Mehr als eine Heimat - Ali Can - E-Book

Mehr als eine Heimat E-Book

Ali Can

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Beschreibung

Was bedeutet es, deutsch zu sein? Die Zeit für eine Neudefinition ist reif, meint Ali Can, dessen Twitterkampagne #MeTwo im Sommer 2018 ein enormes Echo auslöste. Zehntausende Menschen mit Migrationshintergrund berichten seither unter dem Hashtag von ihren alltäglichen Erfahrungen mit Rassismus. Ständig wird ihnen vermittelt, sie seien nicht wirklich Deutsche und gehörten somit nicht dazu. Dabei betrachten sie Deutschland als ihre Heimat - und das so selbstverständlich, wie sie sich oft noch einer anderen Sprache und Kultur verbunden fühlen. In seinem Buch beschreibt Ali Can den Hashtag und seine Folgen als Teil einer dringend gebotenen gesellschaftlichen Debatte. Indem er auf seine eigene Biographie blickt und eine Reihe bekannter Gesprächspartner befragt, kommt er zu dem Schluss: Heimat - das sind letztlich die Werte, die wir teilen. Und an einem offenen, konstruktiven Dialog über sie sollten alle teilnehmen können, die in diesem Land leben und seine Gesellschaft mitgestalten - ob mit oder ohne Migrationshintergrund. "Mit diesem Buch stößt Ali Can eine Debatte an, die dieses Land mehr denn je braucht. Und die eine Grundvoraussetzung für eine offene Gesellschaft ist. Ein wahres Friedensbuch, voller Inspiration." Luisa Neubauer "Dieses Buch ist ein starkes Plädoyer für einen Heimatbegriff, der sich nicht an Hautfarben oder Stammbäumen orientiert, sondern an den Werten unseres Grundgesetzes." Cem Özdemir

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Für Mama und Papa

Inhalt

Einleitung

1 #MeTwo. Jetzt reden wir

2 #MeTwo. Crashkurs für das eigene Leben

3 Ankommen in Deutschland. Meine Eltern und ihre Integration

4 Schule, Theater und der liebe Gott. Neue Perspektiven

5 Wie ich zum Deutschen wurde. Und zu noch viel mehr

6 Die Welt verbessern. Kleine und große Schritte in den Sozialaktivismus

7 Woher kommst du? Eine Frage und ihre Tücken

8 Hier überall kann ich sein. Heimat im Plural

Rausgehen und loslegen!

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

»Mama, das kann ich ihm nicht sagen.«

»Wieso nicht? Er hat dich schon mehrmals in sein Schloss eingeladen. Nun lädst du ihn ein, ganz einfach.«

»Als ob er meiner Einladung folgt. Er ist schließlich der Bundespräsident. Ich weiß nicht mal, ob er Döner mag.«

»Wir haben auch Schnitzel und Vegetarisches. Schau, Herr Steinmeier kennt deine Herkunft und weiß, was für eine Kultur wir haben. Gastfreundschaft spielt bei uns eine große Rolle. Er ist ja Bundespräsident von uns allen und wird das wissen und schätzen.«

»Okay, Mama, ich versuch’s.«

Nur wenige Tage nach dieser kurzen Unterhaltung mit meiner Mutter nahm ich Anfang Oktober 2018 tatsächlich auf Einladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an einer Veranstaltung im Schloss Bellevue teil. Ich saß mit im Publikum, während auf dem Podium über »Risse und Ressentiments« in der Gesellschaft diskutiert wurde. Als ich den Bundespräsidenten beim anschließenden Empfang traf, war ich doch etwas zu aufgeregt, um ihm die Einladung so direkt zu überbringen. Immerhin sagte ich ihm, dass meine Eltern einen Dönerimbiss besäßen, dass sie ihm dort im Fernsehen folgten und sich gut von ihm repräsentiert fühlten. Nachdem wir ein Foto gemacht hatten, erzählte ich ihm noch kurz, wie die Debatte um #MeTwo verlief. Diese von mir initiierte Twitteraktion war zu dem Zeitpunkt gut zwei Monate alt und hatte bereits hohe Wellen geschlagen. Vermutlich war ich deswegen zu der Veranstaltung eingeladen worden.

Was es mit dem Hashtag genau auf sich hat, was er für mich und viele andere Menschen mit Migrationshintergrund bedeutet, werde ich in diesem Buch schildern. Die gesellschaftliche Diskussion, die er ausgelöst hat, ist unglaublich wichtig und wird weitergehen. Wer gehört zu diesem Land, zu Deutschland? Was bedeutet Integration und wie gelingt sie? Was bedeutet Deutschsein?

Ich bin einer von Millionen Menschen in diesem Land, die sozusagen zwei oder mehr Seelen in der Brust haben. Für uns haben die genannten Fragen eine fundamentale Bedeutung, wie ich anhand der Geschichte meiner Familie und meines eigenen Werdegangs zeigen möchte. Gleichzeitig sind diese Fragen für jede und jeden in Deutschland von Relevanz, geht es doch letztlich darum, wie wir in Zukunft zusammenleben möchten und welche Werte uns wichtig sind.

Keine Frage: Unsere Gesellschaft sieht heute anders aus als vor dreißig, zwanzig, ja sogar nur fünf Jahren. Wir alle spüren, dass sich die Welt um uns herum rasant verändert. Das gilt nicht nur für technologische Entwicklungen, sondern vor allem auch für die biografischen Hintergründe der Menschen, die in Deutschland leben. Deren Spektrum wird zweifellos immer vielfältiger – bunter. Doch ob es uns gefällt oder nicht – es gibt nicht wenige Menschen, die diese Veränderung ablehnen, sei es aus Überzeugung oder aus einem Gefühl der Überforderung heraus. Dann heißt es zum Beispiel: »Das ist nicht mehr das Land, das ich kannte. Überall sehe ich nur noch Fremde.« Der Erfolg populistischer, radikaler Parteien und Demagogen hat vor allem damit zu tun, dass sie sich solche diffusen Ohnmachts- und Frustgefühle zunutze machen und ganz und gar auf Abgrenzung setzen. Ihr Motto lässt sich auf die simple Formel reduzieren: »Wir gegen die«.

Ich bin überzeugt, dass es einen besseren Weg gibt, einen Weg, der nicht auf ein Gegeneinander setzt, sondern auf ein Miteinander, nicht auf Ablehnung und Hass, sondern auf Offenheit und Respekt. Damit jede und jeder Einzelne von uns und damit die Gesellschaft als Ganzes sich weiterentwickeln können, müssen wir lernen, mit Veränderungen umzugehen und uns auf Neues einzulassen. Was wir dafür brauchen, sind Gelegenheiten und Räume, in denen wir reflektieren können und lernen, Ängste abzubauen und Vorurteile zu überwinden.

Nur weil viele sich eine solch tolerante, selbstbewusste und solidarische Gesellschaft erst einmal nicht vorstellen können, heißt das noch lange nicht, dass es naiv und utopisch ist, sie anzustreben. Wenn wir immer nur in der Vergangenheit nach Lösungen wühlen, wird die Gesellschaft von morgen nicht anders aussehen als heute und sie wird es immer schwerer haben, mit dem Wandel klarzukommen. Ich weiß: Die Komfortzone zu verlassen und über den Tellerrand zu schauen, war und ist nie leicht. Es erfordert manchmal Mut und Selbstüberwindung. Doch es lohnt sich! Ich versuche in diesem Buch eine neue Definition von Deutschsein. Es ist gleichermaßen eine bewusste Zumutung, eine Ermutigung und eine Einladung zum Gespräch über all das, was uns verbindet – ob wir nun einen Migrationshintergrund haben oder nicht, ob wir in der Uni oder im Schwimmbad das Gespräch führen, bei der Arbeit oder im Dönerimbiss.

1 #MeTwo. Jetzt reden wir

Was in der digitalen Welt passiert, bleibt längst nicht mehr dort. Das kann eine gute und eine schlechte Nachricht sein. Wenn eine Frau im Internet das erste Mal frei über ihre Erfahrung mit sexueller Gewalt schreiben kann und danach auch andere Frauen den Mut fassen, sich den Missbrauch von der Seele zu schreiben, Veranstaltungen, Demonstrationen und Treffen organisieren und so eine internationale Bewegung wie MeToo (»Ich auch«) entsteht – dann ist das eine gute Nachricht. Wenn Menschen aber ihren Hass in Kommentarspalten herausschreien – auch ihren Hass auf viele dieser mutigen Frauen – und sich so finden und offline organisieren, dann ist das eine schlechte Nachricht. Die Geschichte von #MeTwo (»Ich zwei«) ist eine gute Nachricht. Davon bin ich fest überzeugt. Mag all das auch mit Schmerz und Ausgrenzung verbunden sein, und mag die Geschichte von #MeTwo dort, wo der Hass bereits loderte, noch mehr Hass entfacht haben: Sie bleibt eine gute Nachricht, die uns hier in Deutschland und weltweit näher zusammenbringen kann.

Die Causa Özil

Aber beginnen wir von vorn: Was ist #MeTwo? Und wie kam es dazu? Um diese Fragen zu beantworten, gehen wir noch einmal zurück in den heißen Sommer 2018. Die meisten von uns werden sich gut daran erinnern – auch wenn sie es am liebsten vergessen würden –, wie das deutsche Team bei der Fußball-WM in Russland kläglich in der Vorrunde scheiterte. Danach hätten wir viele Dinge diskutieren können, zum Beispiel, warum im Sport Sieg und Niederlage nah beieinanderliegen. Doch in der öffentlichen Debatte ging es nur noch am Rande darum, wie das Runde ins Eckige kommt. Im Vordergrund standen stattdessen Fotos der Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündoğan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Wie konnten zwei deutsche Nationalspieler lächelnd neben dem Staatsoberhaupt der Türkei stehen und Trikots in die Kamera halten? Neben dem Mann, der in der Bundesrepublik mittlerweile als Synonym für die Beschneidung von Pressefreiheit und eine religiös-nationalistische Politik gilt. Der regierungskritische Demonstrationen in der Türkei niederschlägt und seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 Zehntausende, die er als Verschwörer sieht, hat verhaften lassen. Darunter auch den deutschen WELT-Korrespondenten Deniz Yücel, der erst nach über einem Jahr im türkischen Knast wieder freikam.

Als im April 2017 die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen mit einem Doppelpass in einem Referendum mit dafür sorgten, dass Erdoğan zum Staatschef und Regierungschef in einem werden konnte, brachte das die sowieso schon wackeligen deutsch-türkischen Beziehungen weiter ins Wanken.1 Wie konnten sich Menschen, die in der Demokratie in Deutschland leben, gegen die Demokratie in der Türkei aussprechen? Was sagt das über die Integration der Türkeistämmigen hierzulande aus? Diese Fragen zogen mit viel Tamtam und wie in einem Wanderzirkus durch politische Talkshows und Zeitungsberichte. Aber statt differenziert gesamtgesellschaftlich Bilanz zu ziehen, gaben die lauten Stimmen den Ton an: Wer die Demokratie mit Füßen trete, der solle doch abhauen. Diese Meinung hört man bis heute immer wieder, keineswegs nur von rechten Politikern. Dass Erdoğan Europa obendrein mit dem Flüchtlingsdeal politisch unter Druck setzte, polarisierte die öffentliche Meinung zusätzlich.

Und dann kam die Causa Mesut Özil. Nicht nur die BILD-Zeitung konnte sich an dem Foto mit Erdoğan und Özil gar nicht mehr sattsehen. Sehr vielen Medien ging es nicht darum, sachlich zu diskutieren. Erdoğan nutzte den Fototermin ganz klar für seine Wahlkampfzwecke. Wäre da nicht ein perfekter Moment gewesen, noch genauer hinzuschauen, was in der Türkei unter Erdoğan passiert? Auch, um einem wie Özil, der das Foto später gefährlich naiv als unpolitisch beschrieb, den Spiegel vorzuhalten. Und nicht bloß ihm, sondern auch denjenigen in Deutschland lebenden Türken, die der Politik Erdoğans allzu unkritisch gegenüberstehen.

Die Berichterstattung über Özil schlug jedoch einen anderen Weg ein. Man hatte sich bereits eine Meinung über den Kicker gebildet. »Er pilgert nach Mekka und liebt eine Miss Türkei«, exotisierte zum Beispiel die BILD den Nationalspieler nach dem WM-Aus.2 Der ARD-Journalist Constantin Schreiber wiederum postete das Foto mit Erdoğan und schrieb dazu: »Alles, was in Sachen Integration schief laufen kann, in einem Bild.«3 Auch in der Debatte um die fußballerische Leistung lieferten manche Medien fragwürdige Beiträge: So forderte der Sender ProSieben Özil via Twitter zum Rücktritt auf (um sich nach Kritik wieder dafür zu entschuldigen).4 Die WELT und die FAZ urteilten über die »schwache« Leistung der Nationalmannschaft und zeigten dazu ausgerechnet ein Bild von Özil – dabei hatte er vor allem im entscheidenden Spiel gegen Südkorea die meisten Torvorlagen geliefert.5

Dass manche Personen aus Medien und Politik gern und schnell mit Vorurteilen hantieren, hatte mich nicht wirklich überrascht. Ziemlich betroffen machte mich aber ein an Özil gerichteter Tweet des Co-Geschäftsführers des Deutschen Theaters in München, Werner Steer: »Hallo du Idiot, du hast in der deutschen Nationalmannschaft nichts zu suchen. Verpiss dich nach Anatolien.«6 Anatolien? Wieso soll er ausgebürgert werden?, dachte ich. In meiner Schulzeit habe ich selbst viel Theater gespielt. Ich liebe die deutsche Bühne. Kulturschaffende und ihre Institutionen hatte ich eigentlich immer als besonders weltoffen, differenziert und zivilisiert wahrgenommen. Ähnlich schockierend fand ich, was der SPD-Stadtrat Bernd Holzhauer aus dem hessischen Bebra auf Twitter schon vor der WM zur Kaderaufstellung von Jogi Löw losließ: »das vorläufige deutsche Aufgebot zur WM – 25 Deutsche und zwei ************«.7 Ich habe mich entschieden, das Schimpfwort hier nicht auszuschreiben, denn ich möchte dieses rassistische Stereotyp nicht reproduzieren. Beide, Steer und Holzhauer, zeigten sich nach einer gewissen Medienempörung reumütig und löschten ihre Einträge. Eine typische Rassismus-Dynamik, die wir sonst als populistische Strategie von AfD-Politikern kennen: Etwas Rassistisches in die Welt posaunen, Kritik ernten und dann behaupten, dass im Moment des Schreibens mit einem wohl die Pferde durchgegangen seien.

Ob Steer und Holzhauer sich jemals darüber Gedanken gemacht haben, wie ihre Beiträge auf Menschen, die von Rassismus betroffen sind, wirken könnten? Wenn es schon ein SPD-Politiker und ein Theatermensch nicht schaffen, sich diskriminierungsfrei und differenziert zu äußern – wie sollten das andere tun? Für mich sind öffentliche Reaktionen wie diese symptomatisch für eine zunehmende Enthemmung rassistischen Gedankenguts in der »Mitte« der Gesellschaft und generell für das Fehlen einer zivilisierten Streitkultur bei politisch brisanten Themen.

Was mich an all den aufgeladenen Meldungen und aufgeregten Stimmen zum WM-Debakel und zur Causa Özil nachhaltig verstörte, war ein regelrechtes Ausbürgerungsdenken, das zum Vorschein kam: Sobald Deutsche mit Migrationshintergrund Fehler machen, wird die Tatsache dieses »Hintergrunds« extrem herausgestellt. Wer in Deutschland mit Skandalen »durchkommen« will, ohne dass ihm gleich das Deutschsein abgesprochen wird, muss schon Gerhard Schröder, Oliver Kahn oder Lothar Matthäus heißen – sie alle haben sich ebenfalls bereitwillig mit hierzulande kontrovers diskutierten Politikern und Staatsoberhäuptern wie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin oder dem saudischen König ablichten lassen.

Klar ist: Die Causa Özil wäre anders verlaufen, wenn es zuvor nicht die völlig überzogenen, aber vielsagenden Vorstellungen von ihm als »Mustermigranten« gegeben hätte. Nicht nur für den DFB bediente er das attraktive Narrativ (man könnte auch sagen: Klischee) »vom türkischen Migrantenkind zum integrierten deutschen Nationalspieler«. Man hatte ihm, der wohlgemerkt im »Pott« geboren ist, sogar einen Integrationsbambi verliehen. Wenn gelungene Integration aber so eng mit herausragender sportlicher Leistung verknüpft wird, fällt das Kartenhaus zwangsläufig irgendwann in sich zusammen. Auch ein exzellenter Fußballer wie Özil spielt mal schlecht – und schießt eben nicht immer Tore für Deutschland. Dass Heranwachsende wie ich Özil als Integrationsvorbild genommen haben, erscheint mir heute deshalb als fragwürdig. Bin ich nur integriert, wenn ich besondere Leistungen abliefere?

Özil ist ein Profifußballer, der in der komplexen Marketingmaschinerie des Deutschen Fußballbunds und in der hiesigen Politik scheinheilig als integriert bezeichnet wurde. Und dieselben Menschen, die ihm dieses Integrationssiegel von außen aufgedrückt hatten, nahmen ihm das dann auch wieder weg, als er aus ihrer Sicht Fehler machte.

Wie viele Jungs und Mädels mit ähnlichem kulturellem Hintergrund aus meiner Generation habe ich zu Özil aufgeschaut. Das war einer, der es geschafft hat, dachten wir. Der voll und ganz akzeptiert ist. Dessen Trikot auch von vielen Deutschen ohne Migrationshintergrund getragen wird. Umso ernüchternder waren die Ereignisse im Sommer 2018. Nach der Veröffentlichung des Erdoğan-Fotos mussten wir mit ansehen, wie Özil regelrecht zum Feindbild wurde. Im Internet wuchs der Hass gegen einen, der angeblich nicht entschieden genug zu Deutschland steht und es folglich auch nicht vertreten darf. (Gündoğan erging es anders. Er hat keine doppelte Staatsangehörigkeit, nicht so viele Fans wie Özil und war nie öffentlich zum Integrationshelden stilisiert worden. Daher blieb ihm ein ähnlicher medialer Shitstorm erspart.)

Das Problem war längst nicht mehr, was Özil fußballerisch geleistet hatte oder dass er sich mit Erdoğan hatte ablichten lassen. Nun ging es auf einmal nur noch darum, wer er eigentlich ist. Man verlangte Klarheit von ihm: Bist du Türke oder Deutscher? »Gibt es Kriterien, ein vollwertiger Deutscher zu sein, die ich nicht erfülle?«, fragte Özil schließlich in seiner in sozialen Medien veröffentlichten Erklärung, mit der er sich nur einen Monat nach dem WM-Aus aus der Nationalmannschaft verabschiedete. Darin schrieb er auch über Morddrohungen gegen ihn und seine Familie. Und darüber, wie der Deutsche Fußballbund ihm in dieser schwierigen Zeit den Rücken gekehrt habe. »In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Migrant, wenn wir verlieren.«8 Autsch.

Özil war nicht nur selbst tief getroffen, er brachte für viele auch eine schmerzhafte Erkenntnis auf den Punkt, die letztlich den jahrzehntelangen Umgang mit Migrantinnen und Migranten in Deutschland betrifft: Sie sind Deutsche, wenn sie funktionieren, und Immigranten, wenn sie nicht funktionieren, ungemütlich werden oder Fehler machen.

»Wenn ich treffe, bin ich Franzose. Wenn nicht, bin ich Araber.«9 Ähnliche Worte, anderes Land. Sie stammen vom französischen Stürmer Karim Benzema. Ich und viele andere Menschen mit Migrationshintergrund wissen ganz genau, was er und Özil spüren. Denn wir spüren es ja auch, jeden Tag. Wir werden ausgegrenzt, wir merken, dass wir oft als »anders« wahrgenommen werden, weil man uns zum Beispiel in gewissen Bereichen benachteiligt – wenn wir eine Wohnung suchen, uns auf eine Stelle bewerben oder einfach nur zum Tanzen in einen Club reinwollen. Diesen Umgang erfahren wir immer wieder, sosehr wir uns auch anstrengen, Teil der Gesellschaft zu sein. Um Ausgrenzung zu erleben, müssen wir uns nicht erst mit Erdoğan fotografieren lassen. Diskriminierung erleben wir auch so.

Die meisten von uns, die mehr als eine Sprache sprechen oder für die Heimat nicht nur ein einziger Ort ist, wissen genau, wie in der Regel über uns geurteilt wird, sobald wir aus der Reihe tanzen und die Erwartungen nicht erfüllen. Du sitzt zwischen den Stühlen. Du fühlst dich unsicher, weil du nicht weißt, wann du das nächste Mal wieder als Migrant oder Fremder abgestempelt wirst. Unübersehbar standen für uns, die wir wie Özil einen Migrationshintergrund haben, zwei zentrale Fragen im Raum, auf die nicht nur wir eine Antwort geben müssen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft: Ab wann sind wir integriert? Und wird man uns überhaupt jemals als Deutsche betrachten?

Özils Rücktritt hat sich nicht nur auf mich, sondern auch auf viele andere Menschen mit Migrationshintergrund ausgewirkt und für viel Verunsicherung gesorgt. Im RBB-Fernsehen erzählte etwa der Integrationsbeauftragte des Berliner Fußball-Verbandes, Mehmet Matur, nach Özils Rücktritt hätten viele Jugendliche mit ähnlichem kulturellem Hintergrund Angst, wenn sie in der Türkei Urlaub machten und Fotos vor der türkischen Flagge entstünden. »Muss ich dann befürchten, dass ich auch aus der Mannschaft rausfliege?«, fragten sie Matur.10

Özils anfängliches Schweigen nach der Veröffentlichung der Fotos sorgte für dieses unangenehme Vakuum, das von gewissen Medien gerne mit Material gefüllt wird. Stille entfacht das Bedürfnis nach Deutungen und Kommentaren. Wir bewegen uns in einem medialen Umfeld, in dem wir nicht warten können, bis sich jemand selbst äußert – zu groß sind die Sensationsgier und die Urteilslust. Und zu stark war in Özils Fall das Bedürfnis nach Sündenböcken und Schuldigen. Was Kolumnisten und das Netz so richtig rasend machte, als Özil sich dann doch zu Wort meldete, war sein Rassismus-Vorwurf gegenüber Journalisten, Hatern, Politikern und Sportfunktionären. Sofort wurden seine Anschuldigungen als »schwachsinnig« abgetan. Hier wolle einer bloß wieder rumjammern und die Rassismus-Keule schwingen? Klar, Özil war getroffen und reagierte emotional. Die Kritik an seiner Leistung, vermischt mit der Frage nach seinen Werten, hatte ihn tief verletzt.

Der Frust, der sich in Özils Statement ausdrückte und der sich offenbar lange angestaut hatte, machte mich betroffen – und ich war ja auch buchstäblich betroffen. Es war zu befürchten, dass das krachende öffentliche Scheitern einer vermeintlich positiven Integrationsgeschichte vor allem Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten gießt.

Der Startschuss fällt

Ich war keineswegs der Einzige, dem es so ging. In den sozialen Medien rumorte es gewaltig. Es herrschte offenkundig enormer Redebedarf. Und ich hatte immer stärker das Bedürfnis, etwas dazu beizutragen, dass die Leute hier in Deutschland offen, ehrlich und fair über Diskriminierung sprechen und gehört werden konnten.

Und so kam mir letztlich die Idee zu #MeTwo. »Ein Foto mit Erdoğan als unpolitisch zu bezeichnen, ist im besten Fall naiv. Aber Mesut Özil ist nicht der einzige Spieler, der wegen seiner Herkunft angefeindet wird – und bei Weitem nicht der einzige Mensch. Es wird Zeit für ein #MeToo der Menschen mit Migrationshintergrund, die sich tagtäglich diskriminiert sehen.«11 So kommentierte ich im Juli 2018 das öffentliche Foulspiel an Özil.

Der Startschuss für #MeTwo fiel in Kooperation mit dem Onlinemagazin Perspective Daily. Warum habe ich mich für diese Zusammenarbeit entschieden? Weil die Redaktion von Perspective Daily bislang die einzige in Deutschland ist, die sich voll und ganz dem sogenannten Konstruktiven Journalismus verschrieben hat – einem Journalismus gegen die mediale Weltuntergangsstimmung. Die Frage »Wie kann es weitergehen?« ist für die Autoren und Autorinnen von Perspective Daily zentral. Eine wirklich wichtige Frage, die ich mir auch immer wieder stelle. Denn in wissenschaftlichen Studien wurde mittlerweile nachgewiesen, dass das Bild der meisten Menschen von der Welt negativer ist, als es objektive Daten eigentlich hergeben (nicht nur bei Migrationsthemen). Einer, der sich mit diesem Phänomen eingehend beschäftigt hat, war Hans Rosling, ein schwedischer Professor für Internationale Gesundheit. Rosling sammelte Fakten, um zu beweisen: Die Welt ist besser, als wir denken und vor allem fühlen. In seinem inzwischen berühmten »Ignoranztest«12 stellte er zum Beispiel Fragen zur Entwicklung der extremen Armut oder zur Alphabetisierungsrate weltweit. Nur etwa sechs Prozent der befragten Deutschen gaben eine richtige Einschätzung ab.13 Die meisten sahen die Welt viel pessimistischer, als sie ist. Das kann zu Stress führen, macht zynisch und im schlimmsten Fall hilflos. Den Machern von Perspective Daily geht es darum, bei Problemen nicht den Kopf in den Sand zu stecken und das kritisch-konstruktive Denken anzukurbeln – und das immer in einem unaufgeregten, reflektierten Ton.

Ich finde diesen Ansatz mehr als sympathisch. Es ist wichtig, nach vorne zu schauen und Lösungen aufzuzeigen, statt immer nur zu klagen. Deshalb bin ich auch Sozialaktivist: Statt mich bei Herausforderungen in einer Problem-Trance zu verlieren, möchte ich die Energie in nach vorne gerichtete Aktionen stecken.

Mit dem Magazin kam ich 2017 in Kontakt, als ich mein erstes Buch Hotline für besorgte Bürger veröffentlichte. Die Journalistin Juliane Metzker, die über Migration und arabische Welten schreibt, führte mit mir ein Interview über das Buch, und danach blieben wir in Verbindung. Auch weil ich als Reporter für das junge Format WDR COSMO bereits journalistische Erfahrungen gesammelt hatte und mehr in dieser Richtung machen wollte. Das, woran Juliane und ich dann tatsächlich zusammenarbeiteten, war allerdings um einiges größer, als wir es uns jemals hätten träumen lassen.

Nachdem ich auf Facebook geschrieben hatte, dass Menschen mit Migrationshintergrund eine Bewegung bräuchten ähnlich der zu #MeToo, erreichten mich einige Nachrichten: »Mach du das, Ali!«, »Gute Idee!«, »Warum nicht?!« – Ja, warum eigentlich nicht?, dachte ich mir dann auch. Irgendjemand musste ja den Anfang machen. So rief ich am 24. Juli morgens Juliane an. Sie war gleich offen für meine Idee, und wir entschieden, die Sache noch am selben Tag anzugehen: Wir wollten mit einem Hashtag in sozialen Medien Menschen dazu ermutigen, über ihre Rassismuserfahrungen in Deutschland zu erzählen. (Für alle, die nicht wissen, was ein Hashtag ist: Es ist ein Begriff, dem eine Raute – also das #-Symbol – voransteht. Damit bündelt man online in Foren und Kurznachrichtendiensten wie Twitter Themen, die dadurch leichter gefunden und zugeordnet werden können.)

Klar, das Thema Rassismus ist nicht neu, und es hat durchaus schon einige Internetaktionen dazu gegeben. Aber es ist doch so: Jedes Mal, wenn in Deutschland Alltagsrassismus thematisiert wird, wird er auch genauso schnell wieder aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Das ließ sich beispielsweise beobachten, als der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland meinte, so einen wie Fußball-Weltmeister Jérôme Boateng wollten »die Leute« ja nicht zum Nachbarn haben. Bei aller Aufregung hieß es ganz schnell wieder: Rassismus? Nein, so was gibt es hier nicht! Genau dasselbe wäre nach der Özil-Geschichte beinahe wieder passiert.

Deshalb wollten Juliane Metzker und ich einen Hashtag kreieren, der zwei Aspekte vereint: Er sollte Alltagsrassismus in Deutschland sichtbar machen und zugleich dafür werben, dass Menschen mit einer pluralen Identität endlich akzeptiert werden. Den kleinen gelben Zettel, auf dem wir dann einen Namen erörterten, hält Juliane bis heute in Ehren. In zwei Reihen stehen darauf Formulierungen, die in verschiedenen Variationen Diskriminierung und Migration abbilden sollten: #MigToo für »MigrationToo«, #MiToo oder noch deutscher: #MiAu (»Mir auch«). Am Ende hätte aber wohl keiner dieser Vorschläge die Botschaft so gut transportieren können wie #MeTwo. Die Nähe zu MeToo besteht nicht nur in der Aussprache, sondern auch inhaltlich: Sowohl bei MeTwo als auch bei MeToo schildern Betroffene ihre Erfahrungen mit Diskriminierung.

Hinter »Ich zwei« verbirgt sich nicht nur die Kritik an den Umständen, sondern darüber hinaus auch eine ermutigende Botschaft an all jene, die Identität nicht als Einbahnstraße begreifen. Dieser perspektivische, konstruktive Aspekt war mir enorm wichtig! Die Zahl Zwei in dem Hashtag ist eher als Variable gemeint und steht für mehr als eine kulturelle Prägung und Bindung. In diesem Sinne sollte die von mir hier im Buch häufiger verwendete Anspielung auf die Redewendung »zwei Seelen schlagen in der Brust« nicht immer wortwörtlich verstanden werden. Sie steht vielmehr für eine plurale Identität. Die Zwei drückt aus, dass man einerseits deutsch ist und gleichzeitig etwas hat, das von außen als der »ausländische Teil« gelesen wird. Welche Bedeutung genau dahintersteckt, habe ich dann in einem Video erklärt, das den eigentlichen Startschuss für #MeTwo gab. Großes Kino war das zwar nicht, aber es fasste unser Anliegen zusammen:

Özil will nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen, weil er von vielen rassistisch angefeindet wurde. Er ist nicht der einzige Spieler, der wegen seiner Herkunft diskriminiert wurde – und bei Weitem nicht der einzige Mensch. Auch ich habe einen Migrationshintergrund und den sieht man mir an. Was man mir aber nicht glauben will, ist, dass ich für demokratische Werte einstehe.

Auch ich wurde deshalb schon oft diskriminiert – in der Disko, in sozialen Medien oder bei der Wohnungssuche.

Gestern habe ich für Perspective Daily kommentiert, dass wir eine neue Debatte über Alltagsrassismus brauchen. Eine echte #MeToo-Debatte für Menschen mit Migrationshintergrund. So viele von euch fanden die Idee super und deswegen gibt es ab heute einen neuen Hashtag. #MeTwo ist der neue Hashtag gegen Diskriminierung von Minderheiten.

Warum 2? Weil ich mehr bin als nur eine Identität. Ich fühle mich in Deutschland zu Hause, habe hier Freunde und gehe hier arbeiten – und gleichzeitig kann ich mich auch zu einer anderen Kultur, einem anderen Land verbunden fühlen. Weil das Land mich beispielsweise geprägt hat, meine Eltern dort geboren sind oder ich die Sprache mag. Die 2 Seiten verschmelzen, stehen nicht im Widerspruch. Ich bin nicht nur deutsch, weil ich mich an die Regeln halte oder Erfolg habe, ich bin es immer und auch das andere. Das ist wertvoll für mich, das ist wertvoll für alle. Unsere Gesellschaft ist keine Monokultur. Deshalb: #MeTwo. Welche Erfahrungen habt ihr mit Diskriminierung gemacht? Lasst uns endlich frei darüber sprechen mit dem Hashtag #MeTwo.14

Let’s talk!

Am 24. Juli 2018 nahm ich das Video im VielRespektZentrum in Essen (dazu später mehr) auf, und noch am selben Abend teilten wir es dann in den sozialen Medien. In kurzer Zeit wurde der Aufruf von Hunderten Menschen weiterverbreitet. Die Kommentare darunter reichten von »Vollste Unterstützung« für die Aktion bis hin zu dem erwartbaren Augenrollen »Nicht noch so eine Rassismusdebatte«. Aber das hier war gerade nicht »noch so eine«, sondern viel mehr. Das zeigte sich spätestens zwei Tage darauf, als sich mittlerweile Tausende online trauten, ihre Diskriminierungserfahrungen zu schildern. Darunter waren beeindruckende und, ja, bedrückende Beiträge. Bevor Betroffene einige dieser Tweets lesen, möchte ich davor warnen, dass die hier geschilderten Situationen eventuell alte Wunden aufreißen können:

Mein erster Tag auf dem Gymnasium 2003. Erstes Mal Pausenhof.

Ich hatte Dreadlocks.

Ältere Kinder: Du Affe, das ist nicht die Baumschule mit deinem Palmenkopf! Das ist das Gymnasium! Was hast du hier zu suchen?!? Ich: #MeTwo15

#metwo 7.Klasse Elternsprechtag, 1er-Schüler: Meine Mutter wird v.d. Lehrerin nach meinem Berufswunsch gefragt. Auf »Arzt« erwiderte d. Lehrerin, als Ausländerkind solle ich mir d. abschminken. 27Jahre später bin ich leitender Oberarzt u. ärgere mich noch immer über sie.16

Als Kind dabei zusehen, wie die Eltern wüst von Fremden beschimpft werden (für ihr schlechtes Deutsch oder einfach nur ihre Existenz). Aber sie können dich nicht beschützen und du sie auch nicht. #Metwo17

»hier kommt noch einer, sach (sag) mal.. gibt es keine deutschen Ärzte mehr?!«.. ein Patient, den ich in der überfüllten Notaufnahme versorgen musste, zu seiner Freundin.. #MeTwo18

Wenn du über Immoscout freie Wohnungen kontaktierst & einfach keine Antwort bekommst, aber die deutsche Freundin bei gleichen Angeboten sofort Antworten erhält. Nach Ehe & Namensänderung hat sie auch keine Antwort mehr bekommen.19

»Schau mal, das Netz explodiert!« Ich war gerade unterwegs, als mir eine Bekannte diese Nachricht schrieb. Dann öffnete ich Twitter und war platt. Ich traute meinen Augen nicht. Innerhalb weniger Stunden wurde #MeTwo am 26. Juli 2018 zu einem der am meisten frequentierten Hashtags in Deutschland. Das war eine beachtliche Leistung, denn an jenem heißen Julitag trendete ansonsten vor allem das Schlagwort #Hitze. Und hitzig ging es auch im Netz zu: Plötzlich las ich von so vielen anderen, dass sie sich genauso fühlten wie ich. Allmählich dämmerte mir, was wir hier losgetreten hatten. Das ständige Kleinhalten und Verharmlosen von Rassismusthemen, dieses paternalistische »Stell dich mal nicht so an!« hatte eine beträchtliche Anzahl von Menschen in diesem Land ganz einfach satt. Nun war für sie der Moment gekommen, aus ihrer Perspektive über das Leben mit Migrationshintergrund zu schreiben. Viele hatten schon daran gezweifelt, dass wir als Betroffene wirklich eines Tages ernsthaft über Rassismus in Deutschland sprechen würden. Dass wir einen so großen Resonanzraum dafür bekämen. #MeTwo zeigte uns und allen anderen: Wir bilden uns die Diskriminierung nicht ein. Sie ist real. Dabei waren die Beiträge selbst keineswegs pauschale Rassismus-Unterstellungen, im Gegenteil: Die allermeisten, die sich zu Wort meldeten, erzählten ehrlich und direkt von dem, was sie erlebt hatten. Zehntausende Geschichten, die sich Menschen auf diese Weise von der Seele schrieben, verkündeten laut und deutlich: Ob in der Schule, bei der Wohnungssuche oder im Krankenhaus – wer in Deutschland einen Migrationshintergrund hat, kann an vielen Stellen Probleme bekommen, ohne irgendetwas falsch gemacht zu haben. Und das Ganze hat System.

Rückblickend waren die darauffolgenden intensiven Wochen sozusagen der erste Schritt, der in keiner Rassismusdebatte fehlen darf: Erst einmal sprechen die Betroffenen, die Nichtbetroffenen hören zu. Für all die, die damals #MeTwo nicht von Anfang an mitverfolgt haben oder kein eigenes Twitter-Profil besitzen: Im Internet – beispielsweise auf Twitter, Instagram oder Facebook – lassen sich unter dem Suchbegriff #metwo die meisten Anekdoten und Meinungen nach wie vor finden. Damit kann man sich ein eigenes Bild machen.

Natürlich war die Aktion nicht einfach nur als Ventil gedacht: einmal heiße Luft ablassen und schauen, wie sie verpufft. Unser Ziel war, am Ende konkrete Handlungsfelder abstecken zu können, und alle, die sich mitgeteilt haben, haben dabei geholfen. In der ersten Woche nach dem Start des Hashtags posteten insgesamt 39 000 Accounts beziehungsweise Benutzerkonten mit #MeTwo.20 Das wäre in etwa so, als hätten sich alle Einwohner der Kleinstadt Schwäbisch Hall auf einer Plattform registriert und Beiträge veröffentlicht. Der Großteil der deutschen Gesellschaft weiß sicher nicht, was jeden Tag so in Schwäbisch Hall los ist. Genauso verhielt es sich mit #MeTwo – von außen schaut man auf eine Blackbox, deren Inhalte durch Medien gefiltert werden und in diesem Zustand zu einem selbst durchsickern. Was geschah also wirklich?

Juliane Metzker und der Datenanalyst Luca Hammer konnten mithilfe einer Datensammlung genau nachzeichnen, wie sich der Hashtag entwickelte. Luca nutzte die Programmierschnittstelle (API) von Twitter, um alle öffentlichen Tweets, die den Hashtag #MeTwo enthielten, zu sammeln. So konnte er untersuchen, zu welchem Zeitpunkt wie viele Tweets veröffentlicht wurden, welche Begriffe besonders häufig vorkamen, welche Nutzer wie viele Tweets veröffentlichten und welche Accounts am häufigsten weiterverbreitet wurden.

Die ersten fünf reichweitenstärksten Tweets mit #MeTwo veröffentlichte der Journalist Malcolm Ohanwe. Darin beschrieb er, wie er in der Schule und bei der Arbeit aufgrund seiner Hautfarbe und seiner Herkunft diskriminiert wurde. Die oben schon zitierte Geschichte von dem kleinen Jungen mit den Dreadlocks an seinem ersten Schultag ist Malcolms. Er ist gut in der Aktivistenszene vernetzt, die sich gegen Rassismus engagiert. Seine #MeTwo-Beiträge erreichten also direkt die Multiplikatoren. Die wiederum teilten Malcolms Tweets und schrieben neue mit ihren eigenen Erfahrungen. In den folgenden Stunden kamen so Dutzende Nachrichten von Betroffenen zusammen, die über Twitter miteinander vernetzt sind. Zu ihnen zählte auch eine Anti-Rassismus-Aktivistin, die unter dem Pseudonym Ash viel zu diesen Themen twittert.

Dass selbst Aktivisten und Aktivistinnen wie Malcolm und Ash bei #MeTwo mitmachten, war nicht selbstverständlich. Immerhin führen sie oft schon seit Jahren den Kampf gegen Rassismus, und nicht selten ernten sie dafür einen Haufen Frustration oder im schlimmsten Fall Anfeindungen.

Am 26. Juli 2018 wurden im Sekundentakt Hunderte Tweets geteilt und kommentiert. Bald bekamen auch die Medien spitz, dass sich da etwas Größeres tat, und begannen zu berichten: »#MeTwo offenbart alltäglichen Rassismus in Deutschland« (Süddeutsche Zeitung)21, »Twitter-User teilen unter #MeTwo gerade ihre krassen Erfahrungen mit Rassismus« (Neon)22, »Nach Özil-Rücktritt: Twitter-Nutzer teilen unter #MeTwo ihre Rassismus-Erfahrungen im Alltag« (Meedia)23. Ein Artikel jagte den nächsten, und mein Handy summte ständig. Presseanfragen hier, Presseanfragen dort. Ich war gar nicht darauf vorbereitet, eine Art Kampagne zu leiten, wusste aber, dass ich jetzt liefern musste. Für die Interviews mit internationalen Medien musste ich mir Hilfe holen. Mein Englisch ist nämlich, gelinde gesagt, ausbaufähig.

Es dauerte nicht lange, dann war #MeTwo auch in der Politik »ganz oben« angekommen – im Bundestag. Als eine der Ersten meldete sich die Linken-Abgeordnete Katja Kipping zu Wort. Sie teilte meinen Aufruf bei Facebook mit den Worten:

Gern unterstütze ich die Initiative von Ali Can für einen Antidiskriminierungs-Hashtag. Auch wer nicht im geringsten Verdacht steht, ein Rassist zu sein, hat mitunter kaum eine Vorstellung davon, was es bedeutet, für seine Herkunft oder sein Aussehen diskriminiert zu werden und was rassistische Diskriminierung in Menschen anrichtet.24

Auch Außenminister Heiko Maas (SPD), der sich in den darauffolgenden Tagen über das Image von Deutschland in der Welt nach #MeTwo Sorgen machte, reagierte sehr schnell:

#MeTwo hat bei Weitem nicht nur mit »Alltagsrassismus« zu tun. Denn: Was soll das sein? Wir müssen begreifen: Gerade der flapsige Spruch bei der Arbeit oder die verächtliche Geste in der Bahn können manchmal schmerzhafter sein als die platten Parolen von Halbstarken mit Glatzen.25

Cem Özdemir von der Partei Bündnis 90/Die Grünen, einer der ersten Abgeordneten im Bundestag mit türkischen Eltern, machte gleich bei #MeTwo mit. Er teilte seine eigene Erfahrung mit Rassismus:

In der 4. Klasse fragte der Lehrer, auf welche weiterführende Schule wir gehen wollten. Ich hob den Arm beim Gymnasium. Der Lehrer lachte, dann stimmte die ganze Klasse mit ein. Mein Wunsch war das eine, meine Noten das andere. In der 5. kam ich auf die Hauptschule. #MeTwo26

Viele weitere Mitglieder des Bundestages brachten zum Ausdruck, dass sie die Debatte verfolgten und wohlwollend unterstützten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lud daraufhin zu