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In "Mein kleiner Chinese: Ein China-Roman" entführt Alma M. Karlin die Leser auf eine lebendige Reise durch die kulturellen, sozialen und politischen Facetten Chinas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit ihrem einzigartigen literarischen Stil, der autobiografische Elemente mit fesselnden Erzählungen verknüpft, schafft Karlin ein eindrucksvolles Bild von einem Land im Wandel. Ihre präzisen Beschreibungen und das Gespür für Nuancen laden den Leser ein, tiefer in die Komplexität der chinesischen Kultur einzutauchen, während persönliche Schicksale im Mittelpunkt stehen. Diese Mischung aus Fakt und Fiktion verleiht dem Werk sowohl Authentizität als auch literarische Brillanz, wobei es sich vor einem historischen Hintergrund entfaltet, der von der Kolonialzeit geprägt ist. Alma M. Karlin war nicht nur Schriftstellerin, sondern auch eine bemerkenswerte Reisende und Kulturvermittlerin. Ihre tiefgründige Leidenschaft für Reisen und das Verlangen, die Welt zu verstehen, brachten sie dazu, zahlreiche Länder zu bereisen und unzählige Erfahrungen zu sammeln. Die Inspiration für "Mein kleiner Chinese" rührt sowohl von ihrer eigenen Reisen nach China als auch von ihrem Streben, durch ihre Erlebnisse Brücken zwischen Kulturen zu schlagen. Ihre Autobiografie und ihre philosophischen Überlegungen fließen in die Narrative ein und verleihen dem Buch eine besonders persönliche Note. Dieses Buch ist eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die sich für die Schnittstellen zwischen Kulturen interessieren und einen authentischen Einblick in das Leben in China während dieser lebhaften historischen Periode gewinnen möchten. Karlin gelingt es, sowohl das Besondere als auch das Alltägliche einzufangen, sodass Leser nicht nur unterhalten, sondern auch bereichert werden. Lassen Sie sich von Karlin in eine Welt entführen, die gleichzeitig fremd und vertraut ist. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
East is East, and West is West,
but the two can never meet.
Rudyard Kipling.
I.
Lieber Leser! Da die ganze Geschichte mit der ich dich hier zu langweilen beginne, von meinem kleinen Chinesen und – von mir selbst handelt, wirst du wissen wollen, wo ich zu Hause bin, wie ich heiße, vielleicht sogar wie ich aussehe. Ich komme daher deinen Fragen zuvor und gebe die gewünschten Aufklärungen. Meine Heimat liegt irgendwo zwischen der malerischen Küste der ewig blauen Adria und dem Pommerland. Dort nenne ich ein Stück Land von der Größe eines Schnupftuchs, einen Hund, der nach Aussage böswilliger Zungen eine Kreuzung aller kleineren Hunderassen sein soll und dessen Rute dieselben heimtückischen Verleumder der überraschenden Aehnlichkeit halber mit dem geringelten Schweiferl eines Schweines vergleichen, eine blauäugige Angorakatze, eine Schildkröte, drei Kanarienvögel, die ich sämtlich als Männchen kaufte und die sich unbegreiflicherweise bei mir in Weibchen verwandelten, einen Igel, eine alte Henne und eine Anzahl Küchenschabeneinwanderer mein eigen. Mein Name – lieber Leser erschrecke nicht! – ist Katherina Schulze. Mama nennt mich Ina, weil dies ein wenig aristokratisch klingt, meine Schwester Jenny ruft mich Käthe, doch in vertraulichen Momenten immer nur Kater, wogegen ich mich schon oft energisch aufgehalten habe. Umsonst! Jenny behauptet, daß wir zusammenpassen wie der Schuh zum Stiefelknecht. Meine Verwandten bezeichnen mich als den »verlorenen Sohn«, obschon ich taufscheinlich nachgewiesen eine Tochter bin, und dies einzig und allein, weil ich die oben angeführten Reichtümer schnöde verlassen habe, um in der Fremde an Alter und Weisheit zuzunehmen.
Man sagt: »Jung war der Teufel sauber« und jung war ich natürlich auch einmal, und das ist wohl der einzige Anspruch, den ich auf Schönheit machen konnte. Leser, nun weißt du alles! Wie ich bin und wie es mir erging, wirst du erfahren, wenn du dich bemühen willst, mich auf meiner Reise durch das Reich der Vergangenheit zu begleiten.
Dem Kühnen gehört die Welt, das habe ich mir immer vorgehalten. Wer nicht über die engen Grenzen des ihm ursprünglich eingeräumten Horizonts hinauszudringen versucht, wer nie in die Tiefen des Lebens hinabsteigt, und wer nie die Erde verläßt, um im Geiste höhere und reinere Regionen zu durchschweben, der hat zwar auch gelebt, aber doch nur wie eine Seidenraupe in ihrem Kokon. Leben ist die Erforschung des noch Unbekannten. Das kleine Kind, das zum erstenmal auf allen Vieren um den Tisch kriecht, erforscht die Welt ebenso sorgfältig und bereichert sein Wissen verhältnismäßig ebensosehr, wie der große Gelehrte, der seine Forschungsreise um den größeren Tisch, die Erde, macht. Das Erforschen bringt aber auch oft Gefahren mit sich – so ein auf allen Vieren gemütlich hinkriechender Forscher kann auf eine im Teppich verborgene Schere stoßen, kann seine Händchen und Beinchen in allerlei unliebsame Berührung mit Ecken und Kanten bringen, kann seine Weichteile mit Näh- und Stecknadeln spicken, sich die Stirn gegen manch ein unvorhergesehenes Hindernis schlagen, kann plötzlich durch einen herabfallenden Gegenstand unsanft getroffen, kann sonst noch von unzähligen Abenteuern und Leiden heimgesucht werden, und dem Forscher, der gelernt hat sich seiner zwei Beine statt der ursprünglichen vier Körpervorsprünge oder Auswüchse zu bedienen, ergeht es oft auch nicht um ein Haar besser, mit dem einzigen Unterschied, daß bei ihm nicht nur der Körper, sondern auch noch Geist und Charakter in Mitleidenschaft gezogen werden. Das muß nun freilich in den Kauf genommen werden, denn wie gesagt: Wer nichts wagt, gewinnt nichts.
Ich selber bin das menschgewordene Fragezeichen, wenn es sich um neue Dinge handelt, vorausgesetzt, daß diese nicht die Mode betreffen, denn gegen Erörterungen dieser Art habe ich eine unüberwindliche Abneigung. Diesem Triebe meines Wesens, immer neue Sachen kennenlernen zu wollen, verdanke ich die schönsten und auch die bittersten Stunden meines Lebens, denn wurde ich für meine Bemühungen oft reich belohnt, so blieb mir andrerseits Leid häufig nicht erspart.
In den drei Jahren, während denen ich ähnlich unserem Freund Ahasverus von Ort zu Ort gezogen bin, habe ich vieles Schöne in mich aufgenommen, viele Nationen und Rassen kennengelernt und die Verschiedenheiten ihrer Charaktere und Anschauungen mit großem Interesse studiert. Durch das Geschick begünstigt, dem ich durch meine Beharrlichkeit nachhalf, lernte ich Japaner und Indier kennen, von denen ich viele aufrichtig bewunderte, obschon sie oft sehr – aber sehr – verschieden von uns waren.
Da ich auch Neger mit Lippen wie die einladendsten Frankfurter Würstel kannte, dachte ich mir mit Recht, daß ich alles aufbieten müsse, um auch noch Chinesen in den Kreis meiner Bekannten einzureihen, auf daß diese mit ihrer uralten Kultur mir neue Horizonte eröffnen würden.
Für mich ist ein gefaßter Entschluß auch schon Tat. Nicht zehn Minuten später warf ich einen Brief an den Sekretär eines chinesischen Studentenvereins in den roten Schlund eines einladenden Londoner Briefkastens.
Ich hatte den Sekretär ersucht, die Mitglieder des Vereins zu fragen, ob jemand geneigt wäre, eine moderne Sprache in Austausch für Unterricht im Chinesischen zu lernen. Glücklicherweise hatte ich eine gute Auswahl Sprachen auf dem Lager.
Als ich am folgenden Tage, einem Sonnabend, um zwei Uhr vom Amt heimkehrte, lag ein Brief für mich auf dem Hutständer in der Halle. Ich riß ungestüm den Umschlag auf und hatte die Genugtuung, zu lesen, daß ein gewisser, hochbegabter Chinese namens Hoang-Zo sich zum Tausch bereiterklärte, da er italienisch lernen wollte. »Du bist doch ein ganzer Kerl, Katherina Schulze!« sagte ich mir. »Jetzt hast du sogar einen Chinesen – leider wahrscheinlich nur einen unbezopften, was natürlich den Wert verringert, aber immerhin einen waschechten Chinesen erangelt.« Die Adresse des unvergleichlichen Studiosus lag bei.
Allerdings war ein Wermutstropfen in dem Nektar – der Sekretär redete mich mit »Herr« an, und ich fürchtete nun, daß der angehende Gelehrte mir den Laufpaß geben würde, sobald er sich über mein Geschlecht im klaren war. Hoffend, daß der Einfluß des Westens die angeborene und anerzogene Verachtung der Weiber einigermaßen gemildert hatte, teilte ich ihm nebst meinen Freistunden auch die bedauerliche Tatsache mit, daß mich die Sünden in meiner vorigen Inkarnation dazu verdammt hatten, in der gegenwärtigen als Mädel herumzulaufen, und bat ihn gleichzeitig, von dieser traurigen Verwandlung keine weitere Notiz nehmen, sondern mich ganz als Mann betrachten zu wollen.
Die Antwort ließ nicht auf sich warten – er vergab mir großmütig mein Geschlecht und versprach, mich um drei Uhr nachmittags zum Tee abzuholen. In England ist es Brauch und Sitte, daß ein Herr eine Dame zum Tee einlädt, den er mit ihr in irgendeinem der zahlreichen, oft sehr hübschen Teehäuser, wo möglicherweise sogar die Musik spielt, einnimmt. Aber ich hatte damals noch einige verzopfte Ideen aus der Heimat mit, denen zufolge man nie etwas von einem Mann annehmen darf, wenn er nicht weißes Haar oder eine Frau mit mindestens sechs Kindern, womöglich gar beides hat, und ich wußte mit Bestimmtheit, daß Mr.Hoang-Zo kein weißes Haar hatte. – Die Frau mit den sechs Kindern konnte er nun freilich haben, da man in China oft schon mit 15Jahren heiratet, aber andrerseits konnte ich nicht gut unsre Bekanntschaft mit der heiklen Frage eröffnen:
»Bitte, wie viele Kinder haben Sie schon?«
Zur festgesetzten Stunde klingelte es. Ich öffnete selbst und nicht ohne gehöriges Zähneklappern die Tür, da meine Hausfrau, eine mit Speck und Kindern reich gesegnete Italienerin, immer eine Viertelstunde brauchte, bevor sie aus den unteren Küchenregionen angepustet kam. Vor mir stand ein bartloser junger Mann, etwa einen halben Kopf größer als ich selbst (mich hat der liebe Herrgott sehr kurz zugeschnitten), von blaßgelber Gesichtsfarbe, etwa wie eine im Eintrocknen begriffene Zitrone, die in der Farbennuance zwischen gelb und braun schwankt, mit merkwürdig zwinkernden Augen – eine Folge sehr großer Kurzsichtigkeit–, die mich durch festsitzende Augengläser musternd betrachteten, und über die sich kaum sichtbar schwach gezeichnete Augenbrauen wölbten. Nase hatte er keine, besser gesagt keine vollständige Nase nach europäischen Begriffen, da die beiden geschlitzten Augen nicht durch ein kleines Vorgebirge getrennt, sondern durch eine Tiefebene verbunden waren. Ihm einen Zwicker anzutragen, wäre die bitterste Ironie gewesen. Sein Lächeln dagegen, das zwei Reihen kleiner, schneeweißer Zähne sehen ließ, war äußerst gewinnend, wenn es auch, wie ich später lernte, nur selten aufrichtig gemeint war.
»Mister Hoang-Zo?« sagte ich, indem ich die Tür hinter mir ins Schloß fallen ließ.
Er verbeugte sich leicht und nannte meinen Namen. Seite an Seite schritten wir dahin, und ich kam zu der Ueberzeugung, daß Chinesen nicht so sehr verschieden von anderen Sterblichen waren, besonders wenn sie in europäischer Kleidung waren und keinen Zopf trugen.
In Russell Square fanden wir eine Teestube und saßen bald gemütlich, von Kuchen umgeben, in einer Ecke, während vor uns der Tee aus der braunen Kanne dampfte. Eigentlich war es meine Aufgabe als Dame, den Tee einzuschenken, aber ich war froh, daß er mir diese Arbeit abnahm, und fand es auch ganz in der Ordnung, daß er sich an die chinesische Sitte hielt und sich immer zuerst bediente.
Alle Scheu war unglaublich rasch von mir gewichen. Ich hatte das Empfinden, als wären wir alte Bekannte, und als ich dessen erwähnte, entgegnete er lächelnd, daß wir uns wahrscheinlich in der vorigen Inkarnation schon gekannt hätten, was mich innerlich wundern machte, ob ich vielleicht einst ein Chinese gewesen.
Wir sprachen über die Philosophie des Weisen Konfuzius, über die Lehren des Taoismus, über den großen Denker Chuang-Tse, über die Verschiedenheit in den philosophischen Anschauungen des Ostens und des Westens, über das Für und Wider der Unsterblichkeit der Seele und ähnliche Fragen, die mich außerordentlich interessierten und über die er glänzend sprechen konnte. Sein Englisch war beinahe akzentfrei und seine Konversation verriet umfassendes Wissen nebst scharfer Urteilskraft.
Endlich wurde beschlossen, daß ich jeden Sonntag nachmittag zu ihm kommen würde, wo er von mir italienisch, ich von ihm chinesisch lernen wollte. Darauf reichten wir uns wie uralte Freunde die Hände, ich dankte noch einmal für den Tee und den in Aussicht gestellten Unterricht, und so schieden wir.
»Wenn du nehmen willst,
mußt erst du geben.«
Lao Tse.
II.
Ausgerüstet mit einem gelben Heft – die passendste Farbe für Notizen auf Chinesisch – stand ich am folgenden Sonntag pünktlich wie der Tod beim dritten Glockenschlag außerhalb der kleinen Cottage in Highbury, wo Mr.Hoang-Zo zurzeit wohnte. Auf meinen Druck auf die elektrische Klingel kam niemand, als ich aber den Türklopfer mehreremal unsanft auf die Bronzeplatte fallen ließ, erschien eine weißbeschürzte Fee, die mich eine teppichbelegte, sehr schmale Treppe hinaufgeleitete und mich in ein Zimmer schob, an dessen Tür sie zweimal vergeblich gepocht hatte.
»Mister Hoang-Zo wird gleich kommen,« versicherte sie mir, und damit verschwand sie, wahrscheinlich, um ihn zu suchen. Ich benützte die Gelegenheit und ließ meine Blicke durch den kleinen und oberflächlich möblierten Raum schweifen, der jedenfalls einen Salon vorstellen wollte – beim Wollen blieb es indessen. Was aber auf mich einen so überaus anheimelnden Eindruck machte, das war keineswegs die Aussicht auf einen kleinen Garten mit einigen Obstbäumen ohne Obst, sondern die geradezu beispiellose, künstlerische Unordnung, die mir sofort kundtat, daß Mr.Hoang-Zo eine mir verwandte Seele war, denn was Unordnung anbelangt, so kann ich darin Erstaunliches leisten. Bücher lagen auf und unter dem Tische, auf dem Kaminsims, auf dem Fensterbrett, auf den Gestellen, auf den halbgeöffneten Koffern und Kisten, hinter den Stühlen und auf denselben. Bücher und Papiere sahen neugierig aus den halbgeschlossenen Laden, grüßten freundlich hinter der verstaubten Kohlentrommel hervor und fielen bei der geringsten Erschütterung des Terrains dem Eintretenden einladend zu Füßen. Tonangebend waren vor allem und überall Bücher, aber hie und da wurde die übergroße Weisheit wohltuend durch ein Paar Hosen oder ein Paar Schuhe abgeschwächt.
Als sich meine Augen genugsam an diesem seltenen Bilde geweidet hatten, kam Hoang-Zo, dem es augenscheinlich nicht behagte, daß meine Augen soeben mit Interesse ein Taschentuch betrachteten, das aus unbekannten Gründen zum Tintenwischer erniedrigt worden war.
»Ich weiß nicht, wie lange ich hierbleiben werde,« sagte er schnell, »und daher habe ich auch nicht auspacken wollen.«
Ich konnte ihm nachfühlen – ich selbst packte auch nie aus, sondern fischte im Koffer so lange herum, bis das Unterste nach oben kam und ich das augenblicklich Gewünschte erschnappt hatte.
Sowohl als Lehrer als auch als Schüler war er musterhaft. Er faßte sehr schnell auf, erriet die Bedeutung unbekannter Worte aus dem Zusammenhang, las mit Aufmerksamkeit und lehrte mich mit Geduld und viel Geschick.
Zwischen den beiden Stunden brachte die Dienerin jedesmal den Tee, und Hoang-Zo forderte mich auf, daran teilzunehmen. – Er schien die Lage der chinesischen Frauen für gar nicht so schrecklich zu finden als sie uns hier dünkt. Heutzutage gab es viele Schulen für Mädchen, die Füße wurden ihnen nicht länger verkrüppelt, sie lernten oft sogar fremde Sprachen und wurden, seiner Ansicht nach, von den Gatten gut behandelt.
»Wirklich?« fragte ich etwas ungläubig.
»Gewiß,« entgegnete er. »Auch der chinesische Gatte liebt seine Frau, aber allerdings ist uns Ritterlichkeit gegen die Anhängerinnen des zarten Geschlechts unbekannt,« fügte er hinzu.
Als dieses Gespräch stattfand, mochte ich etwa drei oder vier Wochen seine Schülerin gewesen sein. Ich dachte einige Augenblicke über seine Bemerkung nach und sagte dann aus der Tiefe meiner Ueberzeugung heraus:
»Ja, es muß schrecklich für eine Europäerin sein, sich in diese Verhältnisse einzuleben,« und mit einem entschuldigenden Lächeln für unsere Schwäche fügte ich hinzu: »Wir sind so gewöhnt, daß ein Mann uns mit dem Anlegen eines Mantels hilft, uns die Tür öffnet und so weiter, obschon wir es ja ebensogut selbst tun könnten.«
»Das ist selbstredend Ansichtssache,« meinte er.
Als es Zeit zum Aufbruch wurde, war ich überrascht, zu bemerken, daß er mir in den Regenmantel half und mir die Tür angelweit aufriß. Erst als ich wieder auf der Gasse stand, erinnerte ich mich meiner unbedachten Worte und ärgerte mich, daß ich, ohne zu wollen, etwas gesagt hatte, was er möglicherweise als eine Zurechtsetzung empfunden. Ich nahm mir vor, in Zukunft besser aufzupassen.
Da ich den Vorzug hatte, sehr viele nette Asiaten – zumeist Indier und Japaner – zu kennen, fragte ich ihn eines Tages in der Teepause, wo sich unsere Konversation um alles erdenkliche drehte, ob er eine Ehe zwischen Asiaten und Europäern für angezeigt hielt.
»Zwischen den südlicheren Nationen Europas und Chinesen dürfte es ratsam sein, da sowohl der Charakter als auch das Aeußere – die dunklen Augen, das dunkle Haar und der dunklere Teint – mehr zusammenpassen. Mit Germanen, Skandinaviern oder Engländern wäre dies indessen weniger angezeigt, da Kinder solcher Ehen oft ein unangenehmes Aussehen haben – sehr oft grellrotes Haar und wasserblaue Augen zu einem dunklen Gesicht,« entgegnete er mit seinem unergründlichen Lächeln, von dem ich nie wußte, ob es Spott, Wohlwollen oder herablassende Nachsicht ausdrücken sollte.
»Und sind solche Ehen glücklich?« fragte ich und sperrte meine Augen erwartungsvoll auf.
Wieder spielte das geheimnisvolle Lächeln um seinen bartlosen Mund.
»Das kann ich leider nicht sagen – ich war noch mit keiner Europäerin verheiratet und glaube überhaupt, daß es schwer ist, glücklich zu werden – für manche Charaktere wenigstens,« fügte er nachdenklich hinzu.
»Der Mensch betrachtet wohl alle Mädchen als eine unnütze Last der Erde,« dachte ich mir, als ich mich wieder über das gelbe Heft neigte und langsam buchstabierte:
»Ni s' Tsungo jen,« was »Sie sind ein Chinese« bedeuten soll.
Wenn ich damals gewußt, wenn ich nur entfernt geahnt hätte – aber die Binde der Unwissenheit verhüllte meinen Geist, und noch jetzt glaube ich, daß es ein Segen war.
›Verlassen, verlassen, verlassen bin i!‹
(Oesterreichisches Volkslied.)
III.
Hoang-Zo war nach Paris gereist, wo er einige Wochen studieren wollte, und wo er sich um die Braut eines nach China zurückgekehrten Freundes zu kümmern hatte. Er schrieb mir einige sehr humoristische Karten, aus welchen keineswegs allzu großes Entzücken hervorklang, stellte seine Ankunft in London um Mitte November fest und empfahl mir mehrere gute Werke über die Philosophie des Ostens.
Auch für mich hatten die Winterfreuden meines Exils begonnen. Ein ganz besonders nebelreicher Herbst war angebrochen, und in den Zimmern war es so ungemütlich wie nur möglich.
Ich war in den verschiedensten Boarding-Houses gewesen, aber nachdem ich allerlei schlechte Erfahrungen bezüglich Gesellschaft und Kost gemacht, entschloß ich mich, nur ein Zimmer zu mieten und mich selbst zu beköstigen. Im Anfang verlegte ich mich, da ich im glücklichen Besitze eines Spiritusherdes war, auf so hochgehende kulinarische Leckerbissen wie Makkaroni, aber da diese die leidige Angewohnheit hatten, gerade wenn ich mit etwas anderem beschäftigt war, über den Rand der Pfanne zu gucken und Ausflüge auf den Boden zu machen, und weil sie andrerseits sich oft darauf steiften, daß ein Teil von ihnen hart blieb, der andere aber höchst zuvorkommend schon zerfiel, bevor er den Teller erreichte, gab ich es auf. Ich versuchte es mit Eiern, und auch da war alles »gut Glück« und nicht Wissen. Am sichersten waren hartgesottene Eier, denn wenn sie einmal hart waren, konnten sie natürlich nicht weicher werden, aber die weichgekochten und von mir vorgezogenen Eier, die waren eine Quelle der Enttäuschung für mich. In die große Pfanne, ich hatte nur eine, da ich als »ewiger Jude« nicht eine Kücheneinrichtung mit mir schleppen wollte, gingen sie sehr gut, aber heraus wollten sie nicht. Ich fischte und fischte mit dem Teelöffel nach dem Ei, meist so lange, bis das Ei hartgesotten war, einmal mit dem Erfolg, daß ich es wirklich herausbrachte und sogar mit Schwung an mir vorbei und auf den Boden, wo es sich als Eierspeise servierte, und beim letzten Male meiner Eierkochversuche sprang das Ei davon, das siedende Wasser über meine Hände und Kleider und die treulose Pfanne auf meine Füße, während der Spiritus in voller Flamme diese Gelegenheit benützte, sich an meinem Rockzipfel schadlos zu halten. Ich schrie wie am Spieß und habe seit jener Zeit nur mehr Tee gekocht. Dabei wagt man wenigstens nicht sein Leben.
Um auf die Wärmevorrichtung meines Gemachs (Loch scheint mir indessen zutreffender) zurückzukommen. Ich hatte einen offenen Kamin in meinem Zimmer, wie sie in England gang und gäbe sind, an welchem man sich auf der einen Seite rösten kann und auf der anderen erfriert, ausgenommen man dreht sich wie ein Kreisel die ganze Zeit um die eigene Achse. Als ich jedoch die ersten Heizversuche unternahm, bemerkte ich zu meiner Freude, daß eine dichte Rauchwolke die Luft verpestete, und als meine Rufe die dicke Hausfrau alle Stockwerke heraufgebracht hatte, erklärte sie mir mit dem Gleichmut, der diese Klasse weiblicher Wesen auszeichnet, daß sich der Kamin nur heizen ließe, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung bliese. Die für ihn passende Richtung habe ich nie herausgefunden – wahrscheinlich ist sie in der Windrose nicht zu entdecken. Sie tröstete mich damit, daß der Rauchfang des Hauses an meiner Wand vorübergehe und ich es daher immer hübsch warm haben werde. Hübsch hatte ich es dort nie, und warm noch weniger, aber im weitesten Sinne hatte sie recht. Dank dem Schornsteine und dem milden englischen Klima überstand ich den Winter lebendig, aber man darf sich nicht wundern, wenn ich unter solchen Umständen alles aufbot, so wenig wie möglich daheim zu sein. Scherzend sagte ich oft zu meinen Kollegen:
»Wenn ich nicht eine so große Abneigung gegen das Heiraten hätte, würde ich mir wirklich einen Mann nehmen, um eine Häuslichkeit zu haben.«
»Und wer würde kochen?« fragten sie mich.
Ich dachte an meine mißglückten Kochversuche und meine Abneigung gegen derlei Beschäftigungen.
»Er natürlich.«
»Und Strümpfe stopfen und so weiter?«
»Auch er,« entgegnete ich lachend.
»Und Geld verdienen, wer soll das?«
»Ich!« Dazu allein war ich gern bereit. Ich verdiente sehr viel mit meinen Sprachkenntnissen – ihnen verdankte ich auch meine Anstellung beim Amt–, aber für andere Sachen war ich so untauglich wie möglich. In meinen Interessen, meinen Fähigkeiten, meinen Tugenden und meinen Untugenden war ich Mann – meine Kleidung und mein Körperbau verdammten mich zur Mädchenexistenz mit allen ihren Schattenseiten. Das war auch der Hauptgrund meines freiwilligen Exils. Mama und Jenny konnten mich nicht verstehen, und erstere sagte immer:
»Du bist so ganz anders wie alle anderen Mädchen!«
Jenny konnte sich vor dem Spiegel drehen, konnte an einer Schleife fünf Minuten lang zupfen, um sie in die vorteilhafteste Lage zu bringen, konnte das schönste Buch aus der Hand werfen, sobald das neue Modeblatt gebracht wurde, und fand nichts ergötzlicher, als im Stadtpark zu den Klängen der heimischen Kapelle im besten Kleide auf und ab zu gehen und allen Leuten zuzunicken, – dem ein wenig tiefer und diesem etwas oberflächlicher, dieser Dame mit einem Lächeln und jenem Herrn mit Grabesmiene, ganz wie Mama es vorgeschrieben hatte. Mir kam nichts geisttötender vor.
Oder wir gingen ins Theater. Um drei Uhr nachmittags verschwanden Mama und Jenny vollständig von der Erdoberfläche, und um sieben Uhr kamen sie, zwei schöne, sehr geschmackvoll frisierte und tadellos gekleidete Damen, jede mit einem Triumphlächeln auf den Lippen, zu mir ins Zimmer, aber ein Blick auf mich ließ sie beinahe bewußtlos werden, und ich bin überzeugt, daß nur der Gedanke an die große Arbeit bei ihrer vierstündigen Vorbereitung sie davor rettete.
»Käthe!!! Du bist ja noch nicht angezogen!« rief Mama, als ob die Welt aus den Angeln gegangen wäre.
»Ich gehe, wie ich bin,« erwiderte ich ruhig.
»Ein junges Mädchen in dunkler Seidenbluse – unmöglich!« warf Mama ein.
»Warum nicht?« fuhr ich gelassen fort. »Mir steht dunkelblau besser als alle die allzu lichten Farben, und ich fühle mich wohler darin.«
»Käthe,« mischte Jenny, damals kaum fünfzehn Jahre alt, in das Gespräch, »ich will nicht mit dir gehen, wenn du nicht anders gekleidet bist.«
Oft blieb ich nach solchen Auftritten zu Hause, da mir alle Lust an der Aufführung vergangen war. Manchmal kleidete ich mich verdrießlich in irgendeine dreifarbige, meiner Ansicht nach geschmacklose Bluse, zuzeiten ging ich wie ich war und ließ die beiden schimpfen, aber da ich mir wohl bewußt war, wie wenig ich in den heimischen Rahmen paßte, und da ich mich daheim ebenso einsam fühlte, wie später in der kalten, weiten Welt, so habe ich nie bedauert, den Flug in die Welt begonnen zu haben.
Ich habe einzig verstehen gelernt, daß Männer, die ihr Leben lang als Junggesellen herumgewandert sind, eine Häuslichkeit als Krone des Glücks betrachten, und nicht umsonst, wahrlich nicht umsonst! Aber um ein vollkommenes Bild, eine seelisch schön abgetonte Wiedergabe eines Menschen zu geben, bedarf es nicht nur eines Rahmens, meinetwegen eines reichen Rahmens – nein, es ist nötig, daß der Rahmen paßt, daß er das Bild hervortreten läßt und es nicht zur Fratze herabstimmt. Durchschnittsmenschen schaffen sich leicht einen passenden Rahmen oder passen auch schnell in irgendeinen Rahmen hinein, die anderen, doch – ich will nicht philosophieren.
Der Monat November sowie der zurückgekehrte Chinese Hoang-Zo fanden mich tief in allen Winterwiderwärtigkeiten steckend, die durch die Tatsache, daß der junge Gelehrte jetzt keine Zeit hatte, die Stunden fortzusetzen, wahrlich nicht vermindert wurden. Eines Abends, als wir uns im Nebelmeer begegneten, fragte er mich, ob ich nicht so freundlich sein wollte, einen jungen Chinesen – kaum ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt – als Schüler für Deutsch und Französisch zu übernehmen. Ich willigte sofort ein – war nicht alles besser als das fürchterliche Daheimsitzen in einem kalten, ungemütlichen Zimmer?
»Er ist aber sündhaft dumm!« sagte Hoang-Zo, »und ich muß Sie bitten, eine Bezahlung für die Stunden anzunehmen, denn an einen Austausch ist bei dem Menschen nicht zu denken. Eigentlich schäme ich mich,« fuhr er fort, »Ihnen so ein trauriges Exemplar meiner Landsleute zu überlassen, aber Sie scheinen mir besonders geeignet, ihm etwas beizubringen – wenn sich ihm etwas beibringen läßt,« setzte er bekümmert hinzu.
»Wir können es ja versuchen,« erwiderte ich lächelnd. Wir bestimmten daher die Preise, und nur wenige Tage später erhielt ich einen mit Fehlern gespickten Brief meines neuen Schülers, der mir seinen Besuch für den darauffolgenden Sonntag in Aussicht stellte.
Der Sonntag kam und ging, ohne Mr.Ming Tse zu bringen, wohl aber fand ich Montag früh eine Karte vor, auf der er sich entschuldigte und mir versicherte, die Gasse nicht gefunden zu haben.
»Findet das Hascherl nicht einmal eine Gasse wie Guildford Street!« Ich seufzte unwillkürlich auf. Und so einem Menschen sollte ich mit dem Nürnberger Trichter die Weisheit einpumpen – gewiß ein recht zweifelhaftes Vergnügen.
Der zweite Brief oder besser die zweite Karte war von Hoang-Zo. Er bat mich, seinem Schützling Montag abend die erste Stunde zu geben und fügte hinzu, daß Ming Tse kaum fünf Minuten von der Endstation der Hampstead Elektrischen wohne. Name der Gasse und Hausnummer ersah ich aus Mr.Ming Tses Karte.
»
Our deeds our angels are, or good or ill,
Our fatal shadows that walk by us still.
«
Beaumont & Fletcher.
IV.
Es war ein feuchtkalter Wintertag. Seit einer Woche hatte Sankt Peter die Schleusen des Himmels geöffnet, und heute hatten wir nebst feinem, durchdringendem Regen auch noch einen jener berüchtigten Londoner Nebel, der schon lange, bevor es Nacht wurde, alle die triefenden Häuser und die schmutzbedeckten Gassen den Blicken der Menschheit entzog. Selbst die Elektrische, in der ich saß, schien mir trotz der vielen Beleuchtungskörper düster, da der Nebel sich in großen Wellen durch den langen Wagen dahinrollte, voll unerlaubter Neugierde bei Mund, Nase und Ohren in das Innere der Reisenden hinabkletterte, sich zärtlich an den weißen Halskragen und die tadellosen Manschetten der Zylinder tragenden Herren schmiegte und das ursprüngliche Weiß meiner Bluse in ein bescheidenes Grau verwandelte.
»Hampstead!« rief der Schaffner vom anderen Ende. Mit einem Ruck riß ich meine Habseligkeiten – zwei Bücher und die Handtasche – an mich und stürzte mich kühn in die auf und nieder wogenden Nebelfluten, die mich schon nach wenigen Augenblicken vollständig verschlangen.
Die Gasse – das Endziel meiner Wanderung – war die zweite zu meiner Rechten und führte steil abwärts. Der gedämpfte Schein einer Straßenlaterne ließ mich wohl die Vorgärten der Villen unterscheiden, doch wäre es eine Unmöglichkeit gewesen, die Hausnummer abzulesen. Ich öffnete daher eine der kleinen Gartenpforten und ging dicht an das Haus heran, um die Nummer auf der erleuchteten Scheibe der Haustür entziffern zu können.
»Nummer22,« sagte ich halblaut, ging zurück und schloß die Pforte wieder, dann tastete ich mich vorsichtig an den Vorgärten entlang und zählte die Nummern, bis ich Haus18 erreichte.
Während ich unter der Loggia stand und wartete, daß mein Klingelzeichen irgend jemand zur Tür brachte und ich das Muster auf der Glasscheibe – Pfirsichblüten und Früchte – studierte, war mir doch etwas ängstlich zumute. Den ersten Chinesen hatte ich um drei Uhr nachmittags an einem klaren Sommertage kennengelernt, jetzt war es Abend, Winter und – ich schüttelte das unangenehme Gefühl ärgerlich ab. Der neue Schüler sollte ja noch ein wahres Kind sein, und ein Kirchenlicht war er entschieden nicht, wenn also jemand zittern sollte, so war es gewiß er und nicht ich.
Die Tür wurde von einem Stubenmädchen geöffnet, und ich drückte die Bücher unwillkürlich fester an mich, als ich fragte:
»Mister Ming Tse zu sprechen?«
»Mister Ming Tse speist soeben, wird aber sofort kommen,« sagte das Mädchen und stieg vor mir die Treppe empor. Im ersten Stock machte sie halt, und indem sie eine Tür öffnete und mich eintreten ließ, trat sie zurück und verschwand.
Ich stand in einem kleinen, geschmackvoll möblierten Salon, in dem alles von peinlichster Sauberkeit sprach – jedenfalls waren nicht alle Chinesen Feinde der Ordnung wie Hoang-Zo. Aus dem Kaminsims waren eine Anzahl ausgezeichneter, schön gebundener Bücher in strammster Ordnung aufgestellt, ganz wie eine Abteilung Soldaten, von denen keiner einen Millimeter von der Linie abweichen darf. Im Kamin selbst brannte ein Feuer, zum Schrecken einer geizigen Hausfrau und zum Entzücken einer erfrorenen Seele, wie ich selbst; ich fühlte auch gleich, daß mein Wohlbefinden zunahm. Auf den kleinen Nipptischchen standen Vasen mit frischen Blumen zierlich geordnet, auf den Stühlen lagen reich gestickte Polster, nette Zierdeckchen waren, wo tunlich, vorteilhaft angebracht. Die Wände wiesen viele Photographien, meist von Chinesen in europäischer Kleidung, auf, aber ein Bild an der Wand zeigte vier Personen in chinesischen Trachten und schien Frauen vorzustellen. War mein neuer Schüler am Ende der glückliche Besitzer eines Harems oder doch einer Frau?
Ein leichtes Geräusch hinter mir machte mich umsehen. Vor mir stand eine menschliche Miniaturausgabe, ein zartgebauter kleiner Chinese, der gewiß nicht um ein Haar größer war als ich – innerlich schmeichelte ich mir sogar, daß ich vielleicht um einige Haarbreiten mehr maß–, in tadellosem europäischem Anzuge und verbeugte sich vor mir mit einer Grazie, die ich vorher noch bei keinem Asiaten und nur bei wenigen Europäern gesehen hatte. Für diese Art Aeußerlichkeiten bin ich ungemein empfänglich.
»Herr Ming Tse?«
»Fräulein Schulze?«
Wir reichten uns gegenseitig die Hände, lächelten beide, und die Verbeugung wiederholte sich.
»Ich freue mich, Sie als Schüler begrüßen zu können,« sagte ich in Ermangelung von etwas Besserem, »und hoffe, daß Sie stets fleißig studieren werden.«
Ming Tse legte ein überaus feierliches Versprechen ab, immer fleißig arbeiten zu wollen, schob den allerschönsten Polster auf den allerbequemsten Stuhl des Zimmers, rückte ihn an den Tisch und lud mich ein, Platz zu nehmen. Diese Aufmerksamkeit entging mir nicht.
Auf dem Tische lagen Bleistifte, Federn, Federstiele, Lineale, Papiere und Bücher auch wie die Soldaten geordnet da. Er nahm nicht wie alle meine sonstigen Schüler an meiner Seite Platz, sondern setzte sich mir gegenüber an das entgegengesetzte Ende des Tisches, und da merkte ich auch, daß sowohl Bücher, Bleistifte, Federn und selbst die Tintenfässer doppelt vorhanden waren, so daß kein Austausch dieser Artikel zwischen Lehrer und Schüler stattfand.
Während ich seinen Sprachkenntnissen auf den Zahn fühlte, wobei ich sogleich bemerkte, daß viele Plomben nötig waren, hatte ich Gelegenheit, ihn näher zu betrachten. Seine Gesichtsfarbe war dunkler als die Hoang-Zos, man hätte ihn eher braun als gelb nennen können, die scharf geschlitzten Augen waren halbgeschlossen und nicht wie bei dem Philosophen zusammengekniffen, aber Gläser trug auch er, die Augenbrauen waren schwach gezeichnet und hörten schon früh auf. Wimpern fehlten ganz. Das vollkommene Oval des Antlitzes wurde durch die starken Backenknochen ein wenig beeinträchtigt, und die etwas dicke Unterlippe sowie die unregelmäßig stehenden Zähne verunschönten, doch nur unbedeutend, den Mund, aber dafür erfreute er sich einer ganzen Nase mit gutgebildetem Nasenrücken, hübsch geformten Nasenflügeln und einer tadellosen Nasenwurzel, auf der im Notfalle ein Kneifer hätte sitzen können. Das einzig wirklich Schöne an dem Kopfe war das rabenschwarze, glänzende, lange Haar, das denselben in reichster Fülle umgab und wie alles, was ihm gehörte, den untrüglichen Stempel der Ordnungsliebe trug. Nicht ein Haar – und viele reichten von der etwas niederen Stirn bis in das Genick – erlaubte sich Wanderungen auf eigene Faust zu unternehmen, und selbst eine ungestüme Kopfbewegung veränderte nichts daran.
Sooft er mir ein Papier oder sonst einen Gegenstand reichen mußte, drehte er ihn immer zuerst so um, wie er mir am bequemsten sein würde, und fragte mich auch im Verlauf der Stunde, ob mir Wasser erwünscht wäre, was ich dankend ablehnte. Ich war über diese bei Orientalen so ungewöhnliche Höflichkeit – besser Ritterlichkeit, denn höflich habe ich sie mir gegenüber meist gefunden – so erstaunt, daß ich mich nicht enthalten konnte, zu sagen:
»Was für reizende Umgangsformen Sie haben! Wo haben Sie sich dieselben angeeignet?«
Er lächelte zufrieden – sein Lächeln war sehr einnehmend, da sowohl dieses und noch mehr sein Lachen unwiderstehlich zur Nachahmung reizte – und entgegnete munter:
»Das Benehmen hat mein Vater mit dem Stock in mich hineingeprügelt.«
Die Aufrichtigkeit der Antwort, der komische Gesichtsausdruck meines Schülers und die neue Situation unterhielten mich dermaßen, daß ich herzlich lachte, und Ming Tse lachte laut und herzhaft mit. Ich fühlte, wir waren uns nähergekommen, und fand plötzlich, daß er ja eigentlich ganz gute Kenntnisse besaß. Mein Gott, man kann von einem Chinesen – und noch dazu von einem so kleinen Chinesen – doch nicht Unmögliches verlangen.
