"Mein Herz ist offen für jede Form" - Gerhard Schweizer - E-Book

"Mein Herz ist offen für jede Form" E-Book

Gerhard Schweizer

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Beschreibung

Gerhard Schweizer lernte die geistige Welt der Sufis und Derwische auf vielen Reisen, aber auch in Begegnungen in Europa kennen. Er erläutert Hauptströmungen des Sufismus und verknüpft hierbei Sachinformation mit seinen persönlichen Eindrücken und Begegnungen. So entsteht eine sehr gut lesbare und informative Einführung in die Kultur und Religiosität von Sufis und Derwischen in Geschichte und Gegenwart. Die Aktualität der islamischen Mystik in pluralen Gesellschaften bildet den roten Faden. Sufis und Derwische versuchen nicht nur Fehlentwicklungen des Islam zu überwinden, sondern gehen mit ihrer mystischen Erfahrung über die dogmatischen Grenzen aller Religionen hinaus und schaffen so neue Voraussetzungen für einen Dialog der Religionen.

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Seitenzahl: 209

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Gerhard Schweizer

»MEIN HERZ IST OFFEN FÜR JEDE FORM«

Eine Reise in die Mystik der Sufis und Derwische

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © bpk‐images

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E‐Book): 978‐3‐451‐80085‐6

ISBN (Buch): 978‐3‐451‐06660‐3

Inhalt

Die andere Dimension des Islam Ein erster Blick auf den Sufismus

Unerwartete Eindrücke für westliche Besucher In einem Pilgerzentrum der Sufis und Derwische

Heilige? Ketzer? Die verwirrende Vielfalt einer Bewegung

Sufismus und Mystik Die unterschätzte Bedeutung

Celaleddin Rumi und Bahauddin Naqshband Zwei unterschiedliche Leitfiguren des Sufismus

»Ich bin weder Christ noch Jude noch Muslim« Celaleddin Rumi und die Herausforderung für alle Religionen

Meine erste Annäherung

»Das Göttliche wirkt in jeder Religion« Begegnungen mit Rumi im islamischen Alltag

Falsche Erwartungen Erste Eindrücke im Pilgerzentrum von Konya

Sufismus und Volksreligion Pilger am Grab von Rumi in Konya

»Ob gottlos, ob Heide … Komm!« Die Modernität eines Sufi des 13. Jahrhunderts

Die geistige Herausforderung

»Mein Herz ist offen für jede Form« Religiöse Grenzüberschreitung in den Gedichten

»Gott im Menschen« Provokation mystischer Erfahrung

Einheitsmystik und Personenmystik im Sufismus Ein grundlegender Unterschied

Das Bild von »Schale« und »Kern« Spannung zwischen Orthodoxie und mystischer Erfahrung

Der Elefant in einem dunklen Raum Ein Gleichnis mit Ursprung im Buddhismus

Gemeinsamkeiten mit Rumi Die Mystiker Buddha, Ramakrishna, Meister Eckhart

Die Folgen bis in die Gegenwart

Die Mevleviya Rumis Bruderschaft im Wandel der Jahrhunderte

Tanzende Derwische jenseits der Folklore Authentische Rituale in einem Sufi-Konvent von heute

Gott und Ritual Die körperlich-seelische Erfahrung des Dhikr

Tanzende Frauen Mevleviya in Deutschland

Mystik und die Frage nach der »richtigen« Religion Bahauddin Naqshband, der »Sultan der Heiligen«

Meine erste Annäherung

»Naqshband ist ein spiritueller Riese« Gespräche mit Sympathisanten

»Er ist der eine Gott für alle« Begegnung mit einem Naqshbandi-Sufi

Neue Vitalität einer alten Tradition Pilger am Grab von Naqshband in Buchara

Religion und Politik Gespräch mit einem Naqshbandi-Sufi

Ramadan und Kopftuch Naqshbandiya und die religiösen Gesetze

Meister der Goldenen Kette Eine legendenreiche Biografie

Die geistige Herausforderung

Mohammeds Aufstieg zu den Geheimnissen Allahs Das mystische Urbild der Naqshbandiya

Der stille und der laute Dhikr Unterschiedliche Wege, um Gott zu erfahren

Einheitsmystik oder Personenmystik? Die andere Konsequenz der Naqshbandiya

Die Folgen bis in die Gegenwart

Von der Mystik zur Politik Die ambivalente Entwicklung der Naqshbandi-Bruderschaften

Die Abwehr von »Unglauben«

Politische Zuspitzungen in Indien, Zentralasien und der Türkei

»Kulturvereine« Die Naqshbandiya in der heutigen Türkei

»Wir folgen der Sunna des Propheten Mohammed« Naqshbandi-Sufis in Deutschland

Der Großscheich und die Vielfalt der Religionen

Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart

Sufismus mit Zukunft? Krisen und Chancen

»Das ist ja Ketzerei!« Sufismus in der Diskussion

Was wissen Muslime vom Sufismus? Der schwierige Prozess erster Annäherung

Sufismus in islamischen Ländern Zwischen Unterdrückung und freier Entfaltung

Sufismus in Europa und den USA Glaubenskrise und die wachsende Konjunktur der Mystik

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Personenregister

Für meinen Freund Walter Meister,

dem ich wichtige Anregungen zum Thema Mystik verdanke

Die andere Dimension des Islam Ein erster Blick auf den Sufismus

Unerwartete Eindrücke für westliche Besucher In einem Pilgerzentrum der Sufis und Derwische

Die erste intensive Begegnung mit Sufis und Derwischen hatte ich in Indien. Es war eine Begegnung voller Überraschungen.

Ich war in Ajmer unterwegs, einer Stadt im Bundesstaat Rajasthan, die wegen ihrer zahlreichen muslimischen Pilger das »Mekka Indiens« genannt wird. Aber nicht nur für indische Muslime ist Ajmer das wichtigste religiöse Ziel, sondern auch für jene, die aus den bevölkerungsreichen Nachbarstaaten Pakistan und Bangladesch kommen. Sie alle treffen Monat für Monat zu vielen Tausenden ein, um hier im Mausoleum des Scheichs Muinuddin Chishti zu beten wie auch in den anderen Mausoleen seiner Schüler, Weggefährten und Scheichs späterer Jahrhunderte. Das Grab von Chishti ist mehr als 800 Jahre alt und trotzdem bis heute ein Anziehungspunkt für Pilger geblieben. Denn die von ihm gegründete Bruderschaft, die Chishtiya, wurde zu einer der bedeutendsten Sufi-Organisationen der islamischen Welt. Chishti war ein Zeitgenosse von Celaleddin Rumi und Ibn al-Arabi, sie wirkten in jener Epoche, die aus heutiger Sicht als die klassische Epoche des Sufismus gilt – mit den großen wegweisenden Denkern für spätere Jahrhunderte.

Das »Mekka Indiens« hat jedoch mit der heiligen Stadt Mekka in Saudi-Arabien und ihren exklusiven religiösen Abgrenzungen wenig gemeinsam – eben weil Ajmer eine von Sufis und Derwischen geprägte Pilgerstadt ist. Ich war bei meinem ersten Besuch dort allerdings kaum mit sufischer Religiosität vertraut und daher unvorbereitet auf das, was mich erwarten sollte.

Eine große Überraschung erlebte ich bereits, bevor ich das Chishti-Mausoleum aufsuchte. Ich bestieg einen Berg am Stadtrand und bewegte mich auf einem gewundenen Pfad inmitten einer Menschenmenge mit ihrem bunten Gewimmel von Turbanen, Hemden und Saris. Ringsum befanden sich nur kahle Felsen und karges Gestrüpp, unter mir dehnte sich die Altstadt von Ajmer mit weißgetünchten, kubischen Häusern, überragt von Minaretten. Ich näherte mich einer Grabmoschee auf dem Gipfel des Berges, wo Meeran Hussein, ein Sufi-Scheich, bestattet ist. Unterwegs kam ich mit zwei Indern ins Gespräch. Sie waren schon vier Tage durch halb Indien gereist, um nun hier in verschiedenen Grabmoscheen von Geistlichen den Segen zu erhalten. Einer von ihnen, von Beruf Lehrer, fragte mich, ob ich mich nicht mit ihnen gemeinsam segnen lassen wolle. Gemeinsam? Aber ich sei doch kein Muslim, antwortete ich verwundert. Der Lehrer lachte. Er sei ebenfalls kein Muslim, er sei Hindu. Wie bitte? Hindu? Und sein Begleiter? Sein Freund sei Muslim, antwortete er. Aber, so wandte ich ein, der Islam und der Hinduismus seien doch völlig unterschiedliche Religionen, es gebe zwischen ihnen keinerlei geistige Verwandtschaft. Der Hindu widersprach: Alle Religionen seien Erscheinungsformen des All-Einen. Gott sei Einer, für Hindus wie für Nicht-Hindus. Gott erscheine manchen Gläubigen als Shiva, anderen als Vishnu, anderen als Allah, anderen als Jesus Christus. Das Göttliche wirke in allen Religionen.

Solche Erklärungen hatte ich schon öfter von Hindus gehört. Ohnehin war mir aufgefallen, dass an Verkaufsständen nahe den Hindu-Tempeln auch Bilder der heiligen Kaaba von Mekka oder von Jesus Christus inmitten der Vielfalt von Hindu-Gottheiten angeboten werden. Ein derartiges Nebeneinander war mir bisher nur in einer polytheistischen Religion wie dem Hinduismus vorstellbar. In monotheistischen Religionen wie dem Christentum und auch dem Islam dagegen wird zwischen den einzelnen Glaubensbekenntnissen und deren Kultstätten strikt unterschieden – besonders eindrücklich hatte ich diese strikte Trennung in Jerusalem, einer von Christen und Muslimen gleichermaßen verehrten Pilgerstadt, beobachten können. Doch hier in Ajmer, einem islamischen, also monotheistischen Pilgerzentrum, schien das völlig anders zu sein.

Ich fragte den Muslim, ob sich Allah und Christus wirklich problemlos neben Hindu-Gottheiten wie Shiva und Vishnu einreihen ließen. Ob er dies ebenso wie sein hinduistischer Begleiter beurteile? Der Muslim bejahte und antwortete mit einem Lächeln zu dem Hindu hin: »Mein Herz ist offen für die Glaubensformen aller Religionen.« Offenbar waren beide dieser Meinung.

Wir betraten die Grabmoschee mit ihrem geräumigen Innenhof und einem Schatten spendendem Baum. Der steinerne Sarkophag des Scheichs Meeran Hussein war mit einem grünen Tuch bedeckt und von einem silbernen Gitter umgeben, an das die Besucher zahlreiche bunte, dicht beschriebene Bänder als Botschaften ihrer Gebete und Wünsche geknüpft hatten. Um das Gitter drängten sich die Pilger mit Blumenschalen, deren Blüten sie über den Sarkophag schütteten.

Meine beiden Begleiter und ich traten gemeinsam vor einen Geistlichen. Dieser überreichte jedem von uns ein Amulett, das man an einer Schnur befestigt um den Hals zu tragen hatte und das alles Böse abwehren sollte. Der Geistliche fragte jeden von uns nach seinem Vornamen, den er dann beim anschließenden Gebet und Segenswunsch wiederholte. Er breitete ein grünes Tuch über unsere Köpfe und forderte uns auf, gemeinsamen im Stillen zu beten – ein Muslim, ein Hindu und ein westlicher Besucher mit christlicher Herkunft unter der grünen Farbe des Islam vereint.

Als ich schließlich das Hauptziel aller Pilger, das Mausoleum des Sufi-Scheichs Muinuddin Chishti am Fuße des Berges, besuchte, traf ich im Hof vor der Grabmoschee auf eine Gruppe Musiker. Einer spielte ein Harmonium, ein anderer schlug eine Handtrommel, und dazu ertönten die Stimmen von sechs Sängern, kehlig, rhythmisch, mal melancholisch, mal lebhaft fröhlich. Je länger ich zuhörte, desto mehr konnte ich beobachten, wie Musiker und Sänger in Trance gerieten.

Was sie sängen, wollte ich von einem der Inder wissen, der neben mir stand. Er antwortete: Liebeslieder. Er lächelte breit bei meinem verdutzten Gesichtsausdruck. Liebeslieder der besonderen Art, ergänzte er, es gehe um Liebe, um Leidenschaft, Trennungsschmerz, um Hingabe bis zur Selbstvergessenheit, um die ganze Vielfalt der Gefühle, welche Liebende gegenüber Geliebten durchleben könnten. Und was habe das mit Religion zu tun?, fragte ich. Nun, die Liebenden seien die Menschen und der Geliebte sei Gott oder das Göttliche, erklärte er. Es sei das Göttliche, das in allen Religionen wirke. Wunderbare Verse seien das, in ihrem Rhythmus und ihren farbigen Bildern einprägsamer als jede Predigt.

Die Menge der Zuhörer wurde immer größer. Es seien nicht nur Muslime hier, sondern auch Hindus, Sikhs und Christen, eben Angehörige aller Religionen Indiens, sagte mein Gesprächspartner. Sie alle fühlten sich beim ekstatischen Klang der Musik und der Gesänge vereint, jenseits aller dogmatischen Gegensätze von Glaubensbekenntnissen.

Es seien Qawali-Musiker, wurde mir weiter erklärt. »Qawali« bedeute: Musik und Gesang zum Lob Gottes. Solche Musik sei typisch für die Chishti-Bruderschaft, sie werde schon seit vielen Jahrhunderten gespielt. Sie habe aber keinen islamischen Ursprung, die Chishti-Sufis hätten sich von der Tempelmusik der Hindus inspirieren lassen.

Die Musiker und Sänger saßen in Blickrichtung zum Mausoleum, einem Kuppelbau aus weißem Marmor und prächtig ziselierten Portalen. Vor dem Eingang staute sich eine Menschenmenge. Ich musste längere Zeit warten, bis ich, von Pilgern geschoben, das Innere betreten konnte. Hier strömten die Besucher im Uhrzeigersinn um das Grab. Auch dieser Sarkophag war von einem silbernen Gitter eingefasst und mit einem grünen Tuch bedeckt. Und auch hier schütteten die Versammelten Blütenschalen über den Sarkophag, verneigten sich im Gebet, ließen sich in kleinen Gruppen von einem der muslimischen Geistlichen segnen. Ich stand in stickig heißer Luft an die Wand gepresst, während die Menschen unaufhörlich vorbeidrängten.

Hindus würden ebenfalls Opfergaben bringen, genauso wie Christen und Sikhs, jawohl, so antwortete mir auch hier ein Muslim, der sich offensichtlich erstaunt zeigte über meine beharrlich wiederholte Frage.

Ich ging durch das weit ausgedehnte Pilgerzentrum mit seinem verwinkelten Geflecht von Kuppelbauten und Höfen, wo ich immer wieder auf neue Gruppen von Sängern und Musikern traf. Ich staunte über die Ansammlung solcher Qawali-Gruppen, obwohl Donnerstag, also ein gewöhnlicher Werktag war. Der größte Betrieb herrsche, so erfuhr ich, gerade am Donnerstag, ebenso gelte das für den Freitag, den wichtigsten Gebetstag der Muslime. Dies sei in vielen Heiligtümern von Sufis und Derwischen der ganzen Welt so.

Im Licht bunter Glühbirnketten begann das Mausoleum in der Dämmerung zu leuchten. Bis in die späten Abendstunden hinein wurde gesungen und getanzt, immer mehr Pilger kamen hinzu. Musik und Gesang beherrschten auch die Basargassen in unmittelbarer Umgebung des Heiligtums. Aus Lautsprechern schallten Sufi-Gesänge, auf Bildschirmen flimmerten Videoclips. Stapelweise lagerten Tonband- und Videokassetten in den Verkaufsauslagen.

Am Freitag, dem islamischen Sonntag, besuchte ich das Pilgerzentrum zum zweiten Mal. Noch mehr Zuschauer ballten sich um Musiker und Sänger. Nun aber lagerten noch zusätzlich Hunderte von Frauen und Männern, streng nach Geschlechtern getrennt, in großen Gruppen und rezitierten singend Verse.

Gegen Mittag veränderte sich die Szenerie innerhalb von einer Viertelstunde völlig. Männer betraten laut rufend und klatschend die Höfe, die Menschenmenge wich zurück, während die Männer überall große Teppiche auf den Steinfließen ausrollten. Zur gleichen Zeit rief ein Muezzin vom Minarett über Lautsprecher lang gedehnt zum Gebet. Auf den Teppichen stellten sich nun Männer und Frauen zu Hunderten in Reihen auf, wiederum streng nach Geschlecht getrennt, viele Männer in traditionellen Hemdblusen und Turbanen oder weißen Käppchen, die Frauen nahezu alle in leuchtend bunten Saris. Während aus den Lautsprechern in monotonem Singsang Koransuren ertönten, beugte sich die Masse der Versammelten nieder, erhob sich, antwortete im Chor. Nichts mehr war vom Flair eines Heiligtums der Sufis und Derwische zu spüren, wo die dogmatischen Abgrenzungen zwischen den Religionen keine Rolle spielen, nun dominierte nahezu eine Stunde lang eine rein islamische Atmosphäre.

Für mich blieben angesichts dieser vielfältigen Eindrücke, die ich innerhalb von zwei Tagen gewonnen hatte, viele Fragen offen. Ich wusste ja, dass sich gerade in Indien muslimische Eroberer oft intolerant gegenüber fremden Religionen verhalten hatten; sie hatten vielerorts Tempel von Hindus wie von Buddhisten zerstört mit der missionarischaggressiven Absicht, auf den Fundamenten der »Götzentempel« Moscheen als Kultstätten des »einzig wahren Glaubens« zu errichten. Wie war dies mit der Existenz eines derartigen Pilgerzentrums zu vereinbaren? Es begegnete mir hier ein Islam, der nichts gemeinsam hat mit der traditionellen Unterscheidung zwischen Rechtgläubigen und Andersgläubigen oder gar Ungläubigen.

Meine Erfahrung in Ajmer gab den Anstoß, mich intensiver mit den Glaubensformen von Sufis und Derwischen zu beschäftigen – und so auch mit ihrer religiös-philosophischen Bewegung, dem Sufismus. Denn es hat den Anschein, dass eine solche Religiosität nicht nur die dogmatischen Grenzen des Islam sprengt, sondern über die Grenzen aller Religionen hinausgeht. Mehr noch: Eine solche Religiosität wirkt in den Alltag aller Bevölkerungsschichten hinein und kann weitgehende Konsequenzen für ein Zusammenleben der Religionen haben.

Heilige? Ketzer? Die verwirrende Vielfalt einer Bewegung

Im abendländischen Kulturraum ist der Begriff »Sufi« bis in die 1970er Jahre vorwiegend Orientalisten und einer schmalen, am Orient interessierten Bildungsschicht geläufig gewesen. Relativ bekannt war dagegen schon vorher der Begriff »Derwisch«, dieser ist aber bis heute belastet durch zahlreiche Negativklischees und Missverständnisse: Derwische als obskure Heilige, wenn nicht gar als religiöse Fanatiker. Im positiven Sinn lässt sich für Europäer meist nur eine Assoziation zu tanzenden Derwischen und ihrer betörend exotischen Musik herstellen, ohne aber den spirituellen Hintergrund zu kennen – und die damit verbundene geistige Herausforderung.

Von »Sufi« leitet sich »Sufismus« ab. Unter diesem Begriff versteht man eine religiös-philosophische Bewegung, die von einer spezifischen Form mystischer Erfahrung geprägt ist. Diese Erfahrung ist in Dichtung wie in Philosophie zum Ausdruck gekommen, teilweise mit hohem literarischem Rang; zu nennen sind hier neben Rumi folgende Beispiele: Omar Chaijam, Hafis, Saadi, Kabir, Yunus Emre.1 Die mystische Erfahrung äußert sich aber auch in ritueller Musik und einer rituell bestimmten Lebensform. Der Derwisch und das »Derwischwesen« dagegen werden sowohl in der Wissenschaft als auch im landläufigen Verständnis eher mit der volkstümlichen Ausprägung dieser mystischen Religiosität in Verbindung gebracht.

Allerdings können die Begriffe Sufi und Derwisch nicht scharf voneinander abgegrenzt werden, denn muslimische Mystiker haben eine Vielfalt an Ausdrucks- und Verhaltensformen entwickelt, die sich gegenseitig überlappen und durchdringen. Besonders deutlich wird dies an einer der großen Leitfiguren, nämlich Rumi: Er wird mal als Sufi, mal als Derwisch bezeichnet. Nach meiner eigenen Beobachtung werden die Begriffe ohnehin von nicht wenigen Muslimen wie Andersgläubigen, teilweise auch in der wissenschaftlichen Literatur nahezu austauschbar verwendet.

Was aber bedeuten die Begriffe im historischen Zusammenhang?

Der Name »Sufi« geht auf das arabische Wort »suf«, Wolle, zurück. Sufi meinte ursprünglich einen in einfache Wolle gekleideten Menschen, der sich in freiwillige Armut begeben hat und sich ganz auf ein religiöses Leben konzentriert. Das persische Wort »Derwisch« meinte dasselbe: der in freiwilliger Armut Lebende. Eine derartige Bedeutung ist allerdings für die Gegenwart nicht mehr relevant, denn sie erweckt den Eindruck, es seien Bettelmönche. Viele muslimische Mystiker von heute haben jedoch mit dieser Lebensform wenig Berührung.

Oft besteht bei uns im Westen darüber hinaus die falsche Vorstellung, bei Sufis und Derwischen handele es sich um muslimische Mönche, die sexuell enthaltsam in Klöstern leben. Im Islam gibt es aber weder für Geistliche noch für religiöse Einsiedler oder Wanderprediger zwingend einen Zölibat. Sufis und Derwische waren und sind überwiegend verheiratet, üben, um ihre Familie zu ernähren, einen weltlichen Beruf aus und verweilen nur zeitweise in klosterähnlichen Gebäudekomplexen, den sogenannten Konventen.

Diese Konvente haben in den einzelnen Kulturräumen unterschiedliche Namen. Die Türken nennen sie »Tekke« (Herberge), die Iraner »Khankah« (Haus, Herberge), die Inder »Dargah« (Pforte) und die Araber verwenden neben dem Begriff »Khankah« auch »Zawiya« (Winkel). An diesen Orten versammeln sich Sufis und Derwische zu gemeinsamer Andacht und Meditation, viele auch zu rituellem Gesang oder gar Tanz. Lediglich eine kleine Minderheit lebt dort auf Dauer. Es sind auch nur wenige, die sich meditierend in die Einsamkeit zurückziehen oder als Wanderprediger unterwegs sind.

Seit dem 9. Jahrhundert sind Sufis und Derwische aus dem Leben der islamischen Welt nicht mehr wegzudenken. Ihre Bewegung wurde vor allem in den Anfängen durch das Denken christlicher Mönche und neuplatonischer Philosophen beeinflusst, später außerdem durch hinduistische und buddhistische Wandermönche.2

Aus verschiedenen Gründen erlangten Sufis und Derwische immer größere Popularität. Muslimische Mystiker praktizieren eine Religiosität jenseits einer auf Worte und Begriffe gegründeten Glaubenslehre, sie entwickeln Rituale, in denen die Emotionen sich wesentlich intensiver entfalten können als in der nüchternen Abfolge von Gebet und Predigt. Darüber hinaus finden viele dieser Mystiker jenseits eines streng dogmatischen Islam zu einer größeren Offenheit in Glaubensfragen und zu einer weiter gespannten Toleranz gegenüber anderen Religionen. Von den sufischen Bruderschaften gehen starke Impulse aus, um besonders bei den Angehörigen der geistesverwandten Religionen Islam, Christentum und Judentum ein verstärktes Bewusstsein spiritueller Gemeinsamkeit zu schaffen. Es gelingt ihnen auch, geistige Brücken zu strukturell völlig anderen Religionen, so Hinduismus und Buddhismus, herzustellen. Für muslimische Machthaber wurden und werden Sufis und Derwische deshalb oft zu wichtigen geistigen Vermittlern, wenn in ihrem Herrschaftsbereich Angehörige verschiedener Religionen in Streit gerieten. Relativ eng können solche Kontakte gerade dort werden, wo Muslime mit Christen und Juden zusammenleben, Angehörige von Religionsgemeinschaften also, denen gegenüber der Koran ohnehin Toleranz vorschreibt.

Außerdem schufen sufische Bruderschaften unverzichtbare soziale Netzwerke, die anstelle staatlicher Organisationen oft als einzige Institution Sicherheit und Hilfe für sozial Benachteiligte boten. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts war aufgrund solcher Gegebenheiten die überwiegende Mehrheit der Muslime von Westafrika bis Indonesien in Bruderschaften von Sufis und Derwischen organisiert.3

Sufis und Derwische geraten aber immer wieder auch in starke Konflikte mit religiösen Autoritäten. Ich gehe im vorliegenden Buch ausführlich auf die geistigen Spannungen zwischen muslimischen Mystikern und islamischer Orthodoxie ein. Dass manche sufische Bruderschaften außerdem zu politischer Macht kamen und so ein weiteres Konfliktfeld schufen, werde ich ebenfalls darstellen.

Es sind also sehr unterschiedliche Aspekte, die sich bei näherem Betrachten ergeben. Entsprechend unterschiedlich sind die Äußerungen von Muslimen über den Sufismus.

In Gesprächen, die ich mit Muslimen der Bildungsschicht führte, lernte ich nicht nur sehr gegensätzliche, sondern auch widersprüchliche Bewertungen kennen. Manche der Gefragten erklärten: Man müsse sich mit den geistigen Inhalten dieser Form der Religion näher beschäftigen, um zu entdecken, welche Anregungen von ihr für eine moderne Interpretation des Islam ausgingen. Andere Muslime wiederum äußerten mit einer geradezu verächtlichen Gestik: Es handle sich da um Auswüchse einer volkstümlichen Religiosität, die nicht zu einem modernen, zeitgemäßen Islam passe. Sufis und Derwische seien in ihrer überwiegenden Mehrheit fortschrittsfeindlich. Andere ereiferten sich, Sufis und Derwische seien Ketzer, keine wirklichen Muslime, sie müssten bekämpft werden, und seien eine Gefahr für die wahre, von Gott geoffenbarte Religion. Etliche dieser Kritiker wiesen darauf hin, dass Sufis und Derwische in ihrem Denken wie in ihren religiösen Praktiken von »unislamischer«, von griechisch-antiker wie auch von hinduistischer und buddhistischer Religiosität beeinflusst seien.

Was ist der Sufismus denn nun wirklich? Die Vielfalt gegensätzlicher Meinungen kann zunächst nur verwirren, zeigt jedoch, dass der Sufismus bis heute eine Bewegung ist, die für Muslime in der öffentlichen Diskussion brennend aktuell bleibt.

Wenn wir uns also in der westlichen Welt mit Sufismus beschäftigen, lernen wir den Islam aus einer neuen Perspektive kennen. Aber mehr noch: Vergegenwärtigen wir uns hierbei die Faszination, die manche Lehren von Sufis und Derwischen gerade auch auf nichtmuslimische Europäer ausüben, so entdecken wir in der Begegnung mit dem Fremden neue geistige Perspektiven.

Sufismus und Mystik Die unterschätzte Bedeutung

Sufis und Derwische sind Mystiker. Was jedoch ist Mystik?

Folgende Frage drängt sich in diesem Zusammenhang geradezu auf: Setzt sich heutzutage eine geistige Strömung nicht bereits dadurch einem Ideologieverdacht aus, wenn sie mit »mystisch« in Verbindung gebracht wird? Wir brauchen uns nur den boomenden Esoterik-Markt mit seiner betont anti-rationalistischen Interpretation von Mystik anzusehen, und schon sind wir in Versuchung, alles Mystische herablassend zu beurteilen.

Der Begriff Mystik ist in unserer abendländischen Tradition seit vielen Jahrhunderten ohnehin stark belastet; keine religiöse Erscheinungsform ist in unserem landläufigen Sprachgebrauch derart vielen Missverständnissen ausgesetzt. »Mystisch« wird gerne mit »mysteriös«, »rätselhaft dunkel« oder gar »geistig nebulös« gleichgesetzt. Entsprechend werden Mystiker immer wieder als Schwärmer, als wirklichkeitsfremde und betont irrational Fromme, ja gar als religiöse Fanatiker angesehen. Im günstigsten Fall wird »mystisch« in solchen Zusammenhängen als »geheimnisvoll« verstanden.

Ein Blick auf die Herkunft des Wortes klärt noch nicht die Verständnisprobleme. Das in deutschen Texten seit dem 16. Jahrhundert vorkommende Fremdwort geht auf das griechische Substantiv »mysterion«, religiöses Geheimnis, Geheimkult, zurück. Die Wortwurzel bildet das altgriechische Verb »myein«, was wörtlich übersetzt »verschließen« bedeutet – im übertragenen Sinn »die Augen und den Mund verschließen«. Handelt es sich also um eine Form von Religion, die vor der Öffentlichkeit »geheim«-gehalten werden soll? Oder ist es eine religiöse Erfahrung, die mit Bildern und Worten nicht mehr adäquat ausgedrückt werden kann? Solche vagen Mehrdeutigkeiten muten dann schon wieder mysteriös an.

Der negative Beiklang all dieser Worte hat zwei wesentliche Ursachen: Zum einen ist im abendländischen Kulturraum mystische Religiosität durch die kirchliche Orthodoxie immer wieder als »Ketzerei« beargwöhnt und zeitweise gar unterdrückt worden. Zum anderen hat die Aufklärung im 18. Jahrhundert Mystik als dunkel, irrational und obskur radikal abgewertet.

Was jedoch kann Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts dazu veranlassen, nun ausgerechnet Ausdrucksformen mystischer Religiosität – für das eigene Leben, die eigene geistige Orientierung – als grundlegend anzusehen? Und warum weckt in diesem Zusammenhang gerade die islamische Mystik auch im abendländischen Kulturraum ein immer größeres Interesse?

An dieser Stelle kann noch keine ausreichende oder zufriedenstellende Antwort gegeben werden. Zunächst nur so viel: Ein wachsendes Interesse von Europäern und Amerikanern an der Mystik unterschiedlichster Religionen lässt sich nicht trennen von der wachsenden Krise des traditionellen, kirchlich dogmatisch gebundenen Christentums. Der Glaube an einen personalen Gott und weitere aus der Bibel abgeleitete Dogmen sind durch das Vordringen der Naturwissenschaften wie auch einer historisch-kritischen Geschichts- und Bibelwissenschaft immer weiter relativiert worden. Eine solch zunehmende Skepsis an Dogmen kann einerseits in den Atheismus münden, mehr noch in Gleichgültigkeit gegenüber Religionen, andererseits in das Bedürfnis nach Ersatzreligionen oder in die Mystik.

Weil aber in unserer säkularisierten westlichen Welt mystische Traditionen weitgehend verdrängt worden sind, werden viele Menschen zunächst bei christlicher Mystik nicht fündig, sondern wenden sich zuallererst den lebendig gebliebenen Traditionen anderer Religionen zu: vor allem dem hinduistischen Yoga, dem buddhistischen Zen und auch dem Sufismus.

Dieses offenkundige Interesse an östlicher Mystik gerät allerdings in Gefahr, durch die Esoterik vereinnahmt zu werden. Dadurch könnte sich der Ideologieverdacht einer vernunftgeleiteten, säkularen Aufklärung wieder bestätigt sehen. Aber wir sollten das gängige Marktangebot der Esoterik nicht mit den eigentlichen Intentionen der Mystik verwechseln. Im vorliegenden Buch versuche ich am Beispiel des Sufismus zu zeigen, dass es auch in der islamischen Mystik Strömungen gibt, die in Epochen großer religiöser und weltanschaulicher Umbrüche – gerade in der heutigen Zeit – wichtige Anregungen bieten können.

Celaleddin Rumi und Bahauddin Naqshband Zwei unterschiedliche Leitfiguren des Sufismus

Der Sufismus ist eine geistig vielfach aufgefächerte Bewegung, die sich in ihren Details dem nichtmuslimischen Europäer nur schwer erschließt. Daher beschränke ich mich in meiner Darstellung auf Phänomene, die auch in unserem Kulturraum stärkeres Interesse wecken können – weil sie religiös und philosophisch herausfordern.

Aus der Fülle bedeutender muslimischer Mystiker habe ich zwei Persönlichkeiten von exemplarischer Bedeutung ausgewählt: Celaleddin Rumi und Bahauddin Naqshband. Die symbolträchtigen Beinamen sind in der Literatur unterschiedlich geschrieben. Celaleddin (Erhabenheit der Religion) ist die offizielle türkische Schreibweise, die bei uns oft in die eingedeutschte, lautsprachliche Version Dschelaleddin umgewandelt wird, manchmal auch in der arabischen Version Jalaluddin (oder Dschalaluddin) auftaucht. Bahauddin (Pforte der Religion) findet man oft auch apostrophiert: Baha’uddin oder Baha-ud-Din.

Rumi und Naqshband gelten als zwei der einflussreichsten Leitfiguren islamischer Mystik und üben seit vielen Jahrhunderten eine große Breitenwirkung aus. Durch ihre geistige Haltung verkörpern sie aber geradezu zwei entgegengesetzte Pole des Sufismus. Dadurch lässt sich an ihnen grundlegend darstellen, dass die islamische Mystik keineswegs eine religiös einheitliche Bewegung ist, sondern sich auffächert in teilweise gegensätzliche Strömungen und Ausformungen – vor allem durch ein unterschiedliches Verständnis von Religion und Toleranz gegen Andersgläubige.

Celaleddin Rumi, 1207 im östlichen Iran geboren und 1273 in der türkischen Stadt Konya gestorben, ist der Schöpfer jener Tanzrituale, durch die der Sufismus auch bei uns im Westen besondere Aufmerksamkeit erregte. Aber Rumis Wirkung ist weit umfassender. Er verfügt wie kaum ein anderer Mystiker über eine eminent bildhafte, poetische Sprache und weiß seine philosophischen Gedanken in besonders einprägsame Bilder zu kleiden. Kein Mystiker wird daher in islamischer sowie in westlicher Literatur häufiger zitiert als Rumi. Bei den Muslimen von Marokko bis Indonesien gilt er als einer der größten Dichter, und im westlichen Kulturraum ist er zum meistgelesenen Mystiker des Islam geworden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Rumis umfangreicher Gedichtband Mathnawi in den USA etliche Jahre lang das meistverkaufte Buch gewesen, das ins Englische übersetzt wurde.4 Nach seinem Tod wurde Rumi zur Leitfigur der Derwisch-Bruderschaft Mevleviya.

Bahauddin Naqshband wurde 1318, ein Jahrhundert nach Rumi, in der zentralasiatischen Metropole Buchara im heutigen Usbekistan geboren und starb dort 1389. Im Gegensatz zu Rumi hat Naqshband kein reichhaltiges literarisches Werk hinterlassen, aus dem sich anschaulich zitieren ließe. Aber die Bruderschaften, die auf ihn zurückgehen, haben sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer der erfolgreichsten Organisationen des Sufismus entwickelt, weil sie besonders umfangreiche soziale Netzwerke geschaffen haben. Sie sind heute von der Türkei bis Ostasien verbreitet und auch unter den zugewanderten Muslimen in Europa sehr stark vertreten. Weltweit zählen sie nahezu 50 Millionen Anhänger.5