Hotline für besorgte Bürger - Ali Can - E-Book

Hotline für besorgte Bürger E-Book

Ali Can

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Beschreibung

"Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns." (Rumi, persischer Mystiker) Kein Thema hat unsere Gesellschaft jüngst so polarisiert wie die Flüchtlingskrise. "Gutmenschen" und "Rassisten" stehen sich unversöhnlich gegenüber, ohne Polemik kommt kaum eine Äußerung aus, zum Dialog ist man nicht bereit. Das will Ali Can ändern, der selbst vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen ist. Er geht aktiv auf die Menschen zu, reicht ihnen die Hand, interessiert sich für ihre Ansichten und hat dazu eine Telefon-Hotline für besorgte Bürger ins Leben gerufen, über die sie ihre Sorgen äußern können. Ali Can zeigt in seinem Buch, dass Integration gelingen kann und stellt klare Forderungen an Politik und Gesellschaft.

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Seitenzahl: 284

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungProlog: Bin ich hier richtig?Der Junge aus Pazarcik»Der war eigentlich ganz nett …«: Die Hotline geht an den StartIm Gespräch mit …Wie Familie?Was mich nach dem Gespräch bewegteGlaube, Gefühle und GewissheitWas mich nach dem Gespräch bewegteEin Gespräch auf Augenhöhe?Was mich nach dem Gespräch bewegteIntegriert wie ein Deutscher?Was ist deutsch? »Alis Integrationstest«Anmerkung zu »Alis Integrationstest«Epilog: Für mehr Wir-GefühlWeil wir Begegnungen brauchen …… um ins Gespräch zu kommenAlles klar? Ein persönlicher ExkursWas wertschätzende Kommunikation wert istCheckliste: 5 Punkte für ein Gespräch auf AugenhöheDanke!Quellen

Über das Buch

»Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.« (Rumi, persischer Mystiker) Kein Thema hat unsere Gesellschaft jüngst so polarisiert wie die Flüchtlingskrise. »Gutmenschen« und »Rassisten« stehen sich unversöhnlich gegenüber, ohne Polemik kommt kaum eine Äußerung aus, zum Dialog ist man nicht bereit. Das will Ali Can ändern, der selbst vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen ist. Er geht aktiv auf die Menschen zu, reicht ihnen die Hand, interessiert sich für ihre Ansichten und hat dazu eine Telefon-Hotline für besorgte Bürger ins Leben gerufen, über die sie ihre Sorgen äußern können. Ali Can zeigt in seinem Buch, dass Integration gelingen kann und stellt klare Forderungen an Politik und Gesellschaft.

Über den Autor

Ali Can war selbst Asylsuchender, als sich seine Familie mit ihm im Jahr 1995 aus einer Kleinstadt nahe der syrischen Grenze auf den Weg nach Warendorf bei Münster machte. Dort wurde die Familie bis 2008 geduldet und zog dann mit dem ersten eingeschränkten Aufenthaltstitel nach Hessen um. An der Universität Gießen befindet sich Ali mittlerweile am Ende seines Lehramtsstudiums (Deutsch und Ethik). Lange stand er auch im Stadttheater Gießen auf der Bühne.

Er engagiert sich für diverse Hilfsorganisationen und gibt seit mehr als einem Jahr Workshops für den Umgang mit kultureller Vielfalt. Durch seine Friedensreise im Osten Deutschlands und seine jüngst gegründete »Hotline für besorgte Bürger« bekam er im gesamten europäischen Raum mediale Aufmerksamkeit und setzt wichtige Akzente im deutschen Integrationsdiskurs. Sein Ziel ist es, bundesweit den Dialog zwischen (besorgten) Deutschen und fremdkulturellen Menschen auf unkonventionelle und wertschätzende Art zu fördern.

ALI CAN

HOTLINE FÜR BESORGTE BÜRGER

Antworten vom Asylbewerber Ihres Vertrauens

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Hinweise:

Sämtliche Namen und geschilderten Ereignisse wurden anonymisiert und ver­fremdet, um die Persönlichkeitsrechte der Anrufer/innen zu wahren.

Und wenn in diesem Buch mehrheitlich die maskuline Form verwendet wird, so nur um der besseren Lesbarkeit willen. Ist von Lehrern, Bürgern, Politikern etc. die Rede, sind damit natürlich immer auch Lehrerinnen, Bürgerinnen und Politikerinnen gemeint, sofern nichts anderes aus dem Kontext ­hervorgeht.

Originalausgabe

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Swantje Steinbrink, Berlin

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Titelfoto: © Manfred Esser, Bergisch Gladbach

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4832-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für meine Eltern

Prolog: Bin ich hier richtig?

Mit besorgten Bürgern könne man einfach nicht reden – vor allem nicht mit jenen, die auf der Pegida-1 oder AfD-Welle mitschwimmen. So oder so ähnlich höre ich es immer wieder in meinem Umfeld. Selbst der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat sich auf die Frage, ob Pegida-Demonstranten durch Gespräche zu erreichen seien, folgendermaßen geäußert: »(…) wer so gründlich und ausdauernd seinen Frust pflegt, dass er nicht mehr zuhört, den erreicht man auch mit noch so vielen Angeboten für Gespräche nicht.«2 Als ich das las, fragte ich mich, ob er selbst denn zugehört hat und wie viele Gespräche er geführt haben muss, um so ein Urteil über tausende Menschen fällen zu können. Das Zitat verdeutlicht eine Haltung, wonach einem Pegida-Demonstranten, auch als besorgter Bürger bekannt, eine passive Zuhörerrolle zukommt. Er müsse zuhören, um überzeugt zu werden. Aber, so Gauck, der gemeine Pegida-Demonstrant wolle ja lieber seinen Frust äußern. Dabei will man ihnen doch Fakten vermitteln – vergeblich. Und so war der ehemalige Bundespräsident ebenso wie viele andere Menschen, die sich nicht zu den besorgten Bürgern zählen, der Meinung, dass Letztere nicht über Gespräche zu erreichen seien. Ich kann das verstehen, denn sobald ich selbst oberlehrerhaft daherkam, scheiterte jede Kommunikation zwischen mir und einem aufgebrachten Bürger. Und damit auch jeder Lösungsansatz mit Blick auf die Herausforderungen und Bedürfnisse der Betroffenen.

Ich glaube nicht, dass sich die Beweggründe der besorgten Bürger, die auf die Straße gehen oder rechtskonservative Parteien wählen, klären lassen, indem man einfach nicht mehr mit ihnen redet. Vielmehr wird sich die Lage zuspitzen. Denn dann begeben sie sich dorthin, wo ihr Frust einen Platz hat und wo sie sehr einfache Antworten auf komplexe Herausforderungen erhalten. Die Folge ist ein immer breiterer Riss durch die Gesellschaft, in der sich sogar Nachbarn, Familienmitglieder oder Arbeitskollegen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten nicht mehr gemeinsam an den Tisch setzen. Stattdessen ist nur noch von »Gutmenschen« und »rechtem Pack« die Rede, als ob es keine Grautöne mehr gäbe.

Ich bin davon überzeugt, dass die wenigsten von uns wirklich Spaß daran haben, in einer Gesellschaft voller Missgunst und Groll zu leben. Im Grunde wollen wir alle in einer funktionierenden Gesellschaft leben, in der man sich respektiert fühlt. Wenn wir uns möglichst vorurteilsfrei und wertschätzend begegnen und austauschen, werden wir diesem Ziel deutlich näherkommen – und entdecken: Nicht jeder, der sich Migranten, den Auswirkungen der Globalisierung oder der Einwanderung von Asylsuchenden gegenüber kritisch bis ablehnend äußert, ist automatisch ein Rassist. Gleichzeitig werden besorgte Bürger merken, dass ein interkulturelles, friedliebendes Miteinander möglich ist und dass wir weniger zu befürchten haben, als manch nationalistischer Rechtspopulist kundtut.

Seit ich eine Haltung des Miteinanders eingenommen habe, ist mir klar, dass wir auch eine Wende in der Rassismus- und Vorurteilsbekämpfung brauchen:

Rassismus sollte man bekämpfen, Rassisten hingegen nicht. Wie ich darauf komme? Alles fing kurz vor Ostern 2016 mit meiner ersten Reise in ostdeutsche Städte an …

Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages nach Sachsen fahren und es dort richtig schön finden würde. Woher auch? In den Sozialen Medien kursieren seit Jahren unschöne Bilder, Videos und unzählige Berichte über fremdenfeindliche Straftaten – Schüsse auf Asylbewerberheime, Brandanschläge, Schlägereien, hasserfüllte Sprüche an Hauswänden … Die Liste ist lang, und für so jemanden wie mich war dieses Bundesland nicht sonderlich attraktiv. Die zahlreichen Artikel über den Rechtsextremismus in manchen ostdeutschen Städten hatten in mir ein Bild vom rassistischen »Osten« entstehen lassen, obwohl ich bis 2016 weder in Sachsen noch in Thüringen oder Sachsen-Anhalt gewesen war. Außerdem hatte ich aufgrund der negativen Presseberichte über AfD-Veranstaltungen und Pegida-Demonstrationen, bei denen auch Journalisten attackiert worden waren, den Eindruck, dass mit einer beträchtlichen Anzahl Menschen in Deutschland keine offene Kommunikation mehr möglich war. Eine unüberwindbare Gesprächsmauer sozusagen.

Als ich Anfang Februar 2016 das sogenannte Clausnitz-Video3 gesehen hatte, war mein persönliches Fass übergelaufen: Ich war echt schockiert. Dieser wütende Mob, der einen Bus mit geflüchteten Menschen, die zu ihrer Flüchtlingsunterkunft gebracht werden sollen, blockiert. Die Männer, die aus der Meute »Ab nach Hause«, »Widerstand«, »Verpisst euch« brüllen oder chorisch »Wir sind das Volk« rufen. Und im Bus völlig verängstigte und weinende Frauen und Kinder. Gerade vor Krieg, Terror oder Diskriminierung geflohen, werden sie erneut damit konfrontiert.

Auf die Frage, was Menschen antreibt, solche fremdenfeindlichen Parolen zu skandieren und sich gegen die Einwanderung von Schutz suchenden unschuldigen Menschen aufzulehnen, gibt es sicher viele verschiedene Antworten. Doch bei meinen Recherchen habe ich keine Initiative entdeckt, die eine Möglichkeit bietet, auf jene aufgebrachten Bürger zu- und einzugehen, um derartige Angriffe auf geflüchtete Menschen in Zukunft verhindern zu können … Aber mit Blick auf die zunehmende Einwanderung von Asylsuchenden wollte ich wissen, wie ich mich als Einzelner für einen wertschätzenden Dialog in unserer Gesellschaft und für mehr Verständnis füreinander einbringen kann.

Während in meinem Umfeld ein großes Pegida-, AfD- und Sachsen-Bashing stattfand, hatte ich Hemmungen, tatenlos zuzusehen. Ich wollte aktiv werden. In meinem Kopf sprudelten die Fragen: Wie komme ich als jemand mit Migrationshintergrund und -vordergrund mit aufgebrachten Bürgern ins Gespräch? Wie kann ich an ihr Mitgefühl appellieren? Wie reagiere ich auf ihre Argumente und Sprüche? Schaffe ich es, ihre Feindbilder und Sorgen abzubauen? Hat es überhaupt einen Sinn, das Gespräch zu suchen?

Um Antworten zu finden, musste ich vor Ort sein, also jene Gegenden aufsuchen, die ich nur aus den negativen Berichten kannte. Und so beschloss ich, die aufgebrachten Menschen aus den Nachrichten zu treffen, um wenigstens miteinander und nicht übereinander zu sprechen. Denn ich war der Überzeugung, dass dies ein, wenn nicht sogar der einzige Weg zu gegenseitigem Verständnis sei. Voller Neugier begann ich, meine knapp einwöchige Reise in verschiedene sächsische Städte zu planen, ich wollte nach Leipzig, Dresden, Bautzen und Hoyerswerda …

Eine Woche vor Reisebeginn warnten mich viele Freunde, fragten, ob ich mich wirklich mit den Rechten treffen wolle. Auch meine Familie versuchte, mich von dem Risiko, »von Fremdenfeindlichen zusammengeschlagen zu werden«, abzuhalten. Wen wundert’s, dass meine eigenen Bedenken umso größer wurden, je näher die Reise in den »Osten« rückte. Andererseits gab es aber auch immer mehr Menschen, die sich an den Kosten meiner Ostdeutschland-Tour beteiligten und mir Mut zusprachen.

Aus dem Internet stellte ich mir eine Liste mit Kneipen und Restaurants zusammen, die einen traditionell deutsch klingenden Namen hatten. Ich nahm mir vor, auch in entlegene Dörfer zu fahren, dorthin also, wo vermutlich wenige Migranten lebten. Ich wollte schließlich so viele Einheimische wie möglich treffen. Zum Teil lagen die von mir ausgesuchten Gaststätten so abgeschieden, dass Freunde mir rieten, wenigstens ein paar Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Deshalb machte ich mich vorher schlau, wie lange die Polizei bis in welches Dorf bräuchte, sollte es drauf ankommen. Eine Begleitung wollte ich aber nicht mitnehmen, erstens wollte ich nicht riskieren, dass sich jemand für mich in Gefahr begab, und zweitens ging es mir ja nun mal darum, realistische Begegnungen zwischen einem Zugezogenen wie mir und einem fremdenfeindlichen Menschen zu ermöglichen.

Zwei Tage vor der Abreise bekam ich dann doch etwas Muffensausen, weshalb ich mich mit Kickboxern traf und mir einige Techniken beibringen ließ, um mich beispielsweise aus einem Würgegriff befreien zu können. Darüber hinaus besorgte ich mir eine schuss- und stichsichere Weste, die ich allerdings – um es vorwegzunehmen – kein Mal getragen habe, weil man sie unter jedem Pullover deutlich erkennen konnte. Aber daran wird klar, welch fantasievolles Kopfkino mich vor der Reise in Atem hielt. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass ich mich mit diesem ganzen Schutzschnickschnack auf dem Holzweg befand. Tatsächlich hatten mehrere Berichte über Ausschreitungen meine Wahrnehmung »des Ostens« pauschalisierend gefiltert und mich verängstigt.

Meine Reise begann in Leipzig, wo ich schon im Untergeschoss des Hauptbahnhofs meine erste interessante Erfahrung machte. Als ich am Abend aus einem Supermarkt, der zum Glück noch geöffnet hatte, herauskam, wurde ich von einer kleinen Gruppe Jugendlicher mit »Deutschland den Deutschen« begrüßt. An ein Gespräch aber war nicht zu denken, denn die Jungs und Mädels wandten sich schnell wieder von mir ab, schwenkten ihre Alkoholflaschen herum und drehten die Musik voll auf. Sie hatten sichtlich Spaß daran, Sprüche auszuteilen, fühlten sich cool und waren eher in Feier- als in Politiklaune, hatte ich den Eindruck. Also entschied ich, sie nicht auf diesen Nazi-Spruch anzusprechen, weil das Drumherum einfach nicht passte. Was hätte es mir und ihnen gebracht, den alkoholisierten Jugendlichen die Laune zu vermiesen? Schließlich geht es ja auch darum, dass etwas hängen bleiben soll, und wenn jemand neben der Spur ist, sind die Chancen dafür fast null.

In Leipzig und Umgebung machte ich mehrere Erfahrungen mit Rassismus und stellte fest, dass der richtige Rahmen der Begegnung eine wesentliche Bedingung für ein gutes Gespräch ist. Wenn mir tagsüber im Vorübergehen rassistische Sprüche an den Kopf geworfen wurden, wies ich oft nur darauf hin, dass die Worte diskriminierend und verletzend seien. Einmal war ich dabei, als eine dunkelhäutige Frau massiv beleidigt wurde. Da war es mir vor allem wichtig, mich mit der Frau solidarisch zu zeigen. Ich stellte mich an ihre Seite und sagte den vorbeifahrenden Autoinsassen wiederum nur, dass ihre Worte verletzend seien und dass das nicht gehe. Die Frau fühlte sich nicht mehr so allein und bedankte sich bei mir für die Unterstützung.

Abgesehen von einzelnen schlechten Erfahrungen habe ich in Leipzig fast nur interkulturell aufgeschlossene und weltoffene Menschen getroffen. Ich musste meine Schubladen im Kopf also dringend aufräumen. So merkwürdig es klingen mag: Ich war wirklich verblüfft, wie schön Leipzig ist und wie offen die meisten Menschen dort sind. Zwar hören die Leipziger das nicht gern, aber ich fand, es lag schöne Berlin-Stimmung in der Luft.

Kurz vor meiner Weiterreise besuchte ich die Buchmesse, die gerade stattfand. Ich ging zum Junge Freiheit- und zum Compact-Stand und suchte das Gespräch. Ich erklärte, woher ich stamme, dass mir der Riss durch die Gesellschaft Sorgen bereite und ich gerne Berührungsängste abbauen würde, aber nicht wisse wie. Mein Gesprächsangebot wurde angenommen, und wir fingen an, über diverse Themen zu sprechen. Wir hatten kontroverse Meinungen, unterhielten uns aber auf Augenhöhe. Dabei wurde mir einmal mehr bewusst, welch großen Einfluss die Umgebung auf unsere Sprechsituation hatte. Ich konnte richtig sehen, wie meine Gesprächspartner von den Passanten, die neugierig an den Stand kamen, um unserer Diskussion zu lauschen, abgelenkt wurden. Beide Gesprächspartner, also mein Gegenüber und ich, rutschten sofort in eine Rolle und traten nervöser auf. Als wir zum Beispiel über die Grenzöffnung sprachen, wurden viele Themen vermischt, so war gleichzeitig von Islam, Terroristen, schlechtem Journalismus, Merkel und USA die Rede. Noch war ich ziemlich baff, wie man so verschiedene Punkte derart vermischen konnte. Entsprechend scheiterte ich bei fast allen Aspekten, die mein rechtskonservativer Diskussionspartner einbrachte, daran, näher auf diese einzugehen. Um das Kuddelmuddel an Themen aufzudröseln, hätten wir eine ruhigere Atmosphäre und definitiv mehr Zeit gebraucht. So manche Behauptungen hätte ich nur widerlegen können, wenn ich mich auf einen einzigen Punkt einer Aussage hätte konzentrieren können. Stattdessen blieb die Unterhaltung überwiegend oberflächlich. Danach war ich natürlich ziemlich unzufrieden, weil ich das Gefühl hatte, nicht überzeugt zu haben. Aber immerhin hatten diese Rechts-Sympathisanten auf der Buchmesse ein Interesse daran gezeigt, dass ich mich für eine friedliebende Gesellschaft einsetzen wollte.

Mit diesem positiven Signal im Gepäck machte ich mich auf nach Dresden. Auf der Busfahrt in mein Hostel überlegte ich, was genau ich von meinem Pegida-Besuch eigentlich erwartete. Diesmal wollte ich, dass beide Seiten etwas mitnahmen. Doch wo und wie waren nachhaltige Gespräche möglich?

Theaterplatz, Dresden. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit waren bereits mehrere hundert Teilnehmer – vorwiegend Männer – eingetroffen. Mit meinem »südländischen« Aussehen fiel ich sichtlich auf – wie eine verirrte Seele auf der falschen Party. Die laufende Kamera in der Hand haltend, versuchte ich, mit einigen Teilnehmern ins Gespräch zu kommen. »Hallo, ich würde gerne ein wenig mit Ihnen sprechen.« Manche drehten sich einfach stumm weg, andere wiederum beschimpften mich mit »Lügenpresse«. Zweimal wurde mir erklärt, man habe es satt, falsch dargestellt zu werden. Die Leute dachten durchweg, ich würde sie bloßstellen und mich über sie lustig machen wollen. Egal, was ich sagte, ich kam an niemanden heran.

Nach einer kurzen Verschnaufpause mischte ich mich erneut unter die Leute – diesmal wohlweislich ohne Kamera. Nun wurde ich nicht mehr so angegafft und kam viel leichter ins Gespräch. Da es angefangen hatte zu nieseln, wählte ich als Aufhänger den aufkommenden Regen. Wetter ist eben ein klassisches Smalltalk-Thema: Jeder, den ich ansprach, hatte etwas dazu zu sagen. Aber ich erntete auch immer wieder sehr skeptische, teilweise befremdliche Blicke. Und den Bogen zum Flüchtlingsthema zu schlagen, wollte mir nicht gelingen. Es fehlte das gewisse Etwas, um Vertrauen aufbauen und ein gutes Gespräch führen zu können. Ich musste mir also etwas einfallen lassen.

Unterdessen hörte ich einem Pegida-Redner auf der Bühne zu, der behauptete, Zugezogene aus muslimischen Ländern würden die schöne deutsche Kultur nicht respektieren, weshalb die »Invasion« gestoppt werden müsse. War das die allgemeine Wahrnehmung? Offensichtlich, denn rings um mich wurde applaudiert und gegrölt, als hätte der Redner über den Feind gesprochen, der Schuld war an allen sozialen Problemen in Deutschland. So kam ich auf die Idee, die Worte des Redners aufzugreifen und den Demonstranten wertschätzend gegenüberzutreten. Doch wie sollte ich hier und jetzt meinen Respekt vor der deutschen Kultur beweisen? Ich hatte weder eine Deutschland-Fahne dabei, noch – Achtung: Klischee! – lief ich mit Socken in Sandalen herum, und Tugenden wie Pünktlichkeit und Ordnung konnte ich auf die Schnelle auch nicht unter Beweis stellen. Ich sah mich um, als mir die wunderschöne Semperoper förmlich ins Auge sprang. Das war’s: deutsche Kultur pur. Noch dazu erinnerte mich das Gebäude ein wenig an das Gießener Stadttheater. Der Theaterplatz in Dresden ist meiner Meinung nach tatsächlich einer der schönsten Plätze in Deutschland, womit ich einen kleinen gemeinsamen Nenner zwischen den Dresdner Pegida-Anhängern und mir gefunden haben dürfte. Auch Goethe und Schiller mussten herhalten, damit ich mit den Demonstranten ins Gespräch kam.

Bei nächster Gelegenheit pokerte ich also drauflos: »Guten Tag, ich bin zum ersten Mal in Dresden. Ich interessiere mich für Pegida und wollte mal vorbeischauen. Dresden ist echt eine wunderschöne Stadt, vor allem der Blick auf die Semperoper … Herrlich. Ich war da noch nie drin. Sind die Vorstellungen immer ausverkauft?« Während manche Teilnehmer sagten, dass sie selbst angereist seien und deshalb keine Ahnung hätten, ließen andere sich auf eine Unterhaltung mit mir ein. So sprachen wir beispielsweise darüber, wie schön oft Theatergebäude sind und dass sie zu den wichtigsten kulturellen Institutionen zählen. Einer hatte eine große Deutschland-Fahne in der Hand und fand ebenso wie ich, dass Theater einen guten Beitrag zur Bildung oder – wie er sich ausdrückte – zur »moralischen Erziehung« leisten könne. Danach redeten wir unter anderem über die Vermittlung von Kunst, Kultur und Werten, also indirekt über gesellschaftspolitische Themen.

Ein etwas älterer Herr wiederum regte sich darüber auf, dass niemand mehr ins Theater gehe. Vor allem die Jugend klebe nur am Handy und besitze keinen Sinn für Tradition. Sie konsumiere lieber elektronische Medien als hohe Kultur. Ich musste schmunzeln, denn das mit der übermäßigen Handy-Nutzung kannte ich ja nur allzu gut von mir selbst. Manche Punkte, die der Herr ansprach, fand ich deswegen tatsächlich nachvollziehbar und legitim. Ich war nicht mehr nervös und fühlte mich in unserer Unterhaltung zunehmend wohl. Er offensichtlich auch, denn er machte keine Anstalten, unsere Unterhaltung abzukürzen … Ich fragte ihn, wo die Digitalisierung seiner Ansicht nach hinführen werde, und wir erörterten gemeinsam, wie stark die Gesellschaft sich bereits dadurch verändert hat. Ich wollte natürlich auch auf die Globalisierung anspielen, doch unerwarteterweise berichtete er von seinen persönlichen Schwierigkeiten, mit der ganzen Technologie einfach nicht mehr mitzukommen. Manche Entwicklungen bedauere er – und plötzlich war er beim Thema Gendern gelandet. Ich hörte eigentlich nur noch zu, fand es aber sehr spannend, wie er von einem Thema zum nächsten wechselte und wie alles doch mehr oder weniger miteinander zusammenhing. Dann griff er das Jugendthema noch einmal auf. Die Jugend setze sich lieber mit »Welcome Refugees« statt mit Kultur und Geschichte auseinander. Ich hätte sofort etwas entgegnen können, zum Beispiel, dass ich viele Jugendliche kenne, die sich für Kultur und Geschichte interessieren. Dann wäre aus unserem Gespräch ein Wortwechsel à la »Ich habe recht. Nein, ich habe recht« geworden und vermutlich schnell zu Ende gewesen. Stattdessen fragte ich ihn unter anderem, wie sich Theaterbesuche und geschichtliche Themen für die Jugend seiner Meinung nach attraktiver aufbereiten ließen. »Gute Frage, junger Mann«, antwortete er. Ohne dass ich herausgefunden hatte, was der Herr gegen geflüchtete Menschen hatte, verabschiedete er sich nach einer guten halben Stunde, wies noch rasch auf den neuen Redner hin – »Der ist prima und lustig!« – und eilte zur Bühne … Er war mir irgendwie sympathisch, hätte gut »der nette Opa von nebenan« sein können. Was hatte ihn bewogen, bei Pegida mitzumachen? Was dachte er zur Flüchtlingspolitik? Das konnte ich leider nicht mehr fragen, doch endlich war ich mal zufrieden mit einem Gespräch.

Bevor ich mit neuen Gesprächspartnern über politische Themen sprach, warf ich erst noch etwas anderes in die Runde, zum Beispiel den Gesprächsöffner über das Theater, was allerdings mehrfach danebenging. So beklagte sich zum Beispiel eine alte Dame darüber, dass das Theater »links-grün-versifft« sei. Ich holte tief Luft und beschloss, ihr nur zuzuhören. Das Theater hetze gegen das Volk und setze sich für »diese Wirtschaftsflüchtlinge« ein. Ein Theater müsse aber absolut neutral sein, und die Schauspieler hätten gar nichts zu melden, weil »diese Volksverräter ihre Miete von unseren Steuergeldern bezahlten«. Immer wenn mir Hasstiraden wie diese entgegengeschleudert wurden, war ich erst mal sprachlos und machte mich dankend aus dem Staub.

Da stand ich nun inmitten der drei- bis viertausend Besucher, als plötzlich der nächste Sprechchor losbrach: »Abschieben, abschieben, abschieben.« Prompt gingen mir meine eigene Geschichte, das Schicksal mancher Freunde und die Bilder aus dem zerstörten Aleppo durch den Kopf. Wohin abschieben? Warum? Ich konnte einfach nicht glauben, dass all diese Menschen den Schutz von geflüchteten Menschen infrage stellten. Von weitem erblickte ich den netten, älteren Herrn von vorhin. Auch er rief mit. Ich war fassungslos. War das Flüchtlingsthema womöglich ein Ventil für andere Probleme? Auf jeden Fall meinte ich zu spüren, dass alle um mich herum unzufrieden waren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Von einer Demonstrantin erfuhr ich, dass sie ebenso wie ich zum ersten Mal bei einer Pegida-Demo sei. Sie sorge sich um ihre älteste Tochter, die demnächst von Sachsen zum Studium nach Frankfurt am Main ziehen wollte. Seit den Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln sei sie verunsichert und der Einwanderung von Muslimen gegenüber skeptisch. Es gebe eben keine andere Plattform als Pegida, um ihre Sorgen frei äußern zu können, ohne gleich als Rassist abgestempelt zu werden. Sie sagte, dass sie nichts gegen Flüchtlinge habe und in vielen Punkten nicht mit den heutigen Rednern übereinstimme. »Aber wenn ich über das Mann-Frau-Bild der Flüchtlinge rede, darüber, was die so mit uns deutschen Frauen anstellen, werde ich hier zumindest nicht blöd angeguckt. Hier sind auch andere besorgte Bürger.« Diese Bemerkungen stimmten mich nachdenklich: Offenbar gab es in ihren Augen keine vergleichbaren Angebote, die für ihre Bedenken infrage kamen.

Nachdem die deutsche Nationalhymne gesungen worden war, sprach ein Redner über das »christliche Abendland« und ging auf Ostern ein. Da fiel mir der Schokoladen-Osterhase in meiner Tasche ein, und ich holte ihn heraus, um ihn zu essen. Neben mir stand ein Pärchen, das beim Anblick des Hasen schmunzelte. Die Frau hielt mir ihre offene Hand hin und deutete auf die Schokolade. Da war jemand scharf auf die Schokolade, dachte ich und erinnerte mich an einen Zeitschriftenartikel, der davon handelte, dass Männer besonders gut bei Frauen ankommen, wenn sie Humor zeigen und die Frau neugierig machen können. Spontan zügelte ich meine Lust auf Schokolade und spazierte mit dem goldenen Schokohäschen durch die Menschenmenge auf dem Theaterplatz. Vielleicht hatte ich ja endlich das gewisse Etwas in der Hand. Demonstrativ hielt ich den Osterhasen hoch, dazu ein charismatischer Blick … Und? Hatte ich zuvor das Gespräch mit den Pegida-Anhängern gesucht, wurde ich nun auch mal von ihnen angesprochen. Einer fragte, ob das der Pegida-Hase sei. »Klar«, antwortete ich, »den habe ich geschenkt bekommen, weil ich für einen ehemaligen Asylbewerber ziemlich integriert bin.« Damit stieß ich auf offene Ohren. »Ah, echt? Wer bist du, woher kommst du?« Als klar war, dass sie nicht Gießen, sondern meine Herkunft, also die südöstliche Stadt in der Türkei meinten, konnte ich von mir und meiner Geschichte erzählen, und dann flutschte es.

Ein Mann kam einfach auf mich zu und wollte wissen, wieso ich einen Osterhasen in der Hand halte. »Ist doch bald Ostern«, sagte ich. Daraufhin nahm er an, ich sei ein christlicher Syrer. Er war begeistert von meinen Deutschkenntnissen und fragte, wie es denn »da drüben« – also in Syrien – momentan aussehe, ob ich dort nicht helfen wolle. Ich habe ihm erzählt, dass ich zwar kein Syrer sei, dennoch von verheerenden Folgen für Millionen von Menschen wisse. Er war sichtlich interessiert an dem Bürgerkrieg, der auch für mich undurchschaubar geworden war. Am Ende erklärte ich, dass Syrer, so gerne sie in der Heimat geblieben wären, nicht dort bleiben konnten, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben. Um uns herum war es sehr laut, und er wollte mir freundlicherweise weitere Pegida-Teilnehmer mit Migrationshintergrund vorstellen. »Dann sind Sie hier nicht so allein. Weiter vorne ist zum Beispiel ein Schwarzer. Ganz netter Typ. Alle für Deutschland.« Wir gingen ein bisschen in der Menge umher, bis wir vor einer Hooligan-Gruppe landeten, vor denen tatsächlich ein dunkelhäutiger Pegida-Ordner stand und sich mit den Männern unterhielt. Ich verabschiedete mich von dem Herrn, der mich hierhergeführt hatte, und machte mich daran, die grölende Menge für einen Moment zu verlassen. Da gingen zwei Männer an mir vorbei und riefen: »Schaut mal … Der da kommt aus dem Orient und feiert mit uns Ostern.« Ich drehte mich zu ihnen und erwiderte: »Prima nicht? Damit habe ich die drei magischen O zusammen: Ich bin aus dem Orient, aber zu Ostern im Osten Deutschlands.«

Mit meinem Schokohasen in der Hand gelang es mir, viele Gespräche zu beginnen und die anfängliche Barriere des Misstrauens aufzulösen. Mit dem einen oder anderen konnte ich auch diskutieren, ohne dass wir uns gegenseitig verletzten. Die meisten verabschiedeten sich mit einem freundlichen Lächeln. Doch um die geballte Ladung an Vorurteilen und den Hass aufzufangen, der von den Rednern verbreitet wurde, wären sehr viel mehr Migranten des Vertrauens nötig gewesen. Klar war auch, dass auf einer so großen Veranstaltung keine günstigen Rahmenbedingungen für konstruktive Gespräche herrschen und dass ich von niemandem – und sei er noch so engagiert – erwarten konnte, mit einem Schoko-Osterhasen nach Dresden aufzubrechen, um Gespräche mit besorgten Bürgern zu führen. Wenn sich jedoch überall in Deutschland viele zugewanderte Jugendliche zu »Migranten des Vertrauens« erklärten, könnten Rechtspopulisten das Bild von Geflüchteten so verzerren, wie sie wollten: »Das Volk« wüsste selbst, wie die eingewanderten Menschen so drauf sind. Vornehmliche Aufgabe von jungen »Migranten …«, »Asylbewerbern …«, »Syrern …« oder wem auch immer »… des Vertrauens« ist es, den Zugang zu besorgten und rechtsgesinnten Bürgern herzustellen, um mit der Zeit Vorurteile auf beiden Seiten ab- und Vertrauen aufzubauen. So wird der zugewanderte Mensch nach und nach nicht mehr als »Migrant« oder »Flüchtling«, sondern als deutscher Mitbürger wahrgenommen.

Auf dem Theaterplatz in Dresden hatte ich den Eindruck, in manchen Gesichtern zu lesen: »Flüchtling! Was? Osterhase? Integriert!«, bevor dann ernsthaftes Interesse bekundet wurde. Im Großen und Ganzen war es für mich ein Erfolg, dass ich mit meinem Schokohasen für so viel Neugier sorgen konnte, dass manch einer lieber mir zuhörte als dem Redner auf der Bühne. Dank des Osterhasen in meiner Hand nahmen die Demonstranten meine positive Haltung ihrer Kultur gegenüber wahr, so dass einige sich automatisch von dem Schubladendenken, das auf der Bühne fabriziert wurde, distanzierten.

Mein Fazit? Wer bei besorgten Bürgern wie Pegida-Demonstranten eine wertschätzende Haltung gegenüber Migranten anstoßen möchte, muss den Demonstranten erst einmal selbst mit Wertschätzung begegnen. Möchte man jene, die sich auf ein Gespräch einlassen, davon überzeugen, toleranter zu werden, so muss man selbst zunächst tolerant ihnen gegenüber sein – so schwer es anfangs fallen mag. Auf meiner »Osttour« habe ich jedenfalls Sorgen mitbekommen, die ich nachvollziehen kann. Und möchten wir das Feld nicht den Radikalen überlassen, so müssen wir mehr Plattformen für einen vorurteilsfreien Meinungs- und Erfahrungsaustausch schaffen. Wir werden leichter kritische Denkprozesse in Gang setzen, wenn wir mit entwaffnender und kreativer Herzlichkeit die Begegnung mit besorgten Mitbürgern suchen, denn, so der spanische Soziologe José Ortega y Gasset: »Überraschung und Verwunderung sind der Anfang des Begreifens.«

Der Junge aus Pazarcik

Ich habe bereits viel erzählt, Vermutungen geäußert, Thesen aufgestellt, zum Beispiel darüber, dass man sich vorurteilsfrei begegnen müsse, um einander zu verstehen. Darum möchte ich mich nun endlich selbst vorstellen …

Ich bin in der Türkei geboren und lebe seit meinem dritten Lebensjahr in Deutschland. Bis zu meinem 16. Lebensjahr habe ich nie ernsthaft über meine Herkunft nachgedacht. Unter den Jungs, mit denen ich damals auf dem Marktplatz, auf dem Schulhof oder im Jugendzentrum in Warendorf abhing, war völlig klar: Unter uns sind Türken, Kurden, Russen, Albaner, aber das geht in Ordnung. Hauptsache, du bist cool oder spielst gut Fußball.

Ein wichtiger Meilenstein in meiner Selbstwahrnehmung war unser erster Familienurlaub in Pazarcik, meiner Heimatstadt im Südosten der Türkei. Diese Reise vor acht Jahren hatte eine große Wirkung auf meine Identität und Integration.

Als ich in Pazarcik ankam, verschlug es mir die Sprache. Eine Berglandschaft, aber kaum Grünflächen, keine richtigen Straßen, niemand hielt sich an Verkehrsregeln (ohne die türkische Gelassenheit hätte ich die Taxifahrt bestimmt nicht überstanden). Die Bevölkerung ist sehr arm, die Häuser sind klein, oft ohne Fensterscheiben und Türen. Und überall laufen gackernde Hühner herum, Katzen und Straßenhunde wühlen in den unzähligen Müllhaufen … Hier also war ich geboren, hatte aber das Gefühl, im falschen Film zu sein. Über 3200 Kilometer weit musste ich reisen, um erstmals richtig zu begreifen, dass Deutschland meine Heimat ist.

Ich brauchte eine Woche, um mich an die vielen Reize und Menschen zu gewöhnen, die nach unserer Ankunft zu uns kamen, mich abknutschten und gerne ausschweifend davon erzählten, wie klein und pummelig ich früher gewesen war. Ganz offensichtlich hatte ich fast so viele Verwandte wie das Dorf Einwohner … Voller Stolz und Freude verkündeten meine Eltern dann, dass ich nun bald studieren würde. Ich selbst wusste damals zwar nicht genau, was das eigentlich bedeutete, dieses Studieren, aber an den großen Augen meiner Verwandten konnte ich ablesen, dass es etwas sehr Bedeutungsvolles sein musste. Aus jedem Mund kam ein »maşallah«, »maşallah«4, und meine Oma drückte mich alle zehn Minuten an sich. Da meine Großeltern immer in der Türkei gelebt haben, fühlte es sich anfangs komisch an, Oma zu ihr zu sagen. Ich wusste nur, dass ich jahrelang etwas Köstliches verpasst hatte, denn meine Oma ist eine wunderbare Köchin und verwöhnte mich wie einen Prinzen.

Nach einer Woche war das ganze Tralala mit dem vielen In-die-Wange-kneifen vorbei, so dass ich wieder zu mir kam und meinen Vater bat, mir einiges über unsere Vergangenheit zu erzählen. Haben wir auch so gelebt? Wie war das damals? Eines Abends ging er mit meinem Bruder, meiner Schwester und mir auf einen Hügel, von wo aus wir einen weiten Blick zu entlegenen Dörfern hatten. Er zeigte in eine Richtung, in der man außer weitem Land nichts erkennen konnte.

»Wir haben dort, in Aşıklar, gewohnt. Es gehörte zu Pazarcik, doch das Dorf gibt es nicht mehr. Damals lebten außer uns noch viele kurdisch-alevitische Familien hier, die irgendwann ebenfalls ausgewandert sind. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir durchmachen mussten …« Tatsächlich fiel es mir schwer, mir auszumalen, wie meine Familie hier gelebt haben soll. Es gab einfach nichts. Natürlich wusste ich schon von klein auf, dass wir sehr arm gewesen waren, immerhin lebten wir ja auch in Deutschland lange Zeit an der Armutsgrenze.

Wenige Tage später lieh mein Vater sich ein Auto, und wir fuhren auf schmalen Feldwegen in umliegende Dörfer. Mitten im Nichts zeigte er nach links und rechts in die leere Landschaft und erzählte, dass er auf diesen Feldern schon mit 14 Jahren als Hirte gearbeitet habe, um die Familie zu ernähren. Meine Mutter sei bei meiner Uroma in einem abgeschiedenen Dorf ohne Wasser- und Stromversorgung aufgewachsen. Schon als kleines Mädchen musste sie täglich mit Wassereimern auf Eseln kilometerweite Strecken zurücklegen. Ihr Opa war Landwirt und besaß Kühe, Schafe und Ziegen. Sie bauten ihr Obst und Gemüse selbst an und versorgten sich auf diese Weise ohne jeglichen Kontakt zu Pazarcik. Wenn ich heutzutage von Bio-Produkten schwärme, hält meine Mutter mir diese Geschichten von früher entgegen, schließlich war ihre Ernährung aufgrund der Lebensumstände bio pur.

Während wir im Schritttempo auf den holprigen Wegen fuhren, saß ich auf der Rückbank und wurde irgendwie melancholisch. »Was genau habt ihr hier durchgemacht, dass ihr irgendwann weg wolltet?«, fragte ich meinen Vater. Er seufzte tief, dann begann er zu erzählen: »Unsere Familie hat sehr viel erlebt. Das hat mit der besonderen Lage Pazarciks zu tun, das in der Provinz Kahramanmaras für die vergleichsweise vielen kurdischen und alevitischen Bewohner bekannt war. Wir sind schließlich sowohl Kurden als auch von Haus aus alevitischen Glaubens. Beides damals nicht die besten Voraussetzungen für ein friedliches Leben in dieser Gegend.«

Das kleine Dorf, aus dem mein Vater stammte, Aşıklar, war benannt nach jenen Dörflern, die als Musiker und Dichter ihr Geld verdienten. Jeder Haushalt, erzählte er, habe zum Beispiel mindestens eine Saz5 gehabt. Und weil viele Bewohner des Dorfes ihr Geld mit dem Musizieren verdienten, wurden sie von den umliegenden Dörfern als »die Doofen« und »die Bettler« stigmatisiert. Sie wurden massiv diskriminiert, weil sie ungebildet und darüber hinaus kurdische Aleviten waren. Mehr als genug Gründe, um sie beispielsweise in Gemeinde- und Verwaltungsangelegenheiten zu benachteiligen.

In den 1980er Jahren waren um Pazarcik herum marxistische Gruppierungen und PKK-Einheiten organisiert, weshalb starke militärische Operationen das Geschehen in dem Gebiet beherrschten. Insbesondere von den vielen Ausschreitungen zwischen PKK-Kämpfern und türkischen Soldaten war die Familie meines Vaters stark betroffen. Fast täglich kamen die türkischen Soldaten in das Dorf meines Vaters. »Hast du die PKK gesehen? Nicht? Du lügst doch! Du Bauer, hältst du uns für dumm?« Die Soldaten glaubten fest, dass mein Vater und seine Brüder Guerilla-Kämpfer versteckten und ihnen heimlich Unterschlupf gewährten. Sie ließen nicht locker, nahmen immer mal wieder Verwandte von uns fest und brachten sie zur Befragung auf die Wache. Manchmal gaben sie den Kindern im Dorf Süßigkeiten, damit sie verrieten, ob hier kurdische Kämpfer beherbergt wurden. Die Kleinen bejahten das natürlich, damit sie die Bonbons bekamen. Daraufhin wurde meinen Großonkeln die Hölle heiß gemacht. Stundenlange Befragungen mit Misshandlungen folgten. Das türkische Militär wollte damals nämlich nicht nur Informationen und Zugeständnisse. Die Soldaten wollten vor allem ihre Macht beweisen, Angst einjagen und kurdische Familien einschüchtern. In so einer Situation konnten wir uns als kurdische Aleviten an niemanden wenden, zumal uns der Zugang zu Bildung und Gemeinwesen versperrt war.

Hin und wieder aber, so mein Vater, wurden wir tatsächlich nachts von kurdischen Guerillas, die hungrig und durstig waren, aufgesucht. Meine Oma hatte Mitleid und gab ihnen Brot. Sie glaubte, dass die Guerillas sich für die Rechte der Kurden einsetzten. Die Kämpfer aßen und tranken nur rasch etwas, dann verschwanden sie wieder in der Dunkelheit.

»Hätten wir ihnen allerdings nichts zu essen und zu trinken gegeben, hätten wir ebenfalls mit Ärger zu rechnen gehabt. Die PKK