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Ernst-Christoph Meier

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Beschreibung

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik weitreichende Konsequenzen. Das Buch setzt sich mit der Frage auseinander, welche Rolle eine Politik der Abrüstung, Rüstungskontrolle und der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen vor dem Hintergrund der Zeitenwende spielen kann, um Stabilität, Sicherheit und Frieden zu stärken. Fundiert und kenntnisreich erläutert der Sicherheitsexperte Dr. Ernst-Christoph Meier die komplexen Anforderungen für die Rüstungskontrolle der Zukunft. Das auch für Laien verständliche Buch ist ein Plädoyer für eine realistische Rüstungskontrollpolitik, die sich als notwendige Ergänzung einer gestärkten Politik der Verteidigung und Abschreckung der NATO versteht. Zugleich leistet es einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über die künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.

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Mehr Sicherheit für Deutschland

Abrüstung und Rüstungskontrolle nach der Zeitenwende

Ernst-Christoph Meier

Mehr Sicherheit für Deutschland

Abrüstung und Rüstungskontrolle nach der Zeitenwende

Inhalt

Einführung

Bedeutung und Bedeutungsverlust der Rüstungskontrolle

Konventionelle Rüstungskontrolle und ihre Entwicklung

Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE)

Steinmeier-Initiative und Strukturierter Dialog der OSZE

Wiener Dokument (WD)

Vertrag über den Offenen Himmel (OH-Vertrag)

Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle

INF-Vertrag und START I

Einseitige Abrüstung und Abrüstungshilfe

START II

Moskauer Vertrag (SORT)

New START

Erosion der nuklearen Rüstungskontrolle

Neue Hoffnung: Strategischer Stabilitätsdialog

Der fortbestehende Imperativ der nuklearen Nichtverbreitung

Sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel – auch für die Rüstungskontrolle?

Anforderungen an moderne Rüstungskontrolle

Ziele der Rüstungskontrolle

Verknüpfung von Rüstungskontrolle und Sicherheitspolitik

Rüstungskontrolle und technologischer Fortschritt

Verifikation und Vertragseinhaltung

Foren und Formate

Handlungserfordernisse und Perspektiven

Rüstungskontrolle in Europa und im OSZE-Raum

Fortgesetzte Implementierung der bestehenden Abkommen

Weiterentwicklung der bestehenden Abkommen

Verhandlung eines neuen Rüstungskontrollregimes unter Nutzung von Elementen bisheriger Abkommen

Zusammenfassende Bewertung und Ausblick

Russlands Forderungen zur europäischen Sicherheitsstruktur und Rüstungskontrolle

Unterstützung bei der Aushandlung und Umsetzung eines Waffenstillstands bzw. Abkommens zur Beendigung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine

Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle

Weitere Absenkung der Obergrenzen von Nuklearwaffen

Erfassung neuer und neuartiger russischer Nuklearwaffen

Einbeziehung der nicht-strategischen Nuklearwaffen

Einbeziehung konventioneller Systeme mit strategischer Wirkung

Begrenzung der Raketenabwehr

Begrenzung der nuklearen Risiken

Einbeziehung Chinas

Nukleare Nichtverbreitung

Erhalt des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags

Die Herausforderungen Iran und Nordkorea

Der Atomwaffenverbotsvertrag

Das Verbot biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen

Neue Technologien

Autonomie in Waffensystemen

Unbemannte Luftfahrzeuge

Hyperschallwaffen

Weltraumsicherheit

Cybersicherheit

Deutschlands Rolle: Interessen und Verantwortung

Deutschlands Sicherheitsinteressen

Implikationen für die Rüstungskontrolle

Stabilitätsraum Europa

Transatlantische Partnerschaft

Regionale Stabilität

Festigung der internationalen Ordnung

Der Weg zu mehr Sicherheit

Anmerkungen

Zum Autor

Einführung

Mit dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist klar geworden: Europa, aber auch die internationale Staatengemeinschaft stehen an einem Wendepunkt. Der Krieg der militärischen Großmacht Russland gegen den demokratischen Nachbarstaat Ukraine mit dem Ziel, ihn als souveränen Staat zu eliminieren, markiert den vorläufigen Höhepunkt der Herauslösung Putin-Russlands aus den europäischen Sicherheitsstrukturen, die bereits mit der russischen Krim-Annexion 2014 begonnen hat.

Die russischen Kriege gegen Tschetschenien (1999) und Georgien (2008) waren Vorläufer der seit 2014 betriebenen militärischen Aggression gegen die Ukraine. Im Zusammenhang wird deutlich, dass sich Russland unter Putin auf einen gleichermaßen imperialistischen wie revisionistischen Weg gemacht hat. Für Europa und seine Regierungen bedeutet dies ein böses politisches und militärisches Erwachen. Die über viele Jahre nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation in Anspruch genommene »Friedensdividende« ist nun für jedermann sichtbar aufgebraucht. Die neue Realität sind ein rücksichtslos auch gegen die Zivilbevölkerung geführter russischer Krieg, eine neue Bedrohungslage für die europäischen Demokratien und lange Zeit für undenkbar gehaltene Risiken der nuklearen Eskalation.

Das vorliegende Buch geht vor dem Hintergrund der »Zeitenwende«1 in der Außen- und Sicherheitspolitik, des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der neuen »Weltunordnung«2 in den internationalen Beziehungen der Frage nach: Welche Rolle können Rüstungskontrolle, Abrüstung und die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen als Teil einer multilateral ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik noch oder wieder spielen, um Stabilität, Sicherheit und Frieden zu stärken?3

Eine Antwort hierauf kann insbesondere von Deutschland erwartet werden, das sich seit vielen Jahrzehnten als Vorreiter der internationalen Rüstungskontrollpolitik versteht. Gleichzeitig ist es aber nun besonders gefordert, seine über Jahrzehnte geschwächten Streitkräfte im Rahmen der NATO und ihrer Anstrengungen um Abschreckung und Verteidigung signifikant zu stärken.

Was sind in dieser Zeit des Umbruchs die konkreten deutschen Interessen und Ziele für die verschiedenen Handlungsfelder der Rüstungskontrolle? Kann Deutschland den seit 2014 proklamierten4 und 2022 erneuerten politischen Anspruch5, europäische Führungsmacht zu sein, in der Rüstungskontrolle einlösen? Kann es zumindest »mehr beitragen zur Sicherheit auf dem europäischen Kontinent«, gemäß seiner »besonderen Verantwortung«, wie es bescheidener im Vorwort zur neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung vom 14. Juni 2023 formuliert wird?6

Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund einer großen militärischen Auseinandersetzung mitten in Europa, die einen massiven Rückschlag für Kooperation und Rüstungskontrolle bedeutet. Sie waren indes bereits vor dem 24. Februar 2022 relevant, denn die Situation der Rüstungskontrolle ist seit vielen Jahren durch Erosion und Stagnation gekennzeichnet. Verträge wurden gekündigt, andere nicht mehr eingehalten oder nicht modernisiert, langwierige Verhandlungen oft ohne Erfolg geführt. Dazu beigetragen haben geopolitische und militärisch-technologische Veränderungen sowie neue Großmachtrivalitäten.

Das Buch zeigt inhaltliche Perspektiven auf für die Phase des noch andauernden Ukraine-Kriegs, besonders aber für die Zeit danach – wenn die Voraussetzungen für Diplomatie und internationale Verhandlungen über Sicherheit besser sein dürften als heute.

Es wirft einen Blick auf die sicherheitspolitische Situation heute, die Bedeutung und Rolle der Rüstungskontrolle als Teil der internationalen Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahrzehnten und die Anforderungen an Rüstungskontrolle in der Zukunft, die sich in vielerlei Hinsicht verändern werden.

Auf dieser Grundlage wird auf Ziele und Perspektiven in verschiedenen Handlungsfeldern der Rüstungskontrolle eingegangen und dabei vor allem die Rolle Deutschlands skizziert. Diese Aufgabe wird für die nahe Zukunft außen- und sicherheitspolitisch mitbestimmt durch den Koalitionsvertrag der deutschen Regierung von 2021, vor allem aber durch die »Nationale Sicherheitsstrategie« der Bundesregierung vom Juni 2023, die unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine, aber auch vieler anderer geopolitischer Veränderungen verabschiedet wurde.

Das Buch setzt inhaltliche Schwerpunkte bei der Skizzierung der Rüstungskontrollhistorie und bei der Diskussion der künftigen Handlungsfelder. Es soll nicht darum gehen, jedes Feld der Rüstungskontrolle zu erwähnen oder gar erschöpfend darzustellen.7 Ziel ist vielmehr, auf die sicherheitspolitisch besonders relevanten Entwicklungen und Stränge der Rüstungskontrolle einzugehen und diesbezüglich den Blick in die Zukunft zu wagen. Schwerpunkte bilden die nukleare Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung, die konventionelle Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung sowie die rüstungskontrollpolitische Auseinandersetzung mit den neuen, auch für die Streitkräfte relevanten Technologien.

Zur Stabilisierung des europäischen Sicherheitsraums, zur Festigung der internationalen Ordnung und zur Stärkung der strategischen Stabilität werden perspektivisch auch (und wieder) Vereinbarungen und Maßnahmen zur militärischen Vertrauensbildung und der Rüstungskontrolle gehören müssen. Oder wie es die zuständige Abteilungsleiterin für Rüstungskontrolle im US-Außenministerium nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine formuliert hat:

»Arms control is not dead as some would like you to believe. Arms control remains an important means to increase allied and global security by reducing risk and enhancing stability.«8

Dies gilt trotz und gerade mit Blick auf neue, verschärfte Herausforderungen für ein stabiles Sicherheitsumfeld. Sie gehen weit über Europa hinaus und betreffen alle Bereiche der militärischen Potenziale und Fähigkeiten. Darunter fallen das Streben von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren nach Massenvernichtungswaffen, neue – militärisch nutzbare – Technologien wie Drohnen oder Waffensysteme mit Hyperschallgeschwindigkeit, offensive Fähigkeiten im Cyberraum, zunehmend autonom agierende Waffen unter Nutzung von künstlicher Intelligenz oder auch die wachsende Zahl von sowohl konventionell als auch nuklear einsetzbaren Waffen (»dual use«).

Dies gilt auch mit Blick auf den fortdauernden Umbruch in der globalen Kräftekonstellation. In diesem Rahmen haben es die demokratischen Staaten nicht nur mit einem putinisierten Russland zu tun, das die europäische Friedensordnung entlang großrussischer Träume revidieren will. Sie sind auch konfrontiert mit einem politisch, wirtschaftlich und militärisch gestärkten China, das sich weltpolitisch in der ersten Reihe sieht und den globalen Systemwettbewerb mit den USA und ihren demokratischen Partnern nicht scheut. Es bleibt vor diesem Hintergrund berechtigt zu fragen, ob in der von Christopher Ford als Ära des »strategic revisionism«9 bezeichneten aktuellen Phase Begrenzungen oder gar Reduzierungen militärischer Potenziale unter Einbeziehung von Russland und China möglich sein werden.

Und es ist sicher richtig, dass der aktuelle Kontext eines globalen Umbruchs und erheblicher Kräfteverschiebungen Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle, Abrüstung und militärischen Vertrauensbildung nicht einfacher macht.

Gleichwohl erscheinen diese umso notwendiger, um einer Vielfalt von Risiken zu begegnen und weiterhin eine am Völkerrecht orientierte regelbasierte internationale Ordnung zu fördern. Die Rüstungskontrollgeschichte zeigt, dass auch in Phasen des Systemwettbewerbs Vereinbarungen möglich sind, um Risiken zu reduzieren, militärisch nutzbare Vorteile des anderen und ein destabilisierendes Wettrüsten zu verhindern.

Politische Phasen der Vergangenheit, insbesondere jene, die durch ihre besonderen historischen Umstände die großen Rüstungskontrollverträge bei Nuklearwaffen und bei den konventionellen Streitkräften ermöglicht haben, können allerdings nicht mehr als alleiniger Maßstab herangezogen werden für das, was heute nötig und machbar ist. Vieles wird aber weiterhin möglich sein, wenn die inhaltlichen Schwerpunkte richtig gesetzt und die Methoden und Formate flexibel gewählt werden.

In der Zeit nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine war in der internationalen Diplomatie davon die Rede, dass man mit Blick auf die Zukunft der Rüstungskontrolle »strategische Geduld« haben müsse. Dieser Einschätzung liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Konflikt mit dem Russland Putins der Rüstungskontrolle einen schweren Schlag versetzt hat, diese aber weiter betrieben werden müsse, soweit und sobald die Bedingungen es zulassen.

Vor diesem Hintergrund möchte dieses Buch für den sicherheitspolitisch interessierten Leser, aber ebenso für den operativen Praktiker Informationen, Denkanstöße und Impulse liefern. Es soll einen Beitrag leisten zu einer durch die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung nicht beendeten, sondern intensivierten und geforderten Diskussion über die künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.10

Bedeutung und Bedeutungsverlust der Rüstungskontrolle

Die Koordinaten der internationalen Ordnung haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend verschoben. Die in den 1990er-Jahren im euro-atlantischen Raum institutionell und vertraglich zwischen den nordamerikanischen, europäischen und zentralasiatischen Staaten ausgestaltete »kooperative Sicherheit« erscheint plötzlich wie ein Relikt der Zeitgeschichte. Ähnlich obsolet wirkt die Sichtweise, dass Sicherheit im geografischen Raum »von Vancouver bis Wladiwostok«11, dem Geltungsbereich der 1994 institutionalisierten Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE),12 nur gemeinsam mit allen Staaten der Region – insbesondere in Zusammenarbeit mit Russland – organisiert und gestaltet werden kann.

Das außen- und sicherheitspolitische Denken in Europa war lange Zeit geprägt durch drei Ziele: Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Seiten, gemeinsame kooperative Sicherheit und Aufbau eines gemeinsamen »europäischen Hauses«. Es wurde möglich durch das Ende der Ost-West-Konfrontation nach dem Amtsantritt des neuen russischen Generalsekretärs des ZK der KPdSU Gorbatschow im Jahr 1985.

Schon eineinhalb Jahrzehnte zuvor war es in einer Phase der Entspannung zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion gelungen, mehrere Meilensteine der nuklearen Abrüstung zu erreichen. Nachdem die NATO 1967 den »Harmel-Bericht«, ein politischstrategisches Konzept mit dem Doppelansatz Abschreckung und Entspannung, verabschiedet hatte,13 wurde 1972 der amerikanischsowjetische Vertrag über den weitgehenden Verzicht auf Raketenabwehrsysteme geschlossen (ABM-Vertrag). Dies war die Voraussetzung für nachfolgende Verträge zur strategischen Rüstungskontrolle, also zur Begrenzung der offensiven Nuklearwaffen mit interkontinentaler Reichweite – SALT I (1972) und SALT II (1979)14.

Von herausragender Bedeutung für die Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung war die multilaterale Einigung auf den am 1. Juli 1968 unterzeichneten und am 5. März 1970 in Kraft getretenen Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV)15. Er beschränkte die Anzahl der anerkannten Nuklearwaffenstaaten auf die USA, Sowjetunion, China, Frankreich und Großbritannien. Deutschland trat dem NVV am 2. Mai 1975 bei.

Im Jahr 1972 konnte zudem der erste multilaterale Vertrag über das vollständige Verbot von Massenvernichtungswaffen geschlossen werden, das Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen (BWÜ). Es trat am 26. März 1975 in Kraft. Deutschland trat dem BWÜ 1983 bei.

Mit dem tatsächlichen Ende des Ost-West-Konflikts, der ersten »Zeitenwende« in Europa, deren Kern eine Neubestimmung des Verhältnisses der Sowjetunion zum Westen und zu den USA war, wurde ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine Kaskade weiterer Abkommen zur militärischen Vertrauensbildung möglich – sowohl im Bereich der konventionellen Streitkräfte als auch hinsichtlich der Nuklearwaffen. Diese Verträge bildeten über die folgenden Jahrzehnte die Substanz der ost-westlichen Rüstungskontrolle, selbst wenn diese als Folge politischer und militärischer Entwicklungen zunehmend erodierte und ihre strategische Relevanz in weiten Teilen verlor.

Für einige Jahre waren auf der Grundlage neuer politischer Prioritäten und wachsenden Vertrauens plötzlich Abrüstungsschritte möglich, die zuvor als utopisch angesehen werden konnten. Diese weitreichenden Abrüstungsschritte sollten die neu justierten politischen Beziehungen zwischen den langjährigen militärischen Antagonisten zunächst von der Last eines kostspieligen Wettrüstens und Systemwettbewerbs befreien.

Konventionelle Rüstungskontrolle und ihre Entwicklung

Wesentlicher Ausdruck und Ergebnis der neuen Zeit waren die großen Verträge zur europäischen Rüstungskontrolle und Abrüstung der 1990er-Jahre – also der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag, 1990), das Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (WD, 1990) und der Vertrag über den Offenen Himmel (OH-Vertrag, 1992). Zu Recht stehen diese Verträge im Rückblick für ein gleichsam »Goldenes Zeitalter« der Rüstungskontrolle in Europa. Die neuen Verträge führten nach einem halben Jahrhundert der Hochrüstung und des Rüstungswettlaufs zu einer massiven Abrüstung der konventionellen Streitkräfte der NATO-Staaten in Europa wie auch der Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, einschließlich Russlands. Zugleich ermöglichten sie zu einem bis dahin völlig unbekannten Ausmaß militärische Stabilität, gegenseitige Kontrolle und Transparenz.

Zeitlinie Rüstungskontrollarchitektur

Der Zeitstrahl zeigt die wichtigsten Verträge der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle sowie der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Wesentliche Rückschläge für die Rüstungskontrollarchitektur sind ebenfalls aufgeführt.

Quelle: Autor

Vorausgegangen waren lange Jahre von ergebnislosen Verhandlungen über die Abrüstung konventioneller Streitkräfte von NATO und Warschauer Pakt. Bereits am 30. Oktober 1973 wurden in Wien »Verhandlungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen« (MBFR)16 aufgenommen. Sie wurden zum 2. Februar 1989 beendet. An ihre Stelle traten ab März 1989 die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Zur Vorgeschichte gehört als zweiter Strang auch die seit Januar 1984 in Stockholm tagende »Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa« (KVAE), die darauf abzielte, für das gesamte europäische Territorium vom Atlantik bis zum Ural vertrauensbildende Maßnahmen für die konventionellen Streitkräfte zu vereinbaren. Das abschließende »Stockholmer Dokument« vom 19. September 1986 war Grundlage für die nachfolgenden Verhandlungen im KSZE-Rahmen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und für ein neues Mandat für die festgefahrenen MBFR-Verhandlungen. Sein Grundansatz der militärischen Vertrauensbildung wurde auch in den 1990 aufgenommenen Verhandlungen über einen Vertrag über den Offenen Himmel fortgeführt.

Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE)

Der am 19. November 1990 in Paris unterzeichnete KSE-Vertrag (Inkrafttreten am 9. November 1992) schuf ein militärisches Gleichgewicht zwischen den 30 Staaten der NATO und des Warschauer Pakts bzw. dessen Nachfolgestaaten für die Anzahl schwerer Waffensysteme in fünf Kategorien (Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber).17

Hauptziel war die Beseitigung der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und groß angelegten Offensivhandlungen. Das Anwendungsgebiet reichte vom Atlantik bis zum Ural (Atlantic-to-the-Urals – ATTU). Die Reduzierungsziele wurden bis zum 15. November 1995 erreicht und bedeuteten den Abbau von über 60.000 schweren Waffen in Europa. Für die Obergrenze von 20.000 für Kampfpanzer mussten die NATO-Staaten allein 5.100 Stück reduzieren.

Wesentliche Mechanismen des Vertrags waren ein Informationsaustausch, Notifikationen und gegenseitige Vor-Ort-Inspektionen. Damit wurde der Vertrag umfassend verifiziert, wozu nationale Verifikationsorganisationen zur Durchführung und Begleitung von Inspektionen und zur Wahrnehmung weiterer Informations-, Überprüfungs- und Beobachtungsmaßnahmen eingerichtet wurden. In Deutschland nahm in der Verantwortung von Auswärtigem Amt und Bundesministerium der Verteidigung (nach Abstimmung zwischen den Ministern Genscher und Stoltenberg im Juni/Juli 1990) das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (ZVBw) am 1. April 1991 in Geilenkirchen seine Arbeit auf.

Die drei Verträge KSE-Vertrag, Wiener Dokument und OH-Vertrag bilden den Kern der Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa. Sie wurden möglich am Ende der Ost-West-Konfrontation und reflektierten im militärischen Bereich die politische Transformation Europas. In den vergangenen zwei Jahrzehnten verloren diese Instrumente durch ein zunehmend konfrontatives Russland und eine Veränderung des politisch-militärischen Umfelds an Relevanz. Diese Erosion der konventionellen Rüstungskontrolle erfordert bereits seit einiger Zeit eine substanzielle konzeptionelle Fortentwicklung.

Quelle: Autor

Die Verhandlungen wurden zwar von den politischen Umwälzungen in Europa in den Jahren 1989/1990 überrollt (Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands). Die veränderte politische Großwetterlage machte ihrerseits aber erst einen Vertragsabschluss in kurzer Zeit möglich und auch nötig, um einen zentralen Aspekt der sicherheitspolitischen Folgen der Vereinigung Deutschlands zu regeln (Begrenzung der Streitkräfte des vereinten Deutschlands in einem 22 Staaten umfassenden Abrüstungsvertrag18).

Auch wenn die Relevanz der ursprünglichen Zielsetzungen des Vertrags durch das Schwinden der militärischen Antagonisten der NATO – Sowjetunion und Warschauer Pakt – relativiert wurde, sollte gewürdigt werden, dass der KSE-Vertrag die gewaltige Überlegenheit der Sowjetunion im Bereich der konventionellen Streitkräfte abbaute und einen Rüstungswettlauf zwischen den Vertragsstaaten für die Zukunft zunächst ausschloss.19

Der von März 1989 bis November 1990 zwischen den Mitgliedsstaaten von NATO und Warschauer Pakt ausgehandelte KSE-Vertrag20 spiegelte zwangsläufig noch die Orientierung an den beiden Bündnissen NATO und Warschauer Pakt wider. Das ausgefeilte System unterschiedlicher Zonen und Begrenzungen für die jeweiligen Staatengruppen erschien angesichts der Auflösung des Warschauer Pakts bald wenig tragfähig und führte 1996 zu der Entscheidung, den Vertrag anzupassen. So gehörten die osteuropäischen Staaten immer noch zur »östlichen Staatengruppe«, obwohl der Warschauer Pakt aufgelöst war und viele von ihnen 1999 und 2004 sogar der NATO beitraten.

Die Verhandlungen mündeten schließlich in den von 30 Vertragsstaaten auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul am 19. November 1999 unterzeichneten angepassten KSE-Vertrag (A-KSE). Der neue Vertrag löste zumindest die bisherigen KSE-Gruppen- und Zonenstrukturen ab: Er sah ein auf Einzelstaaten ausgerichtetes neues Begrenzungssystem nationaler und territorialen Obergrenzen vor.

Der A-KSE-Vertrag von 1999 trat indessen nie in Kraft, sodass bis heute die Bestimmungen des KSE-Vertrags von 1990 gelten und implementiert werden. Dementsprechend überfällig ist seit Jahren eine grundlegende rüstungskontrollpolitische Neuausrichtung in diesem Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle – eine Anpassung an die veränderten politischen, militärischen und auch technologischen Bedingungen in Europa.

Im Jahr 2007 setzte Russland seine Implementierung des KSE-Vertrags von 1990 aus. Damit entfiel die Möglichkeit der anderen KSEStaaten, in Russland Inspektionen und Beobachtungsbesuche durchzuführen, mithin also weitestgehend die Verifikation der im Vertrag festgelegten und in den jährlichen Informationsaustauschen übermittelten Zahlen für die Hauptwaffensysteme Russlands. Der Rückzug vom KSE-Vertrag wurde begründet mit der ausstehenden Ratifizierung des A-KSE-Vertrags durch die NATO-Staaten. Sie hatten 2002 noch einmal verdeutlicht, diesen nur dann zu ratifizieren, wenn Russland seinen auf dem Istanbuler OSZE-Gipfel 1999 eingegangenen Verpflichtungen nachkommen würde, alle Truppen aus Moldau abzuziehen und mit Georgien eine Reduzierungsvereinbarung auszuhandeln. Gleichwohl versuchten die NATO-Staaten, die Diskussion über einen Folgevertrag für den KSE-Vertrag wieder in Gang zu bringen. Ein wesentlicher Schritt hierzu erfolgte zunächst innerhalb der »High Level Task Force (HLTF)« des Bündnisses, als man sich innerhalb der NATO-Staaten 2013/2014 auf allgemeine Prioritäten und Kernelemente für einen neuen Ansatz der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa verständigte. Dies blieb rüstungskontrollpolitisch völlig wirkungslos, da sich die NATO-Staaten einig waren, dass die Annexion der Krim durch Russland ab Frühjahr 2014 jeglichen Dialog mit Russland zum KSE-Vertrag unmöglich machte (»no business as usual«).

Ab 2015 beschäftigte sich die NATO-HLTF nicht mehr mit dem KSE-Vertrag, sondern ausschließlich mit der Anwendung und Verbesserung des im Wiener OSZE-Rahmen verhandelten, politisch verbindlichen Wiener Dokuments über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa (WD).

Tatsächlich wurde vor allem von deutscher Seite, trotz der für jedermann sichtbaren Verschlechterung des politischen Klimas infolge der Krim-Annexion, an der Vision eines Neuansatzes für den KSEVertrag festgehalten. Im Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, das 2016 nach zehn Jahren erstmalig wieder erschien, wurde ein »Neuansatz bei der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa entlang verifizierbarer Transparenz und Ausrichtung auf moderne militärische Fähigkeiten«21 gefordert.

Im Wesentlichen verbarg sich dahinter ein konzeptioneller Ansatz, der den Schwerpunkt weniger auf neue oder niedrigere Obergrenzen legte. Vielmehr rückte er eine verminderte Bedrohungsperzeption und einen möglichst umfassenden Einblick in die konzeptionellen Grundlagen, Strukturen und Fähigkeiten der Streitkräfte der anderen Seite in den Fokus. Der Ansatz, erarbeitet zwischen den Verteidigungsministerien von Deutschland, Dänemark und Polen, war im Kern rüstungskontrollpolitischer Ausdruck der mit der Krim-Annexion aber bereits überholten Phase der kooperativen Sicherheit in Europa. Russland war in dieser Perspektive kein militärisch bedeutsamer Bedrohungsfaktor mehr.

Steinmeier-Initiative und Strukturierter Dialog der OSZE

Eine weitere Initiative wurde 2016 seitens des ehemaligen deutschen Außenministers Steinmeier ergriffen. Im Jahr des deutschen OSZEVorsitzes sollte die kooperative Sicherheit wieder gestärkt und der Erosion der europäischen Rüstungskontrollarchitektur entgegengewirkt werden. Steinmeier schlug in einem Namensartikel am 26. August 2016 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« einen »Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle« vor, um »das Unmögliche zu versuchen«. Konkret skizzierte er fünf Bereiche, darunter regionale Obergrenzen und Mindestabstände, zum Beispiel im Baltikum, Einbeziehung neuer militärischer Fähigkeiten und Waffensysteme sowie verbesserte Verifikation. Zur Umsetzung der Initiative schlug Steinmeier zudem einen »Strukturierten Dialog« im Rahmen der OSZE vor. Diese »Steinmeier-Initiative« nahm im Folgenden auf zwei Ebenen Fahrt auf: Zum einen wurde ab September 2016 eine »Freundesgruppe« (oder »Group of like-minded«) interessierter Staaten außerhalb der OSZE gebildet, in der Staaten der NATO, aber auch NichtNATO-Staaten wie Schweden oder Finnland und neutrale Staaten wie die Schweiz und Österreich in einem informellen Brainstorming-Format Parameter der künftigen konventionellen Rüstungskontrolle erörtern sollten.

Hierzu gehörten unter anderem die Bedrohungsperzeptionen, die Frage der einzubeziehenden Waffensysteme, der Umgang mit neuen Waffentechnologien, der geografische Geltungsbereich eines Abkommens oder Fragen der Verifikation. Die Gruppe mit Vertretern aus den Außen- und Verteidigungsministerien kam bis 2022 immerhin 18-mal zusammen und umfasste am Ende 24 Staaten. Die Arbeit der Gruppe endete allerdings ohne politisch verwertbares Ergebnis, auch weil sich die USA an ihr nicht beteiligt hatten und ihre konzeptionellen Überlegungen weder in die NATO noch in die OSZE einflossen.

Der zweite Strang der Steinmeier-Initiative bildete die auf dem OSZE-Außenministertreffen in Hamburg am 8./9. Dezember 2016 beschlossene Aufnahme eines »Strukturierten Dialogs über die aktuellen und künftigen sicherheitspolitischen Herausforderungen und Risiken im OSZE-Raum«. Der Beschluss floss in die auf dem OSZETreffen nach langer Diskussion verabschiedete Erklärung »Von Lissabon nach Hamburg. Erklärung zum 20. Jahrestag des Rahmens für Rüstungskontrolle der OSZE« ein,22 die erst nach schwierigen Verhandlungen als Kompromiss zwischen Deutschland und den USA über den weiteren Umgang mit der Rüstungskontrolle zustande kam. In der Erklärung wird das Bekenntnis aller OSZE-Staaten zur »Umsetzung und Weiterentwicklung von Rüstungskontrollvereinbarungen« im OSZE-Raum als unabdingbar für die Stabilität verankert. Gleichzeitig wird aber auf die Wechselwirkung zwischen Rüstungskontrolle und dem »politisch-militärischen Kontext« hingewiesen, der zunächst die Aufnahme eines strukturierten Dialogs über die bestehenden Risiken nötig mache – als »solide gemeinsame Basis für den weiteren Weg«.

Der Strukturierte Dialog (SD) etablierte sich in den folgenden Jahren tatsächlich als eigenständiger sicherheitspolitischer Dialogprozess im OSZE-Rahmen. Ab April 2017 wurde er im Rahmen einer Informellen Arbeitsgruppe (Informal Working Group – IWG) auf hochrangiger Ebene mit Hauptstadtvertretern der Außenministerien geführt. Ergänzt und unterfüttert wurde er recht bald durch Treffen hochrangiger militärischer Experten, die sich mit einer Reihe technischer und militärischer Fragen im engeren Sinne beschäftigten.

Schwerpunkte der Arbeit des SD waren gemäß dem weit gefassten Mandat von Hamburg der Austausch über die unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen im OSZE-Raum, die Militärdoktrinen und Entwicklung der Streitkräftepotenziale, vor allem das Thema der militärischen Übungen und ihrer Bedeutung für Bedrohungsperzeptionen, schließlich Fragen der Risikoreduzierung und der Verhütung militärischer Zwischenfälle. Insgesamt wurden 14 Treffen und acht Treffen der Militärexperten durchgeführt. Bereits eingeschränkt in den Jahren der Coronapandemie, fanden seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine keine weiteren Sitzungen mehr statt. Die Aussichten für die Fortsetzung des SD sind seither mehr als ungewiss.

Im Rückblick erscheint der SD, einschließlich der Treffen der militärischen Experten, als innovativer und in der Phase der Stagnation von Rüstungskontrolle in Europa auch sehr sinnvoller Prozess. Denn erstmalig wurde versucht, unter Einbeziehung aller OSZEStaaten die sicherheitspolitischen Kontextfaktoren, also vor allem die jeweils perzipierte und tatsächliche Bedrohungssituation der Staaten zu erfassen, um hieraus Folgerungen für ihre mögliche Veränderung und für geeignete Maßnahmen der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung abzuleiten.

Nach einem ambitionierten und politisch hochrangig unterstützten Auftakt sowie produktiven konzeptionellen Sitzungen in den ersten zwei Jahren begann der SD, an Schwung zu verlieren. Er offenbarte immer deutlicher die Uneinigkeit unter den OSZE-Staaten über die Zielsetzung des gesamten Prozesses und seine konkreten operativen Folgeschritte.

Insbesondere der von deutscher Seite angestrebte, möglichst baldige Übergang zu einem Austausch über die künftige konventionelle Rüstungskontrolle erwies sich als völlig unrealistisch. Hierfür verantwortlich war der nachhaltige Widerstand einer Reihe von OSZEStaaten, allen voran der USA, gegen jedwede Substanzdiskussion in der aktuellen politischen Situation einerseits sowie das vollständige Desinteresse Russlands an einer rüstungskontrollpolitischen Diskussion andererseits.

Während vor allem der Austausch der militärischen Vertreter einen auch für die OSZE neuen Dialogkanal begründete und als Gewinn für die militärische Vertrauensbildung angesehen werden konnte, wurde die politische Ebene des SD auf der Ebene der Außenministerien zunehmend ausgehöhlt und letztlich nur noch für den politischen Dialog als Selbstzweck aufrechterhalten.

Wiener Dokument (WD)

Das Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (WD) wurde zwischen den damals 35 Staaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) verhandelt und am 17. November 1990 unterzeichnet. Es baute auf dem Stockholmer Dokument vom 19. September 1986 der vorausgegangenen Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) auf und trat am 1. Januar 1991 als Wiener Dokument 1990 (WD 90) in Kraft. Am 4. März 1992 folgte das bis dahin seit 1989 weiterverhandelte Wiener Dokument 1992. Seither erfolgten weitere Ergänzungen in den Jahren 1994, 1999 und 2011.

Das WD wurde – für die mittlerweile 57 Vertragsstaaten (alle OSZE-Teilnehmerstaaten) – zum zentralen Instrument der militärischen Vertrauensbildung und der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Es umfasst Mechanismen für erhöhte militärische Transparenz (vor allem ein jährlicher Informationsaustausch zu den Verteidigungshaushalten, zur militärischen Organisation, zur Personalstärke und zu den Hauptwaffensystemen der Streitkräfte) sowie die vorherige Ankündigung von militärischen Aktivitäten (Übungen) und entsprechende Verifikationsmaßnahmen (etwa Inspektionen oder die Entsendung militärischer Beobachter). Darüber hinaus beinhaltet das Wiener Dokument zusätzliche Maßnahmen zur Vertrauensbildung (wie den Ausbau militärischer Kontakte, einschließlich der Vorführung neuer Typen von Hauptwaffensystemen und Großgerät) sowie Mechanismen zur Verminderung von Risiken, beispielsweise zur Konsultation und Zusammenarbeit in Bezug auf ungewöhnliche militärische Aktivitäten sowie zur Zusammenarbeit bei gefährlichen Zwischenfällen militärischer Art. Das Anwendungsgebiet erstreckt sich über ganz Europa und schließt auch die zentralasiatischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion mit ein, inklusive der angrenzenden Seegebiete und des Luftraums.

Wie der KSE-Vertrag bedarf auch das WD infolge der sicherheitspolitischen Veränderungen in Europa über drei Jahrzehnte einer Weiterentwicklung bzw. Modernisierung. Diese ist trotz vielfacher Bemühungen im zuständigen Forum für Sicherheitskooperation (FSK) der OSZE in Wien bislang nicht zustande gekommen. Ein letzter ambitionierter Versuch, eine gezielte Verbesserung der Bestimmungen dieses Vertrags zu erreichen, wurde unter deutschem OSZE-Vorsitz 2016 in die Wege geleitet. Ein unter allen NATO-Staaten abgestimmtes Paket an Vorschlägen wurde am 23. Oktober 2019 in Wien eingebracht, konnte aber insbesondere wegen des seit Jahren erkennbaren Desinteresses Russlands keine Wirkung entfalten. Seine Schwerpunkte waren unter anderem die Verbesserung des jährlichen Austauschs über militärische Informationen, verbesserte Mechanismen zur Klärung ungewöhnlicher militärischer Aktivitäten, eine Absenkung der Schwellenwerte für die Ankündigung und Beobachtung militärischer Übungen sowie Optimierungen für die Vor-Ort-Verifikation militärischer Aktivitäten. Auch der zweite Pfeiler europäischer Rüstungskontrolle, das Wiener Dokument, wurde damit ein Opfer des politischen Gezeitenwechsels. Im Gegensatz zum KSE-Vertrag blieb Russland allerdings weiterhin vollumfänglich Vertragsstaat des WD. Bis zu dessen Aussetzung infolge der Coronapandemie 2020 und anschließender Einschränkungen durch den russischen Angriffskrieg 2022 fanden die Implementierung und Verifikation des WD auch auf russischem Territorium statt.

Vertrag über den Offenen Himmel (OH-Vertrag)

Der dritte Pfeiler der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa, der Vertrag über den Offenen Himmel (OH-Vertrag, Open Skies) ist, spätestens seit dem 2020 durch die USA erfolgten Rücktritt vom Vertrag, ebenfalls in schweres Fahrwasser geraten. Er war bis dahin ein sehr wirksames rüstungskontrollpolitisches Element der in den 1990er-Jahren abgeschlossenen Verträge gewesen. Der OH-Vertrag wurde am 24. März 1992 in Helsinki durch 25 Staaten (alle NATOMitgliedsstaaten und ehemalige Staaten des Warschauer Pakts) unterzeichnet und ist am 1. Januar 2002 für seine dann 34 Vertragsstaaten (und OSZE-Teilnehmerstaaten) in Kraft getreten.

Der OH-Vertrag war über 20 Jahre lang das einzige rechtlich verbindliche Instrument der militärischen Vertrauensbildung im euroatlantischen Raum – »von Vancouver bis Wladiwostok«23. Er erlaubt den Vertragsstaaten gegenseitige, ungehinderte Beobachtungsflüge mit vertraglich festgelegten Sensoren im Anwendungsgebiet. Damit sollen neben dem militärischen Erkenntnisgewinn vor allem Vertrauen und Transparenz erhöht werden. Außerdem wurde der OH-Vertrag auch mit dem Ziel der möglichen Überwachung aktueller und künftiger Rüstungskontrollabkommen geschlossen. Wesentliche Merkmale des Vertrags sind die kooperative Durchführung der Beobachtungsflüge (Vertreter des beobachtenden und beobachteten Staates sind immer an Bord) sowie die Sensorausstattung der Flugzeuge mit einem genau festgelegten und zertifizierten Bodenauflösungsvermögen.

Für die meisten Mitgliedsstaaten wurde der OH-Vertrag zum einzigen Mittel, um sich in Russland östlich des Urals eigene Erkenntnisse über Waffenbestände und -verschiebungen zu verschaffen.24

Deutschland hat während der Verhandlungen und in den Erprobungsjahren danach maßgeblich zur Entwicklung des OH-Regimes beigetragen.25 Man stützte sich hierbei auf ein ausgerüstetes Beobachtungsflugzeug des russischen Typs Tu-154 M, mit dem zwischen 1995 und 1997 ein Drittel sämtlicher Testflüge durchgeführt wurden. Es ging bei einem Routineflug über Afrika 1997 verloren. Trotz des Verlustes engagierte sich Deutschland weiterhin sehr aktiv und implementierte den Vertrag durch das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr in Geilenkirchen. Durch Nutzung von Flugzeugen anderer OH-Vertragsstaaten wurden seit 2002 allein über 500 Beobachtungsflüge mit 73.500 km Filmmaterial durchgeführt. Vor dem Hintergrund in die Jahre gekommener Flugzeuge anderer Staaten beschloss Deutschland die Beschaffung eines eigenen Beobachtungsflugzeugs (A319-OH). Dieses wurde nach einigen Jahren der politischen Diskussion schließlich am 21. Juni 2019 an die Bundeswehr übergeben und im November 2022 durch die anderen OH-Vertragsstaaten zertifiziert. Damit sollte der Vertrag und seine Implementierung durch das mit Abstand modernste Beobachtungsflugzeug gestärkt und zukunftsfähig werden.

Bis zur Zertifizierung der neuen deutschen Beobachtungsplattform und der Möglichkeit, das Flugzeug fortan durch Deutschland und seine Partner für operative OH-Überflüge nutzen zu können, hatte sich das politische und rüstungskontrollpolitische Umfeld des Vertrags allerdings mehr als nur verdüstert. Auch der OH-Vertrag verdeutlichte am Ende wie der KSE-Vertrag und das Wiener Dokument die tiefgehende Erosion der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa.

Schon Jahre vor dem Vertragsaustritt der USA (2020) und Russlands (2021) standen Fragen der unzureichenden Implementierung bzw. Vertragsverletzungen durch Russland auf der Tagesordnung der NATO-OH-Vertragsstaaten und der Gespräche mit Russland innerhalb der OH-Gremien. Diese wurden routinemäßig mit reziproken Anschuldigungen Russlands zum westlichen Vertragsverhalten beantwortet.

Die beiden wesentlichen »Defizite« waren aus Sicht der USA und ihrer europäischen Partner hierbei: (1) eine durch Russland 2015 einseitig festgelegte 500-km-Flugstreckenbegrenzung für OH-Überflüge über die Enklave Kaliningrad. Dies widersprach der im OH-Vertrag festgelegten maximalen Flugstrecke von 5.500 km ab dem russischen Startflughafen für OH-Überflüge in Kubinka; (2) eine durch Russland seit 2010 festgelegte zehn-km-Nichtflugzone entlang der russischen Grenze zu den georgischen Regionen Abchasien und Südossetien. Da es sich bei diesen Teilen Georgiens aber nicht um völkerrechtlich anerkannte Staaten handelte, wurde der OH-Vertrag hier durch Russland für seine politischen Ziele in der Region instrumentalisiert. Der OH-Vertrag selbst wurde durch diese fortwährenden und ungelösten »Implementierungsdefizite« aber zunächst nicht infrage gestellt. Sein rüstungskontroll- und sicherheitspolitischer Nutzen wurde stets höher bewertet als die Unzufriedenheit mit der Implementierungsrealität.

Seinen Nutzen stellte der OH-Vertrag auch im Ukraine-Konflikt seit 2014 unter Beweis. Zwischen März und August 2014 erfolgten 22 reguläre Überflüge über Russland und Weißrussland entlang der ukrainischen Grenze. Auch später erfolgten Überflüge, zum Beispiel ein Flug im Dezember 2018 durch Deutschland, die USA, Großbritannien, Kanada, Frankreich und Rumänien, um nach dem ukrainisch-russischen Zwischenfall in der Straße von Kertsch ein politisches Signal der Solidarität mit der Ukraine zu geben.

Der Amtsantritt der generell gegenüber der Rüstungskontrolle äußerst kritisch eingestellten Trump-Administration 2017 wirkte sich bald auch auf den OH-Vertrag aus, nachdem sich die USA zuvor bereits schon aus dem Nuklearabkommen mit dem Iran (2018) und dem INF-Vertrag über die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen (2019) zurückgezogen hatten.

Am 22. Mai 2020 notifizierten die USA ihren Rücktritt vom OHVertrag, der am 22. November 2020 rechtswirksam wurde. Vorausgegangen waren seit 2019 umfassende und intensive Bemühungen der europäischen Verbündeten und Kanadas, die USA von diesem Schritt abzuhalten. Vor allem im NATO-Rahmen bemühte man sich mit großer Entschlossenheit, den unveränderten rüstungskontrollpolitischen, aber auch sicherheitspolitischen Nutzen des Vertrags zu verdeutlichen, der insbesondere auch den kleineren osteuropäischen Verbündeten die Möglichkeit zur Informationsgewinnung bot.

Gleichzeitig zeigte man sich gegenüber den USA bereit, die Planung und Koordinierung von OH-Überflügen über Russland deutlich zu verbessern, um den Wert des Vertrags mit Blick auf militärisch nutzbare Informationen zu erhöhen.

Am Ende blieben selbst hochrangige Interventionen der Europäer auf Ebene der Außenminister (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Polen) im März 2020 erfolglos. In präzedenzloser Missachtung der Interessen sämtlicher NATO-Partner und auf der Grundlage einer offenkundig sehr verengten nachrichtendienstlichen Bewertung der russischen Überflüge über die USA wurde unilateral die Axt an die Wurzel des letzten wirksamen Pfeilers konventioneller Rüstungskontrolle in Europa gelegt.

Die Befürchtung, Russland werde den Austritt der USA zum Anlass für den eigenen Austritt aus dem Vertrag nehmen, bestätigte sich bald. Schon ab Sommer 2020 wurden mit Hinweis auf die mögliche Weitergabe von durch die Europäer über Russland erflogenen OH-Sensorausgabedaten an die USA Rücktrittsdrohungen laut. In der Folge bemühten sich die europäischen OH-Vertragsstaaten gegenüber Russland, diese Bedenken zu zerstreuen, und wiesen auf die vertraglichen Bestimmungen hin, die eine Weitergabe ausschließen. Eine letzte hochrangige Intervention (Brief von 16 europäischen Außenministerinnen und Außenministern) Ende Dezember 2020 blieb erfolglos. Am 15. Januar 2021 erklärte Russland ebenfalls seinen Rücktritt aus dem OH-Vertrag, der schließlich am 18. Dezember 2021 rechtswirksam wurde.

Nach dem Austritt der USA und Russlands aus dem Vertrag stellt sich seither zu Recht die Frage nach der Zukunft dieses rüstungskontrollpolitischen Instruments. Vor allem der russische Austritt bedeutet den Verlust der Möglichkeit, das bisherige Hauptziel der europäischen OH-Staaten – nämlich Überflüge über das gesamte russische Territorium zum Zweck der Erfassung militärischer Infrastruktur und militärischer Aktivitäten – zu erreichen.

Mit der Aussetzung der russischen Implementierung des KSEVertrags seit 2007 und dem endgültigen Austritt 2023, dem russischen Austritt aus dem OH-Vertrag 2021 und der Suspendierung der Beteiligung am Informationsaustausch des Wiener Dokuments seit 2022 ist das russische Territorium weitgehend rüstungskontrollpolitischen Bestimmungen und Überprüfungsmöglichkeiten im Bereich der konventionellen Streitkräfte entzogen.

Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle

Die sicherheitspolitische Zeitenwende der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre wurde nicht nur durch konventionelle Abrüstung, sondern ganz wesentlich durch Durchbrüche in der nuklearen Rüstungskontrolle geprägt. Lange Jahre zuvor waren die Beziehungen zur Sowjetunion durch einen nuklearen Antagonismus charakterisiert, stark beeinflusst durch die sowjetische Aufrüstung im Bereich der nuklearen Mittelstreckenraketen (SS-20). Dieses neue Drohpotenzial gegenüber NATO-Europa entwickelte sich im Schatten der zwischen den USA und der Sowjetunion erreichten Einigung zur paritätischen Begrenzung ihrer strategischen Nuklearwaffenpotenziale im SALT IIVertrag, der am 18. Juni 1979 unterzeichnet worden war.26

Aus Sicht des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ging es darum, eine Lücke der Abschreckung unterhalb dieser strategischen Ebene zu schließen. Zugleich sollte so eine Disparität beseitigt werden, die seitens der Sowjetunion zur Abkopplung der Europäer vom amerikanischen nuklearen Schutzschirm und zur politischen Erpressung genutzt werden könnte.

INF-Vertrag und START I