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Gerhard Schweizer

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Beschreibung

Orient und Okzident, die islamische Welt und der Westen drohen in Parallelwelten zu zerbrechen. Umso wichtiger ist es, jetzt die Kenntnisse und das Verständnis über beide Weltkulturen zu vertiefen. Gerhard Schweizer entfaltet ein nuanciertes Bild dieses Jahrtausendkonflikts. Der 11. September 2001, die Attentate und der Terror von Madrid (2004), London (2005) und Paris (2015), Brüssel und Nizza (2016) – der Islamismus festigt mit dem Schlagwort vom »Heiligen Krieg« gegen die Ungläubigen, insbesondere die Kultur des Westens, seinen Status als Symbol des Bösen. Die islamische Welt, selbst wenn sie sich unmissverständlich von derartigen Gewaltakten distanziert, löst tiefe Ängste aus. Aber wer nimmt diese Einschätzung vor? Der »Westen«, das »christliche Abendland«, »besorgte Politiker«, die »schweigende Mehrheit«, die »AfD«, der »Front National« und andere fremdenfeindliche Rechtspopulisten in ganz Europa oder Donald Trump in den USA? Es ist höchste Zeit für eine umfassende Schilderung, wie der Islam historisch entstanden ist, welche Ziele er kulturell verfolgt, wie sich seine (Welt-)Politik heute präsentiert. Denn die Auseinandersetzungen reichen weit zurück in die Antike, als sich antike Großmächte bekämpften; ins Mittelalter, in die Zeit der Kreuzzüge, als sich Islam und Christentum austauschten und bekriegten. Heute stehen sich die beiden Weltreligionen und Zivilisationen als Osten und Westen in einem Jahrtausendkonflikt gegenüber, der nicht überwunden ist. Dies war nicht immer so. Über Jahrhunderte hinweg erreichten aus der islamischen Welt kulturelle Anregungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der Astronomie, Mathematik, Medizin, Philosophie, Theologie, der Natur- und Geisteswissenschaften generell das christliche Abendland. Die großen und wichtigsten Handelsrouten verliefen durch das Weltreich des Islam. All dies ermöglichte es, die jeweils andere Kultur zu verstehen. Geschichte, Kultur, Weltanschauung und Politik des Islam vergegenwärtigt Gerhard Schweizer in seiner Darstellung des Islam und stellt die größten Spannungen eines Jahrtausendkonflikts zwischen Ost und West einprägsam heraus. - Wie hat sich der Islam entwickelt? - Weshalb war die Kulturmacht Islam im Mittelalter Europa an Toleranz und Fortschrittlichkeit weit überlegen? - Wodurch sind Ost und West historisch und kulturelle miteinander verflochten? - Weshalb erschüttert der Fundamentalismus den Islam so tief? - Warum ist der Koran das »Heilige Buch« und gerät jede Kritik zur Ketzerei? - Warum sind grundlegende Änderungen notwendig? Wie wären sie möglich? - Wie kann der Islam die tiefe Kluft zwischen religiöser Tradition und technischer Moderne schließen? - Wie lassen sich die gegenseitigen Vorurteile überwinden? Die Widersprüche brechen in Ost und West immer wieder auf. Schlagartig wechselt die »öffentliche Meinung« und prägt derzeit die Politik in Europa. Wie lassen sich solche Reflexe bewältigen und verhindern? Seine persönlichen Eindrücke lassen die Gegenwart in den islamischen Staaten, die Gerhard Schweizer seit über 50 Jahren bereist, zu einem lebendigen Panorama werden. Das vorliegende Buch ist die völlig überarbeitete und ergänzte Neuausgabe des Titels von Gerhard Schweizer: »Islam und Abendland: Geschichte eines Dauerkonflikts«, Stuttgart, Klett-Cotta 1995/2003.

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Gerhard Schweizer

Islam verstehen

Geschichte, Kultur und Politik

Klett-Cotta

Impressum

Das vorliegende Buch ist die völlig überarbeitete und ergänzte Neuausgabe des Titels von Gerhard Schweizer: »Islam und Abendland: Geschichte eines Dauerkonflikts«, Stuttgart, Klett-Cotta 1995/2003.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Abbildung von © R. Hackenberg/Corbis

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98100-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10067-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Einleitung zu einem Jahrtausendkonflikt: Feindbilder – Klischees und Wirklichkeit

»Heiliger Krieg« und andere Bedrohungen

Ein anderer Islam

Ein »Kampf der Kulturen«?

Der eigentliche Konflikt in der Gegenwart

Rückständiger Islam? Fortschrittlicher Westen? Die Missverständnisse

Gegenseitige Vorurteile

Alltagsbeobachtungen im Orient-Tourismus

Einseitigkeit in den westlichen Medien und die Folgen

Entsprechende Affekte bei den Muslimen

Vom Konflikt zum Dialog?

Was Christen und Muslime gemeinsam haben

»Christliches« bei Mohammed

Jerusalem: eine heilige Stadt auch für Muslime

Jesus und Johannes der Täufer im islamischen Damaskus

»Die Bibel ist interessant für uns.« Gespräche mit Muslimen in Istanbul

Muslime beten im Sterbehaus der Maria

Weshalb manche Moscheen für Andersgläubige gesperrt bleiben

Zweiteilung der Menschheit in Gläubige und Ungläubige

Die Ursprünge der Zweiteilung bei Moses, Echnaton und Zarathustra

Inwieweit »Heiden« toleranter sind als Christen

Das revolutionär Neue an Jesus

Wie tolerant war Jesus?

Wo islamische Toleranz ihre Grenzen findet

Als der Islam über das Christentum triumphierte

Die weltoffenen Muslime des Mittelalters: Saladin als Symbol

Was den kulturellen Vorsprung des Islam bedingte

Verstärkte Abgrenzung gegenüber den Christen

Der »Kaffer« und der »Heide«: aufschlussreiche Wortwurzeln

Die moderne Toleranz und ihre Vorläufer

Die Ringparabel in Lessings Nathan der Weise

Ursprünge der Ringparabel im jüdischen und islamischen Mittelalter

Intoleranz bei Christen im Mittelalter – und die großen Ausnahmen

Die Abwehrfront gegen den Islam weicht auf

Wie die moderne Toleranz erst möglich wurde

Gegen die Moderne: »Unfehlbarkeit« des Papstes

Bis heute – Widerstände gegen Lessings Nathan

Religionsfreiheit wurde nicht von den Kirchen begründet

Fortschritt und Rückschritt im Islam

Überraschendes Gespräch mit einem muslimischen Theologen

Islamische Mystiker als die großen geistigen Revolutionäre

»Aufklärung« kannten die Muslime lange vor den Christen

Der Westen wird moderner als der Orient

Erste Probleme mit einer säkularen Moderne: Atatürk und seine Reformen

»Arabischer Sozialismus« und Islam: die zwiespältige Moderne der Baath-Sozialisten

Die »sozialistische« Konkurrenz der Nasseristen

Modernisten schrecken vor Säkularisierung zurück

Krieg der Konfessionen unter Muslimen

Sunniten und Schiiten

Moderne Konfessionsstreitigkeiten im Islam

Politische und soziale Spannungen überlagern den Konfessionskonflikt

Krieg der Konfessionen unter Christen

Spaltungen im frühen Christentum

Katholizismus und Protestantismus

Der Nordirland-Konflikt und andere späte Ausläufer des christlichen Konfessionshaders

»Abtrünnige« und »Ketzer« im Islam

Wenn Muslime zu einem anderen Glauben übertreten

Die »Ketzerei« der Alawiten und Aleviten

Das »Unislamische« an den Drusen

Die »Gottlosigkeit« der Baha’i

Salman Rushdie, der moderne »Gotteslästerer«

Religiöse Minderheiten als Prüfsteine der Toleranz

Die Vertreibung der Muslime aus dem christlichen Spanien

Christen immer geduldet? Das Beispiel Saudi-Arabien

Griechen und Armenier unter den muslimischen Türken

Muslime und Christen im Libanon

Christen in Ägypten

Christen im Sudan

Die Juden als »Problem«

Juden unter muslimischer Herrschaft

Juden und Christen im mittelalterlichen Europa

Vom Antijudaismus zum Antisemitismus

Jenseits der traditionellen Affekte

Der Wille zum Dialog – und die Barrieren

Ökumene und Zweites Vatikanisches Konzil

Der Dialog mit dem Islam beginnt

Widerstände bei den Protestanten

Widerstände bei den Katholiken

Die politischen Hintergründe für den »Dialog«

Moderne Krise: der Fundamentalismus

Beunruhigende Signale aus Ägypten, einem Kernland des Islam

Der »Ketzer«-Prozess gegen Abu Zaid

Die Entstehung eines vieldeutigen Begriffs

Im Namen der Bibel gegen die Moderne

Amerikanische Fundamentalisten werden politisch aktiv

Jüdische Theokraten und das »säkulare« Israel

Zurück zum Sakralrecht des Korans und der Scharia

Vom Wahhabismus zu einem »modernen« Islamismus der Muslim-Brüder

Säkulare Demokratie, das eigentliche Feindbild der Islamisten

Modellfälle des Islamismus

Eine aufschlussreiche Begegnung mit einem Islamisten

Modellfall Algerien

Modellfall Iran

Modellfall Afghanistan

Modellfall Türkei

Vormarsch der Islamisten auch in Ostasien? Fallbeispiel Indonesien

Terrorismus, die andere Art von Krieg

»Dschihad« gleich »Heiliger Krieg«?

Terrorismus und Märtyrerkult im Nahen Osten

Der 11. September 2001: »Märtyrer« gegen den »Satan Amerika«

Osama bin Laden und al-Qaida: Eine neue Dimension des Terrorismus

Droht tatsächlich ein »Kampf der Kulturen«?

Muslimische Zuwanderer in Europa – eine Gefahr?

Angst vor »Überfremdung«

Was den Islam zur besonderen Zielscheibe macht

Unsere Fremdenfeindlichkeit stärkt den radikalen Islam

Weiterhin Barrieren gegen eine multikulturelle Gesellschaft?

Die gefährliche Dimension des 21. Jahrhunderts

Fanal eines Umbruchs – mit unabsehbaren Folgen

Irak und Syrien – Brennpunkte einer nachhaltigen Krise

Explosion im Irak

Explosion in Syrien

»Arabischer Frühling« – Ursprung einer Revolte

»Arabischer Winter« – Das Scheitern einer Revolte

Das »islamische« Unbehagen und ein arabischer Bestseller-Autor

»Islamischer Staat« und al-Qaida – Rivalität unter den Dschihadisten

Zerbrechende Staaten und Kulturen

Eine neue Generation von Dschihadisten

Was bleibt vom »Islamischen Staat«?

Ein Ende der religiösen Vielfalt in der islamischen Welt?

Eine weitere »Islamisierung des Abendlands«? Die Zuspitzung der Probleme

Eine Islamische Moderne? Die Reibungspunkte mit der westlichen Moderne

Muslime und die »unverfälschte« Offenbarung Gottes

Muslime mit kritischer Distanz zu religiösem Absolutheitsanspruch

Der andere Ansatz westlicher Moderne

Die schwierige Entwicklung

Anhang

Zeittafel

Literaturhinweise

Register

Für Barbara und Herbert

Einleitung zu einem Jahrtausendkonflikt: Feindbilder – Klischees und Wirklichkeit

»Heiliger Krieg« und andere Bedrohungen

Der Videofilm wirkt wie eine Szene aus einer längst vergangenen Epoche. Ein bärtiger Mann, bekleidet mit schwarzem Turban und Kaftan, steht predigend auf der Kanzel einer Moschee. Er blickt in eine weiträumige Säulenhalle, und dort reihen sich dicht gedrängt junge Männer, viele ebenfalls mit Turban. Die schwarze Farbe der Kopfbedeckung sollen den Prediger als einen direkten Nachkommen des Propheten Mohammed(1) ausweisen. Er verkündet mit drohend erhobenem Zeigefinger den Dschihad, den »heiligen Krieg« gegen die »Ungläubigen« in aller Welt, und bezeichnet sich als »Befehlshaber der Gläubigen«.

Dieser Film ist im Juli 2014 in einer Moschee der nordirakischen Stadt Mossul zu Propagandazwecken gedreht und weltweit verbreitet worden. Die Bilder zeigen Abu Bakr al-Baghdadi(1), das spirituelle und politische Oberhaupt der Terror-Organisation »Islamischer Staat«. Wochen zuvor hatte sich der auf Fotos düster und fanatisch wirkende Mann von seinen Anhängern zum Kalifen ausrufen lassen.

»Heiliger Krieg«, »Kalif«. Beide Begriffe sind mit vielen Emotionen, mit historischen Erinnerungen aus weit zurückliegender Zeit aufgeladen – für Muslime wie für nichtmuslimische Europäer.

»Heiliger Krieg«. Arabische Muslime eroberten im 7. Jahrhundert innerhalb weniger Jahrzehnte Nordafrika sowie weite Teile Asiens. Und türkische Muslime drangen seit dem 11. Jahrhundert siegreich in Anatolien vor, eroberten 1453 Konstantinopel, ja, belagerten 1529 und 1683 Wien mit der Absicht, ihre Herrschaft bis weit nach Europa hinein auszudehnen.

»Kalif«. Der Titel ist mit einem hohen Anspruch verbunden. Das arabische Wort bedeutet »Stellvertreter« wie auch »Nachfolger« und bezieht sich auf die Herrscher, die nach dem Tod des Propheten Mohammed die religiöse wie politische Führung als Befehlshaber aller Gläubigen in ihrem Amt vereinigten. Für Muslime verbindet sich mit diesem Titel eine nostalgische Erinnerung an ein goldenes Zeitalter des Islam in den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte. Für Europäer dagegen war dieser Titel das ganze Mittelalter hindurch mit einer traumatischen Identitätskrise verknüpft: Unter der Führung von Kalifen waren Kerngebiete des frühen Christentums und spätantiker abendländischer Kultur ein für alle Mal einer islamischen Herrschaft unterworfen worden: »Heiden« hatten über »Christen« gesiegt, und dieser Triumph einer »falschen« Religion ließ sich von den Christen, den Anhängern der »richtigen« Religion, nicht mehr korrigieren. Auch die Kreuzzüge konnten daran nichts ändern. Solche traumatischen Erinnerungen vermochten die »Glaubenskämpfer« der Terror-Organisation »Islamischer Staat«(1) im Bewusstsein der Europäer seit 2014 erneut zu aktivieren. Die Dschihadisten eroberten in diesem Jahr weite Teile des Irak sowie Syriens, und sie stellten demonstrativ Parallelen zu den siegreichen Kalifen von einst her. Sie präsentierten in Videobotschaften und im Internet Landkarten, die die Grenzen ihres für die Zukunft proklamierten Großreichs markierten: Ihr Herrschaftsgebiet sollte im Westen bis Andalusien und im Osten bis Indien, ja, bis in den westlichen Teil Chinas ausgedehnt werden. Die damit verbundene Botschaft an die Muslime und den nichtmuslimischen Westen lautete: Für die »rechtgläubigen Muslime« würde nach vielen Jahrhunderten des kulturellen und politischen Niedergangs die Phase eines neuen, unaufhaltsamen Siegeszugs folgen.

Aber was haben solche Proklamationen mit der Realität zu tun? Der Blick auf die islamische Welt von heute bietet das Gegenteil einer solchen Verheißung: Von Libyen über Syrien, Irak und Jemen bis Afghanistan und Pakistan gibt es etliche politisch, kulturell und sozial zerrissene Staaten. Mehr noch: Die konfessionellen Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten gewinnen an Schärfe, soziale Konflikte entwickeln sich verstärkt entlang der religiösen Grenzlinien, nicht minder die politischen Rivalitäten. Und gerade eine Terror-Organisation wie der »Islamische Staat«(2) ist ein Symptom dieser Krise: Schließlich tragen ihre »Glaubenskämpfer« an vorderster Stelle dazu bei, die islamische Welt in unversöhnliche Fronten von »Gläubigen« und »Ungläubigen« zu spalten. Die Mehrheit der Muslime fürchtet das proklamierte Kalifat des (3)»Islamischen Staates«, lehnt es vehement ab, ja verachtet dessen religiös-politische Anmaßung. Entsprechend instabil ist die Tyrannei derartiger »Glaubenskämpfer«, entsprechend geschwächt ist die islamische Welt insgesamt.

Weshalb gebe ich dem »Islamischen Staat«(4) in der Einleitung des Buches trotzdem so viel Raum?

Es ist ein Reflex auf eine europäische Befindlichkeit. Eine fremde Kultur und Religion erzwingt vor allem dann unsere Aufmerksamkeit, wenn wir glauben, dass von ihr eine massive Bedrohung ausgeht – im aktuellen Fall von »Glaubenskämpfern« mit einem besonderen Potential an Aggression gegenüber dem »Westen«. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, wie viel sich denn am Beispiel des sogenannten »Islamischen Staates« über den Islam als Kultur und Religion in seiner Vielfalt erfahren lässt. Diese Terror-Organisation beherrscht schließlich nur vordergründig aktuell die Schlagzeilen, und sie könnte in etlichen Jahren schon wieder verschwunden oder zumindest erheblich geschwächt sein, ergaben Analysen bereits im Frühjahr 2016. Aber diese Organisation bildet ein exemplarisches Beispiel einer tiefergehenden Krise der islamischen Welt, und dieser Aspekt macht sie über die momentan auffällige Wirkung hinaus interessant. Es gilt die religiösen, kulturellen und politischen Zustände zu analysieren, die eine solche Radikalisierung erst ermöglichen.

Was sind die Ursachen dafür, dass immer wieder neue derartige radikal-islamische Gruppierungen entstehen? Eine solche Frage ist in westlichen Medien erstmals bereits mehr als ein Jahrzehnt vor dem Auftreten des sogenannten »Islamischen Staates« gestellt worden – und der Anlass war ebenfalls ein zutiefst traumatisches Ereignis.

Dieses Bild ist zu einer Ikone des »Bösen« geworden: die schwarzen, geballten Rauchsäulen über den zusammenstürzenden Zwillingstürmen des World Trade Center in New York. Seit dem schrecklichen Terroranschlag vom 11. September 2001, der nahezu 3000 Menschen das Leben kostete, wies vieles darauf hin, dass wir es mit einer Zäsur zu tun haben, deren Folgen nicht absehbar sind. Seit Osama bin Laden(1) als die charismatische Führerfigur der Terror-Organisation al-Qaida(1) die Schlagzeilen der Weltpresse beherrschte – und dieser schwarzbärtige, meist mit weißem Turban und Kaftan gekleidete Mann ebenfalls eine Ikone des »Bösen« wurde –, zitieren die Medien das Schlagwort Dschihad im Sinn von »heiliger Krieg« in einer ein bisher nicht gekannten Häufigkeit. Damals fand erstmals die These weite Verbreitung, eine neue Art von Krieg habe begonnen, die für das 21. Jahrhundert die Auseinandersetzung zwischen islamischer und abendländischer Welt bestimmen werde. Muslimische Organisationen, von religiösem Fanatismus angetrieben, würden während der kommenden Jahrzehnte vor allem durch gezielte Terrorakte versuchen, unsere westliche Gesellschaft zu destabilisieren. Fernsehbilder, die in der Tat erschreckend sind – aber nur selten kritisch hinterfragt werden –, illustrieren das Szenario dieser Bedrohung: vermummte Männer, die vor der Kamera ihre Bereitschaft ankündigen, Selbstmordattentäter zu werden und als »Märtyrer« im Kampf gegen den »Satan Amerika« und dessen »Lakaien« zu sterben. Dazu in weiteren Bildern Volksmassen auf den Straßen verschiedener islamischer Städte, mit hoch erhobenen Fäusten Parolen gegen den »Westen« skandierend.

Radikalisiert sich der Islam weiterhin in einem bisher nicht gekannten Ausmaß? Ist eine wachsende politische und soziale Krise die Ursache für die Radikalisierung?

Die Frage, so gestellt, weist etliche Unschärfen auf. Den Islam gibt es nicht. Es existieren innerhalb der islamischen Welt vielfältige Ausprägungen von Religion, Kultur, Politik und Gesellschaft – und dies in ständigem Wandel. Insofern handelt es sich bei Gruppierungen, die sich radikalisiert gegen Andersgläubige und gegen den »Westen« wenden, nur um religiös-politische Ideologen neben vielen anderen. Unter dem Einfluss solcher Ideologen bekommen die Begriffe »Dschihad«, »Kalif«, »richtiger Glaube« eine spezifisch neue Bedeutung, wie sie Jahrhunderte zuvor nicht bestanden hat. Diese historische Gebundenheit wird in der Diskussion oft außer Acht gelassen, wenn es um die vielfältigen Erscheinungsformen islamischer Religion und Kultur geht.

Den Islam verstehen?

Mein Eindruck ist, dass viele Europäer deshalb so gereizt auf Fehlentwicklungen des Islam reagieren, weil sie dort Parallelen erkennen zu ähnlichen Krisensymptomen im christlich geprägten Abendland des Mittelalters und der frühen Neuzeit vor der Epoche der Aufklärung: Fanatismus, Glaubenskriege, triumphalistischer Absolutheitsanspruch. Man kann Aversionen in diese Richtung nicht grundsätzlich das Recht absprechen. Aber solange der Blick nur auf einen solchen Aspekt konzentriert bleibt, blendet man die Vielfalt islamischer – wie auch abendländischer – Kultur aus.

Ein anderer Islam

Im vorliegenden Buch versuche ich zu zeigen, dass »Islam« für viele Hundert Millionen Gläubige etwas völlig anderes bedeutet als das, was radikale Splittergruppen als den »wahren Glauben« und die einzig richtige Gesellschaftsform propagieren. Die islamische Welt weist ähnliche vielschichtige Varianten von Religion, Kultur und Gesellschaft auf wie das christlich geprägte Abendland – auch eine ähnliche Ambivalenz. Die Neigung zu Gewalt und Intoleranz findet sich gleichermaßen hier wie dort, ebenso die Tendenz zu Weltoffenheit und die Fähigkeit zur Modernisierung erstarrter traditioneller Strukturen.

Was ist Islam? Wie schon angedeutet: Den Islam gibt es nicht. Feindbilder orientieren sich überwiegend an Klischees, die alle historisch bedingten Gegensätze, alle Vielfalt negieren. Solche Feindbilder von westlicher Seite entsprechen in der Struktur völlig denen von islamischer Seite. Hier wie dort droht gleichermaßen die Gefahr, das unbekannte Fremde zu dämonisieren.

Was ist Islam? Schon beim ersten genaueren Blick auf die fremde Religion und Kultur lassen sich Aspekte entdecken, die zeigen, wie vielfach und eng verflochten die christlich-abendländische und die islamische Welt gerade auch in positiver Hinsicht sind.

Manaret Isa . . . Der arabische Name bedeutet: Minarett Jesu. Ein Turm einer Moschee also, der den Namen Jesu trägt? Ich traf auf ein solches Minarett im Hof der Omayyaden-Moschee von Damaskus, einem der wichtigsten Wallfahrtsorte des Islam. In derselben Moschee befindet sich auch das Grab eines Propheten mit dem arabischen Namen Yahia, uns unter dem Namen Johannes der Täufer geläufig. Und Muslime verehren Maria(1), die Mutter Jesu. Ich besuchte nahe den antiken Ruinen von Ephesus auf dem bewaldeten Hügel Ala Dag das angebliche Sterbehaus der (2)Maria. Neben den christlichen Pilgern versammeln sich dort ebenso zahlreich türkische Muslime.

Überraschungen dieser Art sind geeignet, wesentliche Anstöße zu geben, um bisher vorgefasste Meinungen über den Islam zu revidieren. Solche Erfahrungen passen nicht in das durch westliche Massenmedien weitverbreitete Bild einer Religion, die gegenüber dem Christentum abweisend auftritt. Zwar ist zumindest einer westlichen Bildungsschicht längst geläufig, dass Abraham nicht nur als Stammvater des Judentums und Christentums anzusehen ist, sondern auch des Islam. Propheten wie Moses(1), Jesaja(1), Jeremia(1) und Jesus(1) werden auch von Muslimen verehrt. Aber noch in den 1950er-Jahren war es für viele Europäer weitgehend unbekannt, dass Jesus(2) den Muslimen als der zweitwichtigste Prophet gilt, in der Rangfolge unmittelbar hinter Mohammed(2). Damals gehörte es auch noch zu einem leider gängigen Missverständnis, Allah als den Eigennamen eines fremden Gottes anzusehen, nicht als die arabische Bezeichnung für den einen gemeinsamen Gott aller monotheistischen Religionen.

Die geistige Verwandtschaft hat allerdings auch zum Streit darüber geführt, welche der beiden Religionen im Besitz der allein richtigen Offenbarung Gottes sei. Und solche Auseinandersetzungen mündeten immer wieder in religiös-politisch motivierte Kriege. Solche Kriege sind bis heute oft von einem Krieg der Worte begleitet – und in der Ähnlichkeit der Wortwahl zeigt sich wiederum die Verwandtschaft der beiden monotheistischen Religionen, nun aber im Negativen.

Ein »Kampf der Kulturen«?

Schon Ayatollah Khomeini(1), der Führer der »Islamischen Revolution« von 1979, sprach vom »Reich des Bösen«, wenn er den Westen meinte, und keiner hat häufiger als er die USA »Satan« genannt. Der religiös-politische Extremist gebrauchte religiös aufgeladene Metaphern, wie sie erst seit dem politischen Erstarken des islamischen Fundamentalismus breitenwirksam bei den Muslimen in Umlauf gekommen sind. Wir haben aber keinerlei Anlass, mit bloßer Verachtung auf solche mittelalterlich anmutende »Rückständigkeit« herabzusehen, gebrauchten doch auch führende westliche Politiker, allen voran der ehemalige US-Präsident George W. Bush(1), nahezu gleiche Metaphern. Bush(2) sprach vom »Reich des Bösen« oder der »Achse des Bösen«, wenn er feindliche und hier besonders islamische Staaten im Visier hatte. Er bediente sich eines Wortschatzes, der den Traditionen eines aufgeklärten Westens brüsk widersprach – und auf einen Fundamentalismus christlicher Prägung hindeutete(3).

Unmittelbar nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 rief Präsident Bush(4) gar zum »Kreuzzug« gegen die »Mächte der Finsternis« auf und benutzte damit Schlagworte, die bei den Muslimen die Erinnerung an eine sehr düstere Zeit des christlichen Glaubenskrieges gegen den Islam weckte. Entsprechend antwortete die islamische Propaganda, man werde auch in Zukunft die »christlichen Kreuzzügler« vom »geheiligten islamischen Boden« zu vertreiben wissen. Es klang so, als sei seit dem Zeitalter der Kreuzzüge keine Veränderung im Denken der Menschen – der Muslime wie der Christen – eingetreten. Dies scheint auf fatale Weise zu bestätigen, wie hartnäckig sich die Fronten zwischen islamischer und abendländischer Welt, allen aufklärerischen Idealen und Verständigungsbemühungen zum Trotz, erhalten haben. Und das ist eine bedrohliche Perspektive für die Zukunft.

Solche Sachverhalte gewinnen noch an Brisanz, je mehr Muslime nun auch in Europa selbst wohnen. Es sind Menschen, die ursprünglich meist »Gastarbeiter« waren, inzwischen aber schon in der zweiten oder dritten Generation bei uns leben. Hat es um 1950 erst rund 900 000 muslimische Zuwanderer in Europa gegeben, überwiegend in Frankreich und Großbritannien ansässig, so waren es zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits rund 17 Millionen. In Frankreich machten sie rund fünf Prozent der Bevölkerung aus, wobei die meisten aus Nordafrika stammten, in Großbritannien waren die Zahlen ähnlich. Die Zuwanderer dort kommen überwiegend aus Pakistan, Bangla Desh und dem indischen Raum. In Deutschland und Österreich waren vor der Jahrtausendwende zwei bis drei Prozent der Bevölkerung Muslime, die meisten davon Türken; der Anteil stieg in Österreich auf fast sieben Prozent (2012), in Deutschland auf etwa fünf Prozent (2008/2009). Etwa 2,5 Millionen Muslime, die in Deutschland leben, also rund 63 Prozent haben türkische Wurzeln.1 Seither macht bei uns – wieder einmal – das angsteinflößende Schlagwort von der »Überfremdung« die Runde. Und umso mehr müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob dem »Abendland« oder dem »Westen« tatsächlich Gefahr durch die fremde Kultur des Islam droht, die – wie es oft gesagt wird – nicht zu der unseren passe. Dieser Logik entsprechend könnte es zunehmend zu Unruhen auch in Europa kommen, weil die Muslime nicht bereit sind, nicht bereit sein können, sich in unsere »westliche Wertegemeinschaft« zu integrieren.

Im Zusammenhang mit derartigen Entwicklungen bekommt das Schlagwort vom sogenannten Kampf der Kulturen verstärkt Aktualität. Dieses Schlagwort bezieht sich auf den Buchtitel des umstrittenen Bestsellers Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations). Der Autor ist Samuel P. Huntington(1), ein amerikanischer Politikwissenschaftler, zeitweiliger Berater des US-Außenministeriums und Harvard-Professor. 1993 hat er den Slogan erstmals in einem Essay und dann 1996 als Titel für sein Buch verwendet. Er entwickelte Thesen, die die (westliche) Öffentlichkeit in wachsendem Maß beschäftigen: Die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts werde nicht mehr vorrangig von Auseinandersetzungen politischer, ideologischer und wirtschaftlicher Natur in hochkomplexen geopolitischen Räumen bestimmt, sondern hauptsächlich von einem stark religiös bestimmten »Kampf der Kulturen«. Besonderes Gewicht misst er hierbei dem Konflikt zwischen islamischer und abendländischer Welt bei.

Aus der Sicht Huntingtons(2) sind vor allem die islamische und die westliche Kultur von der Grundstruktur her daraufhin angelegt, ihre Herrschaft jeweils über die ganze Welt ausdehnen zu wollen. Entsprechend schrieb er: »Das tiefere Problem für den Westen ist nicht der islamische Fundamentalismus. Das tiefere Problem ist der Islam, eine andere Kultur, deren Menschen von der Überlegenheit ihrer Macht besessen sind. Das Problem für den Islam ist nicht der CIA oder das US-amerikanische Verteidigungsministerium. Das Problem ist der Westen, ein anderer Kulturkreis, dessen Menschen von der Universalität ihrer Kultur überzeugt sind und glauben, dass ihre überlegene, wenngleich schwindende Macht ihnen die Verpflichtung auferlegt, diese Kultur über die ganze Erde zu verbreiten. Das sind die wesentlichen Ingredienzen, die den Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen anheizen.«2

Hierzu passt eine Äußerung, die bereits 1988 der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber John Galvin(1) exemplarisch bei seiner Abschiedsrede in Brüssel getan hat. Damals, als sich am politischen Horizont deutlich der Zusammenbruch des Sowjetimperiums abzuzeichnen begann, hielt es der militärische Führer für angebracht, mit prophetischem Pathos schon auf den nächsten epochalen Entscheidungskampf hinzuweisen: »Den Kalten Krieg haben wir gewonnen. Nach einer siebzigjährigen Verirrung kommen wir nun zur eigentlichen Konfliktachse der letzten 1300 Jahre zurück: Das ist die große Auseinandersetzung mit dem Islam.«3

Heiliger Krieg, Kreuzzug, Mächte des Bösen, Kräfte der Finsternis . . . Diese Schlagworte, wie sie Muslime und Christen immer wieder in gegenseitiger schroffer Abgrenzung gebrauchen, haben bekanntlich eine weit zurückreichende Tradition. Dass wir hier in der Tat von einem seit 1300 Jahren dauernden Konflikt – letztlich also von einem Dauerkonflikt, wenn nicht sogar von einem »Jahrtausend-Konflikt« – zu sprechen haben, versteht sich von selbst. Erschrecken muss uns allerdings, wie verwandt Islam und Christentum sogar in ihrer Anfälligkeit für fundamentalistische Radikalität sind. Andererseits müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass wir, indem wir uns auf derart negative Aspekte konzentrieren, weder der christlich-abendländischen noch der islamischen Kultur auch nur in Ansätzen gerecht werden.

Europäer, Amerikaner, Christen werden dieser Einsicht sofort zustimmen, sofern es darum geht, den eigenen Kulturraum in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu beschreiben und zu differenzieren. Der Islam dagegen gleicht vielen von uns westlich und weltlich Geprägten weiterhin einem monolithischen Block: Man weiß vom Wesen des Islam wenig, und das Wenige ist überwiegend negativ. Entsprechend verbreitet ist bei uns die Meinung, keine Religion lehne derart grundsätzlich wie der Islam Andersgläubige ab und mache einen echten Dialog über Kulturgrenzen hinweg nahezu unmöglich. Kreuzzugsmentalität und Fanatismus bei Christen stufen wir gern als einen Widerspruch zur biblischen Botschaft der Nächstenliebe und damit als eine Verirrung ein. Dagegen neigen wir dazu, im Koran Intoleranz und Aufruf zum Glaubenskrieg geradezu zentral verankert zu sehen, dabei ist den meisten von uns weder die Bibel vertraut wie früheren Generationen, noch haben wir uns jemals in den Koran vertieft.

Im vorliegenden Buch vergleiche ich daher etliche grundlegende Aussagen von Koran und Bibel. In welchem Maß liefern die beiden heiligen Bücher das geistige Instrumentarium für Toleranz oder für Intoleranz? Fordert der Koran tatsächlich zum »Heiligen Krieg« auf oder zur Unterdrückung sowie zur gewaltsamen Bekehrung »Ungläubiger«? Inwieweit haben Bibel und Koran mit ihrer Ethik im Verlauf der Jahrhunderte politisches und soziales Verhalten positiv oder verhängnisvoll beeinflusst? Wie sehr werden die heiligen Bücher missdeutet und politisch missbraucht?

Muslime müssen sich naturgemäß missverstanden, ja verletzt fühlen, wenn wir ihnen unterstellen, sie neigten mehrheitlich zu Intoleranz oder gar zu Radikalität und Gewalt. Und erst recht, wenn wir solche negativen Tendenzen strukturell in ihrer Religion angelegt sehen, während wir ihnen unsere eigene Religion und Kultur als grundsätzlich friedfertig entgegenhalten. Ich bin viel in islamischen Ländern unterwegs und erlebe jedesmal aufs Neue, wie hilfsbereit und gastfreundlich viele Muslime mir, dem Nichtmuslim, begegnen. Angefeindet werden Besucher aus dem Westen nur von einer Minderheit, über deren Motive wir unvoreingenommen nachdenken sollten.

Umgekehrt müssen wir selbst uns krass missverstanden fühlen, sobald radikale Muslime die Menschen im Westen pauschal als gottlos, moralisch dekadent, materialistisch, rassistisch und imperialistisch abkanzeln. Ihre Unterstellungen gipfeln oft in dem Vorwurf, der Westen wolle den Islam vernichten. Auch muslimische Verschwörungstheoretiker wissen sehr wohl, dass undifferenzierte Feindbilder dabei helfen können, die Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten im eigenen Kultur- und Lebensraum zu übertünchen.

Der eigentliche Konflikt in der Gegenwart

Aber so alt der Konflikt zwischen islamischer und abendländischer Welt auch ist, dürfen wir nicht übersehen, dass sich im Verlauf der Jahrhunderte die Akzente in der Auseinandersetzung entscheidend verlagert haben.

Ursprünglich entzündete sich die Rivalität an der Frage, ob die ganze Welt im Zeichen einer allein richtigen Religion christianisiert oder islamisiert werden sollte. Kreuz oder Halbmond waren in diesem Zusammenhang die kompromisslose Alternative. Unsere westliche Industriegesellschaft kennt jedoch längst kein wesentliches, für alle verbindliches Glaubensbekenntnis mehr und auch keine entsprechend politisch-sakral normierte Lebensform. Wir im säkularisierten Westen leben und tolerieren ein Spektrum an Weltanschauungen, von religiös bis atheistisch, und befürworten diese Vielfalt meistens auch. Daher sprechen ja viele von uns nicht mehr vom »christlichen Abendland«, sondern benutzen das Adjektiv eher als historisch zu verstehendes Zitat oder gar ironisch-provokativ.

Seit Ende 2014 instrumentalisieren allerdings die selbsternannten »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) das »Abendland« – wieder einmal. Sie machen den problematischen Terminus erneut zu einem ideologischen Kampfbegriff, diesmal für ihre islam- und fremdenfeindliche Organisation, die sich zusehends rechtspopulistisch gebärdet. Auch dies ist ein Grund, weshalb ich im Folgenden »Abendland« als Terminus zur Beschreibung sowie als kulturgeschichtlichen Begriff oder Idee möglichst sparsam verwenden werde. Dennoch muss ich gelegentlich auf ihn zurückgreifen, verwahre mich aber ausdrücklich gegen jede ideologische Verwendung.

Andere Völker christlich zu missionieren, ist bei uns zum Anliegen einer religiösen Minderheit geworden. Selbst viele Christen, zumindest in Westeuropa, wünschen heute eher einen Dialog mit Andersgläubigen, als dass sie deren Bekehrung wichtig fänden. Inzwischen hat im Westen ein eher weltlicher Missionstrieb die Oberhand gewonnen: Die ganze Welt soll säkularisiert und im Zeichen der allein richtigen Zivilisation »verwestlicht« werden.

Zu Recht sprechen wir aber weiterhin vom »islamischen Orient«. In diesem kulturellen Großraum leben die Menschen nämlich noch überwiegend in religiös-politisch durchstrukturierten Gesellschaften. Eine Säkularisierung hat in der islamischen Welt kaum oder höchstens in Ansätzen stattgefunden. Und gerade diese unterschiedliche Haltung gegenüber der Religion – entweder als verpflichtende Mitte der Gesellschaft oder als Privatsache jedes Einzelmenschen – bezeichnet für viele Muslime heute den hauptsächlichen Gegensatz zwischen Islam und Abendland beziehungsweise dem »Westen«. Je mehr bei uns die Kirchen an politischem Einfluss verloren haben, desto weniger sehen die Muslime vom Christentum eine Gefahr ausgehen und desto unbefangener können sie der geistesverwandten Religion begegnen. Die muslimische Abwehr richtet sich inzwischen vorrangig gegen den Westen mit seiner vordringenden »imperialistischen«, säkularen Macht. Vielen von uns dagegen erscheint weiterhin der Islam auch als Religion bedrohlich, eben weil im Orient die Verbindung zwischen Religion und Politik mehr oder weniger erhalten blieb.

Einen Jahrtausend-Konflikt verstehen – dies ist die eigentliche Absicht des vorliegenden, mehrfach überarbeiteten Buches. Da viele der bereits angeführten Schlagworte eine weit zurückreichende Tradition besitzen, erscheint es mir notwendig, weit in die islamische wie in die abendländische Geschichte zurückzugehen und die Ursachen des Konflikts zu analysieren. Kritisch zu hinterfragen ist in diesem Zusammenhang der Begriff »Jahrtausend-Konflikt«. Unbestreitbar ist zwar, dass die islamische und die abendländische Welt seit 1300 Jahren miteinander in der Frage rivalisieren, ob die Menschheit islamisiert oder ob sie verchristlicht – und im modern säkularen Sinn verwestlicht – werden soll. Aber falsch ist es, daraus abzuleiten, dass sich Islam und Abendland über die 1300 Jahre ihrer gemeinsamen Geschichte ununterbrochen als zwei monolithische und feindliche Blöcke gegenübergestanden hätten.

Ich versuche zu zeigen, dass Muslime und Europäer viele Jahrhunderte lang über die politischen und religiösen Gegensätze hinweg oft rege geistige Kontakte pflegten und gegenseitig von der jeweils fremden und doch geistesverwandten Kultur profitierten. Eine Reihe von Beispielen, die ich anführen werde, belegen, dass sich Muslime über weite Zeiträume ihrer Geschichte stärker auf innere Konflikte ihrer eigenen Religion und Kultur konzentriert haben als auf den expansiven Kampf gegen »Ungläubige«. Dasselbe bei den Europäern. Um nur ein Beispiel vorwegzunehmen: Die schrecklichsten Kriege, die wir erlebt haben, wurden keineswegs gegen eine fremde Kultur wie die islamische geführt – viel schlimmer und folgenreicher als die Kreuzzüge oder die sogenannten Türkenkriege war der Dreißigjährige Krieg, der bekanntlich als religiös-politischer Konflikt unter den christlichen Konfessionen ausgetragen wurde. Sogar der Erste und Zweite Weltkrieg, die verheerendsten Kriege des 20. Jahrhunderts, entbrannten zuallererst auf Grund tiefgehender Konflikte in unserem säkularen Kulturraum.

Vorrangig auf unsere Gegenwart konzentriert sind meine Fragen zum Fundamentalismus: Welchen Einfluss haben fundamentalistische Bewegungen auf das gesellschaftliche Leben im islamischen Orient wie auch im Abendland? Bekanntlich ist das Phänomen strukturell gleichermaßen in den drei geistesverwandten Religionen Islam, Christentum und Judentum angelegt.

Der Fundamentalismus übt unbestritten in der islamischen Welt einen viel stärkeren Einfluss auf Politik und Gesellschaft aus als in unserem Kulturraum. Negative Tendenzen treten folglich in islamischen Staaten erheblich deutlicher hervor. Bei diesem Thema neigen wir im Westen zu problematischen Pauschalurteilen. Viele von uns setzen den islamischen Fundamentalismus ausschließlich mit rigiden, gewaltbereiten, fanatischen, ja in jüngerer Zeit auch mit terroristischen Bewegungen gleich. Tatsächlich aber fächert sich die Islamiya – der »Islamismus«, wie die Muslime diese Bewegung selbst nennen – in völlig unterschiedliche Strömungen auf. Einerseits waren und sind wir mit äußerst gewaltbereiten und gewalttätigen Gruppierungen konfrontiert wie etwa der Terror-Organisation al-Qaida und ihrer Symbolfigur Osama bin Laden(2), mit dem sogenannten »Islamischen Staat« (IS) und dem selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi(2). Auch sind uns eine Reihe islamistisch regierter Staaten als äußerst brutale Diktaturen in Erinnerung, allen voran das Regime der afghanischen Taliban, unverhohlen despotisch auch der iranische Gottesstaat unter Ayatollah Khomeini(2). Andererseits stand der iranische Staatspräsident Mohammed Khatami(1) kaum zwei Jahrzehnte später (1997 – 2005) für einen gemäßigten Islamismus, der in gewissen Grenzen eine kulturelle Vielfalt zuließ und einen Dialog mit dem Westen suchte. Gerade das Beispiel Iran zeigt, wie schwierig es ist, den islamischen Fundamentalismus in seiner Vielfalt, seinen gegenläufigen Strömungen zu verstehen. Ausgerechnet im Gottesstaat Iran, wo sich 1979 erstmals überhaupt eine islamistische Regierung gebildet hatte, ist inzwischen die Bewegung einer »Islamischen Revolution« in rivalisierende, fast unversöhnliche Flügel gespalten. Es wird in dieser Hinsicht noch auf andere überraschende Entwicklungen hinzuweisen sein.

Rückständiger Islam? Fortschrittlicher Westen? Die Missverständnisse

Ein weiteres ausgesprochen tiefsitzendes Vorurteil auf westlicher Seite versuche ich im vorliegenden Buch zu widerlegen: Die islamische Kultur sei schon von ihrem geistigen Ansatz her rückständig und Muslime reagierten besonders aus ihrem Gefühl einer strukturellen, unaufhebbaren Unterlegenheit neidisch und aggressiv auf die Herausforderung der westlichen Moderne.

Im ersten Moment ist diesem Vorurteil schwer zu widersprechen. Kaum ein muslimisches Land hat es im 20. Jahrhundert geschafft, wirtschaftlich das Niveau eines sogenannten »Entwicklungslandes« zu überwinden, kaum einer dieser Staaten kennt ein weitgefächertes Bildungssystem und eine demokratische Verfassung. Aber wenn wir für diese Rückständigkeit prinzipiell den Islam als Religion und Kultur verantwortlich machen wollen, dann muss uns ein Blick in die Vergangenheit beträchtlich irritieren. Noch zu Beginn des Hochmittelalters zeigte sich der islamische Orient dem christlichen Abendland kulturell weit überlegen. In seinen Städten befanden sich überwiegend die besseren Bibliotheken und Universitäten, dachten Philosophen und Wissenschaftler fortschrittlicher, entfalteten sich Kunst und Architektur reichhaltiger, waren die Bürger im Durchschnitt gebildeter, war der Lebensstandard höher. Gegen die hochentwickelte Stadtzivilisation des Islam konnte das Europa von damals – würden wir einen Begriff von heute gebrauchen – überwiegend nur als ein riesiges Entwicklungsland erscheinen.

Kaufleute und Kreuzritter des christlichen Mittelalters mussten sich bei ihrer Begegnung mit dem Orient zutiefst verunsichert fühlen. Irritiert stellten sich gerade die Gebildeten die Frage, wie es Gott denn zulassen könne, dass die »Heiden« mit ihrer »falschen« Religion den Christen in vielerlei Hinsicht überlegen seien. Dieser christliche Schock von damals entspricht in etwa dem islamischen Schock von heute. Umgekehrt sehen sich nun die Muslime einer Identitätskrise ausgesetzt. Sie, die sich zwar im Besitz der »richtigen« Religion glauben, müssen sich fragen, warum Zivilisation und Technologie der Andersgläubigen in fast allen Bereichen überlegen zu sein scheinen.

Weder Islam noch Christentum sind unmittelbar für zivilisatorische Fortschrittlichkeit oder Rückständigkeit verantwortlich zu machen. Versucht man trotzdem, derartige Zusammenhänge aufzuspüren, so erscheinen beide Weltreligionen nahezu gleich mächtig, um mit einem immensen Potential, das kulturelle Leben zu beeinflussen: im Guten wie im Schlechten. Auch diese Frage wird uns im weiteren Verlauf beschäftigen.

1300 Jahre Dauerkonflikt zwischen islamischer und abendländischer Welt . . . Im Bewusstsein vieler Muslime wie Europäer und Amerikaner ist ein Ende dieser Rivalität nicht abzusehen, ja sie scheint einem neuen Höhepunkt entgegenzugehen. Das wären düstere Perspektiven für das 21. Jahrhundert und darüber hinaus.

Ich teile diesen Zukunftspessimismus nicht. Wenn auch der vor Jahrzehnten schon begonnene Dialog auf religiöser wie politischer Ebene immer wieder durch radikale Bewegungen auf beiden Seiten sabotiert wird, ist unter gewissen Voraussetzungen ein Ende des Konflikts möglich. Vorbedingung für eine Wende zum Besseren ist allerdings, dass auf beiden Seiten mehr Menschen als bisher genügend informiert sind über die religiösen und kulturellen Strukturen der jeweils fremden Welt. 1300 Jahre Dauerkonflikt bedeutet mehr als ein Jahrtausend gegenseitiger Missverständnisse.

Ich habe mich schon in den 1980er-Jahren intensiv mit dem Jahrtausendkonflikt zwischen dem Islam und dem Westen auseinandergesetzt. Da aber im Westen die Ressentiments gegenüber der benachbarten islamischen Kultur eher wachsen als schwinden, erschien es mir schon 2003 nötig, mein 1995 erschienenes Buch Islam und Abendland. Geschichte eines Dauerkonflikts zu aktualisieren. Äußerer Anlass war damals der 11. September 2001, aber die sich zuspitzenden Unruhen im Nahen Osten seit Beginn des 21. Jahrhunderts machen es heute wiederum notwendig, eine erweiterte Fassung anzubieten. Ich füge dem damaligen Text ausführliche aktuelle Einschübe hinzu und gehe im letzten Teil des Buches auf die dramatischen Umbrüche ein, die von 2001 bis 2016 stattgefunden haben – Umbrüche mit vielen offenen Fragen.

Im Rückblick auf 1300 Jahre gemeinsamer Geschichte stelle ich die Frage noch viel stärker heraus, weshalb die Kulturmacht Islam dem christlich geprägten Abendland lange Zeit an Toleranz und Fortschrittlichkeit überlegen war und warum sich die Verhältnisse während der letzten fünf Jahrhunderte geradezu umgekehrt haben.

Vergleichen wir die wichtigsten geistigen und politischen Weichenstellungen islamischer wie abendländischer Geschichte miteinander, stellen wir fest, wie ähnlich sich die beiden rivalisierenden Großräume zumindest im Grundsätzlichen sind. Gerade die geistige Verwandtschaft hat die unerbittliche Rivalität bedingt. Erst wenn wir bereit sind, diese komplizierte Realität anstelle der gewohnten Feindbilder wahrzunehmen, können wir den Dialog beginnen.

Das aktualisierte Buch hat den Titel Islam verstehen. Das bedeutet aber nicht, dass nun das Gewicht einseitig auf den Islam verlagert wäre. Es bleibt dabei, die Entwicklung im islamischen und westlichen Kulturraum gleichermaßen darzustellen: Mohammed so ausführlich wie Jesus(3), das sogenannte Goldene Zeitalter des Islam im Mittelalter so ausführlich wie die Epoche der europäischen Aufklärung, die Religionsspaltung in Sunniten und Schiiten so ausführlich wie jene in Katholiken, Orthodoxe und Protestanten. Denn den »Islam verstehen« können wir hinreichend nur, wenn wir parallel verlaufenden Prozesse im geistig verwandten und rivalisierenden »Abendland« oder dem »Westen« zum Vergleich heranziehen. Für Europäer bietet so die Auseinandersetzung mit dem Islam die Möglichkeit – und die Chance –, auf einem Umweg über die fremde Kultur einen neuen Blick auf das Christentum sowie die säkulare Moderne der westlichen Welt zu werfen. Umgekehrt eröffnet sich für Muslime die Chance, sich aus festgefahrenen Denkmustern der eigenen Kultur zu lösen.

Dies erst bedeutet, einen Dialog mit nachhaltigen Folgen zu beginnen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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