Mein Jahr als Jäger und Sammler - John Lewis-Stempel - E-Book

Mein Jahr als Jäger und Sammler E-Book

John Lewis-Stempel

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Beschreibung

Ein Experiment, das zurück zu den Ursprüngen führt Als John Lewis-Stempel mit seiner Familie nach Herefordshire am äußersten Rand Englands zieht, ist er überwältigt von der Vielfalt der Flora und Fauna. Er wagt ein Experiment, das ihn verändern wird. Kann er es schaffen, ein Jahr lang nur von dem zu leben, was ihm die Speisekammer der Natur bietet? Können ihn die Wiesen, Hecken und Bäche seines sechzehn Hektar großen Anwesens Trelandon ernähren? Der preisgekrönte Autor erzählt spannend von den Herausforderungen und Entbehrungen, die Kälte und Schnee mit sich bringen, aber auch die Ernährung ohne jede Zutat aus dem Supermarkt. Er berichtet von seinem eigensinnigen Jagdhund Edith und den neuen Rezepten, die er kreiert. Am Ende hat sich sein Bewusstsein für die Natur und für seinen Körper ebenso grundlegend gewandelt wie sein Verhältnis zu unserem achtlosen Umgang mit Nahrungsmitteln. Entstanden ist die inspirierende, humorvolle und poetische Beschreibung einer Rückkehr zu den Wurzeln. »John Lewis-Stempel [schreibt] keine Fiktion, aber makellose Prosa. Guter Mann .[…] Gute Bücher für jeden.« Mark Knopfler

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Seitenzahl: 419

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John Lewis-Stempel

MEIN JAHR ALS JÄGER UND SAMMLER

WAS ES WIRKLICH HEISST, VON DER NATUR ZU LEBEN

Aus dem Englischen von Sofia Blind

Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel

›The Wild Life. A Year of Living on Wild Food‹ bei Doubleday,

an imprint of Transworld Publishers, London, und 2010/2016 bei Black Swan,

an imprint of Penguin Random House group, London.

Copyright © John Lewis-Stempel 2009

Karte © Neil Gower 2009

eBook 2019

© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Sofia Blind

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8455-1

www.dumont-buchverlag.de

Dies ist die Geschichte eines Jahres, in dem ich von der Erde lebte, im letzten Tal Englands. Um Schuldige zu schützen, habe ich ein paar Namen geändert. Bitte denken Sie beim Lesen daran, dass bestimmte Wildpflanzen und Pilze bei manchen Menschen allergische Reaktionen oder Krankheitssymptome auslösen können; aus diesem Grund sollte vor dem Konsum der genannten Nahrungsmittel ein zuverlässiges Bestimmungshandbuch zurate gezogen werden.

Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Die Jagd- und Naturschutzbestimmungen im deutschen Sprachraum unterscheiden sich stark von den britischen. Einige der in diesem Buch genannten Arten stehen in Deutschland, Österreich und/oder der Schweiz unter Naturschutz und dürfen nicht oder nur eingeschränkt gejagt oder gesammelt werden, z.

VORWORT

Der Oktober hat das Tal fest im Griff. Am Boden der Hecke produzieren modernde Eichen- und Haselblätter ein erstickend intensives Aroma von brennendem Weihrauch. Mein Zeigefinger ist von der Kälte blass wie Kiefernholz; um ihn wieder zu lockern, strecke und biege ich ihn hektisch. Gleichzeitig suche ich die Wiese ab, die vor mir liegt. Nichts.

Eine Amsel schrillt los wie eine Autoalarmanlage. Einen Augenblick lang fühle ich mich entdeckt, aber der Schuldige, ein Fuchsrüde, schnürt im Zwielicht über die schmale Landzunge ins Bachbett des Escley Brook und verschwindet im Wäldchen.

Das Tal fällt zurück in seine Mausoleumsstille.

Ich bin nur aus Hoffnung hier, nicht mehr. Vor zwei Tagen habe ich sie zufällig gesehen, als sie aus dem bewaldeten alten Steinbruch am anderen Ufer des Escley kamen, aber es ist nicht sicher, dass sie wiederkommen.

Ich warte weiter, bis zum Zwielicht. Als ich gerade aufgeben will, kommen sie; sie segeln über meinen Kopf hinweg, still wie Geister.

Scolopax rusticola. Waldschnepfen. Drei Stück. Wenn ich Sportschütze wäre, würde ich sie im Flug abschießen, mich vielleicht sogar an einer gloriosen Dublette versuchen. Aber ich bin kein Sportschütze, ich bin ein Mensch, der hungrig ist, sich bis zur Brust in einem Entwässerungsgraben versteckt und auf einen todsicheren Schuss hofft. Ich lasse die Schnepfen landen – ein Fehler, wie sich bald zeigt. Einen Moment lang stochern sie mit ihren nadelspitzen Schnäbeln herum – dann verschwindet eine. Und noch eine. Zwischen aufsteigender Dunkelheit, Laubhaufen und Grasbüscheln funktioniert die marmorierte Tarnzeichnung der Schnepfen in darwinistischer Perfektion. Nur weil er sich bewegt, kann ich den dritten Vogel sehen. Ich entsichere meine Baikal-Flinte Kaliber 12 und hebe sie an die Schulter. Und schieße.

Dreißig Meter vor mir schlägt die Schnepfe ein verkrüppeltes Rad. Die anderen beiden, vom Echo des Schusses hervorgespült, flattern eilig in den Äther davon.

Dass ich endlich aus meinem feuchten Versteck aufstehen kann, macht mich ebenso glücklich, wie Beute zu haben. Auf kribbelnden Beinen humpelnd, sammle ich den zertrümmerten Vogel auf.

Es gibt nur wenige Lebewesen, die von so schlichter Schönheit sind wie eine Waldschnepfe. Ich töte sie nicht gerne. Aber ich töte überhaupt nicht gern. Die Indianer pflegten ein Tier um Erlaubnis zu bitten, bevor sie ihm das Leben nahmen. Ich tue das ständig.

Ich stülpe eine Schlinge aus rosa Ballenschnur um den Hals der Schnepfe, lasse den Vogel an der flintenlosen Hand baumeln und stapfe über die durchweichten dunklen Wiesen zum Hof hinauf, der flach und lang aus dem Wetter ragt. Weiter im Westen, auf der anderen Talseite, lässt eine letzte Schliere Tageslicht die Silhouette der drohend emporragenden Wand der Black Mountains hervortreten, der allerletzten Grenze Englands. Beim Gehen denke ich über die heutige Mahlzeit nach, während schnöder Speichel in meinen Mund steigt. Schnepfe mit Brombeersoße? Schnepfe mit Wildapfelmus? Was auch immer, es wird eine gottseidankbare Abwechslung von Kaninchen bieten – dem Tages- (und Nacht-)Gericht der gesamten letzten Woche.

Als ich die Tür zur Küche aufmache, explodiert Licht in den Kuhstall, den wir als Dreckschleuse nutzen. Und Hunde, um genau zu sein: vier Hunde, allen voran Edith, mein einjähriger Labrador. Sie schnuppert zitternd an der baumelnden Waldschnepfe. Irgendwo in ihrem Kopf flackert das archaische Bewusstsein, dass das Bündel Federn ihr auf irgendeine Weise etwas bedeuten müsste. Mit diesem schwelenden Wissen muss ich arbeiten, wenn ich sie zum besten Freund des Jägers abrichten möchte, zu einem Hund, der Wild aufstöbert und apportiert; allerdings habe ich leider noch nie zuvor einen Jagdhund erzogen. »Keine Sorge, Edith, wir schaffen das schon«, sage ich, ebenso zu meiner wie zu ihrer Beruhigung, und kitzle sie in der Drosselgrube unter ihrem Kinn.

Nur die Hunde sind zu Hause. Penny und die Kinder sind noch nicht wieder zurück. Ich lege die Schnepfe auf den Holztisch, lehne mich an den AGA-Herd und betrachte die Küche. Sie sieht aus wie eine Apotheke in Charles Dickens’ Zeitalter, vollgestopft mit Einmachgläsern voller seltsamer Formen und blubbernden Ballonflaschen und erdgefüllten Kisten, aus denen verdrehte Wurzeln ragen. Aber die Tränke und Präparate sind nicht für Apothekerkünste gedacht; es sind die wilden Nahrungsmittel, die ich esse. Ich mustere die Küche nicht umsonst; ich suche nach Inspiration, nach Beilagen für die Schnepfe. Die Brombeersoße soll es sein, knallviolett und frisch gekocht. Und gebackene Klettenwurzeln und gedämpfter Sauerampfer.

Aber ich drücke mich vor meiner Arbeit; eine Waldschnepfe zu rupfen, ist mühselig und fummelig. Ich greife über die Arbeitsplatte und schenke mir ein verzögerndes, stärkendes Glas Holunderwein ein. Eine kleine Freude vor der Fron des Rupfens. Allerdings darf ich nicht zu lange herumtrödeln, weil ich die Schnepfe rupfen muss, solange sie noch warm ist; das ist einfacher, als an Federn zu zerren, die durch die Totenstarre festsitzen. Außerdem bin ich so hungrig, dass mir der Bauch wehtut.

Am Tisch zupfe ich die kastanienbraunen Federn der Waldschnepfe in eine Plastiktüte, bevor ich mich an die speziellen Vorbereitungen für diese Geflügelart mache; sobald die Schnepfe geköpft ist, wird der Magen durch den Hals herausgezogen. Die restlichen Innereien bleiben drin. Der picklige, plebejisch ausgemergelte Körper der Schnepfe trocknet im Backofen schnell aus, deshalb reibe ich ihn mit Wildentenfett ein und klebe einen Schild aus Wildapfelscheiben darauf, der wirken soll wie die Hitzeschutzkacheln auf einer Raumfähre.

Sobald ich Schnepfe und Klettenwurzeln dem Ofen anvertraut habe, mache ich mich daran, die grünen Sauerampferblätter durchzusehen, Stiele abzuschneiden und die alterszähen auszusortieren. Draußen im Dunkel jault ein Fuchs, ganz in der Nähe. Die Hunde im Hof geben ein lustloses Bellen von sich, aber sie interessieren sich eher für die Wärme der Küche und den wabernden Duft der garenden Schnepfe. Sie kratzen an der Tür, und ich lasse sie herein. Ich allerdings kann nicht widerstehen und gehe einen Augenblick lang hinaus in die schwarze Nacht. Jetzt, wo der Fuchs davon- und die Hunde hereingeschlichen sind, ist im Tal kein Laut mehr zu hören außer dem Flüstern des Escley in der Tiefe der Talsohle. Ich stehe allein auf dem Hof; ringsum und über mir erstreckt sich ein unendliches, vollkommenes Dunkel, nur durch ein einziges orangefarbenes Licht von dem zwei Kilometer entfernten Bauernhof drüben am Berg besudelt. Dies ist die Nacht, wie die Natur sie erdacht hat; riesig und ehrfurchteinflößend. Und dennoch so tröstlich und friedvoll wie Samt.

Der Duft der Schnepfe treibt heraus und lockt mich nach drinnen.

Bevor ich ins Haus gehe, werfe ich noch einen Blick zurück, nach Osten, jenseits des Merlin’s Hill, dorthin, woher wir gekommen sind. Es ist ein Blick zurück zum Land der aufgehenden Sonne, zurück zu einer Zeit, in der das Leben eine andere Zukunft versprach. Wir sind an diesen Ort gekommen, die Trelandon Longhouse Farm auf einem Landrücken über dem Flüsschen Escley im Schatten der Black Mountains, um Rinder, Schafe und Schweine zu halten, nicht um dort von wilden Tieren und Pflanzen zu leben. Ich möchte kein neuzeitlicher Jäger und Sammler werden.

ANFÄNGE

Ein Februartag vor zwei Jahren. Eine Nebeldecke hängt knapp über dem Dach des Landrovers. Penny, meine Frau, hat den Verkaufsprospekt für Trelandon in der Hand, auf dessen Rückseite eine praktische Landkarte aufgedruckt ist. Wie sich zeigt, ist das Grundstück leicht zu finden: Ein Schild, »Trelandon«, hängt an einem Telegrafenmast an der Landstraße.

»So ein Schild habe ich das letzte Mal in einem Spaghettiwestern gesehen«, sagt Penny. Über den unebenen Beton-Fahrweg hinunter zum Bauernhof strömt Wasser.

Der Hof wird in zwei Teilen verkauft. Parzelle 1, Great Trelandon, ein karges viktorianisches Bauernhaus aus Stein, ist bereits an eine gewisse Ms Janet Rees und einen MrGerry Musson verkauft. Wir fahren weiter, hinunter zur Trelandon Longhouse Farm.

Im Exposé des Maklers ist Parzelle 2 »das ursprüngliche, halb verfallene Naturstein-Bauernhaus mit angrenzender Scheune in traditioneller Longhouse-Bauweise aus Holz und Stein, vermutlich aus dem 18.Jahrhundert«. Als wir in den Hof einbiegen, sehen wir, dass mindestens die Hälfte der Maklerbeschreibung ein Irrtum ist. Das Haus ist nicht halb, sondern ganz verfallen, und es gibt nicht nur eine angrenzende Scheune, sondern mindestens zwei.

Weil die meisten Gebäude eingestürzt sind und winterkahle Holunderbüsche herauswachsen, ist es unmöglich, genau festzustellen, was wir vor uns haben.

Dem Makler gelang es vielleicht nicht, Trelandon Longhouse Farm präzise zu beschreiben, einem Dichter einstmals schon. Mir gehen die Worte eines sächsischen Barden durch den Kopf, der die Ruinen eines römischen Bades gesehen hatte:

Gut gefügte Wand:

Das Schicksal zerschlug sie.

Das Bollwerk zerborsten. […]

Gebrochne Firstbalken, Türme gestürzt,

Das Werk der Riesen, der Steinschmiede,

zerfällt.

Feierlich steigen wir aus dem Landrover und schreiten über den Hof. Irgendwo über uns im verschleierten Weiß klagt ein Bussard.

»Moment«, sagt Penny und schaut eines der Fotos im Exposé an, das ein insgesamt aufrechteres Gebäude zeigt, »von wo aus ist das aufgenommen? Wahrscheinlich von hinten.« Unsere Laune bessert sich einen Moment lang, und ich folge ihr durch die Überreste der Scheunentore ins Innere des verwüsteten Gebäudes und in einen überwucherten Garten, der vor Nebel tropft. Der Bussard klagt wieder. Kein anderes Geräusch ist zu hören. Der Nebel schließt sich um uns. Wir könnten die letzten Menschen auf Erden sein.

Tatsächlich sieht das Gebäude, aus der richtigen Entfernung und einem besonders engen Blickwinkel betrachtet, bemerkenswert stabil aus. Wir gehen wieder hinein, um uns das westliche, noch aufrechte Ende anzuschauen. Eichenfachwerk, noch mit den Füllungen aus Flechtwerk und Lehm, trennt die ehemaligen Wohnräume der Bauern von denen der Tiere. Das Flechtwerk fasziniert mich. Ich berühre es vorsichtig mit den Fingern und sage: »Ich bin kein Archäologe, aber das ist auf gar keinen Fall aus dem 18.Jahrhundert.«

Penny kann mich nicht hören, sie ist durch die Tür in der Zwischenwand verschwunden. »Wow«, ruft sie, »komm und schau dir das an, das ist unglaublich.« Ich folge ihrer Stimme durch die Tür. Durch die zwei kleinen Fenster zu beiden Seiten fällt ein wenig Licht, und wir können erkennen, dass dieser Raum, ursprünglich Wohnraum mit Küche, weitgehend intakt ist, bis auf die Decke, die sich zwischen den geschwärzten Balken zum Dach hin öffnet. Auf der anderen Seite des Steinbodens ist eine Kaminnische mit eingebautem Brotbackofen.

Aber das Verblüffende sind nicht die »historischen Bauelemente«: Es sind die Größenverhältnisse. Ich bin 1,80Meter groß, und die Balken fangen in der Nähe meines Kinns an. (Später messe ich vom Boden zur Balkenunterseite: 170Zentimeter.)

Dieser Raum ist für Bauern des Mittelalters erbaut worden. Oder für Hobbits.

Wer sie auch gewesen sein mögen, in diesem einen Raum und den beiden darüber lebte ein Bauer mit seiner Familie. Die harte, kahle Einfachheit des Raums hat etwas Fürchterliches; er ist ein steinernes Zeugnis dafür, wie schwer das Leben war, das die Bauern auf diesem ausgesetzten Hügel am hoch gelegenen Westende Englands führten, kurz vor Wales.

Der Raum ist so feucht und bedrückend, dass ich hinausgehen muss, weil der Nebel im Vergleich erfrischend und aufheiternd wirkt. Wir machen uns nicht einmal die Mühe, die sechzehn Hektar Land anzuschauen, die zu dem Bauernhof gehören.

Die Fahrt nach Hause dauert nicht lang. Wir leben nur acht Kilometer weiter, auch wenn es genauso gut achtzig sein könnten. Das Golden Valley, in dem wir wohnen, ist so schön wie sein Name andeutet: ein Ort goldgelber Kornfelder und Parklandschaften, ein Ort, der friedlich ist, aber trotzdem ein klares Gefühl der Verbindung zur Zivilisation vermittelt. Das namenlose Tal, in dem wir gerade waren, in der Nähe des Dorfs Longtown, ist ein abgelegener Ort mit kleinen familiengeführten Berghöfen, dessen Gipfel, der Black Hill (oder Cat’s Back, wie ihn die Einheimischen nennen), die höchste Erhebung Südenglands ist; seine Grundschule in Michaelchurch Escley ist offiziell die zweitabgelegenste Schule des ganzen Landes.

Wir kennen dieses verlorene Tal ein wenig, von Pub-Mahlzeiten im Bull’s Head in Craswall, vom Schafekaufen für unseren Bauernhof bei einem Züchter auf dem Berg und vom Weihnachtsmarkt, wo meine Frau ihre selbstgemachten Filztaschen und Pantoffeln verkauft. Wir wissen also, warum wir gerne hierher ziehen würden. Dieses stille, unverdorbene Tal ist buchstäblich wie metaphorisch das letzte Tal Englands.

Das Tal hat noch etwas, das jeden bezaubert, der sich hierher verirrt: die Aussicht auf die lange, grandios dräuende Wand der Black Mountains.

Es heißt, von schöner Aussicht könne man nicht leben. Aber wir glauben das. Wir möchten einen größeren, malerischeren Bauernhof kaufen als unseren jetzigen kleinen und Ferienwohnungen anbieten und die Gäste mit unseren eigenen Bio-Produkten, mit Schinken, Rind- und Hühnerfleisch von alten Haustierrassen sowie Eiern, versorgen. Die uns ›ausgelieferte‹ Kundschaft soll außerdem dazu verleitet werden, Pennys erlesene Filzarbeiten zu kaufen.

»Gibt es da überhaupt eine Aussicht?«, fragt Penny, als wir nach Hause brummen, und starrt mit zusammengekniffenen Augen die passbildgroßen Fotos auf der Maklerbroschüre an, die einen Bach und die durchs falsche Ende eines Fernrohres geknipste Distanzaufnahme eines grauen Klumpens zeigen. »Für mich hat es sich klaustrophobisch angefühlt, weil es so am Hang liegt.«

»Nichts für uns, Darling«, fügt sie dann hinzu und steckt das Exposé gefaltet in die Tasche am Armaturenbrett des Landrovers.

Eine Woche später sind wir wieder in Trelandon. Schließlich ist der Hof sechzehn Hektar groß. Wir suchen schon seit einem Jahr eine Immobilie in diesem Tal, und das ist erst die zweite mit Ländereien für weniger als eine Million Pfund, die wir gefunden haben. (Die erste haben wir ignoriert, weil der geschiedene Verkäufer ein einziges Buch zurückgelassen hatte, sorgfältig auf einem Couchtisch in der Mitte eines leeren Raumes platziert: 50 wahre Mordgeschichten. Feng-Shui, die uralte chinesische Kunst des Sofaverrückens, betreibe ich zwar nicht, aber da war eine deutlich negative Energie.)

Als wir diesmal auf dem Vorplatz des Bauernhofs ankommen, glotzen wir nicht wie zwei Dorftrottel das verfallene Haus an, sondern starren mit offenem Mund in die andere Richtung. Die Luft ist knackig und klar, und der 180-Grad-Blick auf die Wand der Black Mountains wird perfekt eingerahmt von einem Hügel mit Schachbrettwiesen zur Linken (wie wir später entdecken, heißt er Merlin’s Hill) und dem Hang des Hügelchens, auf dem Trelandon liegt.

»Das ist unglaublich«, sagt Penny.

»Das ist die beste Aussicht von ganz England«, sage ich.

Diesmal wandern wir tatsächlich herum und begutachten das Land, das sich in einer Reihe heckenumfriedeter Wiesen von der Landstraße bis zum Escley Brook hinunterzieht, geformt wie Italien, das seinen Stiefel ins Mittelmeer streckt. Sämtliche Wiesen sind Dauerweiden; am Bach steht ein kleines Wäldchen. »Das Grünland ist überraschenderweise als benachteiligt eingestuft«, berichtet die Maklerbroschüre, was sicherlich ironisch gemeint ist – oder wenigstens Hoffnung wecken soll. Ein einigermaßen ebenes Stück Land ganz oben trägt eine gute Grasnarbe, mit reichlich Klee, und ist wahrscheinlich die Heuwiese; der Rest sind grobe Gräser auf schwerem, kaltem Lehm, ohne richtige Drainage, und das Wasser steigt um unsere Füße nach oben, während wir gehen. Eine Wiese ist so nass, dass sie halb Sumpf ist, inklusive Schlickgras, während ein Zweieinhalb-Hektar-Landstück ganz unten, zu dem eine Schleife des Escley Brook gehört, von Drahtwürmern verwüstet und an der Uferseite von einem mindestens sechs Meter breiten Dickicht besetzt ist. Dies ist nicht das wildblumenreiche Grünland, das unsere Schafe und Kühe gewohnt sind; stattdessen tragen die Wiesen Aknepickel aus großen Brennnessel- und Distelhorsten.

Aber das ist uns egal. Wir haben die Aussicht auf die Berge gesehen. Außerdem haben wir am Ufer des Escley gestanden, der die Ostgrenze des Grundstücks bildet, haben zugesehen, wie er sich ruhig auf dem flachen Sandstein sammelt und dann über Felsen ergießt, um unter überhängenden Bäumen hindurchzugleiten, während die blasse Februarsonne ihn aufblitzen lässt.

»Escley Brook«, Escley-Bach, ist ein unzutreffender Name, denn der Escley ist hier sechs Meter breit. Vielleicht schon ein Fluss.

Wir sehen unsere Kinder vor uns, Tris und Freda, wie sie im Escley paddeln und schwimmen. Ein paar Sachen können wir nicht sehen. Am Ufer des Escley, im Kessel eines privaten Tals mit Blick hinauf zu den zwei Kilometer entfernten Black Mountains, sehen wir kein einziges Haus außer Trelandon Longhouse.

Inzwischen weiß ich nicht mehr, wer von uns beiden es sagte, aber derjenige kam dem anderen nur um Haaresbreite zuvor.

»Wir müssen es haben«, sagte einer von uns.

Irgendwie treiben wir den Kaufpreis für Trelandon auf, etwa indem wir unseren kleinen Hof im Golden Valley verkaufen und bei einer kommerziellen Kreditagentur Geld leihen (normale Hypothekenbanken mögen weder Agrarland noch Renovierungsprojekte; beides zusammen ist absolut tabu), und das sogar, bevor jemand »von außerhalb« uns überbieten kann. Denn das ist die große Angst der Einheimischen: dass irgendwelche streunenden Klugschwätzer, die das Literaturfestival in Hay-on-Wye in diese Gegend gelockt hat, ihr Reihenhaus in London gerade für eine Million verkauft und deshalb genügend Bargeld für höhere Gebote haben. Zu unserem Glück wird das Anwesen von einem kleinen lokalen Maklerbüro angeboten, das bei einer Google-Suche nach »Herefordshire +Immobilie +Ackerland« nicht auf den ersten Plätzen auftaucht; außerdem hegen die Verkäufer, denen wir direkt geschrieben haben, eine Spur Sympathie für uns, weil wir Landwirtschaft betreiben wollen und aus der Gegend sind. Zumindest ich bin waschechter Hereforder – meine Frau musste ich an ihren rabenschwarzen langen Haaren aus London hierher zerren.

Am 6.Juni ziehen wir nach Trelandon Longhouse, unser ganz persönlicher D-Day. Wir haben nichts zum Wohnen außer einem Zelt. Es gibt kaltes fließendes Wasser aus einem Wasserhahn draußen im Hof, aber damit ist die Liste leiblicher Labsale auch schon zu Ende. Es gibt kein Telefon, keinen Strom. Ich bereite unsere erste Mahlzeit auf einem Grill zu, der durch die Sauerstoffzufuhr des Windes rot glühend heiß wird. Ah, der Wind. Er hört an jenem Tag nicht auf zu wehen, auch nicht an den folgenden. Der Longtown-Wind ist ein Phänomen. Janet, unsere Nachbarin weiter oben am Fahrweg in Great Trelandon, schaut vorbei, um Hallo zu sagen. Und um sich über den Wind zu beklagen. »Vor ein paar Wochen«, erzählt sie, »hat mich der verdammte Wind fast umgeblasen.« Das finde ich ebenso verblüffend wie Janet selbst, denn sie ist das, was ihr Vater, Bauer im Ruhestand, fröhlich »ein großes Mädchen« nennt. Janet und ihr Partner Gerry sind auch aus der Gegend. Anscheinend mehr als wir; Janet beklagt sich, John komme aus Herefordshire, sei aber nicht »echt Herefordshire«. Als dieses Urteil auch auf mich übertragen wird, möchte ich absurderweise protestieren. Ich möchte klarstellen, dass ich, wenn ich auf den Merlin’s Hill stiege, auf Zehenspitzen stehend den Weiler Marlas sehen könnte, in dem die Familie meiner Mutter vor dreihundert Jahren Landwirtschaft betrieb. Und ich möchte erwähnen, dass meine Eltern beide in Herefordshire geboren wurden, genau wie ihre Eltern, und dass ich, klar, mit achtzehn weggezogen, aber zurückgekommen bin. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich, was sie meint: Ich habe nicht den lokalen, die H’s verschluckenden Akzent, sondern spreche neutrales Englisch. Auch arbeite ich nachts in einem Beruf, der ganz eindeutig zu der Sorte Beschäftigung gehört, die Neuankömmlinge treiben: Ich schreibe Bücher. Außerdem hat der Versuch, den Einheimischsten aller Einheimischen zu spielen, eindeutig einen Hauch von Dorf-Sitcom.

In den Ferien kann Zelten Spaß machen, aber es gibt nichts, was es als Lebensform empfehlenswert macht, selbst nachdem wir einen gasflaschenbetriebenen Campingherd gekauft haben: Das ständige Flattern der Nylonplane, die unaufhörliche Feuchtigkeit, die unsere Kleidung durchdringt, das Fehlen richtiger Beleuchtung … Wir hätten gern einen gebrauchten Wohnwagen, aber ein Obsthof in der Nähe von Leominster hat im Umkreis von hundert Kilometern alle aufgekauft, um polnische Arbeiter darin unterzubringen. Schließlich finden wir in Blaenavon einen Zweibett-Caravan, den ich mit dem Jeep nach Trelandon ziehe und neben dem einzigen Teil der linearen Ruinenlandschaft aus Gebäuden parke, der intakt und sicher ist: einem Kuhstall aus den Dreißigerjahren. Auf der anderen Seite des Hofs steht ein Beton-Schweinestall von 1962. Wir kennen das Jahr so genau, weil der Bauer, der ihn erbaut hat, MrJones, seine Initialen und das Datum in die feuchte Betonwand geritzt hat: »LJ 1962«. Die Fläche zwischen Kuh- und Schweinestall ist so gut vor dem Nordwind geschützt, wie es in Trelandon Longhouse eben geht; er durchharkt die schmale Furche des Escley in beide Richtungen.

Für die Kinder, die zehn und sieben sind, ist dieses Zelt- und Wohnwagenleben ein ununterbrochenes Enid-Blyton-Abenteuer; die Erwachsenen der Familie mögen allerdings richtige Klos, im Gegensatz zu einem mit Zeltplane umbauten, von Himmel überdachten Loch in der Erde, und finden es wirklich ziemlich angenehm, sich zu waschen – insbesondere mit heißem Wasser. Ich rieche ranzig, weil ich unsere Schafe schere und ihr Geruch unter meine Haut dringt. Eine Schlauchdusche auf dem Hof mit kaltem Wasser und Duschgel schafft es nicht, das fettige Schaf-Lanolin zu durchdringen, das meine Arme und Beine überzieht, und ich besuche die Jahresabschlussfeier an Tristrams Schule mit einem Odeur, das die frisch frisierte Dame an meiner Seite dazu veranlasst, im feuchten Festzelt zwei Plätze weiter zu rücken.

Dennoch – wie Penny und ich einander zu sagen pflegen: »Es ist eine Erfahrung, oder nicht?« Wenigstens die Landwirtschaft läuft gut. Außer den sechzehn Hektar in Trelandon haben wir weiterhin zwölf Hektar drüben im Golden Valley gepachtet. Insgesamt sind es etwa zwanzig Hektar weniger, als wir brauchen, aber wir haben das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Im märchenhaften Leuchten des Mittsommerabends liegen wir bei offenen Fenstern im Wohnwagen und lauschen der wiegenliedleisen Stille des Escley fünfhundert Meter weiter unten im Talgrund. »Es ist zauberhaft hier«, flüstert Penny mir zu, über die beiden Kinder hinweg, die sich schlafend zwischen uns quetschen.

Wir erwachen aus unserem Mittsommernachtstraum, weil der Elefant namens Bauernhof erwacht. Wir haben versucht, das zerfallene, fünfzig Meter lange Gebäude zu ignorieren, aber wir haben für seine Renovierung einen 150000-Pfund-Kredit aufgenommen. Der Kredit läuft nur für ein Jahr. Dieses Jahr beginnt am ersten Juli. Ein örtlicher Bauunternehmer schwört, er wolle den Auftrag, arbeitet einen Tag lang und erklärt dann, es seien »zu schwierige Ebenen«, bevor er sich in Bergluft auflöst. Penny treibt einen anderen auf, der sich aus Mitleid mit einer im Wohnwagen lebenden Familie bereit erklärt, seine Arbeitsplanung umzustellen und die Renovierung für uns zu übernehmen.

Bob Higgs ist, natürlich, überall als »Bob der Baumeister« bekannt, ein Scherz, den er mit dem Spielzeugbob würdigt, der hinter der Windschutzscheibe seines baustellen-obligatorischen weißen Ford Transit sitzt. Kann er es richten? Ja, kann er. Leider zeigt sich, dass Bob es nur langsam richten kann. Bob ist Handwerker. Wo Bob auch hingeht, es zieht eine Lobeswolke aus »Bob macht wunderbare Maurerarbeiten, wirklich« hinter ihm her. Wir brauchen keinen Kunsthandwerker, wir brauchen einen Arbeiter. Außerdem brauchen wir eine Armee von Leuten.

Ein wunderbarer Mensch allerdings, dieser Bob, genau wie sein Sohn Martin, der einst im Sold des Fußballclubs Cheltenham Town stand, bis Pfeiffersches Drüsenfieber dazwischenkam. »Das ist echt ein Jammer, oder?«, sagt Bob in regelmäßigen Abständen, wozu Mart wortlos das Gesicht verzieht. Neben Bob und Mart ist da noch Mike. Mike ist kein Bauarbeiter. Mike ist ein ehemaliger Heizungsmonteur und Marts Freund. Mike wird während der Arbeit ausgebildet.

Es gibt einen Noir-Roman von Jim Thompson, einem amerikanischen Trash-Schriftsteller der 1950er-Jahre, der ungefähr mit folgenden Worten beginnt: »Der Tag fing gut an, ich hätte also wissen müssen, dass er böse enden würde.« Schon vor langer Zeit habe ich das zu meinem persönlichen Motto erkoren, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ich vergessen, es auf die Renovierung des Hauses anzuwenden.

Zwei Monate lang lief die Arbeit wie geschmiert, während Bob, Mart und Mike schufteten wie mittelalterliche Kohleschürfer; sie hoben einen Unterbau für den alten Wohnraum aus und errichteten Wände aus Betonschalsteinen um die Grundfläche der unteren Scheune und der beiden angrenzenden Schafställe. Mit dem Aufblühen der Astern in dem überwucherten Garten hinter dem Haus keimten auch die ersten Knospen der Katastrophe. »Ich glaube, ich mache mich an die Maurerarbeiten für den Kaminsims«, sagte Bob eines Tages. »Gute Idee, Bob«, sagten wir, denn wir wussten wenig über Bob und nichts über das Bauen, und so verbrachte Bob Tage damit, den Kaminsims im Innenraum zu verfugen, bis er tatsächlich wunderbar aussah. »Wunderbare Maurerarbeit, Bob«, sagten wir.

»Wunderbare Maurerarbeit«, sagt David Morris, der von der Bank für die Bauaufsicht eingesetzte Architekt, ein paar Tage später. Schlicht gesagt ist es David Morris’ Rolle, dafür zu sorgen, dass die Bank für die beträchtlichen Geldbeträge, die sie in unsere Richtung schaufelt, einen Gegenwert bekommt. Die Faustregel ist, dass X (die in einem Monat geleistete Menge an Arbeit) plus Y (das im fraglichen Monat verwendete Material) den Wert der Immobilie um Z erhöht. Wenn alles gut geht, zahlt die Bank X+Y.

David Morris steht dünn und blond in der Düsternis des Wohnraums, hält einen Stapel Zeitpläne und Rechnungen in der Hand und sieht verwirrenderweise aus wie König Eduard der Bekenner. »Aber«, sagt er und schaut auf zu der wunderbaren Maurerarbeit, »was haben sie außerdem gemacht?« Penny und ich treten von einem Bein aufs andere, während ich etwas über viel unsichtbare Arbeit murmle, wie das Umlagern von Baustoffen an praktischere Plätze. David Morris ist eindeutig nicht überzeugt, zeichnet die Arbeit aber trotzdem ab. Die Preise für Häuser schießen so prachtvoll in die Höhe, dass die Freigiebigkeit der Kreditgeber durch den Wert der Immobilie mehr als abgesichert ist. Bevor er in sein BMW-Z3-Coupé steigt, fühlt sich David Morris verpflichtet, uns zu warnen: »Die arbeiten zu langsam, und Mauerarbeit ist in diesem Stadium allenfalls kosmetisch.«

»Was sollen wir machen?«, frage ich. »Neue Bauarbeiter engagieren?«

»Sie sollten nicht mitten im Rennen die Pferde wechseln. Sie müssen Bob dazu bringen, effizienter zu arbeiten.«

Das ist leichter gesagt als getan, vor allem, als Desmond Buckley, der Schreiner, auf der Baustelle eintrifft. Wir haben schon einen anderen Schreiner ausprobiert, Simon Roberts, gegen den ich nur deshalb eine irrationale Abneigung entwickelte, weil er eine Künstlermappe über der Schulter trug. Bob mochte ihn auch nicht besonders. Seine Gefühle wurde erwidert. Als Bob und Simon auf dem Hof eine Schlägerei anfingen, musste Simon gehen.

Bob war nicht sonderlich erfreut, als er hörte, dass Desmond Buckley der einzige Ersatzschreiner sei, den Penny beim Durchkämmen der Gelben Seiten habe auftreiben können. »Ich habe schon einmal mit ihm zusammengearbeitet, und er hielt sich für den verdammten Chef«, sagte Bob, bevor er sich wieder irgendwelchen Maurerarbeiten widmete.

Eine giftige Schlingpflanze aus Schwierigkeiten hatte gerade den ersten Trieb aus der Erde geschoben. Schon zwei Tage später erklärte ich Penny, dass Desmond gehen müsse. Ich hatte ihn gebeten, einen Balken anzuschrägen. Er weigerte sich, über Kopf zu arbeiten: »Dieses ganze Sich-Hochstrecken und der Staub, das wäre ein verdammter Albtraum.«

Penny war weniger überzeugt von meiner Finger-am-Abzug-Strategie, Leute zu feuern. »Wenn wir jetzt keinen Schreiner haben, steht die ganze Baustelle still.«

Also blieb Desmond und erweiterte sein Team sogar. Ein Hippie mit Pferdeschwanz, Dick, wurde Desmonds Stellvertreter. Ihr einziger Untergebener war Kurt. Kurt der Rotgesichtige war Desmonds Neffe. Außerdem war er der Sohn eines Schweinezüchters, ohne irgendeine Erfahrung im Schreinern.

Mehr Helfer machten die Arbeit nicht leichter oder schneller. Sie verdreifachten nur die Lohnrechnung.

Innerhalb von einer Woche war Desmond aufrichtig davon überzeugt, dass wir ihn als Projektmanager angeheuert hätten. Durch seine schiere hyperaktive Allgegenwart überzeugte er auch alle anderen davon. Als ich eines Nachmittags nach Hause komme, bemerke ich, dass eine Giebelseite mit Blech verkleidet worden ist. Ich spüre Bob anhand seiner Spur aus feuchtem Mörtel auf und frage ihn: »Bob, warum um Himmels willen hast du die Giebelwand mit Blech verkleidet?«

»Desmond hat gesagt, ich soll es so machen«, sagt er, bevor er sich wieder seinen Maurerarbeiten zuwendet.

Ich spüre Desmond anhand seines manischen Lachens auf dem Dach auf und frage ihn: »Desmond, warum um Himmels willen hast du Bob gesagt, er solle die Giebelwand mit Blech verkleiden?«

»Ich dachte, das würde gut aussehen«, antwortet Desmond, sichtlich beleidigt angesichts meiner Kühnheit, seine Entscheidung infrage zu stellen.

»Die verdammte Baugenehmigung sagt eindeutig, sie soll mit Holz verschalt werden! Genau wie die verdammten Pläne!«, schreie ich.

»Pff! Baugenehmigung. Ich finde, darum sollte man sich echt keine Gedanken machen …«, sagt Desmond und geht schmollend hinüber zu seinen Freunden. Ich steige die Gerüstleiter hinunter, zornentbrannt. Bob kommt herüber, um zu sehen, was der Krach zu bedeuten hat. Ich erkläre es ihm. Bob sagt kopfschüttelnd: »Ich weiß nicht, wie Desmonds Frau es mit ihm aushält.«

Wie sich zeigen sollte, hielt sie es nicht aus. Eine Woche später verließ sie ihn.

Desmond fängt an, seinen Schäferhund mit auf die Baustelle zu bringen. Wir bitten ihn, das nicht zu tun, weil er unsere Hunde anknurrt – Hatty, einen altersschwachen Golden Labrador, und Sniffy, Fredas Mini-Jack-Russell mit dem perfekt herzförmigen braunen Fleck. »Bodger könnte keiner Fliege etwas zuleide tun«, sagt Desmond mit lächelnder Überzeugung.

An einem Tag im März sitzen Bob, Mart und Mike in ihrem Lieferwagen beim Mittagessen. Sniffy gesellt sich zu ihnen, wie es seine Gewohnheit ist, setzt sich ins Gras und nagt an einem Kaninchen. Bodger trabt herbei, fällt über Sniffy her und nimmt sich das Kaninchen. Der Angriff ist so ernst, dass die Rechnung des Tierarztes, der Sniffy zusammenflickt, über tausend Pfund beträgt. Ein paar Tage später bringe ich das Thema bei Desmond zur Sprache. »Kann nicht Bodger gewesen sein«, sagt Desmond, »er würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Muss ein anderer Hund gewesen sein, der aussah wie Bodger …«

Schließlich einigen wir uns darauf, dass der schuldlose Bodger durchgehend in Desmonds Lieferwagen eingesperrt bleibt.

Ich schlage Penny noch einmal vor, Desmond zu entlassen. Sie antwortet: »Wir werden keinen anderen Schreiner finden, und die Baustelle wird stillstehen.«

»Es geht so langsam voran, dass sie fast stillsteht.«

»Wenn die Bauarbeiten aufhören, gibt David Morris kein Geld mehr frei.«

Und das ist der Haken. Wenn die Arbeit endet, endet auch das Geld. Es gibt eine weitere bittere Wahrheit, die wir bisher niemandem zu offenbaren gewagt haben, nämlich, dass wir selbst Liquiditätsprobleme haben. Ich kann kaum arbeiten, weil mich die Bauarbeiten und die Entbehrungen des Wohnwagenlebens auf einem Berghang so überwältigen. Zum Teufel, ich kann kaum schlafen.

In diesem Stadium, Ende März, hole ich mir Erfrierungen. Nachdem ich einen trostlosen Nachmittag in Regen und Wind damit verbracht habe, zwei Schafen beim Lammen beizustehen, lasse ich das Gummistiefel-Ausziehen weg und zwinge mich dazu, acht Stunden im ungeheizten »Bürowohnwagen« am Computer zu verbringen, dem kaputten Zwei-Kojen-Gehäuse, das wir gerade gekauft haben, weil es als zu schlecht für sporadische Obstpflücker ausgemustert wurde. Am nächsten Tag spüre ich vage eine Taubheit in meinen Zehen. Eine Woche später ist mein rechter kleiner Zeh schwarz angelaufen, und mein Fuß ist so stark geschwollen, dass ich keinen Schuh anziehen kann. Penny sagt, ich solle zum Arzt gehen; ich sage ihr, das Problem werde vorübergehen. Durch reinen, unverfälschten Zufall lese ich in der Times – nicht meine übliche Zeitung – von jemandem, der sich über eine Wunde am Fuß eine Blutvergiftung holte. Die beschriebenen Symptome entsprechen meinen in alarmierendem Ausmaß, inklusive der schaudernden Schmerzen. Meine Hausärztin, Annette Wissler in Ewyas Harold, verschreibt mir die üblichen Antibiotika. Eine Stunde nachdem ich wieder zu Hause bin, ruft Annette Wissler – Gott segne sie – an und sagt: »Bei näherem Nachdenken glaube ich, ich sollte Sie ins Bezirkskrankenhaus überweisen.«

Am nächsten Tag wirft der diensthabende Arzt, ein MrTippin, einen Blick auf meinen Fuß, formt ein lautloses »O« mit seinen Lippen und sagt ausdruckslos: »Wir müssen ein Bett für Sie finden.«

»Sind Sie sicher?«, frage ich.

»Nun, sagen wir es mal so«, antwortet er, »wenn wir nicht sofort anfangen, an Ihrem Fuß zu arbeiten, werden einzelne Stücke davon abfallen.« Soweit MrTippin feststellen kann, hatte die kleine Stelle, an der die Erfrierung eiterte, irgendeinem schrecklichen Organismus – auf einem Bauernhof mit Nutztieren nichts Ungewöhnliches – erlaubt, in meinen Blutkreislauf einzudringen. Er zeichnet eine gestrichelte Linie auf meinen Fuß. »Wenn die Infektion über diese Grenze hinaus fortschreitet, werden wir tatsächlich amputieren müssen.«

Meine Reaktion darauf ist äußerliche Heiterkeit, das rührende Markenzeichen der englischen Mittelschicht in Notsituationen: »Oh prima, das könnte Schuhe sparen«, sage ich.

Glücklicherweise macht eine Spritze von der Größe einer Fahrradpumpe, die mich alle vier Stunden mit Antibiotika vollpumpt, die Amputation unnötig. Nach vier Tagen Behandlung ist die Gefahr vorüber, aber ich soll noch »zur Beobachtung« bleiben. Wie Penny sofort anmerkt, ist dies ein ziemlich bequemes Nest; sämtliche Mahlzeiten werden serviert, man hat nichts zu tun, außer zu lesen, Radio zu hören und Filme auf Sky TV anzusehen. »Ich möchte auch versorgt werden«, sagt Penny, als sie mich eines Nachmittags besucht. »Ich möchte auch eine Runde in einem warmen Krankenhausbett.«

Ehrlich gesagt bin ich überhaupt nicht erpicht darauf, zur Mühsal der Bauarbeiten zurückzukehren, aber nach einer Woche wirft mich das Krankenhaus hinaus. In meiner Abwesenheit hat sich nichts gebessert. Alles ist immer noch im freien Fall. David Morris gibt weiterhin das Geld frei, aber er schickt der Bank auch Warnmeldungen, was die Baufortschritte angeht. Oder genauer: deren Nichtexistenz.

Bodger, der in Desmonds Lieferwagen sein sollte, hat sich bei den Schreinern auf dem Gerüst eingerichtet. »Lieber den Spatz in der Hand als die Handwerker auf dem Dach«, murmele ich säuerlich.

Mart fragt jeden Tag: »Wünschen Sie sich nicht, Sie hätten das hier niemals angefangen?« Dann weist er hilfsbereit darauf hin, dass in unser Haus acht andere hineinpassen würden. Ich kenne sein Haus, eine niegelnagelneue, zugluftfreie, voll ausgestattete Doppelhaushälfte. Mart der Glückliche.

»Aber schöner Ort hier«, fügt Mart hinzu.

Und das ist es, was alle sagen, vom Paketboten bis zu dem Statiker, den wir per Notruf herbeizitieren, damit er die Dicke der Doppel-T-Träger für das Obergeschoss berechnet, als klar wird, dass die alten Eichenbalken das moderne Gewicht von Bett, Bad und Kleiderschrank nicht tragen können. Außerdem leiten alle ihre Bemerkungen zur Schönheit der Umgebung mit hochgezogenen Augenbrauen und einem ironischen Blick auf das Haus ein – und mit den Worten: »Haben Sie schon mal diese Sendung über Bauprojekte gesehen, Grand Designs?« Nein, erklären wir fröhlich, wir hätten keinen Fernseher. Wir seien verrückt genug, dies hier ohne äußere Einflüsse zu tun.

Haben Sie schon mal Grand Designs gesehen?

Aber schöner Ort hier.

Haben Sie schon mal Grand Designs gesehen?

Aber schöner Ort hier.

Haben Sie schon mal Grand Designs gesehen?

Aber schöner Ort hier.

H-h-h-i-i-i-l-l-l-f-f-f-e-e-e!

Im Juli ertrage ich es nicht mehr. Ich habe Selbstmordfantasien, in denen ich mich in den Escley stürze, in perfekter Kreuzigungspose. Der Hauch von lächerlichem Märtyrertum ist mir bewusst, aber die zäh an mir klebende Depression ist ganz real. Genau wie die Mattigkeit, die mich umfängt. Ein Besuch von Jimmy, dem Altmetallhändler, erweist sich als Katalysator für einen seltenen Moment der Energie und Entschlusskraft. Sechs Monate zuvor hatte ich mit Jimmy abgemacht, er könne die Wellblechplatten von den Scheunendächern kaufen. Er ist gekommen, um sie zu holen. Jimmy steht auf dem Hof und schüttelt den Kopf. »Verdammte Scheiße, ich hatte gedacht, Sie wären inzwischen mit dem ganzen Ding fertig.« Das meiste Wellblech ist immer noch auf den Dächern.

Ich rufe zwei Makler an und bitte sie, Bewertungen abzugeben. Unabhängig voneinander schätzen sie die Immobilie auf 600000 Pfund, in ihrem aktuellen jämmerlichen, zu einem Drittel fertigen Zustand. »Wir könnten aussteigen«, sage ich zu Penny, »und hätten keinen Verlust gemacht.«

Aus Gründen, die mir selbst heute noch nicht vollkommen klar sind, stiegen wir nicht aus. Wahrscheinlich waren wir zu entnervt und es war einfacher, alles weiterlaufen zu lassen. Außerdem ist es ein schöner Ort.

Ende Juli wird es ernst, als die Baugenehmigung wegen der schlecht entworfenen Pläne des Architekten verfällt und die Kreditgeber, die keine Korrelation zwischen dem vorgestreckten Geld und den geleisteten Bauarbeiten sehen, sich weigern, weiteres Geld freizugeben. Wir weinen uns an der Schulter unseres Freundes Niall Robertson aus, zu dessen beschämend vielfältigen Talenten es gehört, dass er Projektentwickler ist. »Auf Biegen und Brechen, und wahrscheinlich vor allem Letzteres«, sagt Niall mit einem deutlichen Lächeln hinter seinem Bart, »wir werden das regeln.«

Das tun wir. Um die Pläne »aufzubauschen«, fügt Niall noch ein Schlafzimmer mit Bad hinzu. Der Bank gefällt das so gut, dass sie weitere 50000 Pfund freigibt. Außerdem entwirft Niall die problematischen Fenster im Obergeschoss neu, als Schleppdachgauben, und besorgt eine rückwirkende Baugenehmigung dafür. Obwohl die Bauarbeiten nicht innerhalb eines Jahres fertig werden, ist genug geschehen, um einen Kredit zu besorgen, mit dem sich das Baudarlehen ablösen lässt. Und wir haben schon acht Räume fertig: verglichen mit einem Wohnwagen ein Palast.

Selbst wenn wir mehr Geld besorgen könnten, damit mehr gearbeitet würde, brauchen wir eine Pause, ohne Bauarbeiter und Schreiner. Wir zahlen sie aus, und als die Schreiner den Fahrweg hinauf entschwinden, merke ich, dass ihre teuren handgefertigten Fenster Wasser durchlassen. Soll ich sie damit konfrontieren? Einen Anwalt einschalten? Ich tue keins von beidem. Mir fehlt die Energie dafür.

Obwohl die Bauarbeiten stillstanden, schlitterten wir weiter in Richtung finanziellen Ruin. Ich hatte seit zwei Jahren nur halb gearbeitet und den Bauernhof vollkommen verlottern lassen. Meine Kreditkarte war am Limit. Den Dispokredit bei der Bank hatten wir ausgeschöpft. (Jeder von uns.) Ich hatte mir angewöhnt, den Kindern Schuldscheine auszustellen, weil sie in ihren Spardosen mehr Geld hatten als ich. Das Einkaufen beschränkte sich auf Supermärkte, die noch Schecks annahmen. »Ja klar«, sagte ich zu Penny, »ein geplatzter Scheck kostet fünfundzwanzig Pfund, aber wir brauchen trotzdem jetzt etwas zu essen, oder nicht?« Dass wir den absoluten Tiefpunkt erreicht hatten, wurde mir an dem Tag bewusst, an dem ich erst das Haus nach Kleingeld durchsucht hatte und dann im Supermarkt hinter jugendlichen polnischen Obstpflückern Schlange stand, um den Münzwechselautomaten zu benutzen. Ich warf mein gesammeltes Kleingeld hinein, und ein Gutschein über 5,51Pfund kam heraus, einlösbar am Kundendienstschalter.

Cheryl, die Kundenberaterin, versuchte, mich nicht zu bemitleiden, als sie mir das Bargeld reichte. Aber ihr Lächeln verriet sie: Es war zu breit.

Wir mussten Geld auftreiben, und wir mussten unsere Ausgaben senken. Unsere Kreditraten würden Brasilien zum Heulen bringen.

Über diese Probleme grübele ich Mitte September 2006 nach, während ich auf unserem Land herumlaufe. Am waldigen Ufer des Escley erreiche ich eine Lichtung und schaue ins Wasser, wo eine Forelle in Deckung schießt. Champignons wachsen im Gras und in der Hecke der Uferwiese, wo sie am Escley endet, Grauhörnchen fressen Haselnüsse, Weißdornbeeren glänzen lippenstiftrot vor dem blauen Himmel, und Brombeerranken hängen herab. Eine Ringeltaube gurrt im Steinbruch jenseits des Flusses Ku-kuu. Wäre es nicht wunderbar, dachte ich, wenn ich einfach von dem leben könnte, was die Natur kostenlos liefert?

Wäre das nicht wunderbar?

Der Gedanke wird zur fixen Idee. Nach ungefähr einer Woche erzähle ich Penny davon, während sie Teppichboden für den langen Flur zuschneidet. Sie hört auf, den weißen Teppich mit dem Teppichmesser durchzuritzen, und sagt apodiktisch: »Das bist so sehr du.«

»Das heißt?«

»Das bist so sehr du. Du weißt schon: Weil du bei den jungen Ornithologen mitgemacht hast, weil du jagst, weil du ungern drinnen bist, weil du dich gerne herausforderst – und das tust du auch. Nur weil ich damals mit Scheidung gedroht habe, bist du nicht abgereist, um Kriegsberichterstatter zu werden.« Sie ritzt wieder an dem widerspenstigen Gewebe herum. »Aber du wirst die Kinder nie dazu bekommen, mitzumachen, und ich habe nicht deinen gusseisernen Magen. Außerdem bin ich Vegetarierin. Da draußen gibt es nicht genug Gemüse für mich. Aber für dich – für dich könnte es gut sein.«

»Ich denke noch ein bisschen darüber nach«, sage ich.

Das tue ich. Ein primitiver Jäger und Sammler brauchte vierzig Hektar, um eine Familie zu ernähren. Dann könnte ich doch sicher von sechzehn Hektar leben? Außerdem fange ich an, die Beweggründe zu zerlegen, aus denen ich das Ganze machen möchte, denn es geht nicht nur um Geld. Da ist noch etwas anderes. Etwas, das mit meiner Erschöpfung zu tun hat; sie ist so groß, dass sich jede Faser meines Wesens anfühlt wie eine der Luft ausgesetzte Zahnwurzel. Könnte ich mich wieder zusammenfügen, indem ich mich und die Erde zusammenfüge? Insbesondere diese rote Erde, diese frisch erworbenen sechzehn Hektar am hintersten Ende Englands?

Der Gedanke, von der Wildnis zu leben, verfestigt sich bei einem Besuch im Londoner Restaurant Rules, wo wir Tris’ großartige Leistung feiern: Er hat ein Stipendium für die Oberschule erhalten.

Vor langer Zeit, in den schultergepolsterten, Perrier trinkenden 1990ern, als freier Mitarbeiter einer schicken Zeitschriftenredaktion in Covent Garden, wurde ich bei seltenen Gelegenheiten von der Literaturredakteurin zum Mittagessen eingeladen; ihr Lunchkompass zeigte unweigerlich in gerader Linie auf ein unterirdisches Bistro, das Nouvelle Cuisine servierte. Die Kargheit des Essens – ein Ein-Ton-Akkord aus kalter Roulade mit einer exotischen Fruchtscheibe –, die Grässlichkeit des Weins (außereuropäischer Pinot Grigio, immer), die Schwierigkeit, jene Art witziger intellektueller Konversation zu betreiben, die weitere Aufträge nach sich ziehen würde, gepaart mit der furchteinflößenden Gegenwart der berühmten Journalistin Lynn Barber (die, jedenfalls in meiner Erinnerung, permanent in der rauchdurchwölkten Dunkelheit Hof hielt), machten diese Anlässe trübselig hoch x. Sie wurden noch durch die Tatsache verschlimmert, dass wir auf unserem Weg vom Büro zum Bistro am Restaurant Rules in der Maiden Lane vorbeikamen, durch dessen Fenster ich luxuriöse rot gepolsterte Bänke, große Flaschen Clairet und herzhafte Typen beim Genießen von herzhaftem Essen sehen konnte. Vor meinem geistigen Auge begann das Rules für jenes sinnenfreudige, fleischessende, bequeme Leben zu stehen, das ich wollte – im Gegensatz zu der schalen, Filofax-schwingenden, politisch korrekten Existenz, die ich führte. Obwohl ich die Schwelle des Rules niemals überschritten hatte, muss ich ein Jahrzehnt lang wie besessen von dem Lokal geschwärmt haben, weil Tris auf die Frage »Wo möchtest du zur Feier des Tages essen gehen?« antwortete: »Ins Rules.«

Glücklicherweise fiel Tris’ Wunsch nach einer feudalen Mahlzeit in Londons ältestem Restaurant (es wurde 1798 von Thomas Rule gegründet) zeitlich mit einem unerwartet guten, inhaltlich passenden Honorar für die amerikanische Ausgabe einer Anthologie über Vaterschaft zusammen, die ich herausgegeben hatte. Rules in Fleisch und Blut war so gut wie Rules in meinen Träumen. Die Innendekoration ist das, was der Dichter John Betjeman die »graduelle Akkumulation« von Jahrhunderten genannt hat. Sämtliche Wände sind dicht mit Porträts, Gemälden, Büsten, ausgestopften Tieren und sanftem Lampenlicht bedeckt, auf dem Boden ein Teppich mit geschwungenen Mustern in Gold auf Rot. Weiße Tischdecken schwappen schwer gegen die Oberschenkel, die Kellner und Kellnerinnen schreiten leichtfüßig vorbei. Der ganze Ort hat eine sinnliche, angenehm schuldbewusste Atmosphäre. Kein Wunder, dass Edward VII. Lillie Langtry hierher ausführte.

Dann ist da noch das Essen. Das Rules kocht nicht nur herzhaft-englisch, es ist auf heißblütiges Wild spezialisiert. Während ich in dem Dunst aus Clairet-verklärtem Luxus und Familienglück sitze, gesättigt von einer Vorspeisensuppe aus Wildpilzen und einem Hauptgericht aus Stockente, lese ich einen Hinweis, der besagt, dass ein Großteil des servierten Wilds aus dem eigenen Jagdgut des Restaurants stamme, Lartington in den High Pennines, »der letzten Wildnis Englands«.

Gegen Ende der Mahlzeit habe ich dem Besuch im Rules die Rolle einer schicksalhaften Initiation für meinen Wunsch, wild auf dem Land zu leben, zugeschrieben.

»Ihr kennt meine Idee, von der Natur zu leben?«, verkünde ich dem Tisch in angemessen feierlichem Ton. »Ich werde es tun. Nur für ein Jahr.«

Tris und Freda ziehen die Augenbrauen hoch. »Klar, okay, Dad«, verkünden sie in unheilvollem Gleichklang.

Penny hält kurz inne, dann schaut sie mir in die Augen und sagt: »Das bist so sehr du.«

Warum habe ich das Gefühl, dass sie besser versteht als ich, warum ich das tun muss?

»Du darfst aber nicht den Tiefkühlschrank benutzen«, fügt sie hinzu.

»Warum nicht?«

»Na ja, das Essen entspricht nicht mehr der Jahreszeit, wenn du es einfrierst. Es ist nicht natürlich. Sauer einmachen wäre natürlich, weil es einen natürlichen Vorgang nutzt. Vom Tiefkühlen kann man das nicht behaupten.«

»Stimmt.«

Als wir zum Bonington Hotel in Bloomsbury zurückgehen, steht ein gestrandeter Landrover Serie III auf dem orangefarbenen Gehweg, mit offener Tür, während sein Besitzer eilig einen Koffer auf den Beifahrersitz lädt. An der Heckscheibe des Landrovers klebt die Plakette einer Jagdvereinigung, der British Association for Shooting und Conservation, mit dem Bild eines Fasanenkopfs. Nur auf dieses Vorzeichen hin beschließe ich, mein Jahr des wilden Essens am ersten Oktober zu beginnen, dem Start der Fasanensaison.

HERBST

Eine Schwalbe macht vielleicht noch keinen Sommer, aber die Abreise der Mehlschwalben bedeutet mit Sicherheit, dass der Sommer zu Ende ist. Im ersten Morgenlicht sehe ich eine letzte umherschweifende Mehlschwalbe auf dem Weg nach Süden, durch den Netzvorhang aus Nebel im Tal. Unsere Mehlschwalben haben sich schon vor einer Woche aufgemacht, die Rauchschwalben, die ihre Lehmnester im zerfallenen Nebengebäude gebaut haben, noch eine Woche früher. Die Mauersegler sind schon lange weg. Die Natur ist in Bewegung; Gruppen von Finken und Ammern fliegen plappernd über uns hinweg, ihre Flugrouten spiegeln die eines Passagierflugzeuges über ihnen im Weiß.

Außer dem Tinnitus hoch fliegender Maschinen ist nichts außer Vogelgesang zu hören. Ein Rabe krächzt geistesabwesend unten in der Tanne am Fluss, wo er nistet. Ich höre Amseln und Dohlen, Singdrosseln auch, aber nicht den einen Vogel, den ich am dringendsten hören möchte. Den ganzen Sommer lang hat mich ein alter Fasanenhahn mit seinen Kock-kock-Rufen verhöhnt. Jetzt, am ersten Oktober, ist er Freiwild. Edith, mein schwarzer Labrador, trabt zu meiner Linken. Allerdings ist sie nicht ganz mein Hund: Seit ihrer Teenager-Schwangerschaft im Frühling ist Edith ihr eigener Hund, mehr um ihre Welpen besorgt als um ihre Dienste für mich. Der ganze mühselige Prozess, sie zu einem Jagdhund zu machen, muss von Neuem beginnen. Während wir hinunter zum Wäldchen gehen, vorbei an den flammenden Herbsthecken der Pferdekoppel und der Sumpfweide, finde ich ein wenig Trost in ihrer überschwänglichen Schleck-schleck-Persönlichkeit, denn eine alte Redensart sagt, langweilige Leute haben langweilige Hunde. Ich muss sehr amüsant sein, wenn ich einen so interessanten Hund habe.

Als wir die Wäldchenwiese erreichen, teilt sich der Nebel plötzlich, die Sonne fängt sich in den Tautropfen an den langen Grasbüscheln, und einen Moment lang, bis sich der Nebel wieder um uns schließt, stehe ich in einem strahlenden Diamantenfeld. Dieser wunderbare Anblick gleicht beinahe die Tatsache aus, dass von dem Fasan kein Fitzelchen und keine Feder zu finden ist, obwohl wir jeden bewaldeten Winkel absuchen. Vielleicht hat der Fasan durch irgendeinen fantastischen inneren Kalender erkannt, dass die Jagdsaison begonnen hat, und sich aus dem Staub gemacht. Oder, etwas wahrscheinlicher, ein glücklicher Fuchs war schneller als ich. Warum auch immer – der alte Fasanenhahn mit seinem auffallenden kragenlosen Hals taucht nie wieder bei uns auf. Sämtliche Fasane, die ich in den nächsten Monaten sehe, sind viel jünger. Manche könnten seine Kinder sein, aber die meisten sind Zuwanderer aus Fasanenjagden in anderen Tälern. Von Hand aufgezogen und dann zu Jagdzwecken ausgesetzt, sind diese Vögel so zahm, dass sie stillhalten, um sich erschießen zu lassen.

Und genau das geschieht heute Nachmittag, als der Nebel sich verzogen hat und die Sonne heiß genug ist für Hemdsärmel und Schmeißfliegen. Ich stehe auf dem Hof und schaue nach den Hunden hinunter zu den unteren Wiesen, als eine blasse Fasanenhenne langsam über meinen Kopf hinweg zur Hauswiese gleitet und vor meinen Augen leise in die Hecke trippelt. Normalerweise nimmt man für die Fasanenjagd eine Schrotflinte, aber da ich mein 5,5-mm-Weihrauch-Luftgewehr in der Hand halte und der Vogel eindeutig keine Angst vor Menschen hat, wage ich es, so nahe heranzugehen, dass ich ihm in den Kopf schießen kann. Anschleichen ist eigentlich unnötig. Ich gehe die Hecke entlang bis zu der Stelle, an der die Henne hin- und herhuscht; sie sieht mich und duckt sich, ich stecke den Gewehrlauf durch das dunkle Gewirr aus Weißdornstämmen, bis sein Ende neben ihrem gelben Auge liegt, dann drücke ich ab. Während sie im Todesflattern zuckt, wird mir plötzlich der intensive Duft säuerlicher Herbstbeeren bewusst, der in der Luft hängt.

Das Töten macht mir zwar keinen Spaß, aber ich weiß, dass es sich – wenn man die Rührseligkeit des 21.Jahrhunderts hinter sich lässt – richtig anfühlt, eine Waffe in der Hand und totes Fleisch vor den Füßen zu haben. Eine atavistische männliche Aufgabe ist erfüllt: Der Höhlenmensch hat ein Mammut für den Stamm erlegt. Und ich weiß noch etwas: Ein Wildtier zu töten hat etwas befreiend Ehrliches, weil man die Verantwortung für den Tod nicht an anonyme Arbeiter im Schlachthof delegiert. Wenn man eine Schusswaffe in der Hand hält, sind all die ethischen Aspekte des Fleischessens präsent, in einem einzigen, intimen, puren Moment, und lassen sich nicht ignorieren.

Seit heute Morgen lebe ich von einem Nahrungsmittel, von dem ich Vorräte angelegt habe. Weil ich abergläubisch dem alten ländlichen Brauch folge, Brombeeren niemals nach Michaeli (29.September) zu pflücken, weil man sonst den gestürzten Luzifer in den Brombeerbüschen findet, habe ich in einem leeren Wäscheschrank in der Diele Töpfe und Tüten, Schüsseln und Schachteln voller Brombeeren gestapelt. Ein paar habe ich zu Sirup verkocht, ein paar habe ich roh gegessen und ein paar habe ich in Brombeergelee verwandelt, mithilfe des gusseisernen Marmeladenkessels meiner Mutter, der sein Leben sicherlich als Requisite für die Hexen aus Macbeth begonnen hat. Beim Geleekochen habe ich Honig statt Zucker verwendet; weil in der Scheunenwand keine wilden Honigbienen mehr nisten, habe ich einen Vorrat eingekauft. Außerdem habe ich mir eine weitere Zutat von außerhalb erlaubt. Salz.

Mein Bauch tut zu weh für eine raffinierte Zubereitung des Fasans; ich zwicke Beine und Flügel mit einer Gartenschere ab, nehme den noch gefiederten Vogel aus, mache dann einen kleinen Einschnitt unterhalb des Kropfs, stecke die Finger hinein und ziehe die Haut über die Schultern und das Hinterteil hinweg ab, bis das Fleisch mit seinen gelblichen Fettstreifen freiliegt. Dann schneide ich den Hals durch.