Mein Bruder der Papst - Georg Ratzinger - E-Book

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Georg Ratzinger

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Beschreibung

Niemand kennt Papst Benedikt XVI. besser, keiner ist mit ihm enger vertraut als sein Bruder Georg Ratzinger. Gemeinsam wurden sie zu Priestern geweiht, bis heute verbringen sie ihren Urlaub zusammen und telefonieren fast täglich miteinander. Georg Ratzinger erzählt offen aus dem privaten Leben des katholischen Kirchenoberhaupts: Wie er als Kind war und zum Glauben fand, wie die Familie die Wirren des Krieges überstand, warum in Joseph der Wunsch wuchs, der Kirche zu dienen, und wie diese Entscheidung ihn schließlich bis zu seiner Papstwahl im Jahr 2005 führte.

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Inhalt

ZitatEinleitungI  WurzelnII  Marktl (1925–1929)III  Tittmoning (1929–1932)IV  Aschau (1932–1937)V  Traunstein (1937–1946)VI  Freising und Fürstenried (1946–1951)VII  Professor (1951–1977)VIII  Kardinal (1977–2005)IX  Papst (2005 bis heute)Anstelle eines Nachworts: 60 Jahre Priester (2011)BildteilDankLiteraturBildnachweis

Zitat

»Seit dem Beginn meines Lebens war mein Bruder für mich nicht nur ein Begleiter, sondern auch ein zuverlässiger Führer. Er stellte für mich immer einen Orientierungspunkt dar mit seiner Klarheit und seiner Entschlusskraft. Er hat mir immer gezeigt, welchen Weg ich nehmen musste, auch in schwierigen Situationen. Mein Bruder hat angedeutet, dass wir mittlerweile auf der letzten Etappe unseres Lebensweges angekommen sind – im Alter. Unsere Lebenszeit wird immer kürzer. Aber auch jetzt hilft mir mein Bruder mit seiner Ernsthaftigkeit, seiner Bescheidenheit und seinem Mut, jede Last zu ertragen.«

Papst Benedikt XVI.

am 21. August 20081› Hinweis

Einleitung

von Michael Hesemann

Die Idee zu diesem Buch wurde an einem höchst ungewöhnlichen Ort geboren, nämlich in der Wallfahrtskirche von Absam unweit von Innsbruck in Tirol. In ihr wird ein Abbild Mariens verehrt, das so ganz anders ist als etwa die Schwarze Madonna von Tschenstochau in Polen, die »Trösterin der Betrübten« im rheinischen Kevelaer oder irgendein anderes Gnadenbild der Gottesmutter in einem der vielen Pilgerorte des alten Europa. Denn als Einziges der alten Welt, vergleichbar nur mit der Tilma von Guadalupe in Mexiko, nimmt es in Anspruch, »nicht von Menschenhand geschaffen« zu sein. Seine Entstehung jedenfalls ist ein Rätsel, auf das die Wissenschaft bis heute noch keine Antwort weiß. Am 17. Januar 1797 saß das Bauernmädchen Rosina Bucher bei Handarbeiten an einem Fenster der Stube im Parterre ihres Elternhauses, durch das die untergehende Abendsonne schien. In diesem Augenblick, so gab sie später zu Protokoll, blickte eine junge Frau sie durch die Fensterscheibe an, deren Antlitz aus dieser nie mehr verschwand. Es war fortan in das Glas förmlich eingebrannt wie eine grobe Zeichnung, den Kopf leicht zur Seite geneigt, den Mund verschlossen, ein Tuch um den Kopf geschlungen. Ihr ernster, gleichermaßen trauriger wie hoffnungsvoller Blick trifft den Betrachter tief ins Herz. Es ist, als würde sie durch das Fenster des himmlischen Vaterhauses noch einmal in unsere Welt hineinschauen.

Nun war 1797 ein schwieriges Jahr für die Kirche. Der frische, manchmal eiskalte Wind der Aufklärung hatte längst das letzte Tiroler Bergdorf durchweht, Napoleons Truppen setzten die Werte der Französischen Revolution notfalls mit Waffengewalt durch, marschierten sogar gegen Rom und den Papst. So stieß auch das Wunderbild von Absam erst einmal auf Skepsis und Ablehnung. Da man zuerst an eine Glasmalerei glaubte, wurde die Scheibe gleich mehrfach gründlich abgeschrubbt, worauf das Marienbild zunächst verschwand, um in der trockenen Scheibe erneut in alter Pracht zu erscheinen. Selbst Versuche, es abzuschleifen oder mit Säure dauerhaft zu entfernen, scheiterten kläglich. So gaben die bischöflichen Dienststellen nach Ablauf der Untersuchungen nach und erlaubten die Überführung des Fensterbildes in die St.-Michaels-Kirche von Absam. Dort wird es noch heute, in ein prachtvolles, goldenes Reliquiar eingefasst, von zahlreichen Wallfahrern verehrt.

Wie wirksam die Gottesmutter von Absam Gebete erhörte, davon zeugt ein ganzes Lagerhaus mit den Dankesgaben – gewöhnlich Ex-Voto-Tafeln – der Pilger. Doch auch geheiratet wurde gerne in Absam; Paare aus ganz Tirol wollten den Ehebund im Angesicht der so wundersam erschienenen Gottesmutter schließen. Das galt auch für ein Paar aus Mühlbach bei Oberaudorf in Bayern, das am 13. Juli 1885 in Absam heiratete: Maria Tauber-Peintner (1855–1930) und der Bäcker Isidor Rieger (1860–1912). »Die Braut ist in der Religion gut unterrichtet«, notierte der Pfarrer noch im Protokoll ihres Brautexamens; ungewöhnlich gut für eine einfache Dienstmagd. Ihre Tochter Maria sollte 35 Jahre später vor dem Traualtar stehen und diesmal hatte die Gottesmutter gewissermaßen persönlich die Ehe arrangiert. Jedenfalls hatte Tochter Maria ihren Mann über eine Heiratsannonce im »Altöttinger Liebfrauenboten« kennengelernt, der Hauszeitung Altöttings, des bedeutendsten Marienheiligtums und Wallfahrtsortes von ganz Bayern. Sie lautete wie folgt:

»Mittlerer Staatsbeamter, ledig, katholisch, 43 Jahre alt, tadellose Vergangenheit, aus dem Lande, sucht sich mit einem guten, katholischen, reinlichen Mädchen, das gut kochen und alle Hausarbeiten kann, auch im Nähen bewandert ist und Einrichtung besitzt, baldig zu verehelichen.«

Es war bereits der zweite Versuch des Gendarmen Joseph Ratzinger, endlich eine Frau zu finden; der erste, im März 1920 geschaltet, blieb offenbar erfolglos. Auf die zweite Anzeige, die im Juli 1920 erschien, meldete sich Maria Peintner2› Hinweis. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Jedenfalls heiratete das Paar bereits vier Monate später, am 9. November 1920, in Pleiskirchen bei Altötting. 13 Monate später, am 7. Dezember 1921, kam das erste Kind zur Welt, ein Mädchen, das natürlich auf den Namen Maria getauft wurde. Der erste Sohn, am 15. Januar 1924 ebenfalls in Pleiskirchen geboren, sollte Georg heißen. Sein jüngerer Bruder, der am 16. April 1927 in Marktl bei Altötting das Licht der Welt erblickte, wurde nach seinem Vater Joseph genannt. Genau 120 Jahre nach der Hochzeit seiner Großeltern in Absam, am 19. April 2005, wählten die Kardinäle der katholischen Kirche diesen Joseph Ratzinger zum 265. Nachfolger des Apostels Petrus. Er sollte sich fortan Benedikt XVI. nennen.

Der Papst aus Bayern hatte gerade sein 5. Pontifikatsjubiläum gefeiert und war zum Grabtuch Jesu nach Turin gepilgert, als ich meine Rückfahrt nach Deutschland zu einem Abstecher in Absam nutzte. Ich hoffte, dort, wo alles begann, dem Geheimnis des ersten Deutschen auf dem Thron Petri seit Hadrian VI. (1522–1523)3› Hinweis auf den Grund zu gehen. Seit ich 2005, gleich nach seiner Wahl, zusammen mit Yuliya Tkachova für die Besucher des Weltjugendtages in Köln das biografische Portrait »Benedetto!« verfasst hatte, faszinierten mich sein Lebensweg und die Frage, ob sich in ihm so etwas wie eine Vorbestimmung erkennen lässt. So wuchs mit den Jahren der Wunsch, seinen engsten und liebsten Vertrauten seit Kindertagen, seinen Bruder Georg, eines Tages einmal ausführlich zu interviewen.

Georg Ratzinger lebt, heute 87-jährig, in Regensburg und ist in der Domstadt nicht weniger als eine »lebende Legende«. Schließlich war er es, der als Domkapellmeister der weltbekannten »Regensburger Domspatzen« dem Knabenchor der Bischofskirche zu seinen größten Erfolgen verhalf. So kam es vor dem Schicksalsjahr 2005 durchaus vor, dass sich Joseph Kardinal Ratzinger als »der kleine Bruder des berühmten Chorleiters« vorstellte. Seit dem Konklave aber gilt Prälat Dr. Georg Ratzinger, den schon Papst Johannes Paul II. zum »Apostolischen Protonotar« ernannt hatte, trotz beeindruckender eigener Verdienste in erster Linie als »der Bruder des Papstes«.

Im Dezember 2010 stellte mich Roswitha Biersack, die Leiterin der bayerischen Sektion der Papsttreuen-Vereinigung »Deutschland pro Papa«4› Hinweis, in Regensburg dem damals noch 86-jährigen Domkapellmeister i. R. vor. Im Gespräch zeigte sich, dass er der Idee eines längeren Interviews, aus dem ein kleines Buch entstehen könnte, nicht abgeneigt war; er wollte aber zunächst eine bevorstehende Knieoperation hinter sich bringen. Als er diese gut überstanden und auch die anschließende »Reha« absolviert hatte, empfing er uns am 8. Mai 2011 zur ersten von fünf bis zu zweistündigen Sitzungen in seinem Haus in der Regensburger Luzengasse. »Ich bin jetzt Ihr Peter Seewald«, begann ich das Gespräch in Anspielung auf das Interview seines Bruders mit dem Münchener Journalisten, aus dem der wunderbare Band »Licht der Welt« entstand. Ich hätte mir keinen besseren Zeitpunkt wünschen können. In den Kirchen wurde an diesem dritten Sonntag der Osterzeit an die erste Predigt des Petrus zum Pfingstfest in Jerusalem erinnert. Eine Woche zuvor hatte ich in Rom zusammen mit anderthalb Millionen Menschen erleben dürfen, wie Benedikt XVI. seinen »geliebten Vorgänger« Johannes Paul II. seligsprach. Am Vortag, dem 7. Mai, hatte mich »Deutschland pro Papa« eingeladen, auf einer Kundgebung auf dem Münchener Odeonsplatz zu sprechen. Das katholische Deutschland fieberte dem Papstbesuch im September entgegen, während sich die Ratzinger-Brüder auf die gemeinsame Feier ihres diamantenen Priesterjubiläums vorbereiteten: Am 29. Juni 1951, vor 60 Jahren also, hatten sich der heutige Papst und sein Bruder mit ihrem feierlich gesprochenen »Adsum« (»Ich bin bereit«) unwiderruflich in den Dienst des Herrn gestellt. Dieses gemeinsame Jubiläum, so denke ich, ist der schönste Anlass für einen Rückblick auf zwei so gesegnete Priesterleben.

Ein Wort zur Form dieses Buches. Da es hier um die Erinnerungen Msgr. Georg Ratzingers geht, habe ich der Lesbarkeit halber auf ein doch recht starres »Frage-Antwort«-Schema verzichtet. Die allenfalls stiltechnisch bearbeiteten und in Details ergänzten Worte des »Herrn Domkapellmeisters«, wie er zumindest in Regensburg am liebsten angeredet wird5› Hinweis, sind in Normalschrift gesetzt, meine Überleitungen, Fragen, Zwischenbemerkungen und Ergänzungen in kursiver Schrift.

Natürlich beabsichtigt dieses Buch an erster Stelle, eine wichtige Quelle zur Lebensgeschichte unseres deutschen Papstes zu sichern. Das Zeugnis seines Bruders ergänzt insbesondere seine persönlichen Erinnerungen, die er noch als Kardinal 1997/8 unter dem Titel »Aus meinem Leben« veröffentlichte. Sie endeten ziemlich früh, nämlich mit seinem Umzug nach Rom 1982. Die beeindruckende Karriere des Domkapellmeisters Georg Ratzinger spielt dagegen in dem vorliegenden Werk eine eher zweitrangige Rolle; sie wurde bereits ausführlich und gut lesbar in Anton Zubers ausgezeichneter Biografie »Der Bruder des Papstes. Georg Ratzinger und die Regensburger Domspatzen« (Freiburg 2007) geschildert.

Doch darüber hinaus möchte ich meine ursprüngliche Frage noch einmal in den Raum stellen, ob hinter dieser einzigartigen »deutschen Karriere« vom Gendarmensohn zum Oberhaupt von 1,3 Milliarden Katholiken mehr steckt als der bloße Zufall. Ganz sicher ist, dass das Papstamt von Joseph Ratzinger nie angestrebt wurde, dass ihm diese seine größte Aufgabe, wie so vieles im Leben, buchstäblich in den Schoß fiel. Er selbst hat Cooperatores veritatis, »Mitarbeiter der Wahrheit« in Anlehnung an den 3. Johannesbrief (Vers 8) auf sein Wappen geschrieben. Doch je mehr ich über sein Leben erfuhr, desto deutlicher erinnerte es mich an das Motto der jungen Missionsschule »Emmanuel« (ESM) in Altötting, an der ich im Januar 2011 ein Seminar abhalten durfte: Give all – get more! Auch Joseph Ratzinger hat in seinem Leben immer alles gegeben, um, ohne es zu beabsichtigen, so viel mehr vom Herrn zurückzuerhalten. So möchte dieses Buch besonders jungen Männern Mut machen, die mit dem Gedanken spielen, sich auf den Weg des Priesters einzulassen, allen inneren wie äußeren Hindernissen zum Trotz ihrer Berufung zu folgen. Es ist ein gnadenreicher Weg, der gerade denen, die nichts erwarten und alles geben, noch viel mehr zurückgibt.

Besonders beeindruckte mich aber auch Georg Ratzingers Schilderung der frühen, prägenden Jahre unseres Papstes. Er zeichnet dabei das Bild einer Familie, die durch ihren tiefen, gelebten Glauben so stark wurde, dass sie allen Stürmen der Zeit widerstand, sogar denen des gottlosen Nazi-Regimes. Gerade uns, die wir in einer Zeit leben, in der immer mehr Ehen scheitern und Familien zerrissen werden, kann diese Familie als Vorbild dienen. In den USA hörte ich immer wieder ein Sprichwort, das so viel Wahres an sich hat: A family that prays together stays together – »Eine Familie, die zusammen betet, bleibt zusammen«! Die versöhnende, Liebe schenkende Kraft des Glaubens allein macht es möglich, die Krisen des familiären Alltags zu meistern und den Kindern Geborgenheit und Werte zu vermitteln, die ihnen das Tor in eine gute Zukunft öffnen.

Möge dieses Buch dazu beitragen, dass wieder mehr Familien die Kraft und Freude des christlichen Glaubens für sich entdecken und das gemeinsame Gebet und die Feier der Kirchenfeste mit ihren Kindern pflegen. Die Familie ist die Zukunft der Kirche. Oder, um es mit den Worten des Papstes zu sagen, die zum Motto seines Deutschlandbesuches im September 2011 wurden: »Wo Gott ist, da ist Zukunft.«

Wie wahr das ist, hat sein bisheriges Leben gezeigt.

Michael Hesemann

Rom, 29. Juni 2011

IWurzeln

Wir Kinder wurden alle drei in der Nähe von Altötting geboren, dem berühmten Gnadenort der Mutter Gottes, aber nicht im gleichen Dorf. Meine Schwester Maria (geb. 7. Dezember 1921) und ich (geb. 15. Januar 1924) kamen in Pleiskirchen zur Welt, mein Bruder Joseph, der Heilige Vater (geb. 16. April 1927), wurde in Marktl am Inn geboren. Weil unser Vater von Beruf Gendarm war, wurde er, so war es damals üblich, oft versetzt. Jedenfalls sind wir einige Male mit der ganzen Familie auf Pilgerfahrt nach Altötting gegangen. Das dortige Heiligtum, diese wunderbare kleine Kirche, hat ja eine lange und bedeutende Geschichte, die bis in die Karolingerzeit reicht. Doch wir sind nicht wegen dieser historischen Prägung dorthin gepilgert, sondern weil wir wussten, dass es ein zutiefst geistlicher Ort ist. Unser Vater gehörte sogar der Marianischen Männerkongregation an, einer Bruderschaft, die in Altötting ihren Sitz hat und sich ganz der Verehrung der Gottesmutter verschrieb. Schon deshalb zog es ihn und uns immer wieder dorthin. Die Wallfahrten zu der berühmten Schwarzen Madonna gehören zu unseren schönsten Kindheitserinnerungen. Diese vergeistigte Atmosphäre, bewirkt durch das ständige Gebet, hat mich und meinen Bruder damals schon tief in ihren Bann gezogen. Es hat also eine wichtige Rolle in unserem Leben gespielt und in unserer Wertschätzung auch, so nah bei Altötting aufgewachsen zu sein. Wir konnten der Gottesmutter immer unsere Sorgen und Nöte anvertrauen, so klein sie auch in den Kindertagen waren, wir fühlten uns immer von ihr beschützt.

Über die Zeit vor der Ehe unserer Eltern wurde eigentlich nie gesprochen. So war mir unbekannt, dass meine Großeltern in einem anderen Marienheiligtum, in Absam, geheiratet haben. Aber es ist schön zu wissen, dass offenbar auch über ihrer Ehe der Segen der Gottesmutter lag.

Die Familie meiner Mutter stammte ursprünglich aus Tirol. Ihre Eltern waren Bäckersleute. Der Vater, ein bayerischer Schwabe namens Isidor Rieger, wurde (am 22. März 1860) in Welden geboren, das soll ein ganz hübscher Ort sein. Ihre Großeltern hatten bei Brixen in Südtirol (das damals noch österreichisch war) eine Mühle besessen, die dann bei einem Hochwasser der Rienz weggespült wurde. Daraufhin wanderte die ganze Familie nach Bayern aus. Meine Großmutter hatte den Rest ihres Lebens lang Sehnsucht nach ihrer Heimat. Als sie krank wurde und es allmählich ans Sterben ging, hat sie immer gesagt: »Wenn ich nur a bisserl Wasser von zu Hause hätte, ich würde wieder gesund werden.« Das Tiroler Wasser, so war sie überzeugt, sei ganz anders als das bayerische Wasser gewesen. Sie glaubte auch, »ein Hüterl voll Tiroler Heu« sei wertvoller als Futter für das Vieh als ein ganzer Schubkarren bayerischen Heus. Sie war halt eine große Tiroler Patriotin.6› Hinweis

Meine Mutter, Maria Ratzinger, geb. Peintner, erblickte am 8. Januar 1884 in Mühlbach bei Oberaudorf (im Landkreis Rosenheim) im äußersten Südosten Bayerns das Licht der Welt und dort steht auch ihre Taufkirche. Es ist dasselbe Mühlbach, in dem auch Bastian Schweinsteiger aufgewachsen ist, der berühmte Fußballspieler. Sie ging dann in Rimsting am Chiemsee in die Volksschule. Ihre Eltern waren, wie gesagt, Bäckersleute und so mussten die Kinder jeden Morgen noch vor der Schule Brot austragen. Die Kunden wollten ja ihre frischen Semmeln und ihr Frühstücksbrot ins Haus gebracht bekommen. Sieben Jahre lang besuchte sie die Schule, dann nahm sie verschiedene Posten als Dienstmädchen an. Ihr erster Dienstherr war ein Konzertmeister in Salzburg. Zinke hat er geheißen, er war ein Tscheche und er hat immer fleißig geübt. Dadurch ist sie mit der Musik in Berührung gekommen. Der Konzertmeister wurde aber leider sehr schlecht bezahlt, er musste schon immer Zusatzkonzerte geben, um irgendwie überleben zu können, und entsprechend karg war der Lohn meiner Mutter. Später arbeitete sie in Kufstein in einer Bäckerei. Dann fand sie eine Stelle in Hessen bei einem General Zech, der in Hanau wohnte, und schließlich ging sie nach München, wo im Hotel Neuwittelsbach eine Köchin für Mehlspeisen gesucht wurde, die ihr ganz besonders lagen. Sie hatte also schon einiges gesehen und erlebt, als sie meinem Vater begegnete. Ihre Wärme und Herzlichkeit glich in unserer Kindheit immer wieder die Strenge des Vaters aus. Sie war stets fröhlich und zu allen freundlich und pflegte beim Geschirrspülen Marienlieder zu singen. Vor allem aber war sie auch eine sehr praktische, patente Frau, die sich in allem helfen konnte, eine richtige Alleskönnerin: Sie schneiderte, machte Seife und wusste auch aus den einfachsten Zutaten ein wohlschmeckendes Mahl zu bereiten. Besonders verstand sie sich, wie gesagt, auf köstliche Mehlspeisen, die noch heute zu den Lieblingsspeisen meines Bruders und mir gehören. Ihre bayerischen Dampfnudeln, die unten eine dicke Kruste hatten, waren wunderbar. Dazu gab es Vanillesoße. Geliebt haben wir auch ihren Apfelstrudel. Beim richtigen Apfelstrudel, das wissen gute Hausfrauen, ist der Teig so dünn, dass er fast durchsichtig ist. Er ist ziemlich breit, er wird an den Ecken auseinandergezogen, und da kommt der Inhalt rein, die Apfelspeitl, Rosinen und alle möglichen anderen guten Sachen. So ein Apfelstrudel, bei dem der Teig hauchdünn ist, ist etwas Wunderbares. Dann sind ihre Pfannkuchen zu nennen, die sie immer mit »Ribisl« serviert hat, wie sie die Johannisbeeren nannte; ein alter Tiroler Name, mit dem in Bayern kaum jemand etwas anfangen konnte. Und schließlich darf ich natürlich ihren Kaiserschmarrn nicht vergessen, der einfach exzellent war.

Ansonsten lebten wir ziemlich einfach. Wir sind sehr sparsam aufgewachsen, denn das Gehalt eines einfachen Gendarmen reichte nicht aus, um damit große Sprünge zu machen. Der Vater musste das Geld zusammenhalten, damit es gereicht hat. Dabei war es den Eltern immer wichtig, dass wir einen ordentlichen Eindruck machten. Die Mutter hat glücklicherweise den Familienetat stark entlastet. Zunächst einmal dadurch, dass wir immer einen Garten hatten, in dem sie Gemüse züchtete. Während der Sommermonate brauchten wir kein Gemüse zu kaufen, denn sie hat Salat, Kohlrabi und gelbe Rüben (Karotten) selbst angebaut und geerntet. Die Gartenarbeit war ihre ganze Leidenschaft. Natürlich hat sie auch ein paar schöne Blumen gepflanzt, die ihr so viel Freude bereiteten.

Dann hat unsere Mutter immer fleißig gestrickt. Die Mützen, Pullis, Strümpfe, Schals, Handschuhe, alles, was wir im Winter trugen, hat sie selber angefertigt. Sie hat also nur die Wolle kaufen müssen, was den Etat unseres Vaters schon stark entlastete. Damals war es zumindest auf dem Land nicht üblich, gestrickte Wollsachen zu kaufen. Wir hatten jedenfalls immer zwei Paar Handschuhe zur Auswahl, nämlich Fäustlinge, die bloß den Daumen frei ließen, und dann die Fingerhandschuhe. Für meinen Vater und für uns war die Mutter einfach ein großer Glücksfall.

Ich habe meine beiden Großmütter noch kennengelernt. Die Mutter meiner Mutter, Maria Rieger-Peintner, ist ja erst 1930 verstorben. Bis dahin lebte sie in Rimsting. Mit meiner Mutter habe ich sie mal besucht. Sie war eine etwas herbe Frau, die g’scheit schimpfen konnte, wie mir gesagt wurde.

Von meiner Großmutter väterlicherseits (Katharina Ratzinger, geb. Schmid, 1851–1937) weiß ich bloß noch, dass es ein uraltes Weiberl mit einem schwarzen Kopftuch war. Sonst habe ich leider keine Erinnerungen mehr an sie. Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, als sie (1931) ihren 80. Geburtstag feierte. Damals fand ein großes Fest mit allen Verwandten statt. Es wurde ein bisserl donauaufwärts gefeiert, ich glaube in Altenmarkt. Es gibt sogar ein Foto davon, das der Heimatforscher und ehemalige Ministerialrat Johann Nußbaum aus Rimsting in seinem Buch über die Wurzeln unserer Familie7› Hinweis veröffentlichte. Das Original ist im Besitz meiner Verwandten, der Familie Anton Messerer in Rickering bei Schwanenkirchen, dem Ort, in dem auch mein Vater geboren wurde. Deren Großvater war ein Bruder meines Vaters.

2 Die Großfamilie Ratzinger beim 80. Geburtstag der Großmutter väterlicherseits, Katharina Ratzinger, auf dem Ratzingerhof in Rickering. Links unten sitzt Georg (7), rechts unten Joseph (4); stehend, im hellen Kleid, Maria (9); rechts oben, stehend, die Eltern Joseph und Maria Ratzinger. Links oben Onkel Anton, davor, sitzend, der Priesteronkel H.H. Alois Ratzinger

Ebenfalls aus Rickering stammte der Onkel meines Vaters, also mein Großonkel, Dr. Georg Ratzinger, der Priester und Politiker war und es bis zum Reichstagsabgeordneten brachte. Unser Vater hat öfter über ihn gesprochen und von seinem Hauptwerk, »Geschichte der kirchlichen Armenpflege«, das auch seine Dissertationsschrift war. Er hatte es auf Anregung des bekannten Kirchengeschichtlers Ignaz von Döllinger verfasst. Darin zeigte er auf, wie die blühende Armenpflege im Mittelalter mit der Reformation endete. Er hat aber auch noch andere Bücher geschrieben, etwa »Die Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen«, worin es um die Rückbindung der Wirtschaftstheorie an eine christliche Ethik ging und die soziale Frage im Mittelpunkt stand. Zudem hat er sich als erklärter Gegner der Kinderarbeit verdient gemacht. Derzeit arbeitet ein Historiker aus Trier, Dr. Karl-Heinz Gorges, an einer Monografie über ihn und dann ist da natürlich Dr. Tobias Appl aus Regensburg zu nennen, ein weiterer Historiker, der am Lehrstuhl für Landesgeschichte promovierte und über ihn publiziert hat. Er referierte auf einer Tagung zum Leben und Werk meines Großonkels, die 2008 hier in Regensburg veranstaltet wurde.

Dr. Georg Ratzinger (1844–1899) war als Mitglied der Bayerischen Patriotenpartei von 1875 bis 1877 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages und von 1877 bis 1878 Mitglied des Reichstages. Von 1893 bis 1899 wurde er wiederum in den Bayerischen Landtag gewählt, zunächst als Mitglied des Bayerischen Bauernbundes, dann, ab 1894, als unabhängiger Abgeordneter. Als solcher gehörte er dann von 1898 bis zu seinem Tod ein Jahr später wieder dem Reichstag an.

Ratzinger galt als herausragender Schriftsteller mit einem Hang zur Polemik. Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes, den Reichskanzler Bismarck gegen das katholische Deutschland führte, wurden seine Schriften beschlagnahmt, er selbst in Untersuchungshaft genommen. Zeitweise war er Chefredakteur des »Fränkischen Volksblattes« in Würzburg. Er zählt zu den wichtigsten Vorkämpfern der entstehenden kirchlichen Publizistik. Als konservativer Döllinger-Schüler war er dem Staat, aber auch staatstreuen Kirchenkreisen suspekt, was eine akademische Karriere als Kirchengeschichtler unmöglich machte. Schon deshalb ging er in die Politik. Er selbst bezeichnete sich als »Reichsfeind« und »klerikal-sozial«. Das militaristische Großmachtstreben Preußens lehnte er ab. Er war der Auffassung, dass Militarismus hauptsächlich auf den Schultern der steuerzahlenden Arbeiter und Bauern lastete und dem Monopolstreben des Großkapitals diene. Vorausschauend erkannte er bereits 1895, dass die militaristischen Tendenzen in einen Weltkrieg münden würden. Eine Abwendung dieses Schicksals erwartete er sich nur aus der Umgestaltung des Staates nach den Prinzipien der katholischen Soziallehre.

Schon zu Lebzeiten war Ratzingers Karriere von diversen Verleumdungsversuchen begleitet. Heute wird seine zweifellos beachtliche Leistung als katholischer Sozialreformer von dem Vorwurf überschattet, Verfasser zweier antijudaistischer Schriften gewesen zu sein, die unter den Namen »Dr. Robert Waldhausen« und »Dr. Gottfried Wolf« veröffentlicht wurden.

Der Vater hat wohl von ihm gesprochen, aber etwas Näheres erfuhren wir dann doch nie. Es war einfach nur so, dass wir wussten und uns gefreut haben, dass unter unseren Vorfahren eine Persönlichkeit gewesen ist, die eine gewisse Rolle gespielt und es zu einiger Bedeutung gebracht hat. Bei unserer Entscheidung, Priester zu werden, hat sein Vorbild allerdings keine Rolle gespielt. Seine Schriften haben wir in der Familie nie gelesen und auch seine Meinung zu den Juden, die er ja nicht einmal unter eigenem Namen veröffentlicht haben soll, war uns nicht bekannt.

Glaubt man dem Familienstammbaum, der im Museum des Papsthauses in Marktl am Inn hängt, so waren die Ratzingers eine alte Bauernfamilie. Zumindest lässt sich ihr Stammbaum lückenlos bis in das Jahr 1600 zurückverfolgen, als ein Georg Räzinger, Bauer in Ratzing im Bistum Passau, erstmals in den Kirchenbüchern erwähnt wurde. Tatsächlich reichen ihre Wurzeln aber viel weiter zurück. Wie der Historiker Herbert Wurster auf der erwähnten Fachtagung über Dr. Georg Ratzinger nachwies, geht die Familie auf einen Razi zurück, der im späten 10. Jahrhundert in Sandbach im Bistum Passau lebte. Er stand, wie die Notiz aus dem Jahre 947/970 andeutet, im Dienst der Kirche von Passau und hat vielleicht sogar den Weiler Ratzing gegründet, der einen Kilometer von Sandbach entfernt liegt. Ihm entstammte wohl ein Ministerial namens Dietricus de Rezinge, der um 1173/1200 in den Akten des Klosters Vornbach in Erscheinung trat. Einem Hainrich Razinger wurde 1258 das Stadtgericht der heutigen Passauer Innstadt übertragen; er war damit »ein hochrangiger und offenbar leistungsfähiger Diener der Fürstbischöfe von Passau«. Offenbar war die Familie damals wohlhabend, jedenfalls trat 1318 ein Otto Ratzinger als Bürger und Hausbesitzer in der Passauer Innstadt in Erscheinung. Einer dieser beiden Ratzinger dürfte, so Wurster, der Gründer des zweiten Ratzing in der heutigen Gemeinde Freinberg im Innviertel (heute Oberösterreich) gewesen sein, wo er offenbar Land und einen Hof erwarb. Der dortige Gutshof »Recing«, später »Räzinger am untern Freinberg«, wird jedenfalls erstmals 1304 in einer Urkunde des Domkapitels Passau erwähnt. So bildete sich auf dem Ratzinger-Gut jene bäuerliche Linie dieser einst bürgerlichen Familie heraus, die seit 1600 lückenlos dokumentiert ist. Seit 1801 ist das Strassergut zu Rickering im Besitz der Familie, auf dem auch der Großvater Benedikts XVI. geboren wurde.

Der Vater stammte ebenfalls aus Rickering, einem Weiler, der zur Pfarrei Schwanenkirchen gehört. Das älteste Kind seiner Eltern war ein Mädchen namens Anna, das noch vor dem Eheschluss geboren wurde. Danach kam der Vater, Joseph Ratzinger, als zweites Kind zur Welt. Er hat sich dort eigentlich nie wohlgefühlt in seiner Jugendzeit, denn als ältester Sohn musste er schon früh in der Landwirtschaft mitarbeiten. Das war harte, schwere Arbeit. Er hat dann die Volksschule besucht. Dort unterrichtete ein Kooperator, wie damals die Kapläne genannt wurden, namens Rosenberger, der eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt und ihn tief beeindruckt und geprägt hat. Er gab einen sehr intensiven und wertvollen Religionsunterricht, den der Vater damals schon sehr schätzen sollte.

Zudem hatte er einen Lehrer, den Herrn Weber, der die Kinder schon früh in den Kirchenchor aufnahm. Er führte mit ihnen schon sieben- bis achtstimmige Messen auf und der Vater war dabei. Er hat uns später immer wieder gerne erzählt, dass er als Junge bereits im Kirchenchor von Schwanenkirchen unter Leitung des Herrn Weber mitgesungen hat. Die Kirchenmusik hat ihn also schon früh begeistert und, wie es scheint, eine wichtige Rolle im geistlichen Leben dieser Pfarrei gespielt.

In dieser Zeit entwickelte unser Vater seine Liebe zur Musik. Eines Tages hat er sich dann eine Zither gekauft und einige Unterrichtsstunden genommen, alles andere hat er sich autodidaktisch beigebracht. Er besaß jedenfalls eine ganze Schachtel voll mit Notenheften, die immer auf dem Küchenschrank lag, gleich neben der Zither. Abends hat er sie dann oft von dort heruntergenommen und für uns gespielt und gesungen. Das war immer eine besondere Stimmung, wenn wir uns um ihn versammelt hatten und er zunächst einmal einen schneidigen Marsch spielte und dann irgendein Lied aus dieser Zeit. Diese Lieder würde wohl heute niemand mehr verstehen, sie waren ein wenig rührselig und sentimental, aber uns haben sie damals tief bewegt. Es war jedenfalls immer sehr schön, wenn der Vater Zither spielte, und hat mich auf meinem eigenen Weg zur Musik gewiss vorgeprägt. Ansonsten war der Vater ein strenger, aber auch sehr gerechter Mann. Er hat uns immer gesagt, was nicht richtig war, er hat aber nie unnötig mit uns geschimpft und uns nur getadelt, wenn wir es wirklich verdient hatten. Er war schon eine Respektsperson, auch wenn er immer bescheiden auftrat und zu allen Menschen freundlich war. Er trug einen Zwirbelbart, wie er damals in Mode war, und war stets tadellos gekleidet. Für besondere Anlässe hat Mutter seinen Helm, den Säbel und das Koppel der Gendarmenuniform besonders gründlich mit Sidol (einem Reinigungsmittel) geputzt, denn alles sollte blitzblank sein.

Nachdem unser Vater die Volksschule absolviert hatte, besuchte er noch die Feiertagsschule. Dorthin gingen ehemalige Volksschüler, die bereits eine Arbeit hatten, wie der Vater, der längst zu Hause in der Landwirtschaft mitarbeiten musste. Die Feiertagsschule fand immer sonntags statt und obwohl auch andere Fächer unterrichtet wurden, stand dort der Religionsunterricht im Mittelpunkt.

Am 20. Oktober 1897, mit 20 Jahren, musste er nach Passau in die Kaserne einrücken und wurde Soldat. Er war wohl ein sehr viel besserer Soldat, als mein Bruder und ich es je gewesen sind. Er wurde Unteroffizier, er hat auch die Schützenschnur getragen, denn er war ein recht guter Schütze, der von seinen Vorgesetzten für diese Auszeichnung empfohlen worden war. Er hatte seine Militärzeit keineswegs in unangenehmer Erinnerung; anders als wir, muss ich gestehen, ich war nicht gerne Soldat und mein Bruder auch nicht. Aber mein Vater hat ganz gern an seine Militärzeit zurückgedacht. Er diente zwei Jahre lang beim 16. königlich-bayerischen Infanterieregiment in Passau und drei weitere Jahre in der Reserve, dann schied er als Unteroffizier aus.

Er hat uns manchmal Geschichten aus dieser Zeit erzählt. Da gab es etwa einen recht eitlen Leutnant von Hazy. Wenn ihn der Kommandant mit »Herr Leutnant Hazy« aufrief, hat der sich nicht gerührt. Noch einmal: »Herr Leutnant Hazy«, nichts geschah. Als es dann aber »Herr Leutnant von Hazy« hieß, antwortete er mit einem donnernden »Jawohl, Herr Hauptmann!«.

Nach der Militärzeit kehrte der Vater zunächst nach Hause zurück. Bald aber wurde klar, dass nicht er den väterlichen Hof erben würde, sondern sein jüngerer Bruder Anton. Weshalb dem so war, hat uns der Vater nie erzählt. Er musste dann sehen, wie er seinen weiteren Lebensweg gestaltete, und erkundigte sich wohl, wo er mit seiner Ausbildung als Unteroffizier die besten Chancen hatte. Man erklärte ihm, dass es zwei Möglichkeiten gäbe, nämlich bei der Gendarmerie, wie damals die Landpolizei hieß, oder bei der Eisenbahn. Ich weiß nicht, welche Gründe ihn damals dazu veranlasst haben, jedenfalls bewarb er sich bei der Gendarmerie und wurde dort angenommen.

Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München befindet sich noch heute seine Dienstakte, die der Lokalhistoriker Johann Nußbaum aus Rimsting vor ein paar Jahren ausfindig machte. Dort heißt es, er sei »25 Jahre alt, katholisch, ledig, 1,64 Meter groß« gewesen. Sein erster Dienstort war Niederambach bei Schrobenhausen. Nach mehreren Versetzungen wurde er nach sechseinhalb Jahren in Königsee zum Sergeanten ernannt, weitere achteinhalb Jahre später – nämlich 1917 – in Kolbermoor zum Vizewachtmeister befördert, zwei Jahre danach schon in Unterneukirchen zum Wachtmeister, dann 1921 zum Stationskommandanten. In 35 Dienstjahren wurde er 14 Mal versetzt. »Rein äußerlich wirkte er schlaksig und zäh. Er trug einen Schnauzbart, der früh ergraut war«, beschreibt ihn Nußbaum, der noch mit Zeitzeugen sprechen konnte. »Sein Auftreten war nüchtern und streng. Ein kerniger Mensch, züchtig und wortkarg – typisch für die Menschen aus der Region zwischen Donau und Bayerischem Wald.«

Damals war es üblich, dass Gendarmen oft versetzt wurden, schon um einer »Spezlwirtschaft« vorzubeugen. Ich kann gar nicht alle Posten aufzählen, denen er mal zugeteilt war. Am Königssee war er einmal, in der Holledau und während des Ersten Weltkriegs in Ingolstadt, wo damals die lokale Polizeieinheit aufgestockt wurde, weil es dort viel Industrie gab und man den Ausbruch von Arbeiterunruhen befürchtete.

Die jungen Polizisten waren schlecht bezahlt und er hat sich wohl gesagt, dass er mit dieser Bezahlung keine Familie ernähren konnte. So wartete er mit dem Heiraten, bis er genug Geld verdiente. Da war er bereits 43. Wir haben nie erfahren, dass er unsere Mutter auf dem Weg einer Annonce kennengelernt hat, das hat er uns nie erzählt.

Wie damals bei Gendarmen üblich, musste er trotz seiner 43 Jahre seine Vorgesetzten zunächst um Erlaubnis bitten. Nußbaum fand im Bayerischen Hauptstaatsarchiv auch folgendes Schreiben: »Am 9. November (1920) beabsichtige ich mich mit der ledigen Köchin Maria Peintner, geb. am 8.1.1884 zu Mühlbach, Bezirksamt Rosenheim, zu ehelichen und bitte hiermit um die hierzu erforderliche Genehmigung.« Bereits nach einer Woche traf die Erlaubnis bei ihm ein.

Dann war die Trauung. Ich glaube, sie fand schon in Pleiskirchen statt, wo meine Schwester und ich dann auch geboren wurden. Er wohnte da in einem Ortsteil namens Klebing an einem kleinen See oder Teich, wo immer die Frösche quakten.

Ich habe Pleiskirchen erst vor ein paar Jahren auf Vermittlung eines unserer Weihbischöfe, des 2004 verstorbenen Bischofs Karl Flügel, besucht. Es ist ein hübscher Ort mit einer sehr schönen Kirche und einem Schloss, dessen Ursprünge bis in das 11. Jahrhundert zurückreichen.

Trotzdem hat sich unsere Mutter in dem Haus, das so einsam am See lag, sehr unwohl gefühlt und oft Angst gehabt. Deshalb hat der Vater für sie einen Hund angeschafft, doch der erwies sich als noch ängstlicher als die Mutter, auch wenn er sonst wohl ein ganz braver Hund gewesen ist.

Überhaupt war es eine unruhige Zeit. Damals herrschte die Inflation, die Preise stiegen ins Unermessliche, man bezahlte bis zu 200 Millionen Reichsmark für einen Laib Brot. Mein Vater wurde damals täglich ausbezahlt, doch kaum hielt er sein Geld in den Händen, da war es schon nichts mehr wert, weil die Preise wieder gestiegen waren. Als ich 1924 zur Welt kam, so erzählte mir später der Vater, war meine Mutter sehr krank. Sie hätte es beinahe nicht überstanden. Er selbst sei damals auf Dienstgang gewesen und als er heimkam, sei ich schon da gewesen, in einem Korb, hat er gesagt.

Doch es muss auch schöne Momente gegeben haben, denn unsere Mutter erzählte immer, es sei für sie die beste Zeit gewesen, als wir Kinder noch klein waren. Ein Jahr später, nämlich im Mai 1925, wurde mein Vater dann nach Marktl versetzt. Dort war es, wo mein Bruder Joseph geboren wurde.

Auch die Versetzungsurkunde der »Bayerischen Landes-Gendarmerie-Direktion« vom 22. April 1925 ist im Bayerischen Hauptstaatsarchiv noch erhalten. Danach bezog der Stationskommandant der Gendarmerie »in gleicher Diensteigenschaft mit seinem bisherigen Grundgehalt in etatsmäßiger Weise« seinen neuen Posten zum nächsten 1. Mai. Am 1. November 1927 wurde Joseph Ratzinger sen. dann »im Namen der Regierung des Freistaates Bayern« zum Sicherheitskommissär in Gehaltsgruppe VI mit einem jährlichen Grundgehalt von 2124 Reichsmark befördert. Als Kommandant der Marktler Gendarmeriestation gehörte er natürlich zu den Honoratioren im Ort, obwohl er, wie Zeitzeugen bestätigten, immer zurückhaltend und bescheiden auftrat. »Er hat sich in der verhältnismäßig kurzen Zeit seines Hierseins durch Gerechtigkeitssinn sowie durch Entgegenkommen und Freundlichkeit im Umgang die Achtung der Einwohnerschaft von Marktl erworben«, schrieb der »Burghauser Anzeiger« 1929 bei seinem Abschied.

Marktl am Inn, so meinte die »Süddeutsche Zeitung« nach der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst, lag buchstäblich »zwischen Himmel und Hölle«, nämlich auf halber Strecke zwischen dem Marienheiligtum Altötting und dem österreichischen Braunau am Inn. Dort war am 20. April 1889 jener Mann geboren worden, dessen Schatten bald über der Kindheit des kleinen Joseph und seines Bruders Georg lag: Adolf Hitler.

Wenn Gott durch Zeichen in der Geschichte zu uns spricht, dann vielleicht auch durch dieses: 30 Kilometer liegt Marktl von Braunau entfernt; ebenfalls 30 Kilometer liegen zwischen Wadowice, dem Geburtsort des sel. Johannes Paul II., und dem Konzentrationslager Auschwitz. Auch Wadowice hatte sein nahe gelegenes Marienheiligtum, das nur 20 Kilometer entfernte Kalwaria Zebrzydowska mit seiner »weinenden« Ikone der Gottesmutter. Beide Päpste wurden also in unmittelbarer Nähe jener Orte geboren, die wie keine anderen den Aufstieg und die unmenschlichen Gräuel des Nationalsozialismus symbolisieren. Doch gleichermaßen standen beide Geburtsorte unter dem Schutz der Gottesmutter, die stets das Böse besiegt.

IIMarktl(1925–1929)

(1925–1929)

Meine frühesten Kindheitserinnerungen stammen aus der Zeit, als wir in Marktl am Inn wohnten. Die Dienstwohnung des Gendarmen, also meines Vaters, befand sich dort in einem geräumigen Haus am Marktplatz, dem 1701 errichteten »Mauthaus«. Ich war zum Zeitpunkt unseres Umzugs etwas mehr als ein Jahr alt, meine Schwester bereits vier. Der Mittelpunkt von Marktl war und ist noch immer seine Kirche. Von ihr ist heute nur noch ein Teil erhalten, denn die damalige Kirche wurde teilweise in einen später entstandenen Neubau eingegliedert.

Das Gotteshaus geht auf eine Stiftung des frommen Grafen Berengar III. von Leonberg zurück, der 1296 verstarb. Es war ursprünglich ganz im gotischen Stil gebaut und dem hl. Oswald geweiht. Durch einen Blitzschlag wurde die Kirche und mit ihr ein großer Teil des Dorfes 1701 ein Raub der Flammen, doch schon ein Jahr später begann man mit dem Wiederaufbau. Mit den Jahren wurde das damals errichtete Gotteshaus zu klein und deshalb 1853 abgerissen und neu errichtet. 1964 erfolgte ein vierter Neubau, in den man Teile der Kirche aus dem 19. Jahrhundert, darunter den neugotischen Altar aus dem Jahre 1857, integrierte.

4 Marktl am Inn um 1930

Ich kann mich erinnern, dass zu ihr ein Oratorium gehörte, praktisch ein Seitenlettner. Von dort aus hat die Mutter oft zum Chor gezeigt, wo der Vater im Kirchenchor mitgesungen hat. Der Seelsorger war damals ein Pfarrer Köppl, sein Kooperator oder Kaplan ein Josef Stangl, der ein ziemlich gestrenger Mann gewesen sein soll. Pfarrer Köppl dagegen war liebenswürdig und gütig. Er hatte eine Haushälterin namens Olga, die einen Hund besaß, dem ich öfters Knochen vorbeibrachte, die von unserem Essen übrig geblieben waren. Doch die Person, die mir von ganz Marktl am meisten imponierte, war der Gemeindeschreiber Andreas Eichner, der auch die Geburtsurkunde meines Bruders unterzeichnet hat. Er war außerdem auch der Kirchenmusiker, er hat die Orgel gespielt, den Kirchenchor geleitet und dirigierte ganz nebenbei noch eine Blaskapelle. Er war ein kleiner Mann, der »Andresl«, wie wir ihn nannten, doch er wurde gewissermaßen zu meinem ersten großen Vorbild. Er spielte selbst das größte Instrument, die Tuba, und alle sagten: »Das ist der kleine Andresl mit der großen Musi!« Wir kannten ihn schon deshalb gut, weil unser Vater bei ihm im Chor sang. Natürlich waren wir Kinder damals noch zu klein, um regelmäßig den Gottesdienst zu besuchen, aber manchmal nahmen uns die Eltern doch mit.

Bei uns im Haus wohnte eine der ersten Dentistinnen, die es damals überhaupt in Bayern gab. Sie hieß Amelie Karl, war unverheiratet und betrieb eine ambulante Zahnarztpraxis. Wahrscheinlich war »das Fräulein«, wie sie genannt wurde, die Einzige im Dorf, die so ein neumodisches Motorrad besaß. Das machte einen Heidenlärm, wenn sie morgens losfuhr, womit sie im ganzen Dorf enormes Aufsehen erregte.

In Marktl ging unsere Schwester Maria zum ersten Mal zur Schule. Dort gab es eine Volksschule, die ganz in der Nähe von unserem Haus lag. Ich habe damals immer auf meine Schwester gewartet, denn ich war jetzt morgens mit der Mutter, die natürlich mit Hausarbeiten beschäftigt oder einkaufen war, allein zu Hause. Wenn Maria heimkam, haben wir uns manches Mal gestritten, aber auch schnell wieder versöhnt, wie das bei Kindern halt so ist. Sie war eben ein sehr ordentlicher Mensch, bei ihr hat immer alles genau an seinem Platz gelegen, während ich eher so ein kleines Genie der Unordnung war. Bei mir herrschte schon ein ziemliches Chaos, aber ich wusste immer ganz genau, wo ich hinlangen musste, wenn ich etwas brauchte. Meine Schwester hat öfters bei mir aufgeräumt und alles schön ordentlich weggepackt, wonach ich nichts mehr gefunden habe. Da gab es natürlich Streit. Doch das ist häufig so, Mädels neigen zu Sauberkeit und Ordnung, Buben dagegen sind eher gschlampert und ich war gschlampert, das gebe ich gerne zu. Aber an sich haben wir uns schon gut verstanden. Eine Mitschülerin von ihr, Marei hat sie geheißen, ist in der ersten oder zweiten Klasse gestorben, was uns Kinder damals sehr mitgenommen hat. Es hat dann geheißen, Marei sei schwer krank geworden, weil sie immer Schnee gegessen hätte. Wir wurden deshalb gewarnt, bloß keinen Schnee zu essen. Ob da etwas Wahres dran war oder es sich bloß um einen Volksglauben handelte, das weiß ich nicht.