Das Theater am Park – Melodie der Träume - Valentina May - E-Book

Das Theater am Park – Melodie der Träume E-Book

Valentina May

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Beschreibung

Hannover 1936: Die junge Sängerin Violetta leitet mit ihrer Mutter das renommierte Theater am Park. Als sie dabei den jüdischen Komponisten Hans trifft, verliebt sie sich in ihn und möchte mit ihm das Theater in die Zukunft führen. Doch dann wird ihre Beziehung durch die Nationalsozialisten entdeckt und sie müssen fliehen - und nur Violetta kommt in England an. Ihre besorgte Familie drängt sie, in London zu bleiben, da ihr sonst die Verhaftung droht. Um zu überleben, singt Violetta auf der Straße und lernt dabei den sympathischen Pianisten Brian kennen, der ihr in der dunklen Zeit ein guter Freund wird. Bald merkt sie, wie viel mehr Brian ihr bedeutet - aber haben sie eine Zukunft? Denn ihr Herz sehnt sich zurück zum Theater und zu Hans ...

Band 2 der mitreißenden Familiensaga um das Theater am Park in Hannover.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Zitat

3. März 1936

6. Mai 1936, Grafschaft Kent

8. Mai 1936

3. Juli 1936

8. Juli 1936

21. August 1936

3. September 1936

10. Oktober 1936

1. Februar 1937

4. März 1937

Am selben Tag in Hannover

5. März 1937

Am selben Tag in Hannover

2. September 1937

4. November 1937

1. Februar 1938

Am selben Abend

14. Februar 1938

15. April 1938

22. April 1938

3. Mai 1938

2. August 1938

2. Oktober 1938

9. November 1938

In derselben Nacht

15. November 1938

16. November 1938 in den frühen Morgenstunden

18. November 1938

15. Dezember 1938

20. Dezember 1938

23. Dezember 1938

25. Dezember 1938

16. März 1939

30. Juni 1939

10. Juli 1939

12. Juli 1939

Am selben Tag

16. Juli 1939

18. Juli 1939

23. Juli 1939

19. August 1939

Am selben Tag

1. September 1939

8. September 1939

Zur selben Zeit

12. September 1939

Am selben Tag

15. Oktober 1940

17. Oktober 1940

4. Mai 1941

16. Juli 1945

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Hannover 1936: Die junge Sängerin Violetta leitet mit ihrer Mutter das renommierte Theater am Park. Als sie dabei den jüdischen Komponisten Hans trifft, verliebt sie sich in ihn und möchte mit ihm das Theater in die Zukunft führen. Doch dann wird ihre Beziehung durch die Nationalsozialisten entdeckt und sie müssen fliehen – und nur Violetta kommt in England an. Ihre besorgte Familie drängt sie, in London zu bleiben, da ihr sonst die Verhaftung droht. Um zu überleben, singt Violetta auf der Straße und lernt dabei den sympathischen Pianisten Brian kennen, der ihr in der dunklen Zeit ein guter Freund wird. Bald merkt sie, wie viel mehr Brian ihr bedeutet – aber haben sie eine Zukunft? Denn ihr Herz sehnt sich zurück zum Theater und zu Hans ...

Die Musik muss immer ein Sehnen enthalten,ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus.

Gustav Mahler

3. März 1936

Sie konnte sich kaum noch an ihre Omi erinnern. Im Laufe der Zeit waren ihre Züge in ihrem Gedächtnis immer mehr verblasst.

»Wir vermissen dich sehr.«

Violetta tupfte mit ihrem Spitzentaschentuch eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie sich hinabbeugte und die gepflückte Christrose vor der Familiengruft ablegte. Florentina und sie waren erst sieben gewesen, als Großmutter Ilse für immer von ihnen gegangen war. Sie erinnerte sich noch gut an die spindeldürre Frau mit den weißen Haaren, die kunstvoll in einer geflochtenen Hochsteckfrisur zusammengefasst waren.

Herrgott, wie hatte sie ihre Omi geliebt, die stets sanft und gütig gewesen war. Die Großmutter hatte oft gehustet, gleichgültig ob es warm oder kalt gewesen war. Im feuchten Winter kurz vor ihrem Tod war es besonders schlimm gewesen. Fieber und Husten hatten die alte Dame ans Bett gefesselt. Die Eltern hatten Violetta und ihrer Zwillingsschwester Florentina verboten, das Zimmer der Großmutter zu betreten. Heimlich hatten sie sich dennoch hineingeschlichen, um bei ihr zu sein. Erst viel später war ihr die große Ansteckungsgefahr bewusst geworden und wie sorglos sie und Florentina damit umgegangen waren.

Seit dem Tod der Großmutter war eine halbe Ewigkeit vergangen. Vieles hatte sich verändert, in Violettas Leben, in Deutschland und in Hannover. Das Kaiserreich gehörte ebenso der Vergangenheit an wie die Republik mit Reichskanzler Ebert. Jetzt regierten der Führer und seine Nationalsozialisten Deutschland.

»Mach's gut, Omi.« Nachdenklich und traurig zugleich verließ Violetta den Friedhof Engesohde.

Als sie das schmiedeeiserne Friedhofstor erreichte, schlug die Kirchturmuhr drei Mal. Sie musste sich beeilen. Schließlich hatte sie ihrer Mutter versprochen, pünktlich bei der Probe zuzuhören. Violetta eilte zum Ausgang.

Als sie den Central-Bahnhof erreichte, wurde ihr Blick von dem neuen Straßenschild angezogen, das in der Frühlingssonne aufleuchtete. Violetta schüttelte den Kopf. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass die Namen einiger Straßen und Plätze geändert worden waren. Köchin Justine hatte sich schon oft darüber aufgeregt. Die altvertraute Bahnhofstraße war in Adolf-Hitler-Straße umbenannt worden. Adolf Hitler! Ihr Vater war kein Freund des Führers. Drill und Kadavergehorsam waren ihm zuwider. Deshalb besaß er noch immer die Schweizer Staatsbürgerschaft. Auch Violetta und Florentina hatten einen Schweizer Pass. Zum Glück, denn sonst hätten sie in den Bund deutscher Mädel eintreten müssen. Lieber wollten sie bei den Eltern im Theater sein.

Violetta folgte der Straße am Ufer des Maschsees und beobachtete ein schwimmendes Schwanenpärchen. Über ihr wölbte sich der blaue Himmel. Doch hinten am Horizont zogen graue Wolken herauf. Auch wenn sie den See mochte, vermisste sie dennoch manchmal die Maschwiesen, auf denen sie an so manchem Sommertag ein Picknick genossen hatten. Auf Hitlers Befehl war das grüne Erholungsgebiet dem See gewichen.

Violetta eilte an der Löwenbastion vorbei. Sie mochte diese Skulpturen mit den grimmigen Gesichtern nicht. Keiner in ihrer Familie konnte sie ausstehen. Selbst die blinde Florentina hatte beim Betasten die Nase gerümpft.

Ihr Weg führte quer durch die Stadt zum Platz am Neuen Haus, wo sich das elterliche Theater befand. Eine Böe wirbelte den feinen Schnee von den Bäumen und ließ ihn auf sie herabrieseln. Die winzigen Eiskristalle verfingen sich in ihrem schwarzen Haar. Sie trug keinen Hut, weil sie es nicht mochte. Als die Sonne hinter einer Wolke verschwand, zog sie fröstelnd den Kragen enger. Kurz darauf begann es zu schneien. Violetta fluchte, denn die Sohlen ihrer Stiefel waren viel zu dünn. Neue konnte sie sich nicht leisten.

Auf dem Fußweg vor dem Krankenhaus Siloah war es glatt. Obwohl Violetta vorsichtig schritt, geriet sie immer wieder ins Rutschen. Mehrmals musste sie die Arme ausbreiten, um das Gleichgewicht zu halten. Die Schicht Pulverschnee auf dem Eis war trügerisch. Weil die Zeit drängte, schritt sie schneller voran und rutschte prompt aus. Hart knallte sie mit dem Gesäß auf den Boden. Violetta schrie vor Schmerz auf. Einen Moment lang blieb sie sitzen, bis sie den Schock überwunden hatte. Langsam drehte sie sich auf die Knie und blickte auf eine Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Dankbar ergriff sie diese und ließ sich von dem Fremden hochhelfen.

»Haben Sie sich wehgetan, Fräulein?« Der warme Klang der Männerstimme kam ihr bekannt vor. Violetta sah auf und glaubte zu träumen, als sie Hans Brünn, ihrem heimlichen Schwarm vom Konservatorium, gegenüberstand. Sein gutgeschnittenes Gesicht war von dunkelbraunen Locken umrahmt. Ein Lächeln glitt über seine Lippen und offenbarte Grübchen. Dass ausgerechnet er es war, der ihr aus dieser peinlichen Lage helfen wollte, war ihr unangenehm. Beschämt senkte Violetta den Blick, denn sie hatte ihn schon viel zu lange angestarrt. Alle jungen Frauen am Konservatorium Akazienstraße schwärmten für den begabten jungen Komponisten mit den sanften braunen Augen.

»Nein, nur ein bisschen. Geht schon wieder. Vielen Dank!« Dass es nur ein bisschen schmerzte, war gelogen. Sie wollte aber nicht vor ihm jammern. Violettas Herz wechselte von Allegro zu Presto.

»Darf ich Sie ein Stück begleiten?« Hans Brünn bot ihr seinen Arm an. Er war unter den Studierenden beliebt wegen seiner guten Manieren. Wie gut er aussah! Einen Moment lang überlegte sie, ob er sie vielleicht erkannt haben könnte. Doch nichts in seiner Miene verriet es. Violetta war versucht, sich bei ihm unterzuhaken. Doch als sie so vor ihm stand, begann sie zu zittern und ging lieber auf Abstand. Er war sehr schlank und nur eine halbe Handbreit größer als sie. Sie mochte es, einem Mann auf gleicher Höhe in die Augen schauen zu können.

»Das ist zwar sehr nett von Ihnen, aber ich bin leider sehr in Eile.« Violetta schritt voran. Er holte sie ein.

»Ich möchte nicht, dass Sie noch einmal stürzen.«

Wie aufmerksam von ihm. Wie ihr Vater, der ihre Mutter stets fürsorglich behandelt hatte. So sollte auch ihr Auserwählter sein.

Als er sie ansah, stutzte er.

»Ich glaube, wir kennen uns.«

»Ja, Herr Brünn«, antwortete sie lächelnd.

Er räusperte sich.

»Fräulein ...«

Violetta war enttäuscht.

»Violetta Schwarz.« Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie er rot anlief. Obwohl sie sich öfter im Konservatorium begegnet waren, schien er sie nicht wirklich bemerkt zu haben. Oder wollte er das nur nicht zugeben? Im Gegensatz zu anderen männlichen Studenten, die ihr reihenweise zu Füßen gelegen hatten.

»Bitte verzeihen Sie, Fräulein Schwarz, dass mir Ihr Name nicht gleich eingefallen ist.« Er deutete eine leichte Verbeugung an. »Violetta. So heißt doch die Heldin aus La Traviata, oder?«

Forschend blickte sie ihm ins Gesicht. »Sie sind Pianist. Ich kenne Sie aus dem Konservatorium.«

»Ja ... ja auch. Aber eigentlich ... bin ich Komponist.«

»Jetzt erinnere mich, Sie haben vor über einem Jahr bei einer Aufführung im Konservatorium ein selbst komponiertes Stück gespielt. Komponieren Sie denn zurzeit etwas?« Violetta war gespannt, was er ihr darauf antworten würde. Sie erinnerte sich noch gut an das Hauskonzert der Studierenden, initiiert von einem der Professoren. Hans Brünn hatte nicht nur fantastisch gespielt, sein selbst komponiertes Klavierstück hatte sie berührt. Etwas melancholisch war es vielleicht. Doch die eingängige Weise hatte sie und alle anderen mitgerissen.

»Ich schreibe an einer Operette.« Wieder färbte sich sein Teint rot vor Verlegenheit. »Jetzt, da wir uns bewusst sind, dass wir uns kennen, darf ich Sie doch sicher begleiten?«

»Aber gern.«

Er lächelte erleichtert. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher. Violetta wollte alles über ihn wissen. Nur ihre gute Erziehung hinderte sie daran, ihn nach seinem Privatleben auszufragen.

»Was ist denn das für eine Operette, die Sie komponieren?«, brach sie nach einer Weile das Schweigen.

»Ich möchte nicht zu viel verraten, nur dass sie im Orient spielt.« Grob umriss Hans Brünn die Hintergrundgeschichte. Begeisterung sprach aus seinen Worten. Offensichtlich steckte viel Herzblut in der Komposition. Violetta hätte ihm ewig zuhören können. Alles, was er sagte, war aufregend und interessant. Eine Operette mit einem orientalischen Schauplatz war neu, exotisch und geheimnisvoll. Das Werk könnte etwas für das elterliche Theater sein, um mehr Besucher in die Vorstellungen zu locken. Seit geraumer Zeit suchte ihre Mutter händeringend nach neuen, frischen Ideen. Die Theater kämpften ums Überleben, denn immer mehr Zuschauer strömten in die populären Lichtspielhäuser. Für weniger Geld sahen sie einen Film und vorher die beliebte Wochenschau. Doch Violetta war davon überzeugt, dass die Zeit der Theater nicht vorbei war. Sie beschloss, ihrer Mutter den jungen Komponisten vorzustellen.

Die Zeit war wie im Flug vergangen. Schon standen Violetta und ihr Begleiter vor dem elterlichen Theater.

»Jetzt haben Sie mich doch tatsächlich bis zum Ziel begleitet. Ich hoffe, Sie haben deshalb keine Unannehmlichkeiten.«

Sie hatte seine Gesellschaft genossen. Hans Brünn antwortete nicht, sondern schaute nur interessiert zum Theater hinüber. Violetta war enttäuscht. Sie hatte gehofft, dass er etwas Nettes antworten würde.

»Das Theater am Park«, sagte er sehnsüchtig.

Wie ihre Eltern liebte auch sie dieses Theater, das seit Generationen ihrer Familie gehörte.

Krähen schwangen sich kreischend vom Dach des Gebäudes in die Lüfte, als sie näher kamen, und flatterten zum Stadtwald Eilenriede. Der Schnee auf Dach, Geländer und Pilastern verlieh dem architektonisch verspielten Gebäude etwas Märchenhaftes. Hier hatte sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester viele glückliche Stunden verbracht. In den langen Korridoren und Requisitenräumen hatten sie und Florentina oft Verstecken gespielt.

»Hier konnte ich für eine Weile in eine andere Welt eintauchen und alles Schreckliche vergessen«, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Genauso empfand Violetta es auch.

»Sie kennen das Theater, Herr Brünn?«

»Leider nein. Als Kind war ich mal mit meinem Vater bei einer Aufführung. Ich glaube, es war die Zauberflöte. Das hat mir sehr gut gefallen. Die bunten, fantasievollen Kulissen und Kostüme. Doch am meisten die Leichtigkeit von Mozarts Komposition. Seitdem träume ich vom Komponieren.« Der schwärmerische Ausdruck in seinen Augen bestärkte Violetta darin, ihn und sein Werk den Eltern vorzustellen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sein Werk gut war.

»Welch netter Zufall, dass Sie im richtigen Augenblick vorbeigekommen sind, um mir aufzuhelfen.« Sie zwinkerte ihm zu. Doch Hans Brünn schien auch diese Anspielung nicht zu verstehen, sondern sah sie fragend an. Violetta konnte sich bei seiner Miene ein Lächeln nicht verkneifen.

»Sonst wären Sie nicht in den Genuss gekommen, unser Theater zu sehen. Meine Mutter ist die Intendantin.«

Seine Augen leuchteten.

»Schwarz! Natürlich!« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Dann ist Ihre Mutter die berühmte Sopranistin Leonora Schwarz? Und Ihr Vater ... Roman Schwarz, der im vergangenen Jahr bei der Gala an der Mailänder Scala den Rudolfo gesungen hat? Das ist ja unglaublich!« Hans Brünn drehte sich strahlend im Kreis. »Ich würde sie so gern kennenlernen.«

»Das können Sie gleich haben. Meine Eltern sind immer auf der Suche nach neuen Talenten.« Sie fasste ihn am Arm, doch er schüttelte den Kopf.

»Offen gestanden kommt mir das ein wenig zu überraschend. Darauf bin ich nicht vorbereitet, Fräulein Schwarz. Außerdem ist meine Operette noch gar nicht fertig. Ich könnte nichts präsentieren.«

Violetta wollte ihn nicht so schnell gehen lassen.

»Sie haben doch bestimmt wenigstens eine Szene fertig, oder?«, bohrte sie nach. Schon bei den ersten Takten erkannten ihre Eltern das Potenzial und trafen eine Entscheidung.

»Ja, schon ... Aber ich bleibe dabei. Wenn meine Operette fertig ist, wäre es mir eine große Ehre, sie Ihren Eltern vorstellen zu dürfen.«

Violetta spürte, dass sie ihn nicht zu mehr überreden konnte. Er trat einen Schritt zurück und wollte sich umdrehen. Aber Violetta wollte den bescheidenen und schüchternen Komponisten näher kennenlernen.

»Schade. Aber ich möchte Sie wenigstens vorher mit meinen Eltern bekanntmachen.«

Hans Brünn zögerte mit der Antwort. Er schien abzuwägen, ob er ihrem Angebot folgen oder lieber gehen sollte.

»Also gut«, gab er schließlich nach und begleitete Violetta ins Theater.

»Wunderbar!« Staunend blickte Hans Brünn zum Deckengemälde im Theaterfoyer hinauf. Es machte Violetta noch ein wenig stolzer, als sie die Bewunderung in seinen Augen las. Sie konnte es kaum erwarten, was ihre Eltern zu ihm sagen würden. Ihr lag viel an deren Urteil.

»Hier entlang, Herr Brünn.« Violetta führte ihn durch den halbdunklen Korridor an den Requisiten vorbei, bis sie vor dem Intendantenzimmer standen. Drinnen waren die gedämpften Stimmen der Eltern zu hören.

Sie klopfte an die Tür, und auf ein »Herein!« ihres Vaters traten sie und Hans Brünn ein.

Ihre Eltern verstummten, als sie den jungen Komponisten an ihrer Seite bemerkten, und warfen sich erstaunte Blicke zu. Ihre Mutter trug wie immer ein wadenlanges rostrotes Kostüm, das wunderbar mit ihrem kastanienbraunen Haar harmonierte, in das sich so manche graue Strähne eingeschlichen hatte. Die Kleidung ihres Vaters war salopper, mit Hemd und Anzughose und darüber einer Lederjacke. Seit zwei Jahren frönte er zum Ärger ihrer Mutter einer zweiten Leidenschaft, dem Motorradfahren. Er war stolzer Besitzer einer DKW. Violetta fand sein Faible aufregend.

»Hallo Mutti, hallo Vati!« Sie begrüßte beide mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange. »Ich möchte euch gern Herrn Brünn vorstellen.« Strahlend zeigte sie auf ihren Begleiter, davon überzeugt, dass er mit seiner unaufdringlich charmanten Art die Herzen ihrer Eltern im Sturm erobern würde. Als sie den Gruß nicht erwiderten, blickte Violetta unsicher von einem zum anderen. Solch ein distanziertes Verhalten kannte sie von ihnen nicht. Das war ihr in Gegenwart Hans Brünns mehr als unangenehm. Fragend blickte Violetta ihren Vater an, der meist offener und nachgiebiger war als die Mutter.

»Guten Tag, Herr ...« Ihr Vater trat auf den Komponisten zu und reichte ihm die Hand.

»Brünn. Hans Brünn.« Sie spürte Hans Brünns Unsicherheit. Die Atmosphäre war geladen und kratzte auf ihrer Haut wie grobe Wolle. Der Blick ihrer Mutter ruhte noch immer kritisch auf ihrem Begleiter. Sie bereute bereits, Hans Brünn überredet zu haben, ihre Eltern kennenzulernen.

»Sind Sie etwa mit Professor Brünn im Krankenhaus Siloah verwandt?«, fragte ihre Mutter mit ernster Miene. Erstaunt sah Violetta sie an.

»Ja, das ist er. Sie kennen ihn?« Wer war dieser Professor Brünn? Wenn sein Vater dort arbeitete, würde es erklären, weshalb sie Hans vor dem Krankenhaus begegnet war. Die reservierte Miene ihrer Mutter verhieß nichts Gutes.

»Herr Brünn ist Komponist.« Violetta spürte, dass das Gespräch in eine falsche Richtung lief. Es war eine blöde Idee gewesen, ihn ins Theater zu bitten. Doch so schnell gab Violetta nicht auf.

»Er komponiert eine Operette. Mit einem exotischen Schauplatz«, fügte sie hastig hinzu und hoffte, dass den Eltern die Idee ebenso gut gefiel wie ihr. Die Miene ihrer Mutter war unergründlich. Ihr Vater fasste sich als Erster.

»Ein Komponist. Darf ich fragen, ob von Ihnen schon ein Werk uraufgeführt wurde?«

Die Wangen des jungen Komponisten färbten sich rot.

»Nun ja, ich habe ...«

»Am Konservatorium«, fiel Violetta ihm ins Wort. »Eine Klaviersonate. Ein wunderbares Stück, das alle begeistert hat. Ihr erinnert euch doch noch an unser Abschlusskonzert?«

»Ja, ja, natürlich«, versicherte ihre Mutter eine Spur zu hastig.

Da berichtete Hans Brünn von seinen Kompositionen. Mit seiner bescheidenen Art schien er ihre Eltern langsam zu gewinnen. Es entspann sich eine interessante Konversation zwischen ihnen.

»Vati, Mutti, was haltet ihr davon, wenn Herr Brünn euch seine Operette vorstellt, sobald sie fertig ist?«

Die Reaktion der Eltern blieb trotz der harmonischen Unterhaltung verhalten. Violetta konnte nicht fassen, dass sie keinerlei Interesse an seiner Operette zeigten. Hans Brünn hatte am Konservatorium sein großes Talent bewiesen und eine Chance verdient.

»Nun, wir werden sehen. Wenn Sie mit Ihrem Werk fertig sind, kommen Sie wieder auf uns zu, Herr Brünn.«

Violetta war über den Vorschlag ihrer Mutter erleichtert. Wenigstens hatten sie ihn nicht brüsk abgewiesen. Ihr entging nicht der kritische Blick des Vaters, der zwischen ihr und dem Komponisten wechselte.

»Vielen Dank. Es ist mir eine Ehre, Ihnen mein Werk in naher Zukunft vorstellen zu dürfen.«

Hans Brünn verneigte sich lächelnd. »Ich muss mich jetzt leider von Ihnen verabschieden. Ich habe noch eine Verabredung mit einem Freund. Die Aussicht, Ihnen mein Werk irgendwann vorspielen zu können, beflügelt mich. Adieu.«

»Adieu«, antworteten Violetta und ihre Eltern.

Der schnelle Abschied enttäuschte Violetta aufs Neue.

Kaum hatte er den Raum verlassen, trat ihr Vater mit strenger Miene auf sie zu. Violetta war sich keiner Schuld bewusst. Überhaupt verstand sie nicht, wie der Besuch des jungen Komponisten bei ihren Eltern für eine Verstimmung sorgen konnte.

»Warum habt ihr euch so unhöflich gegenüber Herrn Brünn verhalten?«, kam sie ihrem Vater zuvor. »Er ist ein begabter Komponist. Davon konnte ich mich selbst überzeugen.«

Geräuschvoll sog ihre Mutter die Luft ein, bevor sie und der Vater Blicke tauschten.

»Mir hat nicht gefallen, wie du ihn angesehen hast, Violetta. Du musst lernen, deine Gefühle nicht so offen zur Schau zu stellen.«

Erschrocken sah sie ihren Vater an. Gerade er verlangte doch immer von ihr, dass sie mehr Gefühl zeigen sollte, damit sie es auch auf der Bühne dem Publikum vermitteln konnte.

»Aber Vati ...«

Dass er die Brauen zusammenzog, ließ sie verstummen.

Noch immer war er ein überaus gutaussehender Mann. Als Vater zeigte er sich stets allem Neuen gegenüber aufgeschlossen und verständnisvoll. Deshalb fand sie sein Verhalten inakzeptabel.

Sein Vorwurf ließ sie schlucken. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. War ihr so deutlich anzusehen, dass Hans Brünn ihr gefiel?

»Ich habe ihn nur höflich und respektvoll angesehen. Und interessiert«, widersprach sie. »Vielleicht könnte seine Operette mehr Zuschauer in unser Theater locken.«

»Du kannst uns nichts vormachen. Da ist mehr als nur Sympathie.« Die Rüge ihrer Mutter war zwar berechtigt, aber Violetta war noch immer verärgert und enttäuscht.

»Und wenn schon! Du, Vati, hast mir immer gesagt, dass ich meine Gefühle zeigen soll.«

Ihr Vater fasste sie an den Schultern und sah sie eindringlich an.

»Ja, das habe ich. Aber es ziemt sich nicht, einen Mann derart ungeniert anzuhimmeln. In diesem Land wird man bestraft, wenn man sich mit einem Mann mit jüdischen Wurzeln einlässt.«

»Ja und? Das sind Menschen wie du und ich. Du findest es doch auch nicht gut, wie die Nationalsozialisten mit den Juden umgehen. Wir sind doch Schweizer. Die Gesetze gelten nicht für uns.«

»Wir wollen keinen Ärger mit der Polizei oder der Gauleitung, und du besser auch nicht.« Violetta rollte mit den Augen. Sie wusste, dass sie an Dr. Armin Mahler dachten, den stellvertretenden Gauleiter. Bei allem gaben ihre Eltern immer ihm die Schuld. Was war in der Vergangenheit zwischen ihnen geschehen?

Ihre Eltern sprachen nie über Mahler. Er war der Mäzen des hiesigen Opernhauses.

»Ihr denkt an diesen Mahler, nicht wahr? Welches Interesse sollte er daran haben, uns zu schaden? Er kann doch unserem Theater nichts anhaben. Es zählt zu den besten der besten im ganzen Norden.«

Mit ernster Miene trat ihr Vater auf sie zu. Eine Strähne fiel ihm in die Stirn, die er mit einer unwirschen Handbewegung nach hinten strich.

»Unterschätze nie seinen Einfluss!«

»Das tue ich nicht!«

»Herr Brünn ist sicher sehr nett. Aber du musst uns auch verstehen, Violetta ... Wenn du dich mit ihm anfreundest, hast du Repressalien zu erwarten. Brünn ist sicher längst im Visier der Nazis. Sein Vater ist ein bekannter Arzt, und er hat mir damals erzählt, dass seine Frau Halbjüdin ist.« Ihre Mutter streckte die Hand nach ihr aus. Violetta war von ihr enttäuscht und wich einen Schritt zurück.

»Mutti, ich weiß, was ich tue.«

»Es ist besser, wenn du ihn nicht wiedersiehst.«

»Das kannst du mir nicht verbieten, Vati!« Violetta war außer sich. Sie wollte Hans Brünn unbedingt wiedersehen.

»Doch. Weil ich dich beschützen muss.«

»Doch nicht etwa vor Mahler?« Dr. Mahler war zu ihr immer sehr höflich gewesen.

Was mochte zwischen ihren Eltern und Mahler nur vorgefallen sein? Das Gesicht der Mutter wurde sehr ernst.

»Du kennst Mahler nicht. Er ist zu allem fähig. Er hat den Ruf unserer Familie in den Schmutz gezogen.«

Das verschlug Violetta einen Moment lang die Sprache. Dann wollte sie alles wissen und löcherte die Eltern.

Ihre Mutter erzählte ihr von den Verdächtigungen Mahlers, dass ihr berühmter Vorfahr Frederik von Uhlenberg die Schuld am Tod einer Frau trüge. Kein Detail ließ sie aus, auch nicht, dass der ehemalige Gönner des Theaters, Bruno von Edel, sich Mahler angeschlossen hatte.

Erschüttert lauschte Violetta den Ausführungen ihrer Mutter. Jetzt sah sie Mahler in einem anderen Licht.

»Und du hast Frederiks Komposition nie gefunden, Mutti?«

»Leider nein.«

»Und was ist mit der Familienvilla?«

»Die nutzt die NSDAP für irgendwelche Parteiversammlungen.« Es war ihrer Mutter deutlich anzumerken, wie sehr sie das erzürnte.

Als Anton Holzer, der ehemalige Intendant des Opernhauses, wieder in seine Heimat Bayern zurückgekehrt war, hatte er sie an die NSDAP vermietet, bevor ihre Eltern eine Chance hatten, sie zurückzukaufen.

»Mahler hat die Villa extra dem Gauleiter für Versammlungen empfohlen, um uns zu ärgern. Und er hat Beziehungen ganz nach oben. Wenn die Nationalsozialisten herausfinden, dass wir Juden, Roma und Homosexuelle unterstützen, hätten sie einen Grund, unser Theater zu schließen. Begreifst du nun, weshalb wir dich bitten, vorsichtig zu sein?«

»Ja, Vati.« Doch ihr Herz wünschte sich etwas anderes.

»Unser Theater wird sicher beobachtet.«

Hans Brünn war nicht berühmt und für die Nationalsozialisten deshalb uninteressant. Und sie war keine Deutsche, sondern Schweizerin. Für sie galten die Gesetze nicht. Aber du lebst in Deutschland!

Zweifel begannen an ihr zu nagen. In der Nachbarschaft lebten einige Juden. Sie waren rechtschaffene, hilfsbereite Leute, gingen regelmäßig in die Synagoge. Wenn sie sie auf der Straße traf, waren sie stets freundlich. Hannah Simonsohn, die Tochter des Metzgers gegenüber, war Ballerina am elterlichen Theater und mit Florentina befreundet. Alles schien wie immer zu sein, und doch hatte sie neulich die Gravur an einer Bank gesehen: Nicht für Juden. Wie konnte es sein, dass Juden ausgegrenzt wurden?

6. Mai 1936, Grafschaft Kent

Satzball!«

Brian holte aus und schmetterte mit dem Tennisschläger den Ball übers Netz in die Außenecke des Aufschlagfeldes, sodass seine Gegnerin Lady Rowena Southerland ihn nicht erreichen konnte.

»Ich gebe auf. Du hast mich mal wieder geschlagen, mein Lieber!«, rief Rowena und schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. Brian ignorierte es. Rowena war die einzige Tochter von Freunden seiner Eltern. Sie kannten sich seit der Kindheit. Sie war nett, humorvoll und unkompliziert. Dennoch sah er in ihr nicht die Frau seines Lebens, wie es sich ihre und seine Eltern erhofften. Jeder fand, dass sie das perfekte Paar abgeben würden. Es gab nichts an ihr auszusetzen, nur dass Rowena sich, außer für Gassenhauer, nicht für Musik interessierte. Sie war unmusikalisch, spielte kein Instrument. Wenn sie in der Kirche mitsang, dann völlig schräg. Doch sie konnte den ganzen Tag die Schlager von Fred Astaire hören. Nichts für ihn. Als leidenschaftlicher Pianist schwärmte Brian von klassischen Werken. Ein paar Mal hatte er Rowena zu klassischen Konzerten eingeladen. Doch sie hatte jedes Mal mit einer fadenscheinigen Begründung abgesagt.

»Ich würde mich nur langweilen und im Theater die Anzahl der Lampen zählen. Lieber gehe ich zu einem Wohltätigkeitsball, wo ich auch tanzen kann.«

Irgendwann hatte er es aufgegeben, sie zu einer musikalischen Veranstaltung einzuladen. Nichts wünschte er sich mehr als eine Frau, die seine Leidenschaft teilte. Brian brauchte die Musik wie die Luft zum Atmen.

»Wollen wir nicht noch einen Satz spielen, Rowena?«

Sie winkte ab. »Um Gottes willen, Brian, willst du mich umbringen? Wir spielen doch schon über zwei Stunden. Meine Waden krampfen.«

Eine widerspenstige Strähne hatte sich aus Rowenas blondem Haar gelöst und klebte an ihrem feuchten Gesicht.

Sie strich sie zurück und betastete den Sitz ihrer Olympiarolle. Stolz hatte sie ihm neulich vor dem Spiel ihre neue Frisur gezeigt. Auch wenn sie momentan sehr modern und Rowena stolz darauf war, fand er ihre Frisur nicht natürlich genug.

»Was hast du heute Abend vor? Ich hätte da eine gute Idee.« Rowenas grüne Augen ruhten fragend auf ihm.

»Ich sagte doch, ich spiele heute Abend im Club.«

Sie rollte mit den Augen. »Aber dein Vater ist dagegen. Willst du dich wieder mit ihm streiten? Lady Philippas Empfänge sind legendär. Wir hätten dort sicher viel Spaß miteinander, und ich könnte dich dem einen oder anderen vorstellen.«

Flehend sah sie zu ihm auf.

Sie hatte recht, sein Vater war dagegen, dass er im Club spielte. Der Sohn eines Lords, der sich sein Geld mit Pianospielen in einem Club verdiente, das erschien ihm nicht standesgemäß genug. Brian war das gleichgültig. Er liebte den Job, weil er ihm finanzielle Unabhängigkeit vom Vater bescherte.

»Ein andermal vielleicht, Rowena. Ich habe dem Duke versprochen, heute Abend die Clubgäste zu unterhalten. Wie du weißt, halte ich meine Versprechen.«

Rowena zog einen Schmollmund. Oft hatte sie Männer damit um den Finger wickeln können. Ihn allerdings ließ es unberührt. Er sah in ihr die jüngere Schwester, die er nie gehabt hatte.

»Das ist wirklich schade. Ich hätte dich so gern meiner Freundin Dorothy vorgestellt. Sie ist ganz wild darauf, meine Brautjungfer zu sein.«

»Heute nicht.« Brian stöhnte innerlich auf. Wann würde Rowena aufgeben, in ihm ihren künftigen Bräutigam zu sehen? Oft genug hatte er ihr erklärt, dass eine Ehe mit ihr für ihn nie infrage käme.

»Wie du meinst«, antwortete sie enttäuscht und senkte den Blick. Brian erwiderte nichts.

Gemeinsam schritten sie zum Herrenhaus zurück. Wilcox Manor lag inmitten eines Parks mit dem ältesten Arboretum von Kent. Das aus Sandstein bestehende Gebäude bestach nicht nur durch seine imposante Größe und die kunstvoll umrahmten Fenster, sondern auch durch die vielen Türmchen, die es wie ein Schloss aussehen ließen. Er liebte das Anwesen, mit dem er viele schöne Kindheitserinnerungen verband. Im Fischteich spiegelte sich auf der Oberfläche die uralte Weide mit ihren filigranen Zweigen. Seine Eltern waren stolz darauf, das Anwesen ihr Eigen nennen zu können. Wären sie doch nur einmal stolz auf ihren Sohn! Er schluckte die Bitterkeit hinunter, die jedes Mal in ihm aufstieg, wenn er an seine Eltern dachte.

Für sie war seine Berufswahl eine mittlere Katastrophe. Bisher hatten alle Wilcox' ihr Geld durch die Bewirtschaftung der Ländereien oder durch Pferdezucht verdient.

»Musik dient dem Freizeitvergnügen, aber nicht, um unseren Unterhalt zu finanzieren«, klangen ihm die Worte des Vaters in den Ohren. Doch seit er zum ersten Mal am Klavier gesessen hatte, gab es für ihn nur die Musik. Mit neun Jahren hatte ihn seine Mutter in die Queens Hall zu einem Konzert von Sergej Rachmaninow mitgenommen. Brian war von dessen Virtuosität tief beeindruckt gewesen. Seitdem war der berühmte Pianist sein Vorbild.

Seine wachsende Musikleidenschaft führte immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Vater. Im Laufe der Jahre hatte Brian sich damit arrangiert und gab nicht mehr viel auf dessen Sticheleien und Spitzen.

Sein Onkel Lord Southerland war aus anderem Holz geschnitzt. Er war ein glühender Verehrer der Kunst und passionierter Sammler.

»Wollen wir noch eine Tasse Tee zusammen trinken?«, unterbrach Rowena seine Gedanken.

Brian schaute auf seine Taschenuhr. Es war kurz vor fünf. Gegen sieben wollte er im Club sein. Bis dahin musste er noch seinen Schweiß abspülen, sich umkleiden und die Stücke, die er heute auf dem Piano spielen wollte, zusammenstellen.

»Tut mir leid, Rowena, das schaffe ich auch nicht mehr.«

Schon wieder hatte er sie enttäuscht, was er sehr bedauerte. Brian träumte davon, so berühmt zu werden wie sein Vorbild und einmal in London ein Klavierkonzert zu geben. Bis dahin schlug er sich mit Gelegenheitsjobs als Klavierlehrer oder Unterhalter im Club durch. Die familieneigene Landwirtschaft interessierte ihn nicht. Gern überließ er sie seinem jüngeren Bruder Alan, der sich für die Pferdezucht engagierte und das erforderliche Händchen und Gefühl für Anpaarungen besaß.

»Schade.« Trotz allem lächelte Rowena. Jeder ihrer vielen Verehrer wäre bei dem flehenden Ausdruck in ihren grünen Augen dahingeschmolzen. Nur an ihm prallte alles ab.

Für seinen Geschmack gab Rowena viel zu schnell nach. Eine Frau musste selbstbewusst und mutig wie eine Löwin kämpfen. Von den Frauen, die sich sofort den Wünschen des Mannes fügten, gab es genug.

Aber genau diese Art schätzten seine Eltern an Rowena. Eine Schwiegertochter, die zu allem Ja und Amen sagte, passte zu ihnen.

Nach einer knappen Verabschiedung von Rowena begab sich Brian hinauf in sein Zimmer.

Gegen halb sieben brach er zum Club auf.

»Wo willst du hin?« Der strenge Tonfall des Vaters stoppte Brian auf der Treppe nach unten.

»Wie jeden Freitagabend in den Club, Dad.« Brian mied seinen Blick, weil er keine Lust auf einen neuen Disput mit seinem Vater hatte.

»Ich möchte dich bitten, um sieben zum Dinner zu kommen. Rowenas Eltern werden heute unsere Gäste sein, und Father Nolan.«

Das klang nach keiner Bitte, sondern einem Befehl, und machte Brian wütend. Entschlossen ging er die letzten Stufen hinunter.

»Dann müsst ihr eben allein speisen. Ich bin mir sicher, dass ihr euch gut unterhalten werdet. Guten Abend, Dad.«

Sein Vater schnappte nach Luft. Bevor er etwas antworten konnte, war Brian an ihm vorbei und hatte das Haus verlassen.

Der Gentlemen's Club The Artistry lag im Londoner Westen. Ein klassizistischer Bau mit einem beeindruckenden dorischen Säulenportal vor dem Eingang. Brian stieß die Doppelflügeltür auf und stand in der Haupthalle. Unter dem Dach des Clubgebäudes befanden sich neben einer Bar, in dem der Flügel stand, auch mehrere Bibliotheks- und Kaffeezimmer. Die Besucher des Clubs gehörten alle dem gehobenen Adel an und besaßen ein Faible für Musik und Malerei. Auch sein Onkel Lord Edgar Southerland, der Bruder seiner Mutter, war hier ein oft gesehener Gast. Die meisten Clubmitglieder waren konservativ eingestellte Herren, die moderne Musikinterpretationen ablehnten. Brian hingegen liebte Improvisation, veränderte gern einmal ein bekanntes Werk nach seinen Vorstellungen.

Am Flügel angekommen, packte er seine Notenhefte aus. Darunter befand sich auch die Abschrift eines Werkes von einem bekannten deutschen Komponisten. Als Kind hatte er die Noten nach dem Umbau von Wilcox Manor zusammen mit seinem Onkel zufällig in einer Abseite gefunden. In der Aufregung hatte Brian gleich seinem Vater davon erzählt. Es handelte sich um einen Auszug aus dem Originalwerk Frederik von Uhlenbergs. Eine Art Ouvertüre zu einer Reihe von Arien unter dem Obertitel Liebesreigen. Leider waren es nur die ersten vier Seiten, das Ende der Ouvertüre fehlte. Onkel Edgar hatte sofort den Wert dieser Noten erkannt, während sein Vater sie fast ins Kaminfeuer geworfen hätte. Weil sie von einem Deutschen stammten. Onkel Edgar, der ein glühender Verehrer des Komponisten war, hatte die Notenblätter gerettet und sie den Nachfahren des Schöpfers überbracht. Trotz intensiver Suche hatte Brian die restlichen Notenblätter nie gefunden. Oft hatte er überlegt, wie diese Originalschrift ausgerechnet nach Wilcox Manor gelangt war – ohne Ergebnis. Irgendwann hatte er sich damit zufriedengegeben, dass die Umstände für immer ungeklärt bleiben würden.

Je öfter er das Stück gespielt hatte, desto mehr hatte es ihm gefallen. Melodie der Träume hatte jemand an den Rand geschrieben. Es war voller Leidenschaft und einer Prise Melancholie. In jedem Ton schwang die tiefe Liebe mit, die ein Komponist nur empfinden konnte, wenn er sie selbst erlebt hatte. Weil Brian es gestört hatte, dass das Werk unvollständig war, hatte er Takte dazukomponiert. Heute, am Geburtstag von Onkel Edgar, würde er die Liebesreigen-Ouvertüre zum ersten Mal vor Publikum spielen und war gespannt auf die Reaktionen.

Kaum hatte er die Noten ausgepackt, schlenderten die ersten Gentlemen in die Bar, um zum Ausklang des Tages bei einem Glas Whisky zu plaudern und Brians Klavierspiel zu lauschen. Er bekam regelmäßig Applaus. Aber Brian wollte mehr. Dafür übte er jeden Tag mehrere Stunden, um sich aus der Menge guter Pianisten herauszuheben.

Gegen halb acht setzte er sich schließlich an den Flügel. Seine langen, schlanken Finger glitten über die Tasten. Er interpretierte die Werke bekannter Meister auf eigene Weise. Nur wenn ihn ein Stück ansprach, konnte er beim Spiel seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Mozarts Türkischer Marsch, mit dem er den heutigen Musikabend eröffnete, kam gut an. Anschließend spielte er ein weiteres Stück von Mozart. Zum Schluss schlug er die Noten von Frederik von Uhlenberg auf, die er in einen leeren Buchdeckel geklebt hatte. Eine Ecke des Notenblattes mit den beiden Anfangsbuchstaben des Titels fehlte. Die Notenblätter waren gebunden gewesen, wie er am zusammengeklebten Rücken hatte erkennen können. Jemand hatte sie gewaltsam auseinandergerissen. Das fehlende Papier hatte er durch ein anderes ersetzt und die fehlenden Buchstaben selbst ergänzt. Auf der Banderole, die die Notenblätter zusammengehalten hatte, stand der Name des Werkes: Der Liebesreigen.

Bereits die ersten Töne der melancholischen Melodie berührten Brian tief. Ob er jemals solch starke Empfindungen für eine Frau hegen würde, wie der Komponist sie gehabt hatte?

Bislang war ihm keine Frau begegnet, die sein Herz berührt und in die er sich verliebt hatte. Sein bester Freund, der Instrumentenbauer Gideon Mandler, hatte ihm einmal auf den Rücken geklopft und gescherzt: »Die Frau, die deinen Ansprüchen gerecht wird, muss erst noch geboren werden.«

Vielleicht stellte er tatsächlich zu hohe Anforderungen an Frauen. Er wollte keine Jasagerinnen wie seine Mutter und Rowena, die sich stets nur nach den Wünschen des Mannes richteten, sondern eine temperamentvolle Frau, die ihm auch einmal Paroli bot.

Der letzte Ton von Frederik von Uhlenbergs Ouvertüre des Liebesreigens war gerade verklungen, als sich eine Hand auf Brians Schulter legte.

Es war Onkel Edgar, der hinter ihm stand.

»Onkel Edgar, herzlichen Glückwunsch.«

»Danke, danke, mein lieber Neffe. Du hast mir gerade ein großartiges Geschenk gemacht mit diesem Stück. Von Uhlenberg war wirklich ein herausragender Komponist. Ich hoffe, seine Familie weiß das zu schätzen.« Der Blick seines Onkels war in die Ferne gerichtet.

»Wie meinst du das?«, hakte Brian nach.

»Als ich den Erben die fehlenden Seiten überbracht habe, schien ihnen der Wert nicht bewusst zu sein. Sie hätten sich dankbarer zeigen können. Offenbar war ihnen nicht klar, welch grandioser Komponist ihr Vorfahr gewesen ist.«

»Hast du eine Ahnung, wie die Seiten in unser Haus gekommen sein können?«

Onkel Edgar zuckte mit den Achseln. »Weiß der Himmel. Im Haus deines Vaters gehen viele Leute ein und aus. Du weißt doch, dass er Gesellschaften liebt.«

Das alles klang seltsam. Brian verspürte den Wunsch, mehr darüber herauszufinden.

8. Mai 1936

Aufgebracht stürmte Violetta aus dem Eingang des Konservatoriums. Auf dem Trottoir blieb sie mit geballten Fäusten stehen. Sie konnte unmöglich die Arie der Cenerentola singen. Das konnte der Professor nicht von ihr verlangen. Alles, aber nicht das.

»Ich bin kein Koloratursopran«, sprach sie laut zu sich selbst. Zu ihrem Bedauern fehlte ihr die Leichtigkeit in der Stimme, wie sie ihre Mutter besaß. Auch war ihre Stimme dunkler gefärbt und sehr voluminös. Ihre Traumrolle war die Carmen. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der Professor ihre Widersetzlichkeit den Eltern stecken würde. Aber es lag ihr nicht, sich zu verstellen. Lieber sagte sie ihre Meinung offen.

»Guten Tag, Fräulein Schwarz.«

Violetta zuckte beim Klang von Hans Brünns Stimme zusammen und wirbelte erschrocken herum.

»Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte Sie gewiss nicht erschrecken.«

Wie feinfühlig er war. Violetta freute sich, ihn wiederzusehen. In seinen Augen lag ein Leuchten, das ihr das Gefühl vermittelte, er würde sich ebenso über die Begegnung freuen wie sie. Seit dem Zusammentreffen bei ihrem Sturz hatte sie immer vergeblich nach ihm Ausschau gehalten.

»Nicht schlimm. Ich habe Sie schon lange nicht mehr im Konservatorium gesehen.« Violetta schluckte. Jetzt weiß er bestimmt, dass du dich für ihn interessierst! Was war nur in sie gefahren, dass sie so losschwatzte? Ihre Mutter hätte über diese Unverblümtheit missbilligend den Kopf geschüttelt. Sein Lächeln war ansteckend.

»Meine Studienzeit am Konservatorium ist beendet. Wussten Sie das nicht?«

Wie dumm sie sich vorkam. Violetta schüttelte den Kopf.

»Ich widme mich intensiv meiner Operette. Den glücklichen Umstand unseres Wiedersehens verdanke ich meinem Mentor Professor Walden, der mich hergebeten hat.«

Sein begehrlicher Blick ließ Hitze in ihre Wangen steigen.

»Sind Sie denn mit Ihrem Werk bald fertig?« Durch die Frage hoffte sie, von ihrer Verlegenheit abzulenken.

»Noch nicht ganz ...« Er winkte ab. »Aber ich bin guter Dinge, dass ich meine Operette Ihren Eltern bald vorstellen kann.«

Violetta senkte den Blick.

»Das würde uns eine Freude sein.«

»Das ehrt mich. Ich ...«

Hans Brünn brach ab, drehte den Kopf und lauschte.

Durch die Akazienstraße hallten schwere Tritte Marschierender. Nur zu gut kannte Violetta das Geräusch, das furchtbare Erinnerungen in ihr aufsteigen ließ. Als Kind war sie per Zufall Zeugin eines Zusammenstoßes zwischen einer Gruppe Sozialdemokraten und einem SA-Trupp geworden, der blutig geendet hatte. Fast glaubte sie die dumpfen Knüppelschläge auf den Körpern zu hören. Das Bild der am Boden Liegenden und die Blutspuren auf dem Pflaster hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie fröstelte. Auch jetzt beschlich sie ein ungutes Gefühl. Die Mitglieder der NSDAP und die Hitlerjugend trafen sich oft in ihren Versammlungsräumen am Maschsee. Anschließend marschierten sie durch die Stadt zur Zentrale des Gauleiters in der Dincklagestraße. Nicht selten kam es dabei zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Sie dachte wieder an die Worte ihres Vaters, dass Hans ins Visier der Nazis geraten sein könnte.

»Kommen Sie, Herr Brünn. Wir gehen lieber hinein.« Violetta fasste ihn am Arm.

»Ich lasse mich nicht von denen einschüchtern.«

»Lassen Sie uns ins Gebäude gehen. Bitte.«

Flehend sah sie ihn an.

»Sie zittern ja.«

»Ja«, gab sie zu.

Die Tritte der Lederstiefel näherten sich. Hans Brünn zögerte immer noch, ihr zu folgen. Violetta packte seinen Arm und zerrte ihn mit sich.

Auf der obersten Stufe vor dem Eingang blieb er stehen und wandte sich zur Straße um. Violetta folgte seinem Beispiel. Im selben Augenblick marschierten mehrere Dutzend SA-Leute an ihnen vorbei. Die Entschlossenheit in ihren Blicken und die angespannten Muskeln flößten Violetta Angst ein. Sie wirkten wie Marionetten. Marius Fromm, der Sohn ihrer Patentante, war zum Eintritt in die Hitlerjugend gezwungen worden. Anfänglich hatte er sich geweigert mitzumachen und war Hänseleien und Schikanen ausgesetzt gewesen.

Nie würde sie diesen Tag vor dem neuen Rathaus vergessen, einen Tag vor dem Geburtstag des Führers. Bei Marschmusik und Fackellicht hatten Marius und die anderen Jungen feierlich ihre Treue gelobt, flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl zu sein.

Anschließend waren sie unter den Hakenkreuzflaggen wie gedrillte Äffchen entlangmarschiert.

Jegliche Form von Zwang war ihr zuwider. Zwang tötete Kreativität.

Im Abstand zu den Uniformierten folgte eine Handvoll Männer. Violetta erkannte Dr. Armin Mahler unter ihnen sofort. Er war bei allen wichtigen Anlässen dabei, spielte sich dabei auf und war vor drei Tagen zum stellvertretenden Gauleiter berufen worden. Dabei war er erst seit Kurzem Parteimitglied. Ganz Hannover hatte darüber geredet, wie es Mahler gelungen war, eine solche Blitzkarriere hinzulegen.

Sie hoffte, dass er sie nicht bemerken würde, und wandte sich schnell zur Eingangstür um. Sie hatte nicht vergessen, was ihr die Eltern über ihn erzählt hatten. Als er ihren Namen rief, stöhnte sie innerlich auf.

»Kennen Sie den Mann?«, flüsterte Hans Brünn ihr zu.

»Der neue Stellvertreter des Gauleiters«, flüsterte sie hastig zurück. Es kursierten Gerüchte, dass Mahler diesen Posten durch eine Intrige erhalten hatte. Aber sie wusste nichts Genaues. Sie spürte, wie sich Hans Brünn anspannte.

Am liebsten hätte sie Mahler ignoriert. Aber dazu galt sein Wort in der Kunstwelt zu viel. Violetta drehte sich wieder um und zwang sich zu lächeln.

»Guten Tag, Dr. Mahler!«, rief sie ihm zu.

In den grauen Augen des Mäzens blitzte es erfreut auf. Anstatt den anderen zu folgen, scherte er aus der Gruppe aus und kam direkt auf sie zu. Verdammt! Sie hatten viel zu lange gezögert. Jetzt musste sie mit ihm reden. Reiß dich zusammen und bleib freundlich!

»Fräulein Violetta, wie ich sehe, sind Sie bereits eifrig auf dem Weg zu Ihren Studien.« Er reichte ihr die Hand, die sie zögernd ergriff. Viel zu lange hielt er ihre fest, während er sie gleichzeitig mit Blicken verschlang. Ärgerlich entzog Violetta ihm ihre Hand. Sie hörte, wie Hans Brünn neben ihr die Luft einsog. Die Lage war unangenehm. Doch irgendwie musste sie sich da hinausmanövrieren.

»Ihre Begleiter werden Sie vermissen.« Violetta hoffte, dass er ging.

Mahlers Lächeln wurde breiter. »Die Herren werden verstehen, dass ich die Gesellschaft einer hinreißenden Frau vorziehe.«

Es blitzte lüstern in seinen Augen auf. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Hans Brünn die Kiefer zusammenpresste. Nichts wünschte sie sich mehr, als dass er eifersüchtig war.

Bei jedem anderen hätte sie sich über das Kompliment gefreut. Nicht jedoch bei Mahler.

»Wer ist denn Ihr Begleiter, Fräulein Schwarz?«

»Ein vielversprechender junger Komponist.«

Mahler wandte sich Hans Brünn zu und musterte ihn, ohne ihm die Hand hinzustrecken.

Die Spannung zwischen den beiden Männern war spürbar.

»Wie war doch gleich Ihr ...?«

Es klang herablassend. Sie spürte die aufkeimende Wut in Brünn.

»Fräulein Schwarz, Dr. Mahler, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, aber ich hätte schon längst bei meinem Mentor sein müssen.«

Der unerwartete Rückzug des Komponisten war geschickt.

»Aber natürlich.« Mahlers Miene ließ keinen Zweifel darüber aus, dass er froh war, wenn Hans Brünn ging.

»Ihr Begleiter hat Sie unhöflicherweise allein gelassen, Fräulein Schwarz.«

»Wir sind nur Kommilitonen«, log sie.

Wie unbeabsichtigt berührte Mahler ihren Arm. Violetta zuckte zusammen. Sie dachte erneut an die warnenden Worte ihres Vaters.

»Wir haben uns hier nur zufällig getroffen.«

»Rein zufällig, sicher.« Ihr gefiel Mahlers sarkastischer Tonfall nicht. Hatte er vielleicht genauso wie ihr Vater ihre Blicke richtig gedeutet?

»Ja, zufällig. Als ich das Konservatorium verlassen habe, sind wir uns über den Weg gelaufen.« Sie hasste es, sich Mahler gegenüber rechtfertigen zu müssen. Doch sie musste vorsichtig sein.

Mahler lächelte erneut.

»Dann sind Sie also auf dem Nachhauseweg? Das trifft sich gut.«

Violetta schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals.

»Darf ich Sie nach Hause begleiten?« Mahlers Frage war höflich gestellt, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Es ärgerte sie, dass sie seine Gegenwart dulden musste, um Ärger von ihrer Familie abzuwenden. Sie dachte an den Choreografen Hanno, der Männer liebte, und an den Sänger Gyula, dessen Vorfahren Roma waren. Sie alle könnten durch eine Unbedachtheit von ihr in Gefahr geraten.

»Ja, gern.« Erneut rang sie sich ein Lächeln ab. Ihr schauspielerisches Talent half ihr dabei, überzeugend zu klingen. Herrgott, wie verlogen sie war!

Dr. Mahler fasste ihren Ellbogen. Sein Daumen strich anzüglich über die Spitze ihres Ärmels. Violetta verkrampfte sich. Als seine Finger sich fester um ihren Arm schlossen, befürchtete sie schon, er könnte sie mit einem Ruck an sich ziehen. Zu ihrer Erleichterung tat er es nicht.

Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinanderher.

»Sie wohnen noch in Linden?«

»Ja.« Die Stimmung zwischen ihnen war angespannt. Viel lieber hätte sie sich von Hans Brünn nach Hause begleiten lassen. Normalerweise blieb Violetta immer am Nordufer des Maschsees stehen und ließ ihren Blick über das Wasser schweifen. In Begleitung Mahlers verspürte sie heute jedoch keine Lust darauf. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause und sich von ihm verabschieden.

»Ich bin neulich an der Villa Uhlenberg vorbeigefahren.«

»Ach wissen Sie, Herr Dr. Mahler, ich habe nie dort gewohnt. Mein Zuhause ist das ehemalige Pfarrhaus in Linden.«

»Bedauern Sie es denn nicht, dass eine solch prächtige Villa, die sich seit Generationen im Besitz Ihrer Familie befand, in fremder Hand ist?«

Was bezweckte er mit seiner Frage?

Er will mich provozieren!

Sie erinnerte sich noch daran, wie sehr ihre Großmutter darunter gelitten hatte, dass sie einst die Familienvilla hatten verkaufen müssen, um das Theater zu retten. Doch weder ihre Mutter noch sie oder Florentina hingen sehr an der Villa.

Abrupt blieb Violetta stehen. Auch Mahler verhielt den Schritt.

»Was wollen Sie damit andeuten, Herr Dr. Mahler?« Sie sah ihm forschend ins Gesicht. Mahler war kein sensibler Mann, sie schätzte ihn eher so ein, dass er sich rücksichtslos nahm, was er begehrte. Sein Alter war schwer zu schätzen. Auf jeden Fall war er älter als ihre Eltern. Seine Blicke verrieten Violetta, dass er mehr in ihr sah als eine mögliche Tochter. Allein bei dem Gedanken, er könnte sie als Frau begehren, schüttelte es sie.

Niemals würde sie einen Mann heiraten, der ihr Vater sein könnte.

»Sie haben mich durchschaut. Ich mag Ihre Direktheit, wertes Fräulein Schwarz. Sie ist so herzerfrischend. Die Familienvilla steht erneut zum Verkauf. Der Gauleiter sucht ein kleineres, einfacheres Haus für unsere Versammlungen.«

»Dann wird sich sicher ein Käufer dafür finden.«

»Der Gauleiter selbst trägt sich mit dem Gedanken, in der Villa zu wohnen.«

»Aber er hat doch schon das Dincklagehaus.« Das war ihr so herausgerutscht.

»Die Villa ist viel repräsentabler.«

Was würde ihre Mutter dazu sagen, wenn der Gauleiter unter dem Dach der Villa Uhlenberg Empfänge geben würde? Womöglich könnte sich unter den Gästen der Führer oder einer seiner Gefolgschaft befinden. Violetta wusste, dass ihre Mutter Göbbels nicht ausstehen konnte und ihr Vater gegen Göring und die führende Riege der NSDAP war. Ihrer Mutter schien das Schicksal der Familienvilla bisher gleichgültig gewesen zu sein. Wahrscheinlich wäre es ihr einerlei, wenn die Villa in die Hände des Gauleiters fiele.

»Hm, hm.« Violetta sparte sich eine Antwort. Stattdessen schritt sie zügig voran. Je eher sie zu Hause war, desto schneller wäre sie Mahler los.

Endlich erreichten sie ihr Elternhaus, das ihr in diesem Moment wie ein Rettungsanker erschien.

»Ach, da sind wir ja schon!«

Mahler schien weniger begeistert zu sein.

»Wie schade, Fräulein Schwarz. In Ihrer charmanten Gesellschaft ist die Zeit wie im Flug vergangen.«

Mir kam es wie eine Ewigkeit vor!

Höflich lächelte Violetta Dr. Mahler an. »Einen schönen Tag noch, Dr. Mahler.« Sie nickte ihm zu und wollte sich gerade abwenden, als er ihre Hand ergriff und an seine Lippen zog.

»Ich würde einen solchen Spaziergang mit Ihnen gern wiederholen«, säuselte er. »Wie wäre es denn am kommenden Sonntagnachmittag? Das Wetter soll gut werden.«

Violetta stöhnte innerlich auf.

»Ach, das tut mir aber leid, Herr Dr. Mahler, aber unser Ensemble probt den ganzen Sonntag lang.«

Er zog ein enttäuschtes Gesicht.

»Am Sonnabend bin ich leider beim Gauleiter eingeladen. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.« Er zwinkerte ihr zu, bevor er sich von ihr verabschiedete.

Erleichtert stieg Violetta die beiden Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie drehte sich nicht mehr um, auch wenn sie Mahlers Blick im Rücken spürte. Erst als sie im schmalen Hausflur stand und die Tür hinter ihr zugeschlagen war, fühlte sie sich sicher vor ihm.

Aus der guten Stube waren die Stimmen ihrer Eltern zu hören, die lautstark über ein Stück stritten.

»Da bist du ja endlich!«, rief Florentina freudig und tastete sich mit ihrem Langstock durch den Flur, bevor sie Violetta umarmte. Auch Florentina besaß wie sie das schwarze Haar, das sie vom Vater geerbt hatten. Aber ihr Gesicht war schmaler geschnitten. Sie hätte eine Kopie der Mutter sein können, wären da nicht die silbernen Schleier über den Augen gewesen.

»Du bist in Begleitung nach Hause gekommen?«

Sie durfte nie den Scharfsinn ihrer blinden Schwester unterschätzen, die mehr bemerkte als jeder andere, der sehen konnte.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ein wenig Zigarrengeruch haftet an dir.« Florentina schnüffelte an ihrer Kleidung. »Und noch ein anderer Duft, den ich nicht benennen kann. Aber manche Männer riechen so. War es denn eine nette Begleitung?«

Wie konnte ihre Schwester so etwas riechen?

Violetta wusste, dass sie Florentina nichts verheimlichen konnte.

»Unter einer netten Begleitung hätte ich mir etwas anderes vorgestellt. Eine unumgängliche wäre treffender.«

»Nun sag schon, wer es war.«

Ihre Eltern stritten noch immer in der guten Stube. In dieser Stimmung wäre es sicher nicht angebracht, Dr. Mahler zu erwähnen, und schon gar nicht, dass Gauleiter Rust erwog, die Familienvilla zu erwerben.

Violetta atmete tief aus. »Dr. Mahler«, raunte sie und linste über die Schulter der Schwester hinweg, ob sich ihre Eltern in der Nähe befanden.

»Keine Sorge, sie haben es sicher nicht gehört. Ich sage kein Wort zu ihnen.«

»Danke, du bist ein Schatz.« Violetta küsste ihre Schwester auf die Wange.

»Heute ist die Stimmung in unserem Hause leider etwas getrübt. Mutti und Vati streiten schon die ganze Zeit.«

»Worüber denn?«

»Mutti hat Vatis Wunsch entsprochen und Die lustige Witwe von Franz Lehár in den neuen Spielplan aufgenommen.«

Vor vielen Jahren hatte ihr Vater den Komponisten in der Schweiz kennengelernt und sich später hin und wieder mit ihm getroffen.

»Darf die Operette denn aufgeführt werden?«, fragte Violetta erstaunt. Vor einiger Zeit hatte ihre Mutter das Werk vom Spielplan nehmen müssen, weil das Libretto von dem österreichischen Juden Löhner-Beda geschrieben worden war.

»Der Führer ist inzwischen ganz vernarrt in Lehárs Musik und hat ihm eine Sondergenehmigung als Komponisten erteilt. Jetzt dürfen seine Werke wieder aufgeführt werden. Hat Vati gesagt«, erklärte Florentina.

Immer wieder gab es Probleme mit jüdischen Künstlern. Violetta konnte das nicht verstehen. In der Kunst ging es doch weder um Religion noch um politische Gesinnung. Hauptsache, sie erfreute das Publikum. Auch ihre Eltern hatten für die gesamte Familie einen Nachweis erbringen müssen, dass sie keine jüdischen Vorfahren hatten, um das Theater weiter führen zu dürfen.

»Vati soll die Hauptrolle singen. Mutti ist mit seiner Interpretation nicht ganz einverstanden«, fuhr Florentina fort. »Sie haben nicht einmal bemerkt, dass ich vom Klavier aufgestanden bin, weil ich ihre Streitereien nicht mehr ausgehalten habe.«

Ihre Schwester war sehr sensibel, besonders wenn es laut wurde. Ihr Gehör war fein und laute Geräusche für sie unerträglich. Manchmal hatte Violetta gefrotzelt, dass sie das Gras wachsen hören könne.

Sie konnte die Stimmung des Pianisten erfühlen, allein durch seinen Tastenanschlag.

»Komm, lass uns nach oben gehen, bis sich die Wogen etwas geglättet haben.« Florentina fasste sie am Arm und zog sie zur Treppe.

Ihre Schwester hatte recht. Heute war sicher kein geeigneter Tag, um den Eltern von Mahler zu erzählen.

3. Juli 1936

Die Worte Onkel Edgars wollten Brian nicht mehr aus dem Kopf. Seitdem verschlang er jede Zeile über das Leben Frederik von Uhlenbergs. Manche Dokumente und Artikel hatte er aus dem Londoner Zeitungsarchiv. Gerade saß er in der historischen Bibliothek in Oxford, neben ihm ein Stapel Bücher, manche mit Zeitungsartikeln. Brian suchte akribisch nach Hinweisen zu Frederik von Uhlenberg und seinen Nachkommen.

Das Schicksal der Familie berührte ihn wider Erwarten. Besonders interessierten ihn das Leben und der künstlerische Werdegang Leonora von Uhlenbergs, die es in den Wirren des Ersten Weltkriegs geschafft hatte, dem seit mehreren Generationen bestehenden Theater am Park zu neuem Glanz zu verhelfen. Gegenwärtig war sie die Intendantin des Theaters.

Seltsam, dass in Deutschland eine Frau das Theater am Park führen durfte, wo doch der Führer von allen deutschen Frauen erwartete, dass sie viele Nachkommen der arischen Rasse gebaren.

Das sprach für Leonora von Uhlenberg. Sie musste eine sehr starke Frau sein. Aber auch eine begabte. In dem gebundenen Buch mit Theaterkritiken und Artikeln über Künstler in Europa gab es Berichte über sie. Leonora von Uhlenberg gehörte zu den besten Koloratursopranistinnen des Jahrzehnts. Brian beugte sich über das vergilbte Papier und las einen Artikel, den ursprünglich ein gewisser Bruno von Edel verfasst hatte und der später für die Times ins Englische übersetzt worden war. Zwar bemängelte der Verfasser das schlichte Bühnenbild der Aufführung der Zauberflöte, lobte jedoch die Leichtigkeit der Stimme Leonora von Uhlenbergs. Neben dem Artikel war ein Foto von ihr zu sehen. Brian griff nach der Lupe, um das kleine Porträt näher in Augenschein zu nehmen. Die Sängerin auf dem Foto war bildhübsch. Ihr ausgeprägtes Kinn zeugte von Durchsetzungskraft. Schade, dass sie zu alt für mich ist. Diese Frau könnte mir gefallen.

Wie gern hätte er die Nachkommen des Komponisten persönlich kennengelernt. Dazu müsste er nach Deutschland reisen. Doch die Deutschen diskriminierten Juden und alle, die nicht ihrem arischen Bild entsprachen. Brian konnte das nicht verstehen. Früher war er hin und wieder nach Wien oder München gereist. Er hatte die Städte sehr gemocht. Jetzt brodelte es in ihnen wie in einem Vulkan. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem Krieg käme. Sein Vater behauptete immer, dass die Deutschen darin ein Mittel sahen, um ihre Machtposition in Europa und der Welt auszubauen.

»Sie haben gemeinsam mit den Österreichern den verdammten Krieg begonnen! Und weil sie ihn verloren haben, dürsten sie nach Revanche.«

Brian trommelte gedankenverloren mit den Fingern auf das Pult und erntete mahnende Blicke der anderen Bibliotheksbesucher.

Er stand auf und klappte das Buch mit den Kritiken zu. Für heute hatte er genug gelesen.

Auf dem Heimweg nahm er sich vor, seinen Vater nach den Notenblättern von Frederik von Uhlenberg zu fragen.

Als er Wilcox Manor betrat, war der Five-o'clock-tea längst vorbei. Heute musste er nicht in den Club und wollte die Gelegenheit nutzen, seinen Vater beim Dinner darauf anzusprechen.

In der Eingangshalle traf er auf Butler Will.

»Ihre Eltern erwarten Sie bereits im Salon, Mylord.«

»Danke, Will.«

Der Butler verbeugte sich und wollte gewohnheitsmäßig Brian den Hut abnehmen. Er hielt in der Bewegung inne und starrte auf Brians bloßen Kopf.

»Aber ich trage doch nie einen Hut, Will. Bitte sag Geraldine, dass wir noch ein Gedeck brauchen. Mr Mandler wird heute unser Gast sein.«

»Sehr wohl, Mylord.« Mit diesen Worten wandte Will sich um und durchquerte die Halle, während Brian den Salon betrat.

Die Dinnertafel war bereits gedeckt. Neben seinen Eltern saß Rowena und lächelte ihn an.

»Na endlich beehrt uns unser Herr Sohn!« Der Tonfall seines Vaters ließ keinen Zweifel darüber offen, dass er wütend auf ihn war. Auch seine Mutter schaute ihn vorwurfsvoll an.

»Rowena wartet schon seit einer halben Stunde auf dich«, sagte sie und nickte der Tochter ihrer Freunde wohlwollend zu.

»Ich wusste ja nicht, dass ihr Rowena heute eingeladen habt.« Er wandte sich dem Gast höflich zu und verneigte sich. »Guten Abend, Rowena.«

Brian setzte sich auf den Stuhl neben sie. »Gideon Mandler wird ebenfalls mit uns speisen«, verkündete er seinen Eltern, woraufhin sich die Miene des Vaters verfinsterte. Brian wusste, dass sein Vater seinen besten Freund nicht leiden konnte. Aber das war ihm egal. Es war sein Freund.

Gideon Mandler unterstützte nach Meinung seines Vaters Brians musischen Spleen. Brian hatte ihn am Vortag in seiner Werkstatt aufgesucht, weil zwei Tasten auf seinem Klavier klemmten. Obwohl Gideon ausgelastet war, hatte er spontan versprochen, sich des Problems anzunehmen, und es im Handumdrehen gelöst. Das war Brian eine Einladung zum Dinner wert gewesen.

Will servierte ihnen in kunstvoll geschliffenen Kristallgläsern einen Portwein. Brian mochte das süße Getränk nicht. Aber er würde seine Eltern noch mehr verärgern, wenn er ihn ablehnte.

Sein Vater öffnete den Mund. Brian erwartete eine Stichelei. Bevor es dazu kam, hob seine Mutter ihr Glas und prostete ihnen zu. Anschließend betrat Hausmädchen Geraldine den Salon und legte ein fünftes Gedeck auf.

»Mandler? Ist das nicht der berühmte Instrumentenbauer aus London?«, warf Rowena ein, nachdem Geraldine den Salon wieder verlassen hatte. Erstaunt sah Brian sie an.

»Ja, das ist er. Es wundert mich, dass du ihn kennst, da du dich doch nicht für Musik und das ganze Drumherum interessierst, Rowena.«