließ Giorgio von ihm ab, sodass er endlich aufstehen konnte. Schritte hallten durch den Raum. Giorgio war zu einem Fenster gegangen und öffnete den Laden einen Spaltbreit. Geblendet vom plötzlich einfallenden Sonnenlicht kniff Matteo kurz die Augen zu, bis er sich daran gewöhnt hatte. Mit angespannter Miene spähte Giorgio durch den Ladenspalt hinaus.

Matteo klopfte den Staub von der Kleidung, bevor er seinem Unmut Luft verschaffte.

„Wirfst du immer gleich jeden zu Boden, der deine Wohnung betritt? Deine Tür war nur angelehnt.“

Giorgio sah noch immer so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Ein knochiges Gesicht mit schmalen Lippen und tiefliegenden Augen. Sein Blick wirkte gehetzt.

„Nur wenn jemand unerlaubterweise meine Wohnung betritt. Du hättest ein Einbrecher oder sonst ein Krimineller sein können. Ist dir jemand gefolgt?“

„Nein. Warum?“

Giorgio antwortete nicht. Vielleicht litt er an Halluzinationen.

Matteo zog den Brief aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn Giorgio.

„Ich bin hier, weil Eugenio mich gebeten hat, dir das persönlich zu überreichen.“

Giorgio nahm ihm den Umschlag aus der Hand, riss ihn auf und zog das Papier heraus. Im Licht erkannte Matteo, dass nur wenige Worte und seltsame Zeichen darauf standen. Mit wütender Miene zerknüllte sein Gegenüber den Brief und pfefferte ihn in eine Ecke.

Das war kein gewöhnlicher Brief. Er erinnerte Matteo mehr an eine verschlüsselte Botschaft. Was mochte Giorgio so verärgert haben?

„Schlechte Nachrichten?“ Prüfend blickte Matteo sein Gegenüber an.

„Vielleicht“, antwortete Giorgio ausweichend und wirkte, als wäre er mit seinen Gedanken weit weg. Matteo verstand sein kauziges Verhalten nicht und hatte auch keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Du hast deine Pflicht und Schuldigkeit getan!

Zu Hause wartete sein Vater mit dem Essen auf ihn, und Matteo wollte ihn nicht enttäuschen.

„Also, wenn du nichts mehr sagen möchtest ... Ich muss wieder zurück. Ciao“, teilte er Giorgio mit.

„Sie werden kommen und uns alle töten.“

„Wen meinst du damit?“

Giorgio antwortete nicht. Er wirkte so geistesabwesend, dass Matteo nicht wusste, ob er seine Worte überhaupt verstanden hatte. Nach einem kurzen Schulterzucken wandte er sich um und verließ die Wohnung. Dennoch beschlich ihn ein ungutes Gefühl.

Kaum trat Matteo aus dem Haus, fiel ihm ein Mann auf, der im Schatten des gegenüberliegenden Hauseingangs stand und zu Giorgios Wohnung hinaufstarrte. Eugenios Bruder wurde beobachtet. Doch weshalb? Hatte Giorgio den Mann auch bemerkt und sich deshalb so seltsam benommen? Der Fremde mit der finsteren Miene in dunklem Anzug und Hut rauchte eine Zigarette. Sein stechender Blick weckte in Matteo erneut ein mulmiges Gefühl, sodass er überlegte, nach oben zu gehen und Giorgio zu warnen.

„Entschuldigung, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“, sprach er den Fremden an.

„Nein, nein, ich warte nur auf einen Freund“, antwortete der freundlich und lüpfte zur Begrüßung seinen Hut.

An der nächsten Straßenecke wandte Matteo sich noch einmal nach ihm um. Der Fremde war verschwunden. Matteo war versucht umzukehren. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Fremde etwas im Schilde führte.

Mit großen Augen hatte Giorgio die Nachricht Eugenios gelesen, aber kein Wort darüber verloren. Nicht einmal ein Dankeschön dafür, dass Matteo die Nachricht mit auf die Reise genommen hatte.

Entschlossen drehte Matteo um und lief zu Giorgio zurück. Kaum dass er das Treppenhaus betreten hatte, waren erstickte Laute von oben zu hören. Gleich zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, eilte Matteo die Treppe hinauf zu Giorgios Wohnung. Schon auf dem ersten Absatz hörte er Geräusche, die auf einen Kampf hindeuteten. Hatte Giorgio den Fremden ebenso beim Eintreten überwältigt wie ihn, oder war er gar selbst zum Opfer geworden?

Dann hallten eilige Schritte über ihm durchs Treppenhaus, und der Mann, der gegenüber am Haus gestanden hatte, hastete an ihm vorbei. Matteo hielt nur kurz inne, und lief dann weiter nach oben ins Dachgeschoss. Die Tür zu Giorgios Wohnung stand sperrangelweit offen. Drinnen war ein Stöhnen zu hören. Als Matteo die Wohnung betrat, sah er sofort den am Boden liegenden Giorgio. Er kniete sich neben ihn.

„Giorgio, wer war das? Was ist geschehen?“

Besorgt schaute er Eugenios Bruder ins Gesicht. Der blutete aus der Nase.

„Einer von der faschistischen Partei.“ Mit dem Handrücken wischte Giorgio sich das Blut von der Oberlippe.

Matteo zog aus seiner Hosentasche ein Taschentuch und reichte es ihm.

„Was wollte er von dir?“, hakte er nach.

Giorgio zuckte mit den Achseln.

„Hat die Nachricht, die ich dir gebracht habe, was damit zu tun?“

Einen flüchtigen Moment lang glaubte Matteo ein wachsames Aufblitzen in Giorgios Augen zu sehen, bis sein Blick sich wieder verschloss.

Giorgio winkte ab. „Nein!“

„Wir sollten die Polizei rufen ...“

„Nein! Keine Polizei!“, rief Giorgio vehement dazwischen.

Warum sträubte sich Giorgio dagegen? Matteo hatte das Gefühl, dass Giorgio mehr wusste, als er zugab.

„Die würde mir sowieso nicht glauben.“

„Das ist doch Unsinn. Du hast einen Zeugen. Mich“, widersprach Matteo und erntete nur wieder ein Kopfschütteln.

„Keine Polizei“, beharrte Giorgio und hob abwehrend die Arme.

Fragend sah Matteo ihn an. Weshalb sträubte sich sein Gegenüber so sehr gegen diesen Gedanken?

„Der ist schon längst über alle Berge.“

„Hat er etwas gestohlen?“, fragte Matteo. Giorgio schüttelte den Kopf. Sein Lächeln wirkte bemüht.

Matteo gab es auf, den Mann zu überreden. Er zweifelte daran, dass es sich um einen Einbrecher gehandelt haben könnte. Sein Blick fiel in die Ecke des Zimmers, in die sein Gegenüber vorhin die zusammengeknüllte Nachricht hingeworfen hatte. Die Papierkugel war fort. Hatte der Fremde sie vielleicht mitgenommen? Giorgio verschwieg etwas Wichtiges.

„Also gut. Ich werde die Carabinieri nicht rufen. Verriegle deine Wohnungstür.“ Er deutete auf die Kette an der Tür.

Giorgio nickte.

Nachdenklich kehrte Matteo zum Haus seines Vaters zurück. Sie werden kommen und uns alle töten. Wen hatte Giorgio damit gemeint? Was hatte zu der handgreiflichen Auseinandersetzung geführt? Was mochte das gewesen sein? Matteo fiel nur die Nachricht ein, die er Giorgio im Auftrag seines Bruders überreicht hatte.

„Du kommst gerade recht, das Essen ist fertig.“ Wie immer, wenn sein Vater sich wohlfühlte, sang er die Worte, während er Teller und Besteck nach nebenan in den kleinen Salon trug. Er hätte sich jederzeit neben Aurelia einen Koch oder eine Köchin leisten können, aber es bereitete ihm viel Spaß, selbst Essen zuzubereiten.

„Zur Feier des Tages deiner Rückkehr!“ Sein Vater hob eine Flasche eines seiner besten Weine hoch und strahlte ihn an.

Gemeinsam setzten sie sich an den Tisch und genossen das Essen. Beim Dessert musste Matteo von seiner Zeit in München und seiner Reise berichten. Er ließ kein Detail aus.

Sein Vater tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.

„Diese blinde Frau scheint dich ja sehr beeindruckt zu haben.“

„Sie hatte eine geheimnisvolle Aura.“

„Frauen mit einem Geheimnis sind besonders interessant. Wirst du sie wiedersehen?“

Matteo schüttelte den Kopf. „Nein, Papa. Ich habe ihr ein gemeinsames Musizieren angeboten. Aber sie schien wenig begeistert davon zu sein.“

„Hm, schade. So hättet ihr euch näher kennenlernen können. Sie wird sicher ihre Gründe dafür gehabt haben. Wann triffst du dich mit deinen Freunden zum Musizieren?“

„Ich denke, ich werde morgen oder übermorgen Abend zu ihnen fahren. Ich freue mich schon sehr darauf.“

Matteo würde mit dem Bus in ein kleines Bergdorf nahe Florenz am Südrand der apuanischen Alpen fahren. Es bestand aus einem Dutzend Bauernhöfen und Weilern. In einem der Bauernhäuser betrieb eine befreundete Familie eine Musikschule. Er dachte gern an die Zeit mit ihr zurück. Das zwanglose Musizieren am Abend hatte ihm in München gefehlt.

Zur selben Zeit in Florenz

Vorsichtig tastete sich Florentina mithilfe ihres Langstocks auf dem Bahnsteig entlang. Sie war in Florenz. Einen Moment blieb sie stehen und atmete tief ein. Jeder Ort besaß einen eigenen Geruch.

„Florentina!“ Als sie Giannas Stimme hörte, hüpfte ihr Herz vor Freude. Sie blieb stehen und wartete auf ihre Cousine.

Gianna umarmte sie stürmisch und gab ihr einen herzhaften Kuss auf die Wange.

„Wie schön, dass du endlich da bist. Ich habe die letzte Nacht vor lauter Aufregung kein Auge zugemacht. Wo ist Violetta?“ Gianna klang ein wenig enttäuscht.

„Sie musste mit ihrem Verlobten Hans nach England fliehen. Er ist Jude.“

„Großer Gott, wie schrecklich! Ist das nicht der sympathische Komponist, der damals deinen Eltern eine neu komponierte Operette vorgestellt hat?“

Gianna besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

„Ja, genau. Meine Eltern hatten sich dazu entschieden, die Uraufführung in unserem Theater zu präsentieren. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen. Werke von Juden dürfen nicht mehr aufgeführt werden, und die Nazis haben unser Theater kontrolliert.“