Mein Leben mit der stillen Despotin - Anna Maria Liebert - E-Book

Mein Leben mit der stillen Despotin E-Book

Anna Maria Liebert

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Beschreibung

Ein Leben mit einer narzisstischen Mutter: Drei Generationen leben viele Jahre gemeinsam in einer grünen Oase am Münchner Stadtrand. Nach dem Tod des Vaters bricht der jahrzehntelang brodelnde Unmut der Mutter auf ihre gesamte Familie hervor. Sie beginnt ihre emotionale und finanzielle Macht gegenüber ihrer Tochter auszuspielen und Tochter und Enkelin werden zum Spielball ihrer Launen. Eine Zeitreise im Wandel der Lebenssituationen und Gefühle; geprägt von Wut, Trauer und Verlust, aber dennoch voller Lebensfreude, Glück und Liebe.

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Seitenzahl: 329

Veröffentlichungsjahr: 2022

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»Und tief im Herzen, mit einer unfassbaren Naivität, glaubte oder wollte ich an unsere Familie glauben. Und so bekam mein Wolkenkuckucksheim, meine Utopie ohne Bodenhaftung, die ersten tiefen Risse.«

Ein Kündigungsschreiben der Großmutter für eine von ihrer Enkelin Jasmin bewohnte Wohnung:

Das ist für ihre Tochter Marion der Auslöser, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie schreibt einen Brief an ihre Mutter, wobei sie noch einmal Kindheit, Erwachsenwerden, Erwachsensein und Mutterschaft durchlebt. Konsterniert muss sie feststellen, dass sie in großen Teilen kein selbstbestimmtes, sondern ein von ihrer Mutter manipuliertes Leben geführt hat. Marion gelangt zu der Erkenntnis, dass es für sie nur eine Entscheidung geben kann.

ANNA MARIA LIEBERT, 1964 in München geboren, lebt in einer süddeutschen Kleinstadt und arbeitet als Autorin.

»Mein Leben mit der stillen Despotin« ist ihr erster unter diesem Pseudonym veröffentlichter Roman.

Für Jacqueline und Ernst Danke für eure Liebe

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Epilog

Prolog

Am östlichen Münchner Stadtrand zweigte eine kleine Nebenstraße von einer großen Hauptstraße ab. In dieser kleinen Nebenstraße gab es ein großes Grundstück mit der Hausnummer zehn. Auf diesem Grundstück standen zwei Häuser, die von einem langen, sich schlängelnden Weg, gepflastert mit rostroten Steinen, getrennt waren.

Wenn man von dem einen Haus in das andere gelangen wollte, ging man durch ein Spalier von Obstbäumen und Mandelbäumchen, die rosa und weiß erblühten und einen zarten Duft von Frühling verströmten. Ließ man den Blick weiter schweifen, fiel er auf Rabatten, bepflanzt mit Tulpen, Narzissen, Schneeglöckchen und Hyazinthen, der Flieder blühte in unterschiedlichen Lilatönen, die Pfingstrosen schmiegten sich aneinander und reckten ihre dicken weinroten Köpfe stolz aus einem Gewirr von Blättern; der Rasen übersät mit Margeriten und Gänseblümchen.

In diesem saftigen Grün standen wild verteilt fünf Linden, so dick, dass ein Mensch die doppelte Anzahl von Armen benötigt hätte, um sie zu umspannen. Diese fünf Linden wurden seinerzeit von meinem Großvater, der den gleichen Namen wie seine Bäume trug, gepflanzt.

Rosen blühten in rot, gelb und rosa. Äpfel in allen möglichen Sorten, dicke und schmale Birnen, rote Herzkirschen und blaue Zwetschgen hingen an den Bäumen und Himbeer-, Brombeer- und Stachelbeersträucher trugen ihre Früchte zur Schau.

Später im Jahr fielen die braunen in sich geschrumpften Blätter kreisrund um die Bäume und verteilten sich in der feuchten Luft des Herbstnebels glitschig auf dem Weg, bis sie unter den ersten Schneeflocken verschwanden und letztendlich der ganze Garten sich unter einer weißen Schneedecke versteckte.

Diesen langen gewundenen Weg, der sich durch den ganzen Garten zog, ging ich im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter. Bei fröhlichem Vogelgezwitscher, bei gleißendem Sonnenschein, bei zerstörenden Herbststürmen, bei eisigem Schnee. Und bei dem Hagel, der Körner groß wie Tennisbälle vom Himmel krachen ließ, der Fenster zersplittern ließ, der Dachplatten zertrümmerte und den Weg mit seinen frostigen Bällen übersäte.

Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, hatte das Grundstück in den 1920er Jahren als Landsitz zu seiner Stadtwohnung gekauft. Damals, als nur ein kleines Gartenhaus mit einem kleinen Schwimmbecken inmitten eines großen gepflegten Parks, bestehend aus Obstbäumen, den noch in den Kinderschuhen steckenden fünf Linden und bunten Blumen stand, und mein Großvater mit seiner ersten Familie, zu der seine damalige Frau, die früh verstarb, und seine beiden Söhne zählten, in Badeanzügen der damaligen Mode am Pool saßen, gehörten die kleine Nebenstraße, die zu dieser Zeit noch einen anderen Namen trug, und die Hauptstraße, die damals noch nicht groß war, nicht zu München.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlebten meine Großeltern und meine Mutter einen schlimmen, zerstörenden Bombenangriff auf diesem Grundstück. Ich kenne nur die Geschichte meiner Mutter, dass sie vierjährig auf einer Bank hinter einer Holzhütte sitzen musste, während es überall brannte und ihre Eltern das von einer Brandbombe getroffene, in Flammen stehende Häuschen löschten. Ich weiß nicht, ob es die Stadtwohnung noch gab und sie sich zufällig auf diesem Grundstück befanden oder ob die Familie tatsächlich einige Jahre in dem Gartenhaus lebte.

In den 1950er Jahren baute mein Großvater, der in zweiter Ehe das um zwanzig Jahre jüngere Dienstmädchen einer befreundeten Familie geheiratet hatte und mit dieser jungen Frau meine Mutter gezeugt hatte, vorne im Grundstück, an der Straßenseite ein neues Haus; nicht groß, aber optisch ansprechend, mit einem spitzen Giebeldach, wodurch die Zimmer im ersten Stock steile Dachschrägen hatten, einem gemauerten Treppenaufgang zur Eingangstür, einem angebauten Durchgang zum Kellerabgang sowie einem Garagenanbau. Alles in einem Stück, so wie man sich ein Eigenheim in der Nachkriegszeit errichtete.

Der Familie ging es finanziell immer gut. Mein Großvater arbeitete als Steuerprüfer für das Finanzamt, betrachtete sich als geistig höher stehend und wurde nach einer Verwundung im Ersten Weltkrieg nicht mehr als Soldat für den Zweiten Weltkrieg rekrutiert.

Meine Mutter wuchs wohlbehütet in einem kleinen Stückchen Paradies auf. Trotzdem empfand sie ihre Kindheit als unglücklich und konnte ihren Eltern nicht verzeihen, dass sie ihre ersten zwei Lebensjahre bei einer Pflegemutter aufgewachsen war. Erst als ihre Eltern heirateten, nahmen sie meine Mutter zu sich.

Ich habe nie ein gutes Wort über ihren Vater gehört. Er verbot lautes Lachen im Haus, brachte eine Katze, die meiner Mutter gehörte, zu anderen Besitzern und sein Geschenk zu ihrer Volljährigkeit war Geld, damit sie sich eine Tafel Schokolade kaufen konnte. Mit der Volljährigkeit verließ meine Mutter ihr Elternhaus und zog einige Kilometer entfernt in ein Zimmer zur Untermiete.

Kurz nach ihrem Auszug lernte sie meinen Vater, der zu dieser Zeit schon eine dreimonatige Ehe, aus der eine Tochter hervorgegangen war, hinter sich hatte, kennen und fuhr mit ihm zum Skifahren. Sie bezogen als Bruder und Schwester ein Hotelzimmer, und als meine Mutter wieder nach Hause kam, war sie schwanger. Sie verpflichtete meinen Vater, der in seinem ersten Schrecken nicht zu dieser Schwangerschaft stehen wollte, sie zu heiraten.

Weder der Vater meiner Mutter, der die aus dem Arbeiterviertel des Ortsteils stammende Familie meines Vaters als arm und ungebildet betrachtete, noch die Mutter meines Vaters, die die aus dem »elitären« Viertel stammende Familie meiner Mutter als dekadent und hochmütig ansah, waren mit dieser Wahl einverstanden.

Jedoch die Schwangerschaft meiner Mutter ließ keine andere Möglichkeit als die einer Heirat und den Einzug in das kleine Gartenhäuschen im elterlichen Grundstück meiner Mutter zu.

An einem kalten Januarmorgen Mitte der 1960er Jahre erblickte ich das Licht der Welt, und als meine Mutter rote Haare sah, die auf meinem rosa Babyköpfchen sprießten, sagte sie zur Krankenschwester, dass man ihr Kind vertauscht hätte, dass das nicht ihr Kind sein könne, da es keine Rothaarigen in ihrer Familie gäbe. Das entsprach nicht der Realität, denn ihr Vater und einer ihrer Stiefbrüder hatten ebenfalls rötliches Haar.

Meine Großmutter mütterlicherseits, über die ich nur weiß, dass sie aufgrund einer Kinderkrankheit schlecht hörte und deshalb am öffentlichen Leben nur mit Einschränkung teilnehmen konnte, starb einen Monat nach meiner Geburt. Der Mann, der den gleichen Namen wie die fünf von ihm gepflanzten Bäume trug, mein Großvater, starb zwei Jahre danach.

Er vererbte seiner Tochter das große Grundstück mit den beiden Häusern und mein Vater zahlte ihren Stiefbrüdern den ihnen zustehenden Erbteil aus. Meine Eltern vermieteten das Haus meiner Großeltern und wohnten weiter in dem Gartenhäuschen, das die gesamte Zeit meiner Kindheit und einen Teil meines Erwachsenenlebens eine Baustelle war, da mein Vater das Häuschen zu einem stattlichen Haus mit zwei Wohnungen in zwei Stockwerken mit separaten Eingängen sowie einer zusätzlichen Einliegerwohnung im ersten Stock machte.

Nachdem der Mietvertrag des von den Eltern meines Vaters gemieteten Grundstücks im Arbeiterviertel, auf dem sich das Haus seiner Eltern sowie die Schreinerei meines Vaters befand, mit einer kurzen Frist gekündigt und bei einer anschließenden Gerichtsverhandlung das Urteil zugunsten der Vermieter entschieden wurde und das Grundstück in seinen ursprünglichen Zustand zurückgebracht werden musste, ließ mein Vater sein Elternhaus und seine Schreinerei abreißen und entsorgen.

Er baute ein großes Haus im Bayerischen Wald, in welchem er seine Eltern in einer Wohnung im obersten Stockwerk unterbrachte, und fast zeitgleich baute er eine neue Schreinerei etwas außerhalb Münchens, die er dann mit seinem jüngsten Bruder betrieb und deren Mitarbeiterzahl ständig wuchs.

Dem jungen, energiegeladenen Mann aus dem Armeleuteviertel war es gelungen, ein erfülltes Leben als kreativer Handwerker, als angesehener und erfolgreicher Geschäftsmann zu führen.

Wie aber verlief das Leben der jungen hübschen Frau aus besten Verhältnissen, der Frau mit der unglücklichen Kindheit, die so früh ein Kind bekommen hatte, das sie nicht wollte, die einen Mann geheiratet hatte, den sie nicht wollte, und mit Mann und Kind ein Leben führte, das sie nicht wollte?

I

Heute

November 2019

Liebe Mutter, wenn es nach mir ginge, gäbe es keine Kriege. Egal, wie der Krieg entschieden wird, es gibt keine Gewinner. Nur Leid, Trauer, Verzweiflung und Hass auf den Gegner, der wiederum nur Leid, Trauer, Verzweiflung und Hass verspürt. Wie fühlt es sich an, sein menschliches Umfeld, bis auf eine einzige Ausnahme, und es ist fraglich, wie lange die Ausnahme eine Ausnahme bleibt, zu bekriegen? Wie fühlt es sich an, ohne Rücksicht auf Verluste zu gewinnen? Hat dich einer deiner Siege glücklich gemacht? Wobei sich mir die Frage stellt, ob, und wenn ja, wann du jemals glücklich gewesen bist?

Viele Jahre hast du dich darauf berufen: »Wenn mein Mann einmal nicht mehr ist …«

Dein Mann ist nun seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Aber wann in diesen vielen Jahren gelang es dir, länger als den Zeitraum eines Urlaubs, den Zeitraum kleiner Episoden glücklich zu sein? Und nicht voller Neid und Missgunst auf das Leben anderer zu schauen … und nicht die Fehler bei anderen zu suchen … und nicht dich als Leidtragende und die anderen als Verursacher dieser Leiden zu sehen. Wann warst du glücklich? Wann?

Ich bin nicht voller Zorn, Wut oder Hass auf dich. Zorn, Wut oder Hass würden es so viel einfacher für mich machen. Es ist vielmehr eine Art Schmerz, eine Art Trauer und eine Art Unverständnis für mich selbst. Der Schmerz und die Trauer sind das Gefühl von Verlust, das Unverständnis ist der Glaube an ein gutes Ende mit uns beiden, da ich im Prinzip schon lange wusste, dass es das nicht geben würde. Ich frage mich, wer bei deiner letzten Aktion das Ziel deines Angriffs und wer der Kollateralschaden war. Ich oder meine Tochter? Meine Tochter oder ich? Vielleicht hast du auch gar nicht darüber nachgedacht … und vielleicht bist du letzten Endes dein eigener Kollateralschaden …

Ich versuche nicht mehr, dich zu verstehen, denn dieser Versuch, der aus vielen, sehr vielen Versuchen bestand, die sich über Jahrzehnte hinzogen, hat mich nun letztendlich an den Punkt gebracht, dass es für mich nichts zu verstehen gibt. Vielleicht sieht der mit dir befreundete Herr Psychologe, wobei wir schon bei der einzigen Ausnahme, dem einen Menschen, den du nicht bekriegst, angelangt sind, einen anderen Menschen, das Gute, die Lebensfreude, die Empathie in dir, was mich in der momentanen Situation seine Fähigkeiten als Psychologe anzweifeln lässt. Vielleicht bist du aber für ihn auch nur ein besonders spezielles, interessantes Objekt für eine »Fallstudie«, was wiederum für einen guten Psychologen sprechen würde. Gesetzt den Fall, er ist einfach nur nett, hilfsbereit und voller Mitleid für dich und dein schweres Leben, von dem du ihm sicherlich in den schillerndsten Farben erzählt hast, so kann es sein, dass die Zeit des netten Helfens und des Mitleids temporär ist.

Für mich ist nicht relevant, was der Herr Psychologe denkt; für mich ist nur meine Erkenntnis wichtig, dass die kurzen Sequenzen, in denen ich einen fröhlichen Menschen mit sozial- und weltverträglichen Meinungen und Taten – und ich spreche niemals von einer Mutter – kennenlernen durfte, für ein Verstehen einfach nicht ausreichen.

Ich weiß nicht, ob du einmal darüber nachgedacht hast, was es bedeutet eine Mutter zu sein, welches Gefühl damit verbunden sein könnte? Hast du jemals einen Menschen wirklich geliebt? Ich war es jedenfalls nicht. Und mein Vater auch nicht. Und deine Enkelin auch nicht.

Ja, und nun bin ich nach vielen schlaflosen Nächten, nach vielen Tränen, einer ständigen Traurigkeit und einer anhaltenden Fassungslosigkeit so weit, dass ich tatsächlich deine Worte gebrauche: »Ich muss nunmehr an mich denken.«

Und – nur der Vollständigkeit halber – auch an die Menschen, die ich liebe und die mich lieben.

Und irgendwann einmal habe ich auch dich so sehr geliebt … dich, meine Mutter. Aber meine Liebe erreichte dich nicht, du konntest sie nicht annehmen und du konntest mir deine Liebe nicht geben.

So lebte ich viele Jahre in dem Glauben, dass ich es einfach nicht wert war, von dir geliebt zu werden, und so gab ich dir viel zu lange die Möglichkeit, aus mir ein Opfer zu machen, und genau aus diesem Grund, weil ich nicht länger dein Opfer sein will, werde ich diese Front, an der ich mit meinem sozialen Denken, mit meiner Sehnsucht nach Harmonie nie stehen wollte, verlassen und – ich bleibe bei den Kriegsmetaphern – aus deinem Leben desertieren.

Der Schmerz, die Trauer, die ich aufgrund dieser Entscheidung in mir trage, wird sicherlich irgendwann schwächer, weniger werden, aber dennoch irgendwo in meinem Leben, ganz still und kontinuierlich, präsent bleiben …

Und irgendwann einmal habe ich dich so sehr geliebt … dich, meine Mutter …

Liebe Mutter, kannst du dich noch erinnern? Es war vor sechsundzwanzig Jahren im Herbst. Mein Vater und du habt noch in der Wohnung, in der nun meine Tochter mit unserer Katze Maya wohnt, gelebt. Ich war sehr glücklich und sehr verliebt und im Begriff zu heiraten. Ich wohnte mit meinem Mann in spe in dem Haus im vorderen Teil des Grundstücks, das ich mit meinem Ex-Freund mit viel Mühe und Geld renoviert hatte, wobei ich wiederum viel Geld an meinen Ex-Freund bei dessen Auszug bezahlte. Wir zahlten Miete an euch und ihr habt euer Wohnmobil auf meiner Terrasse geparkt und eure Wäsche in meinem Keller aufgehängt … Das war für mich normal, es war euer Haus, euer Grundstück und ich war »nur« eure Tochter. Ich wurde so erzogen, dass ich Achtung und Wertschätzung vor meinen Eltern hatte und dass Eltern prinzipiell im Recht sind.

Aber in den folgenden Seiten wird es weniger um Recht und Unrecht gehen – Recht ist außerhalb des juristischen Kontexts eine sehr subjektive Grauzone; es wird um mein Leben und mein Leben mit dir, unser Verhältnis zueinander, um Häuser, Wohnungen und Geld gehen, dessen Besitz vieles vereinfacht hat, vieles kompliziert hat, und die für dich daraus resultierende Macht, die noch mehr kaputt gemacht hat.

Kannst du dich noch erinnern, vor sechsundzwanzig Jahren im Herbst, als ich nach Arbeitsschluss von meinem Job in einer Versicherung, wo ich auch meinen zukünftigen Mann Ralph, einen attraktiven Mann in einer führenden Position, kennengelernt hatte, kurz bei euch vorbeikam. Ich hatte Fotos für meinen neuen Ausweis zur Namensänderung aufgrund meiner bevorstehenden Heirat dabei. Auf diesen Bildern strahlte ich von innen heraus – wie Mona Lisa. Ich legte für euch ein Foto auf den Küchenschrank, der die Fläche der halben Küche einnahm, den Küchenschrank, der aussah, aussieht wie einer Puppenstube entsprungen, erwachsen aus den Ideen meines Vaters, hergestellt in der Schreinerei meines Vaters, auf dem damals eure Dinge standen, dann meine Dinge standen und auf dem nun die Dinge deiner Enkelin stehen.

Ich sagte: »Ich denke ich bin schwanger.«

Du sagtest: »Blödsinn, das bildest du dir ein.«

Ich sagte: »Doch. Ich spüre das …«

Du sagtest, während du weiter das Geschirr aus dem Spüler räumtest: »Wenn du wirklich schwanger bist, kannst du dir sicher sein, dass ich mich niemals um dein Kind kümmern werde.«

Ich gratuliere dir, liebe Mutter. Du hast das konsequent durchgezogen. Das sind übrigens nicht meine Worte, sondern die meiner inzwischen fünfundzwanzigjährigen Tochter, die gerade den akademischen Grad Master of Arts erlangt hat.

Ich weiß nicht, was andere Enkelkinder bei der Erlangung eines akademischen Grades von ihren Großeltern bekommen, aber dein Geschenk erscheint mir doch sehr ausgefallen und einmalig:

Du hast deiner Enkeltochter unter Zeugen die Kündigung der Wohnung, in der sie seit meinem Auszug vor zwei Jahren alleine mit unserer Katze lebt, in den Briefkasten geworfen. Letztendlich den gleichen Brief, der auch mich, als Mieterin dieser Wohnung, mit Einschreiben Rückschein in der mittelalterlichen Stadt am Fluss, in der ich nun lebe, erreichte.

Es ist nicht der Fakt, dass du die Wohnung für einen neuen Mieter, der Miete bezahlt und Dienste für dich übernehmen soll, die du aus Altergründen nicht mehr leisten kannst, nutzen möchtest, der mich trifft. Verletzt hat mich diese Ahnungslosigkeit, in der du Jasmin und mich gelassen hast, dieses Schweigen vor der Kündigung, diese von dir nicht gegebene Möglichkeit eines Gespräches zur Findung einer gemeinsamen Lösung. Verletzt hat mich die Art und Weise, dieser von einem Postboten überbrachte Brief und die Begründung deiner Kündigung, dass Jasmin zwischenzeitlich ihr Studium abgeschlossen hat – und wir, meine Tochter und ich, nicht gewillt oder in der Lage sind, die Dienste, die du benötigst, zu leisten.

Natürlich musst du, wie du geschrieben hast, nunmehr an dich denken. Aber ganz ehrlich, egal wie viel ich darüber nachdenke und nachgedacht habe, es gibt keinen Zeitpunkt, wirklich keinen einzigen Zeitpunkt, an dem du nicht zuerst an dich gedacht hast.

Und wie nah ist es an der Wahrheit, dass dir niemand von uns helfen wollte?

Nachdem Jasmin nicht mehr mit dir zum Einkaufen fahren wollte, da der Einkauf immer nur an dem Tag und zu der Stunde, die für dich passte, stattfinden sollte und du sie jedes Mal weit über eine Stunde in der kalten Parkgarage des Discounters in ihrem Auto warten hast lassen, bot Jasmin dir an, ihr einmal wöchentlich eine Liste deiner benötigten Einkäufe zu geben, und sie würde diese für dich besorgen. Das war natürlich keine Option für dich, da dieser Vorschlag dir die Möglichkeit, das Prozedere zu bestimmen, nahm. Und so bist du wieder mit deinem Fahrrad, schwer bepackt und bemitleidenswert, durch die Straßen des Münchner Ostens geradelt.

Im Übrigen möchte ich hier noch einmal erwähnen, dass das Thema Auto und Jasmin für dich erst einmal nicht interessant war. Jasmin hat, um ihren Führerschein bezahlen zu können, nach Unterrichtsschluss Schülern Nachhilfe gegeben und an vielen Nachmittagen und Wochenenden in der Firma, in der ich arbeitete, meine Assistentin, die wegen der Krankheit ihrer Mutter lange Zeit ausfiel, ersetzt. Und wenn mein Mann ihr nicht großzügigerweise seinen Zweitwagen überlassen hätte, wäre Jasmin gar nicht im Besitz eines Autos gewesen.

Jasmin hätte deine Einkäufe erledigt. Jasmin hätte dich weiterhin zum Einkaufen gefahren, wenn ihr euch auf einen für beide passenden Zeitpunkt einigen hättet können. Aber es musste alles stante pedes in dem Moment, in dem es dir in den Kopf geschossen ist, erledigt werden. Wir wollten dir bei der Suche nach einem neuen Gärtner – die Erledigung der Gartenarbeiten durch uns scheiterte in der Vergangenheit ja bekanntlich bereits im Ansatz – behilflich sein. Ich wollte, nachdem du mir am Telefon erzähltest, dass du in deiner Wohnung gestürzt bist, so schnell wie möglich einen häuslichen Notruf für dich organisieren. Aber das alles wolltest du nicht.

Und tatsächlich war es so, dass du noch so viel mehr an Hilfe von uns bekommen hättest können, wenn du uns davon in Kenntnis gesetzt hättest, in welcher Form du Hilfe benötigst. Aber im Grunde war es dir wichtiger, dein geheimnisvolles Leben hinter deinen Türen zu hüten, uns nicht in dein Kartenspiel schauen zu lassen, um uns dann geschickt den »Schwarzen Peter« zuschieben zu können und anderen Menschen erzählen zu können, mit welch schrecklicher Familie dich das Leben straft.

Und tatsächlich handelt es sich nicht um Hilfe, die du benötigst, sondern wie du es bereits in deinem Kündigungsschreiben richtig ausgedrückt hast, um Dienste, die jemand für dich übernimmt.

Wie wird es sein, wenn du die Wohnung an neue Mieter vermietest? Werden Sie wissen, dass sie lediglich Bedienstete sind, die dir jederzeit zur Verfügung zu stehen haben? Wirst du sie nach Arbeitsschluss mit einer ausgeklügelten To-Do-Liste am Tor empfangen, wie das Mieterehepaar, das vor Frau Klein und uns die Erdgeschosswohnung bewohnte? Wie werden neue Mieter reagieren, wenn du vor ihrem Wohnzimmerfenster »Unkraut jätest«, um immer wieder einen ungeduldigen Blick in ihre Wohnung zu werfen, ob sie zu Hause und endlich bereit sind, die im Mietvertrag beinhalteten Dienste für dich zu leisten? Wie lange wird ihnen die Gartenarbeit Spaß machen, wenn du mit verschränkten Armen im Garten stehst und ihnen erklärst, welcher Zweig oder Grashalm abgeschnitten werden darf und wann der Rasen gemäht werden darf, während der ganze Garten zu einer Wildnis, einem undurchdringlichen Urwald anwächst? Das konntest du mit dem Gärtner machen, der viele Jahre einmal wöchentlich kam, fast dreißig Euro in der Stunde für seine geleisteten Dienste erhielt und wieder ging. Aber selbst dieser, der sich inzwischen ein schönes Haus in Tschechien gebaut hat, ist nun Vergangenheit.

Und auch alle anderen, die versucht haben, sich um den Garten zu kümmern, haben irgendwann aufgegeben. Letztendlich auch Frau Klein, die sich anfangs mit viel Enthusiasmus in die Gartenarbeiten stürzte. Der Rasen durfte nur gemäht werden, wann es dir passte. Nur war der Rasen dann schon zu hoch zum Mähen. Frau Klein verging ihr Enthusiasmus, als du die dekorativen Sträucher, die sie sehr ordentlich am Zaun entlang gepflanzt hatte, ausgerissen hast, da sie nicht auf dem von ihr gemieteten Bereich standen, um ihr diese vor die Haustür zu werfen. Der Garten war – damals noch – so groß und es gab gar keine klare Absprache, welcher Bereich von ihr bepflanzt werden durfte und welcher nicht.

Irgendwann hast du dann den Rasenmäher weggesperrt, sodass sie nur noch mähen konnte, wenn es für dich die Möglichkeit gab, neben ihr und dem Rasenmäher herzulaufen, um ihr deine Befehle vor Ort, den Motorenlärm überschreiend, vermitteln zu können. Das wollte die Ex-Mieterin aber nicht, und war doch ihr Zeitfenster für die wetter- und werktagabhängigen Mäharbeiten eng, da sie Vollzeit berufstätig war. Sie zog die Konsequenzen und machte nichts mehr im Garten.

Daraufhin wolltest du den mit Frau Klein geschlossenen Mietvertrag, der unter anderem die anfallenden Gartenarbeiten für das gesamte Grundstück beinhaltete, vorzeitig kündigen und so begannen wir Abmahnungen an Frau Klein zu schreiben. Ja, wir. Es war dein Textentwurf, den ich in eine vernünftige Ausdrucksweise und ansprechende Form brachte. Es ist mir im Nachhinein unverständlich, dass ich mich in diese, deine Aktion hineinziehen ließ. Meine einzige Entschuldigung dafür kann nur sein, dass ich ausschließlich deine Aussage kannte, dass du zu meiner Familie gehörtest und dass ich mich für das Grundstück und alles, was damit zusammenhing, verantwortlich fühlte.

Die arme Frau Klein verlor dann, nachdem du ihr, wenn sie abends müde von der Arbeit nach Hause kam, am Tor in der Einfahrt aufgelauert hast, um sie mit bösen Worten und bösen Briefen zu bombardieren, weil dir alles nicht passte, was sie machte respektive nicht mehr machte, die Nerven und zog vor der Fünf-Jahres-Frist, die ihr Mietvertrag beinhaltete, aus.

Letztendlich habe ich mir mit diesen Briefen auch einen Teil meiner eigenen Grube gegraben. Aber das ist ein anderes Thema.

Frau Klein sprach nur ein einziges Mal mit mir. Nach dem, was du ihr im Vorfeld bereits alles über mich erzählt hattest, war ich für sie von Anfang an eine Persona non grata. In diesem einzigen kurzen Gespräch sagte sie, nachdem sie schon sehr, sehr zornig auf dich war, dass du die Gartenarbeiten in ihren Mietvertrag aufgenommen hättest, da ich stinkfaul wäre, desinteressiert an Haus und Garten wäre, nie einen Finger gerührt hätte und mich insgesamt um nichts kümmern würde …

Deine Erinnerung zu diesem Thema war anscheinend etwas lückenhaft, denn vor Frau Kleins Einzug in die Wohnung mähte ich den Rasen, den ich sicherlich auch weiterhin gemäht hätte, wenn es nicht jedes Mal zum Eklat gekommen wäre, weil du über jedes unabsichtliche Abmähen einer Margerite, eines Gänseblümchens oder eines Hahnenfußes in wütendes Schimpfen ausgebrochen bist, während du neben mir und dem Rasenmäher hergelaufen bist. Der Garten hatte eintausendsechshundert Quadratmeter. Wie schon erwähnt, durfte nur gemäht werden, wann du es für nötig empfandest, und zu diesem Zeitpunkt war der Rasen für den Elektromäher eindeutig zu hoch. Meistens schien die Sonne und es war heiß; und ganz ehrlich, wenn du nur einmal den ganzen Rasen gemäht hättest und die Rasenmengen, die sich im Auffangkorb sammelten, zum Kompost geschleppt hättest, dann wüsstest du, welche körperliche Anstrengung dahintersteckt und dass man im Schweiße seines Angesichts nur noch fertig werden will. Ohne Rücksicht auf Verluste von Gänseblümchen.

Nachdem Frau Klein nicht mehr Willens war ihren Gartenarbeiten nachzukommen, mähte ich den Rasen, befreite den Garten vom Laub der drei noch verbliebenen, aber inzwischen riesigen Linden, kehrte die Wege und schippte den Schnee – bis du dich wieder daneben gestellt hast und alles, was ich tat, wieder nicht zu deiner Zufriedenheit war.

Liebe Mutter, es war unser letztes Telefonat, das ich mit dir aus der Stadt am Fluss führte, das Telefonat, in dem ich dir vorgeschlagen habe, uns zusammenzusetzen und gemeinsam Angebote über einen häuslichen Notruf einzuholen. Ich war wirklich erschüttert über die Schilderung deines Sturzes in der Wohnung – nach dem du einige Zeit hilflos mit Schmerzen auf dem Boden gelegen bist – und so sagte ich zu dir: »Was machst du, wenn du wieder stürzt und gar nicht mehr aufstehen kannst? Es kann dir keiner helfen, weil es keiner merkt.«

Eine ganz andere Frage ist, warum es keiner merkt. Warum weder Jasmin noch ich einen Schlüssel für deine Wohnung haben? Warum du keinen normalen Kontakt zu deiner Enkelin hast? Oder zu mir? Oder zu irgendeinem anderen Menschen, der bereit wäre, dich täglich zu kontaktieren oder nach dir zu schauen?

Deine Freundschaften, die du mit den unterschiedlichsten Menschen schnell geschlossen hast, gingen genauso schnell wieder in die Brüche. Du empfandest alle als egoistisch und nicht hilfsbereit. Sie übernahmen alle zu wenig Dienste für dich. Aber was warst du bereit für andere zu tun? Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals Gäste zu deinem Geburtstag oder zum Essen oder auch nur zum Kaffeetrinken in deine Wohnung eingeladen hättest. Ich habe auch nie gesehen, dass du Hilfsbereitschaft oder Empathie für andere Menschen gezeigt hättest. Die Geschichten, die ich von dir kannte, handelten nur von deinem Unverständnis für das Denken und Handeln anderer Menschen. Und solltest du in Wirklichkeit eine selbstlose Samariterin sein, so habe zumindest ich nichts davon bemerkt.

Nur der Herr Psychologe, dieser Nachbar, der dir beim Kündigungsschreiben unserer Wohnung behilflich war, der kommt noch jede Woche, um dich zu besuchen. Wird er als »Berufslakaie« in unsere Wohnung einziehen? Mich würde interessieren, was du ihm über mich und Jasmin erzählt hast, dass er sich in solche Machenschaften hineinziehen hat lassen.

Wissen der Herr Psychologe und seine Frau eigentlich, dass du, nachdem du zweimal mit ihnen im Urlaub gewesen bist, stinksauer auf sie warst, als sie nicht dazu bereit waren, dich ein drittes Mal mitzunehmen?

Und dann gibt es noch die anderen Nachbarn. Alle, wirklich alle, haben Probleme mit der Wildnis deines Gartens. Mit deinen Sträuchern und Bäumen, die so hoch und so ausladend sind, die so nah am Zaun stehen, dass sie den Nachbarn in ihren kleinen Gärten die Sonne, das Licht nehmen oder die Satellitenschüssel stören, sodass der Fernseher eines Nachbarn fast ausschließlich als Dekorationsobjekt in dessen Wohnzimmer stand. Und die Birke, die der Sturm umriss, die Zäune in zwei weiteren Grundstücken niederdrückte, Blumenbeete verwüstete und Terrakottatöpfe zerschmetterte. Du hast dich für diesen Schaden nicht im Geringsten verantwortlich gesehen. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob du die Birke aus den Nachbargärten entfernen hast lassen. Und der noch aus Vorkriegszeiten stammende stark verrostete Drahtzaun, den ein Nachbar austauschen wollte und dich fragte, ob du dich an den Kosten eines neuen Gartenzauns beteiligen würdest; was du natürlich nicht getan hast. Es gibt so viele nachbarschaftliche Begebenheiten, die ich hier gar nicht aufzählen möchte.

Belassen wir es dabei, dass du mit einigen Nachbarn vor Gericht warst, mit einem auf der Schlichtungsstelle und bei einigen Nachbarn hast du einfach die Beschwerdebriefe mit Sammelunterschriften so lange ignoriert, bis sie aufgegeben haben. Und die Bäume und Büsche recken sich unaufhaltsam immer weiter gen Himmel und in die Nachbargrundstücke.

Deine Antwort bezüglich des häuslichen Notrufs war, dass das im Moment für dich nicht interessant ist. Ja, war es im Moment nicht, denn du warst damit beschäftigt, mich nach meiner Adresse zu fragen, um mir die Kündigung für die Wohnung in München schicken zu können. Es ist armselig von mir, dass ich dir seit meinem Auszug meine neue Adresse nicht mitgeteilt habe, aber genauso armselig ist es von dir, dass sie dich bis zu diesem Zeitpunkt nicht interessiert hat.

»Ja, wenn mal was ist mit mir, dann habe ich deine Adresse«, sagtest du in weinerlichem Tonfall.

Und tatsächlich erreichte mich noch nicht einmal eine Woche später besagtes Einschreiben mit Rückschein.

Und zwischen unserem Telefonat und dem Erhalt der Kündigung hast du dich noch seelenruhig von meinem Mann und mir auf den Friedhof fahren lassen. Welches Grab wolltest du da eigentlich besuchen? Das von deinem Mann, deinen Eltern? Meintest du das Grab, das du vor sechs Jahren offiziell aufgelöst hast und dessen Grabstein abtransportieren lassen wolltest?

2013

Erinnerst du dich, du warst gerade wegen Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus. Am Vorabend schneite es, als würde Frau Holle die Betten einer ganzen Stadt ausschütteln. Du hast mich ganz aufgelöst angerufen, du hättest Herzprobleme, und ich kam zu dir in die Wohnung, hielt deine Hand, versuchte dich zu beruhigen und rief in aufsteigender Panik den Notarzt, der dich dann mit Sirene und Blaulicht ins Krankenhaus brachte. Ich weinte vor Sorge um dich, räumte deine Wohnung auf und befreite den Parkettboden von den nassen, schmutzigen Abdrücken der Stiefel der Rettungssanitäter.

In diesem Schneegestöber suchten Jasmin und ich mit einer Taschenlampe und klammen Fingern den Ersatzschlüssel für deine Haustüre, der sich, wie von dir – bereits auf der Trage der Sanitäter liegend – vage beschrieben, in irgendeinem Mauervorsprung versteckte, um die Tür zuschließen und am nächsten Tag wieder aufschließen zu können. Wir waren seit vielen Jahren, seit du wegen uns (das Warum entzieht sich nach wie vor meiner Kenntnis) das Schloss auswechseln hast lassen, nicht mehr im Besitz eines Schlüssels. Ebenso viele Jahre war ich nicht mehr in deiner Wohnung und es dauerte am nächsten Morgen lange, die passende Unterwäsche und Handtücher für dich zu finden, um dir diese ins Krankenhaus bringen zu können. Was soll ich sagen? Trotz meiner Bemühungen konnte ich dich mit meiner aufwändigen Auswahl der Wäsche und der Handtücher natürlich nicht zufrieden stellen.

Ich weiß nicht, was deine Herzrhythmusstörungen hervorgerufen hat; vielleicht war der Auslöser tatsächlich das Schreiben der Friedhofsverwaltung über die auslaufende Pacht des Familiengrabes, die um weitere fünf Jahre verlängert werden sollte, das dich mit der Vergangenheit in Form deines ungeliebten Mannes und deines ungeliebten Vaters konfrontierte?

Wie auch immer, als wir uns dann in der Cafeteria des Krankenhauses auf den wackligen Stühlen, die um einen runden wackligen Plastiktisch standen, gegenübersaßen, wolltest du mit diesem Grab nichts mehr zu tun haben, die Pacht nicht weiter verlängern und den Grabstein abtransportieren lassen. Ich war sehr erschüttert; nicht nur, dass jemand, der gerade mit Blaulicht und Sirene ins Krankenhaus transportiert worden war, an nichts anderes dachte als an die Auflösung des Familiengrabs, sondern auch, dass dir jeglicher Respekt vor den Menschen fehlte, die in diesem Grab in Frieden ruhen, die uns allen dreien – dir, meiner Tochter und mir – eine sehr komfortable Wohnsituation und zumindest dir zudem noch ein finanziell abgesichertes Leben ermöglicht haben. Als ich das in abgeschwächter, verträglicher Form zu dir sagte, hast du mich nur still, kommentarlos und teilnahmslos betrachtet.

Am nächsten Tag führte ich ein langes Telefongespräch mit der sehr irritierten Sachbearbeiterin der Friedhofsverwaltung, die mich erst einmal darüber aufklärte, dass ich zu Lebzeiten meiner Mutter nicht das Recht hätte, das Grab zu übernehmen, auch dann nicht, wenn diese die Pacht auslaufen lässt.

Ich versuchte ihr so lange darzulegen, was das Grab meiner Vorfahren für mich bedeutete, wie mich diese mutwillige Zerstörung eines Denkmals, die Zerstörung eines Andenkens erschütterte, bis sie mir – inzwischen auch erschüttert über deine Handlungsweise – versprach, die Unterlagen auf meinen Namen umzuschreiben und mir die Rechnung über das Nutzungsrecht des Grabes zuzusenden.

Heute

November 2019

»Ich komme, seit ich zu alt zum Fahrradfahren geworden bin und mich niemand mit dem Auto fährt, nicht mehr auf den Friedhof«, hast du gejammert, während mein Mann und ich dich zum Friedhof gefahren haben.

Du warst seit fast zehn Jahren nicht mehr dort, obwohl du das Radfahren erst dieses Jahr eingeschränkt hast.

Und was wolltest du auf dem Friedhof? Um das Grab tanzen und mit der fröhlichen Melodie des Kinderliedes »Le coq est mort« »Mein Mann ist tot« singen? Dein Hass auf deinen Mann, meinen Vater und Jasmins Großvater, hat sich in den neunzehn Jahren seit seinem Tod jedes Jahr um ein Stück potenziert. Sehr oft ging es in unseren langen Telefongesprächen um meinen Vater, der dich mehr als dreißig Jahre tyrannisierte, der dir mehr als dreißig Jahre deines Lebens gestohlen hat, der dein Leben mehr als dreißig Jahre behinderte und, um deine Worte zu gebrauchen, letztendlich dein ganzes Leben »verpfuscht« hat.

Und deinen Vater, der dir in seiner unfassbaren Lieblosigkeit zum einundzwanzigsten Geburtstag, deiner Volljährigkeit, nur das Geld für eine Tafel Schokolade in die Hand gedrückt hat. Weißt du noch, was ich zu meiner Volljährigkeit von dir und meinem Vater bekommen habe? Nichts. Und ihr wart auch gar nicht da, um mir zu gratulieren. Ich habe an diesem Tag mein Leben selbst in die Hand genommen und mit meinen Freunden eine spontane Party mit Sekt, Zigaretten und Chips gefeiert und ich war sehr glücklich damit.

Gut, du hast unter der Lieblosigkeit deines Geburtstagsgeschenks ein Leben lang gelitten, aber hat dein Vater nicht dir das ganze Grundstück vererbt und nicht seinen Söhnen aus erster Ehe? In einem unserer letzten Gespräche hast du sogar angezweifelt, dass er dein leiblicher Vater ist, wo er dir doch, wenn er so gewesen ist, wie du ihn beschrieben hast, ganz offensichtlich einige Charakterzüge vererbt hat und mir die rötlichen Haare.

Wolltest du auf dem Friedhof deine alljährliche Weihnachtsgeschichte über deine toten Angehörigen in der anderen Welt auffrischen, um uns das vierte Jahr in Folge zu erzählen, dass du deine Mutter im Drüben von ihren Schmerzen, die so viele Jahre nach ihrem Tod immer noch ihren Körper peinigten, unter großer Gefahr deines eigenen Lebens, in die dich die Männer in den weiten dunklen Kapuzenkutten brachten, befreien konntest; dass du im Drüben Frieden mit deinem Vater geschlossen hättest, wovon aber in deinem realen Leben nichts zu bemerken war, und dass mein Vater gleich einem Zombie mit fleischigen, weißen Maden übersät, die aus Mund, Nase, Brust und Bauch krochen, durch Zeit und Raum wandelte?

Meiner Tochter, meinem Mann und mir war die Geschichte schon beim ersten Mal zu viel. Wir ließen sie aber noch zwei weitere Male tapfer über uns ergehen, und wir haben uns trotz allem bemüht, ein liebevoll angerichtetes Buffet mit dem frisch aus Alaska importieren Lachs, der dir so gut schmeckte, aufzutischen; es zugelassen, dass sich an diesem Abend alles nur um dich, deine Befindlichkeiten, deine Entfaltung und deine Toten im Drüben drehte, wobei wir nur sprach- und appetitlos vor unseren Tellern saßen und uns am Wein vergriffen. Und obwohl ich wusste, dass dieser Abend jedes Mal den gleichen Verlauf nehmen würde, und obwohl zwischen uns vorher schon so viele unschöne Dinge passiert sind, wobei du nicht darüber nachgedacht hast, wie es uns dabei ging, habe ich es nicht über das Herz gebracht, dich einsam, unglücklich und alleine in deiner Wohnung sitzen zu lassen, während wir einen lustigen, fröhlichen und glücklichen Abend verbracht hätten.

Schließlich waren wir eine »Familie«, so wie es alljährlich auf dem Kuvert, das eine Weihnachtskarte und dreißig Euro beinhaltete, in deiner akkuraten Schulmädchenhandschrift mit den riesigen Buchstaben stand:

»Für meine Familie …«

Heute

Dezember 2019

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in der sonnendurchfluteten Wohnung an meinem Schreibtisch in der Stadt am Fluss. Wenn ich aufblicke, sehe ich den manchmal blauen, manchmal grünen, manchmal grauen Fluss vorbeifließen. Diese Wohnung mit der großen Dachterrasse ist, wie ich mir eine für mich passende Wohnung immer vorgestellt, erträumt und gewünscht habe. Ich lebe hier mit meinem Mann, der auch genauso ist, wie ich mir einen Mann für mich immer vorgestellt, erträumt und gewünscht habe. Georg und ich haben in aller Stille – nur mit Jasmin – im März dieses Jahres geheiratet. Wir haben geheiratet, weil wir uns lieben, weil wir uns verstehen, weil wir am selben Strang ziehen, weil wir miteinander lachen und weinen und weil wir bis ans Ende unserer Tage füreinander da sein wollen.

Wir haben dir nichts von unserer Hochzeit gesagt, ebenso wie wir dich nie in unsere neue, gemeinsame Wohnung eingeladen haben. Was denkst du, warum?

Vielleicht möchtest du dein Kündigungsschreiben, dessen Wortlaut, wie ich annehme, dank des Herrn Psychologen bereits diplomatischer formuliert wurde als in deinem Entwurf und dank der Frau des Herrn Psychologen, die in einer Anwaltskanzlei arbeitet und dir deshalb mit den Paragraphen des Kündigungsrechts behilflich sein konnte, auch in rechtlich korrekter Form bei uns eintraf, noch einmal lesen. Und vielleicht möchtest du beim nochmaligen Lesen den Gedanken mitschwingen lassen, dass zwar ich mich nach dreiundfünfzig Jahren deinem Einfluss auf dem elterlichen Grundstück entzogen habe, was ja letztendlich kein Drama ist, da wir seit fast zwanzig Jahren nicht das beste respektive gar kein Verhältnis zueinander haben, aber Jasmin, deine Enkelin, die im Moment nur einen kleinen Job in einem Nachhilfeinstitut hat, mit unserer fast siebzehn Jahre alten Katze in dieser Wohnung lebt. Und vielleicht kannst du uns danach auch erklären, was die Mieteinnahme von neuen Mietern so attraktiv macht, dass es für uns die Option, Miete an dich zu bezahlen, nicht gibt.

Du konntest nun fast achtzig Jahre deines Lebens in einem Haus in der kleinen Straße verbringen und ich gönne dir noch viele unbeschwerte Jahre des Residierens in deinem Reich. Nur am Rande eine kleine Zwischenfrage: Wem hast du das zu verdanken? Aber vielleicht handelte es sich bei deinem kürzlichen Friedhofsbesuch ja um eine Geste des Dankes …

Und vielleicht möchtest du dir in diesem Zusammenhang, nur für dich im »stillen Kämmerchen«, die Frage, wie es sich für dich anfühlen würde, dein Heim zu verlieren und das Grundstück in der kleinen Straße verlassen zu müssen, beantworten. Dein Heim, das im Übrigen nicht nur aus zwei Wohneinheiten besteht, sondern aus drei, denn es gibt auch noch die Einliegerwohnung. Also ist der § 573 a Abs. 1 BGB, den du in deinem Schreiben anführst, letztendlich ungültig. Aber keine Angst, deine Enkelin wird ausziehen, ich werde meine zurückgelassenen Möbel verkaufen, entsorgen oder zwischenlagern, und wir werden dein Grundstück ohne den Versuch, uns zu wehren, verlassen. Jasmin ist nur in Sorge um ihre Katze, die im Mai siebzehn Jahre in der kleinen Straße und deren Umgebung rumgestromert sein wird, ob diese den Umzug und die Eingewöhnung in ein neues Zuhause gut übersteht.

Im Übrigen sind meine Tochter und ich sehr dankbar, dass du bei unserem Einzug in die Wohnung auf einen Mietvertrag bestanden hast und dich nun an die gesetzlichen Kündigungsfristen halten musst. Für das Haus, in das ich viel Geld, viel Arbeit und viel Liebe zum Detail gesteckt hatte, in dem ich viele Jahre gelebt habe, anfangs mit meinem Ex-Freund, dann mit meinem Ex-Mann und unserer Tochter, kurzfristig mit meinem damaligen Lebensgefährten Walter und schließlich nur noch mit Jasmin und unserer Katze, gab es keinen Mietvertrag.

Kündigung des Mietverhältnisses

Liebe Marion,

wie du weißt, hat Deine Tochter zwischenzeitlich ihr Studium abgeschlossen. Nachdem ihr mietfrei wohnt und du als Mieterin seit über zwei Jahren ausgezogen bist, muss ich nunmehr an mich denken. Ich benötige die Wohnung für einen neuen Mieter, der Miete bezahlt und der für mich Dienste übernimmt, die ich selbst aus Altersgründen nicht mehr leisten kann und die ihr nicht gewillt oder in der Lage seid, zu tun.

Ich kündige das o.g. Mietverhältnis gemäß § 573 a Abs. 1 BGB (erleichterte Kündigung in einem vom Vermieter selbst bewohnten Gebäude mit 2 Wohneinheiten) zum 30.11.2020. Dies entspricht der gesetzlichen Frist.