Mein Land, unsere Erde - Sebastiaõ Salgado - E-Book

Mein Land, unsere Erde E-Book

Sebastião Salgado

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Beschreibung

Der brasilianisch-französische Starfotograf Sebastião Salgado wird weltweit gefeiert für seine eindringlichen Fotoreportagen, ausschließlich in Schwarz-weiß. Seine sozialdokumentarischen Bilder, für die er seit Jahrzehnten um den Globus reist, halten uns den Spiegel vor und zeigen uns zugleich die Welt als Schöpfung von überwältigender Schönheit. Salgado schärft damit unser Bewusstsein für ihre Kostbarkeit: Seine Bilder zeugen von der Würde des Menschen ebenso wie von der Majestät und der Verletzlichkeit unseres Planeten. Als Künstler und Aktivist kämpft er so mit seiner Kamera für Umwelt- und Artenschutz. Im Oktober 2019 wird Salgado mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Sebastião Salgado, heute einer der berühmtesten Fotografen der Welt, wuchs in den 1950er Jahren auf einer brasilianischen Farm auf. Nach seinem Studium in São Paulo und Paris hatte er eine Karriere als Ökonom vor sich – entschied sich jedoch für die Kunst. In Mein Land, unsere Erde erzählt der Fotograf die Geschichten hinter seinen berühmtesten Reportagen.

Salgado gewährt Einblick in seine Überzeugungen und seine Entwicklung – als Fotograf, als Künstler, als Aktivist und als Mensch – ein beeindruckendes Selbstporträt des legendären Mannes hinter der Kamera.

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Nagel & Kimche E-Book

Sebastião Salgado

Mein Land,unsere Erde

mit Isabelle Francq

Aus dem Französischen von Sina de Malafosse

Inhalt

Vorwort

1 Zu Beginn: »Genesis«

2 Heimaterde

3 Nach Frankreich und nirgendwo anders hin

4 Es machte klick!

5 Afrika, mein zweites Brasilien

6 Junger Aktivist, junger Fotograf

7 Fotografie: meine Art zu leben

8 »Anderes Amerika«

9 Bilder einer Welt im Elend

10 Von Magnum zu Amazonas Images

11 »Arbeiter« – La main de l‘homme

12 Die Welt der Minen

13 »Exodus«

14 Der lange Marsch von Mosambik

15 Ruanda

16 Dem Tod ins Auge geblickt

17 Instituto Terra: eine wahr gewordene Utopie

18 Zurück zum Beginn

19 Und der Mensch bei alledem?

20 Die Achtung vor unseren Wurzeln

21 Meine digitale Revolution

22 Auf den Spuren der Königin von Saba

23 Eine Welt in Schwarz-Weiß

24 Bei den Nenzen

25 Mein eigener Stamm

Epilog

Auszeichnungen und Preise für Sebastião Salgado

Fußnoten

Vorwort

Eine Fotografie von Sebastião Salgado zu betrachten heißt, die Würde eines Menschen zu spüren. Es heißt begreifen, was es bedeutet, eine Frau zu sein, ein Mann, ein Kind. Wahrscheinlich ist das so, weil Sebastião für die Menschen, die er fotografiert, eine tiefe Liebe empfindet. Wie sonst könnten sie so präsent, lebendig und selbstbewusst in seinen Bildern sein? Und wie sonst könnte der Betrachter eine derartige Verbindung zu ihnen spüren? Sebastiãos Arbeiten bewegen mich schon lange: Mir gefällt die barocke Ästhetik seiner Bilder, das außergewöhnliche Licht, die Kraft, die von ihnen ausgeht, aber auch die Zärtlichkeit, die sie ausstrahlen unddie das Beste in mir wachruft.

Durch einen glücklichen Zufall durfte ich Sebastião und Lélia, seine Frau, kennenlernen. Ein Paar, das mich verzaubert, denn hinter Sebastiãos internationalem Erfolg steht der einer Beziehung mit Seltenheitswert.

Eine Geschichte über die wahre Liebe und ein gemeinsames Arbeiten, bei dem jeder eine feste Rolle hat, seinen Platz, und weiß, was er dem anderen verdankt. Gemeinsam haben die beiden eine Familie und eine Agentur, »Amazonas Images«1, gegründet und haben ein Umweltprojekt, das »Instituto Terra«2 ins Leben gerufen, um den Atlantischen Regenwald von Brasilien aufzuforsten. Das macht einen großen Teil ihrer Arbeit aus.

Ich habe festgestellt, dass Sebastiãos Bilder um die Welt gehen, seine persönliche Geschichte, die politischen, moralischen und existenziellen Wurzeln seines fotografischen Engagements aber kaum bekannt sind. Diesen Missstand wollte ich korrigieren und Sebastiãos Stimme durch mein journalistisches Schreiben Gehör verschaffen. Am Tag vor der Präsentation seines Projekts »Genesis« – einer Reportageserie über die noch unberührten Flecken unseres Planeten – war er so großzügig, diese Idee zu unterstützen. Er nahm sich die Zeit zwischen zwei Flugreisen, zwischen Reportagen, der Herstellung von zwei Bildbänden3 und den Vernissagen zu einer Ausstellung, die rund um die Welt gehen sollte. Mit entwaffnender Freundlichkeit und Natürlichkeit schilderte er mir seinen Lebensweg. Er legte seine Überzeugungen dar und teilte mir seine Gefühle mit. Ihm zuzuhören war mir eine große Freude, und es ist sein Erzähltalent, das ich hier sprechen lassen möchte: In ihm liegt die Authentizität eines Mannes, der gesellschaftliches Engagement und Professionalität, Talent und Großzügigkeit in sich vereint.

Isabelle Francq

Frau mit Wasserkrug bei Tchin Tabarden, Region Tahoua, Niger, 1973.

© Sebastião Salgado

Riesenschildkröte, Insel Isabela, Galápagos, Ecuador, 2004.

© Sebastião Salgado / Genesis

1

Zu Beginn: »Genesis«

Wer keine Geduld besitzt, kann kein Fotograf sein. Einmal war ich auf der Insel Isabela auf den Galápagos-Inseln, in der Nähe eines sehr schönen Vulkans namens Alcedo. Es war im Jahr 2004. Dort traf ich auf eine gewaltige, mindestens 200 Kilo schwere Riesenschildkröte, eine von der Art, die für den Archipel namensgebend war. Jedes Mal, wenn ich mich ihr näherte, lief die Schildkröte davon. Nicht allzu schnell, aber ich konnte sie trotzdem nicht fotografieren. Also überlegte ich: Wenn ich Menschen fotografiere, trete ich nie inkognito an eine Gruppe heran, ich lasse mich immer zuerst vorstellen. Danach stelle ich mich jedem Einzelnen persönlich vor, erkläre mein Anliegen, diskutiere es mit ihnen, und nach und nach lernen wir uns kennen. Ich begriff, dass der einzige Weg, die Schildkröte abzulichten, darin bestehen würde, sie kennenzulernen, mich auf sie einzustimmen. Also wurde ich selbst zur Schildkröte: Ich ging auf alle viere und begann, Handflächen und Knie am Boden, auf gleicher Höhe mit ihr zu krabbeln. Da floh die Schildkröte nicht mehr. Als sie stehen blieb, zog ich mich ein Stück zurück. Sie kam auf mich zu, ich krabbelte von ihr weg. Ich wartete einen Augenblick, dann näherte ich mich ihr erneut, langsam, nur ein Stückchen. Die Schildkröte machte eine weitere Bewegung in meine Richtung und sofort wich ich einige Schritte zurück. Da kam sie weiter auf mich zu und ließ sich ruhig betrachten. Ich konnte anfangen zu fotografieren. Es kostete mich einen Tag, mich der Schildkröte zu nähern. Einen ganzen Tag, um ihr begreiflich zu machen, dass ich ihr Territorium respektierte.

Ich habe in meinem Leben einige Fotostorys realisiert, die unsere Zeit und die Veränderungen unserer Welt beschreiben. Jedes Mal benötigte ich mehrere Jahre dafür. Es heißt oft, Fotografen seien Bildjäger. Das stimmt, wir sind wie Jäger, die viel Zeit darauf verwenden, das Wild zu beobachten, zu warten, bis es aus seinem Versteck kommen will. Beim Fotografieren ist es dasselbe: Man muss die Geduld haben abzuwarten, bis etwas geschieht. Denn es wird immer etwas geschehen, unweigerlich. In den meisten Fällen gibt es keine Möglichkeit, dieses Geschehen zu beschleunigen. Man muss also Freude an der Geduld entwickeln.

Vor »Genesis« hatte ich nur eine Spezies fotografiert: den Menschen. Für das »Genesis«-Projekt, das ich der unberührten Natur gewidmet habe, musste ich in den acht Jahren, in denen ich durch die Welt reiste, lernen, wie man mit den anderen Arten arbeitet. Bereits am ersten Tag der ersten Reportage und dank der Riesenschildkröte verstand ich, dass man ein Tier lieben muss, um es zu fotografieren, dass man Freude daran haben muss, seine Konturen, seine Schönheit zu studieren. Bei dieser Art der Betrachtung und des Ablichtens muss man es respektieren, muss seinen Raum und sein Wohlbefinden schützen. Von da an begann ich also mit Tieren auf dieselbe Weise zu arbeiten, wie ich schon immer mit uns, den Menschen, gearbeitet hatte.

Um mit der Serie zu beginnen, wollte ich mich auf Darwins Spuren begeben, ich hatte »Die Fahrt der Beagle«4 gelesen. Ich verbrachte drei Monate auf den Galápagos-Inseln, wohin Darwin nach seiner Umrundung des Globus gereist war und wo er seine Evolutionstheorie fertiggestellt hatte. Das aus achtundvierzig Inseln und ein paar Felsen bestehende Archipel stellt eine Art Synthese der Welt dar: Man findet dort Arten vor wie die Schildkröten, die vom südamerikanischen Kontinent stammen, der etwa 1.000 Kilometer entfernt liegt. Sie waren auf dem Archipel gestrandet, nachdem sie auf vom Regen entwurzelten Baumstümpfen über den Pazifik getrieben waren. Die Schildkröten allein bestehen aus elf Unterarten, die jeweils auf einigen Inseln des Archipels vorkommen und auf anderen nicht. Auf jeder Insel haben sie sich anders entwickelt. Auf manchen haben sie einen vollkommen platten Rücken, vielleicht, weil sie Hunderte von Jahren unter Druck lebten. Auf anderen haben sie einen gewölbten Rücken. Ich sah Exemplare mit zwanzig Zentimeter langem Hals, wohingegen er bei anderen eine Länge von bis zu einem Meter aufwies, zweifelsohne, weil sie Blätter in unterschiedlichen Höhen erreichen mussten, um auf den mehr oder weniger trockenen Inseln überleben zu können. Und doch gehören diese Schildkröten alle der gleichen Spezies an.

Wie Darwin sah auch ich Leguane. Auf dem südamerikanischen Kontinent sind sie Erdbewohner, auf Galápagos hingegen schwimmen und tauchen sie. Auch hier hatte Darwin verstanden, dass die trockene Umgebung sie dazu gezwungen hatte, schwimmen zu lernen. Dabei sind Leguane wechselwarme Tiere: Bleiben sie zu lange in einer Umgebung mit niedrigen Temperaturen, kühlen sie ab und verenden. Viele starben tatsächlich, als sie sich bei ihrer Ankunft zum Trinken ins Wasser stürzten. Danach lernten sie, rechtzeitig wieder herauszukommen und sich in der Sonne aufzuwärmen. Sie lernten auch, Meerwasser zu trinken und bildeten eine kleine Drüse über der Nase aus, durch die sie das Salz des Wassers wieder ausspucken. Darwin hatte das alles beobachtet, und ich beobachtete es nach ihm – ich bin sogar sicher, dass er einige der Schildkröten, auf die ich traf, die »Leittiere«, auch gesehen hatte, denn diese Tiere werden ungefähr zweihundert Jahre alt.

Im Laufe dieser Reise begriff ich etwas, das mir daraufhin für das gesamte »Genesis«-Projekt von Nutzen sein sollte: Ich entdeckte, dass man mir zeitlebens eine Lüge erzählt hatte, derzufolge wir die einzige mit Vernunft begabte Spezies seien. Jede Art verfügt über ihre ganz eigene Vernunft. Man muss sich nur die Zeit nehmen, die Vernunft der anderen Arten zu verstehen. Auf Galápagos kennen die meisten Tiere keine Angst, weil sie nie von Menschen gejagt wurden. Sie haben also keinen Grund, misstrauisch zu sein. Die Schildkröten hingegen haben nicht vergessen, dass sie im 18. und 19. Jahrhundert von den Besatzungen der Schiffe, die auf dem Weg in die Neue Welt oder auf dem Rückweg nach Europa auf dem Archipel haltmachten, gejagt wurden. Da Schildkröten mehrere Monate ohne Futter oder Wasser auskommen können, sicherten sich die Seefahrer eine Ladung Frischfleisch, indem sie die Tiere lebendig in den Schiffsbauch luden. Deshalb ist es auch zwei Jahrhunderte später noch immer schwer, sich den Schildkröten zu nähern. Es ist alles andere als Zufall, dass es einen ganzen Tag dauerte, bis mich das Tier, das ich fotografierten wollte, akzeptiert hatte. Die Fluchtversuche der Schildkröte waren nicht irrational, sondern im Gegenteil der Beweis für überaus kluge Vorsicht. Die Arten übertragen die Warnung vor ihren Feinden über mehrere Generationen in ihren Genen: Der einzige natürliche Feind dieser Schildkröten ist der Mensch; Falken und andere Raubvögel ergreifen und fressen Babyschildkröten, aber den erwachsenen Tieren droht keine Gefahr.

Auf ihre Art haben auch die Basstölpel ein viel ausgeklügelteres Verhalten entwickelt, als man glauben möchte. Auf der Insel Isabela gelangten wir zur Balzzeit an die Landspitze Punta Vicente Roca.Es war atemberaubend!

Ich blieb zwei, drei Tage mitten in der Kolonie und beobachtete diese Vögel. Das Weibchen sucht sich einen Partner aus. Vier, fünf Männchen bieten sich ihr an: Eines nach dem anderen präsentiert sich, spreizt die Flügel, tanzt. Hat sich das Weibchen entschieden, einem von ihnen zu folgen, fliegen sie gemeinsam davon, drehen eine Runde von zehn, fünfzehn Minuten und landen dann wieder. Ein weiteres Männchen kommt, zeigt sich, bietet sich als Partner an, das Weibchen fliegt mit ihm davon und so weiter. Dieses Spiel dauert etwa zwei Stunden, nach denen das Weibchen endgültig einen ihrer Verehrer auswählt. Er und kein anderer wird ihr Partner für diese Saison sein, und mit ihm, so hat es entschieden, wird es Junge bekommen.

Bei den Albatrossen findet der Liebesreigen zu einem anderen Zeitpunkt statt. Als ich bei ihnen ankam, nahmen die Jungen schon ihre letzten Flugstunden. Es sind schöne Vögel, die gut fliegen, aber schlecht landen und auch schlecht abheben. Sie brauchen eine Startbahn, sie rennen, rennen, rennen … und manchmal schaffen sie es nicht abzuheben. Das ist so etwas von komisch! Zu meiner großen Überraschung fand ich heraus, dass Albatrosse treu sind: Sie wählen eine Partnerin und bleiben ein Leben lang mit ihr zusammen. Eines Tages sah ich, wie ein Männchen vor einem Weibchen balzte. Es drehte und wand sich, breitete die Flügel aus, und daraufhin begann auch das Weibchen sich zu drehen. Sie berührten sich mit den Flügelspitzen, mit den Schnäbeln, doch plötzlich machte sich das Männchen aus dem Staub. Mein Führer erklärte mir: »Es hat festgestellt, dass es sich geirrt hat, das ist nicht seine Freundin!« Solch unvorstellbare Szenen sieht man, wenn man sich beim Beobachten der Tiere Zeit nimmt. Solche Zusammenhänge entdeckte ich, als ich auf den Galápagos-Inseln mit »Genesis« begann, und ich sollte Gelegenheit bekommen, sie im Laufe dieser Reportagen immer wieder zu erforschen. Soll mir noch einer sagen, Tiere seien hirnlose und unlogische Geschöpfe.

Ich machte diese Reportagen weder als Zoologe noch als Journalist, sondern für mich. Um den Planeten zu entdecken. Und sie bereiteten mir gewaltige Freude. Mit seinen Steinen, Pflanzen und Tieren ist unser Planet auf allen Ebenen lebendig. Mir wurde bewusst, dass uns diese Tatsache enormen Respekt abverlangt.

»Genesis« entstand infolge des Umweltprojekts, das Lélia Deluiz Wanick Salgado, meine Frau und Partnerin in allen Dingen des Lebens, und ich in Brasilien durchführen. Das auf den Namen »Instituto Terra« getaufte Projekt hat die Aufforstung der »mata atlantica« zum Ziel, des Atlantischen Regenwalds 5, dessen Zerstörung seit der Ankunft der Portugiesen im Jahr 1500 immer schneller voranschreitet. Die Gründe dafür waren die intensive Landwirtschaft, die Urbanisierung und schließlich die Industrialisierung. Heute sind nur noch sieben Prozent der ursprünglichen Fläche dieses Regenwalds erhalten. Auf dem Stück Erde, auf dem ich meine Kindheit verbrachte, begannen wir mit der Erneuerung des Ökosystems. Ein Fleckchen Erde, das meine Eltern uns in den 1990er-Jahren vererbten. Ein Fleckchen Erde, das durch die Abholzung unfruchtbar und hässlich geworden war, obwohl ich immer glaubte, im Paradies aufgewachsen zu sein …

Anavilhanas-Archipel, bestehend aus über 350 dicht bewaldeten Inseln im Rio Negro. Staat Amazonas, Brasilien, 2009.

© Sebastião Salgad

2

Heimaterde

Ich wurde 1944 im Bundesstaat Minas Gerais geboren, auf einer Farm in einem breiten Tal, das nach dem Fluss benannt ist, der es durchfließt – Rio Doce. Dieses Tal ist so groß wie Portugal und berühmt für seine Gold- und Eisenminen. In meiner Kindheit bedeckte der Atlantische Regenwald die Hälfte seiner Fläche. Doch das war, bevor Brasilien in großem Stil in die Marktwirtschaft einstieg, und man wie überall begann, den Wald zu zerstören.

Die Farm meines Vaters war groß und autark, etwa dreißig Familien lebten dort. Sie produzierten Reis, Mais, Tomaten, Süßkartoffeln, Kartoffeln, Obst, ein bisschen Milch, Schweine- und Rindfleisch. Es war eine gute Farm. Mein Vater war der Besitzer und er hatte Angestellte, von denen jeder eigenes Vieh besaß und ein Stück Land bestellte, um seine Familie zu ernähren. Ein Teil ihrer Erzeugnisse stand meinem Vater zu, der Rest gehörte ihnen. Keiner war reich, keiner war arm – eine Form der Landwirtschaft, die es in Brasilien seit dem 16. Jahrhundert gab.

Ich habe wunderbare Erinnerungen an meine Kindheit auf diesem Stück Land. Es gab viel Platz zum Spielen und überall Wasser. Ich schwamm in Bächen, die voller Kaimane waren: Im Gegensatz zu dem, was manche glauben, greifen Kaimane Menschen nicht an. Ich besaß ein Pferd, mit dem ich morgens losritt und erst abends zurückkam. Die Region ist hügelig, und ich galoppierte bis zum Ende des Farmlands, zu seinem höchsten Punkt, und schaute von dort ins Tal hinab. Ich träumte davon, weiter zu sehen, versuchte mir vorzustellen, was wohl hinter dem Horizont lag. Mit dem Rest von Brasilien waren wir über das Schienennetz der »Companhia Vale do Rio Doce«6 verbunden. Manchmal verursachte die Regenzeit Erdrutsche, dann waren wir monatelang von der Welt abgeschnitten. Aber wir waren Selbstversorger, es fehlte uns an nichts. Meine Kindheit bleibt für mich eine wundervolle Zeit. Ich habe mir seit damals eine tiefe Liebe für dieses Stück Land bewahrt.

Meine Fotoprojekte, die ich oft über Jahre und an verschiedenen Orten der Erde verfolge, mögen umfangreich erscheinen. Manche meinen: Salgado ist größenwahnsinnig. Aber ich bin in einem riesigen Land geboren. Mit 8.515.770 Quadratkilometern Fläche ist Brasilien fünfzehnmal so groß wie Frankreich. Ich bin an die Weite und an das Reisen gewöhnt. Seit Langem habe ich die Angewohnheit, eine Nacht an einem Ort zu schlafen und die nächste an einem anderen. Als ich noch sehr jung war, gaben meine Eltern mir die Erlaubnis, meine älteren, bereits verheirateten Schwestern zu besuchen. Allein legte ich Distanzen zurück, die denen zwischen Paris und Moskau oder Lissabon entsprechen. Dabei waren die Verkehrswege nicht einfach. So lernte ich früh zu reisen. Zudem brauchte man 45 Tage, um das Vieh meines Vaters zum Hunderte von Kilometern entfernten Schlachthof zu treiben, durch Farmen, Wälder und Flüsse.

Mein Vater legte diesen Weg mit ein paar Begleitern zu Fuß zurück. Er trieb 500 bis 600 Schweine mit einem kleinen Stock an, und das mehr als 50 Tage lang. Dabei hatten die Männer Zeit zu reden und die Landschaft zu betrachten. Diese Langsamkeit ist auch der Fotografie eigen. Denn auch wenn uns Flugzeug, Auto oder Zug schnell an den einen oder anderen Punkt auf dem Planeten bringen – ist man einmal vor Ort und mit dem Fotografieren beschäftigt, muss man sich Zeit lassen, sich an die Geschwindigkeit der Menschen, der Tiere, des Lebens anpassen. Auch wenn sich unsere Welt heute schnell, sehr schnell dreht – das Leben folgt nicht dem gleichen Rhythmus. Um Fotos zu machen, muss man das Leben achten.

Zwei- oder dreimal habe ich an diesen langen Herdenwanderungen teilgenommen, zu Pferd, hinter Tausenden von Rindern. Es gab keine Straßen, und wir machten etwa alle zwanzig Kilometer an den estações oder Stationen halt: Die Tiere können nicht länger laufen. Jeden Morgen brachen vier oder fünf Maulesel vor uns auf, beladen mit Küchenutensilien und Planen, die wir abends an Äste knüpften, um darunter unsere Küche zu errichten. Wir aßen etwas Leichtes zu Abend, mit Käse, den meine Mutter sehr gut zuzubereiten wusste, und etwas Kuchen. Wenn wir um vier Uhr morgens aufstanden, aßen wir feijão tropeiro, das traditionelle Gericht aus Bohnen und gepökeltem Fleisch, das sich auf Reisen gut hält. Das war die Hauptmahlzeit des Tages. Unterwegs pflückten wir uns dann Bananen, Orangen.

Mein Land ist sehr schön. Es gibt nicht so hohe, doch prächtige Berge. Wenn eine höhere Gewalt diese Welt erschaffen hat, hat sie mit dieser Landschaft ihr Werk vollendet, denn sie ist wirklich besonders und ganz anders als alles, was ich sonst gesehen habe! Sie ist einzigartig. Dort war es, wo ich lernte, das Licht, das mich mein ganzes Leben lang begleitete, zu sehen und zu lieben. In der Regenzeit, wenn sich die gewaltigen Güsse ankündigen, ist der Himmel voller Wolken. Ich bin mit Bildern von einem schweren Himmel, durch den das Licht bricht, geboren. Dieses Licht hat sich in meinen Bildern verewigt. Im Grunde lebte ich in meinen Bildern, bevor ich begann, selbst welche zu machen. Ich bin auch mit Gegenlicht aufgewachsen: Um meine helle Kinderhaut zu schützen, zog man mir oft einen Hut auf oder setzte mich unter einen Baum, denn damals hatten wir keine Sonnenschutzcreme. So sah ich meinen Vater immer im Gegenlicht der Sonne auf mich zukommen. Dieses Licht, diese Landschaft, das ist meine Geschichte. Und wenn ich heute von Frankreich, wo ich lebe, bis nach Amerika oder China reisen muss, scheint mir das weniger weit als der Weg von unserer Farm zum Schlachthof.

Mit 15 Jahren verließ ich Aimorés, die kleine Stadt mit damals 12.000 Einwohnern in der Nähe der Farm meines Vaters, wo ich zur Schule ging. Ich ging nach Vitória, in den Bundesstaat Espírito Santo, um die weiterführende Schule zu besuchen, und landete auf einem anderen Planeten. Ich kannte zum Beispiel kein Telefon. In meiner Heimatstadt gab es keins. Wir hörten nur Kurzwellenradio, solange es funktionierte, also nur außerhalb der Regenzeit. Wir konnten daher nicht einmal täglich die Nachrichten verfolgen.

Ich gehöre der ersten Generation an, die zum Studieren vom Land in die Stadt zog. Mein Vater war als Apotheker tätig, bevor er Farmer wurde, aber er hatte nie Pharmazie studiert. Zu Beginn der 1930er-Jahre war er in der Revolution aktiv gewesen. Nachdem seine Partei verloren hatte, war er mit meiner Mutter fortgegangen, und sie hatten sich mitten in Minas Gerais ein neues Leben aufgebaut. Bevor er seine Farm kaufte, hatte mein Vater ein Dutzend Maultiere erstanden und mit ihnen Transporte bewältigt, vor allem von Kaffee. Von den Plantagen bis zum Bahnhof von Aimorés trieb er die mit Säcken beladenen Maultiere zwölf Tage lang durch den Wald – schon damals immer diese Ortswechsel! Genau wie sein Vater, mein Großvater, ein Großhändler und Abenteurer, der es liebte, unbekannte Gegenden zu sehen. Er starb an Malaria, weit weg von zu Hause, eine zwei- oder dreimonatige Reise entfernt – zur damaligen Zeit jedenfalls. Seine Familie erfuhr erst zwei oder drei Jahre später von seinem Tod. Alle aus meiner Generation, die aus dem Inneren Brasiliens stammen, haben ähnliche Geschichten zu erzählen.

In Vitória teilte ich meine Wohnung mit fünf oder sechs jungen Leuten. Abwechselnd verwalteten wir einen Monat lang das gemeinschaftliche Budget. So lernte ich in ganz jungen Jahren, ein wenig mit Geld umzugehen. Ich musste einen Nebenjob finden, denn wenn auch mein Vater eine große Farm besaß, so investierte er doch einen erheblichen Teil seiner Erträge wieder in die Farm und hatte demnach nicht viel Geld. Ich arbeitete im Sekretariat der »Alliance française«7, in der Finanzabteilung. Auch dort hatte ich es mit Zahlen zu tun. Mein Vater träumte davon, dass ich Farmer würde wie er, oder Anwalt. Nach der weiterführenden Schule begann ich also mit dem Jurastudium. Ich mochte den geschichtlichen Teil, aber alles Übrige löste wenig Begeisterung bei mir aus.

Damals begann die Wirtschaft Brasiliens sich stark zu verändern. Ende der 1950er-Jahre tauchten die ersten Automobilfabriken auf. Juscelino Kubitschek, der brasilianische Präsident, der von 1956 bis 1961 im Amt war, war mit Sicherheit der dynamischste »Entwickler«, den das Land je gesehen hat. Er ließ Brasília bauen, die neue Hauptstadt, die am 21. April 1960 eingeweiht wurde. Mit ihm erwachte Brasilien aus seinem vierhundertjährigen Schlaf, und wir hatten den Eindruck, in einem neuen Land zu leben. Wie viele junge Menschen wollte ich an dieser Bewegung teilhaben. Das Rechtswesen schien mir veraltet, während die Wirtschaft in meinen Augen das Modernste überhaupt war. Damals wurden die SUDENE 8 und die LAFTA9 gegründet. Wirtschaftsschulen öffneten ihre Türen, also wollte ich Wirtschaftswissenschaftler werden: Ich war bereit, mich in das Abenteuer der Moderne zu stürzen.