Mein letzter Rausch - Valentin Susanna - E-Book

Mein letzter Rausch E-Book

Valentin Susanna

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Beschreibung

Der Ausstieg aus der Sucht ist und bleibt ein anspruchsvoller Kampf.« – Ambros Uchtenhagen Jahrelang hat sich der Psychiater mit suchtkranken Menschen auseinandergesetzt, im direkten Umgang mit ihnen neue Behandlungsmethoden entwickelt. »Entscheidend ist: Es gibt geheilte Süchtige. Sie alle haben diesen Kern in sich gefunden: Ich will das nicht mehr, ich muss das schaffen.« Der Sprung in die Unabhängigkeit aus einer Suchterkrankung ist schwer einzuschätzen. Der Fall: bodenlos; die Landung: ungewiss. Im Buch »Mein letzter Rausch« lassen neun Menschen Leserinnen und Leser daran teilhaben, weshalb sie zu diesem Sprung angesetzt und wie sie in ihrem Leben wieder Halt gefunden haben. Ihre Geschichten sind berührend und kraftvoll zugleich. Sie zeigen auf, welche Sehnsucht sich lange Zeit hinter ihrer Sucht versteckt hat. Und sie zeigen ebenso, wie sich das Leben anfühlen kann, bestimmt die Abhängigkeit nicht mehr den Alltag. Das Ziel der Protagonisten ist es, suchtkranken Menschen Mut zu machen, den Schritt in die Ungewissheit zu wagen. So individuell die Gründe für die Abhängigkeit sind, so individuell werden heute deren Behandlungsmöglichkeiten in der Schweiz gestaltet. Mit dem 1992 lancierten Vier-Säulen-Modell reagiert die Schweizer Suchtpolitik seither auf vier Ebenen auf die Komplexität, die die Sucht mit sich bringt: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Pascal hat seine gefühlskalte Kindheit in jahrelanger therapeutischer Begleitung aufgearbeitet, Jeannine setzte zuerst auf die kontrollierte Abgabe eines Substitutes, bevor sie sich ganz davon löste. Marco lernte Repression hinter Gittern kennen, bevor er sich nicht mehr zu den Süchtigen an der Zürcher Langstrasse, der Drogenumschlagstelle der 1990er-Jahre zählen musste. Viel hat sich bewegt in den vergangenen Jahren, längst ist die absolute Abstinenz nicht mehr das erklärte Ziel einer Suchtbehandlung; der Gewinn von Gesundheit und Lebensqualität ist es, was zählt. In Zusammenarbeit mit Alkohol und Suchtberatung Bezirk Meilen

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Susanna Valentin

MEIN LETZTER RAUSCH

Porträts über eingutes Lebennach der Sucht

Die Autorin und der Verlag bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei

Kantonales Sozialamt, Soziale Einrichtungen

Verena Boller Stiftung

Frieda Locher-Hofmann Stiftung

Gemeinnützige Gesellschaft Bezirk Meilen

Lions Club Meilen

den Gemeinden Herrliberg, Küsnacht, Männedorf, Uetikon und Zumikon

Katholische Pfarrei St. Marien Herrliberg

Reformierte Kirchgemeinde Uetikon

Katholische Kirche Zollikon, Zollikerberg, Zumikon

Privater Spender

Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Erste Auflage Frühjahr 2022

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich [email protected] | www.ruefferundrub.ch

Cover: © Clique Images | stocksy.com

Porträt Valentin: © Moritz Hager

Porträt Eidenbenz: © Felix Eidenbenz

Alle Porträts: © Felix Eidenbenz

Alle Namen mit * wurden geändert.

E-Book-Konvertierung: Bookwire GmbH

ISBN 978-3-906304-99-1

eISBN 978-3-907351-08-6

Vorwort

Die Sehnsucht hinter der Sucht

Porträt | Jeannine, 31 Jahre

Porträt | Marco, 38 Jahre

Porträt | Gabriela, 54 Jahre

Von Kindesbeinen bis ins hohe Alter

Kleine Schritte, die Großes ermöglichen

Aus der Illegalität durch medizinische Verschreibung von Opioiden

Repression mit Schadensminderung

Porträt | Angelika, 48 Jahre

Porträt | Daniel, 44 Jahre

Porträt | Stefan, 59 Jahre

Von Abstinenz zu Toleranz – und wieder zurück

100 Prozent Genuss, 0 Promille

Rausch ohne Drogen und Alkohol

Porträt | Bamrung, 64 Jahre

Porträt | Pascal, 52 Jahre

Porträt | Rolf, 74 Jahre

101 Jahre Alkohol- und Suchtberatung Bezirk Meilen

Biografien

Vorwort

»Es braucht Mut, aus dem Hamsterrad auszusteigen, neue Wege einzuschlagen, ohne zu wissen, wohin der Weg führt.« – Susanne Schultz, Alkohol- und Suchtberatung Bezirk Meilen (asbm)

Wir sind auf der Reise ins Bündnerland, blicken auf die Wälder, erste schneebedeckte Bergspitzen und freuen uns auf die zwei Tage in den Bergen, auf Tage in der Natur, in der Abgeschiedenheit. Warum nur nehmen wir uns nicht viel öfters eine solche Auszeit? Es scheint, als ob wir im Hamsterrad des Alltags gefangen wären. Die Gedanken an ein anderes – ein erholteres, entspannteres – Leben blenden wir aus. Haben wir keinen Platz für Genuss und Muße? Die Gedanken schweifen weiter, weg von der Freizeit zur Arbeit. Sind viele unserer Klientinnen und Klienten nicht auch im Hamsterrad gefangen? Im Hamsterrad der Sucht? Das Leben kreist um die Sucht, um die guten Gefühle, die das Suchtmittel kurzfristig schenkt, aber auch um das Verheimlichen, um Schuldgefühle, um Scham und um Selbstvorwürfe. Wie ein Leben ohne süchtiges Verhalten aussehen könnte, ist für viele gar nicht mehr vorstellbar: Die Perspektiven fehlen.

So entstand die Idee für dieses Buch: Porträts von Menschen, die den Weg aus der Sucht geschafft und neue Lebensinhalte gefunden haben. Personen, die einen Einblick vermitteln können, wie ein Leben nach der Sucht aussehen kann. Dieser neue, freiere Alltag muss nicht bühnenreif sein; die Überwindung der Sucht ist eine Leistung für sich. Plötzlich wird wieder Energie frei, die Lebensqualität größer, die Freiheit ohne Abhängigkeit spürbar. Marco kann ohne Heroin ein guter Vater sein, Jeannine bildet sich weiter, Gabriela ist ohne Alkohol körperlich wieder auf der Höhe und Daniel schreibt gehaltvollere Lyrics. Die neun Porträts sollen Mut machen und Bilder einer möglichen Zukunft – einer Zukunft ohne Sucht – aufzeigen.

Es braucht Mut, aus dem Hamsterrad auszusteigen, neue Wege einzuschlagen, ohne zu wissen, wohin der Weg führt. Wie dieser Weg von Fachleuten begleitet werden kann, auch darüber wird in diesem Buch in kurzen Zwischentexten geschrieben, und wie Lebensgenuss auch suchtmittelfrei erlebt werden kann.

Es braucht aber auch Mut, sich für dieses Buch porträtieren zu lassen, sich den Fragen der Autorin Susanna Valentin zu stellen. Ich weiß, dass diese Gespräche viele Beteiligte aufgewühlt haben, Gedanken an durchgestandene Krisen wieder aufleben ließen. Der Blick zurück auf den eigenen Weg hat jedoch auch nochmals aufgezeigt, was geleistet wurde und was sich unterdessen im Leben alles zum Besseren verändert hat.

Neun Porträts, neun Lebensgeschichten, jede ist einzigartig. Es sind ganz normale Menschen, die Wirtefachfrau, die Lehrerin, der Handwerker, der Banker: Sie alle vereint, dass sie es gewagt haben, ihren ganz eigenen Weg aus der Sucht heraus in eine bessere Zukunft zu gehen. Schritt für Schritt für Schritt, wie Susanna Valentin treffend schreibt.

Ich freue mich, dass dieses Buch zustande gekommen ist und danke allen daran Beteiligten, allen voran den Porträtierten. Danke, dass ihr uns eure Geschichte anvertraut und damit anderen Betroffenen Mut macht!

Zum 101-jährigen Jubiläum der Alkohol- und Suchtberatung Bezirk Meilen

Januar 2022

Susanne Schultz

Stellenleiterin

Die Sehnsucht hinter der Sucht

Psychiater Ambros Uchtenhagen [Porträt] hat als Suchtspezialist den Umgang mit Suchterkrankungen in der Schweiz entscheidend mitgeprägt. So individuell die Gründe für die Abhängigkeit sind, so individuell wollte er deren Behandlungsmöglichkeiten gestalten. Auf diesem Grundsatz wirkte er bei der Umsetzung des Vier-Säulen-Modells maßgeblich mit.

Er rauchte viel, sehr viel: »Ich war ein stark süchtiger Raucher, insbesondere in meinen Studentenzeiten, über Jahre hinweg.« 93-jährig ist der Sozialpsychiater Ambros Uchtenhagen nun; er lehnt sich kurz in seinem Sessel zurück, nur um sich gleich wieder aufzurichten. »Damals war Rauchen absolut üblich, überall wurde geraucht, jederzeit.« Einer von vielen Sachverhalten, der sich in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz grundlegend verändert hat. Er selbst hat sich dafür eingesetzt, präventiv über die gesundheitlichen Folgen chronischen Rauchens aufzuklären. Als Suchtspezialist hat Uchtenhagen aber noch viel mehr zu bedeutenden Revisionen im Umgang mit Abhängigkeiten beigetragen. Er war es, der die ersten Versuche der heroingestützten Therapie nicht nur konzipiert, sondern auch durchgeführt und die Umsetzung des bis heute angewandten Vier-Säulen-Modells der Schweizer Suchtpolitik entscheidend mitgeprägt hat.

Die Sucht, er hat sie an verschiedenen Ecken der Welt angetroffen. Nach einem Philosophie-, Psychologie- und Medizinstudium reiste Ambros Uchtenhagen für die World Health Organization (WHO) nach Afghanistan. Das Problem, das es zu beobachten galt: den Mohnanbau. »Anfang der 1970er-Jahre gab es die ›UNO single convention‹, die diesen Anbau aufgrund der Herstellung von illegalem Opium und Heroin verbot.« Da der Anbau der roten Blumen und insbesondere deren getrocknetem Milchsaft, den es zur Opiumgewinnung braucht, die einzige Einnahmequelle für die Landbevölkerung war, kam es zu großen Unruhen. »Nach der Zerstörung der Felder blieb den Bauern nichts, sie hatten keine Einkünfte mehr.« Eine Not, die in Rebellion mündete und deren Hintergründe Uchtenhagen unersuchen wollte. Es galt, mit den Ergebnissen einer Feldstudie vor Ort die Situation zu klären. »Diese Not zu sehen war unglaublich schwer. Viele Menschen waren zudem selbst opiumsüchtig. Einfach, weil es sonst nichts gab.« Auch zur Behandlung von Krankheiten hätte es nur Opium gegeben; die Hilflosigkeit, ausgelöst durch den Mangel, der sich über alle Lebensbereiche zog, war allgegenwärtig. Obwohl er vor einiger Zeit dem Rauchen abgeschworen hatte, griff Uchtenhagen in Afghanistan wieder zur Zigarette. Zu stark war die emotionale Erfahrung, dieses Elend so unmittelbar vor Augen zu haben. Das Rauchen ließ er nach seiner Rückkehr wieder, diesmal für immer. Das Erlebte allerdings beeinflusste fortan seinen fachlichen Umgang mit der Sucht. »Es waren Bilder, die ich mit nach Hause trug.«

Sein Zuhause war dort, wo er als Psychiater im »Burghölzli«, der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich – kurz PUK –, arbeitete. Auch privat in Zürich zu Hause, schwärmt er noch heute von den illustren Runden, in denen er und seine verstorbene Frau, der ersten Bundesratsanwärterin Lilian Uchtenhagen, so manche Abende verbrachten. »Das waren tiefe Freundschaften, vorwiegend mit Künstlern«, sinniert er, seine Worte von Anerkennung untermalt, »Maler, Bildhauer, Architekten, Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, bedeutende Männer wie Max Frisch und Max Bill …« Treffen, bei denen munter diskutiert und politisiert, die Gedanken geteilt und weitergedacht, Möglichkeiten ausgelotet wurden. Die Erinnerung daran lässt den zwar in die Jahre gekommenen, aber dennoch so wachen Mann kurz schweigen. Die Uchtenhagens führten ein inspirierendes Leben. Bewegt, beobachtend und immer wieder aufhorchend, welche Missstände es zu beheben galt. Soziales Denken war nicht nur die Botschaft der Sozialdemokratischen Partei seiner Frau, auch für den wissensdurstigen Psychiater war die Verbesserung des Lebens jedes Einzelnen stets von großer Bedeutung.

Auf Missstände traf er schon als Assistenzarzt im Burghölzli. »Die psychiatrischen Spitäler waren vielerorts völlig überlaufen. Matratzen lagen in den Fluren, Menschen wurden hier einfach untergebracht und mehr schlecht als recht begleitet.« Sozialpsychiatrie wurde sein Spezialgebiet, er setzte sich dafür ein, auch die äußeren Umstände eines Menschen in die Therapie einzubeziehen.

Was bietet sozialen Rückhalt? Das war die zentrale Frage, der Uchtenhagen in der Therapie psychiatrischer Erkrankungen viel mehr Gewicht geben wollte. »Können die Klienten und Klientinnen trotz ihrer Erkrankung einer Arbeit nachgehen oder zum Beispiel Teil eines Sportvereins sein, trägt das zu ihrem Wohlbefinden, sozialer Eingliederung und einem gesünderen Selbstbewusstsein bei«, so seine These. Kritisch beobachtet von Manfred Bleuler, dem damaligen Direktor der PUK, öffnete er geschlossene Türen und ließ Klinikbewohner und Klinikbewohnerinnen am Leben außerhalb teilhaben. Bald fanden sich viele außerhalb der Klinik zurecht und konnten in die ambulante Betreuung entlassen werden. Es zeigte sich also, dass diese Maßnahme erheblich zur Entlastung der psychiatrischen Einrichtung und zur Verbesserung der Lebensumstände der Patienten und Patientinnen führte. »Gleichzeitig zeigte die Forschung, dass rund ein Drittel von ihnen als geheilt gelten konnte. Wir bewegten uns auf bedeutsame Weise weg vom Dogma: Einmal krank, immer krank.«

Es waren diese Erkenntnisse aus der Sozialpsychiatrie, die sich Uchtenhagen einige Jahre später in der Suchttherapie zunutze machte. Denn der Bedarf an Lösungen wuchs im Gleichschritt mit den Suchtmitteln, die immer häufiger den Weg in die Schweiz fanden. »Drogen waren gerade in der 68er-Bewegung sehr als Oppositionsinstrument akzeptiert«, erläutert er, »vor allem psychedelische Geschichten, Pilze, Cannabis, LSD, dann kam Heroin am Anfang der 1970er.« Uchtenhagen reagierte auf diese Entwicklung, kombinierte Instrumente der Sozialpsychiatrie mit medizinischen Möglichkeiten und eröffnete 1969 das erste Drop-in für Jugend- und Drogenprobleme als ambulantes, niederschwelliges Beratungsangebot. »Gebt saubere Spritzen ab, am liebsten gegen gebrauchte!«, habe er damals allen eingetrichtert, denn es kursierten Krankheiten wie HIV und Hepatitis, die die Negativspirale verstärkten.

Ergänzt wurden dieses und später gegründete Drop-ins durch eine ärztliche Equipe, die im Falle einer Überdosis oder anderen suchtbedingten Notfällen schnell vor Ort sein konnte. »Ich war damals selbst oft aktiv im Notfalldienst, sah, was auf der Gasse los war.« Dieses Wissen war dem Psychiater wichtig. Vom Bürostuhl aus neue Konzepte zu schreiben entsprach nicht seiner Vorstellung, diesen Problemen zu begegnen. Uchtenhagen wollte Lösungen finden, den Ausstieg ermöglichen oder zumindest das Elend begrenzen. Bald lag dafür der offizielle Auftrag der Schweizer Regierung auf seinem Arbeitstisch. Die sozialen Einrichtungen waren überfordert, die Not war groß, die Lage auf Hotspots wie dem Stadtzürcher Platzspitz und dem Bahnhof Letten spitzte sich dramatisch zu. »Diese Ansammlung von verwahrlosten, drogensüchtigen Menschen war ein Dorn in den Augen mancher politischen Instanzen.«

Uchtenhagens Blick ist klar, die Worte sorgfältig gewählt. »Die Psychiatrischen Einrichtungen wollten keine Drögeler aufnehmen, sie hatten Angst. Einerseits fehlte es dort an Ressourcen für eine passende therapeutische Begleitung, andererseits war da die Sorge, die Suchtkranken könnten Drogen einschmuggeln und die anderen Patienten und Patientinnen zum Drogenkonsum animieren.« Pragmatische Lösungen waren gefragt; der Sozialpsychiater nahm die Sache in die Hand, gründete Kliniken und betreute Wohngemeinschaften, in denen Suchtkranke die notwendige Unterstützung erhalten sollten. Zwar entlasteten diese Angebote die Kliniken, aber die Not blieb. Der Platzspitz und der ehemalige Bahnhof Letten waren weiterhin eine Misere, es brauchte mehr.

Er lässt den Blick über die unzähligen Bilder schweifen, die um ihn herum in seinem Atelier mit den Farben spielen. Heute stellt Uchtenhagen seine Gemälde in Galerien aus, damals war seine Zeit zu malen sehr begrenzt. »Ich arbeitete Nächte durch, um Lösungen zu finden, neue Ansätze massentauglich zu machen. Diese vielen Begegnungen mit suchtkranken Menschen haben mich geprägt.« Er seufzt, hält kurz inne. »So viele, die aufgehört haben und wieder rückfällig geworden sind.«

Niederschwellige Angebote gab es bereits, ebenfalls stationäre Therapieangebote und Präventivmaßnahmen. Mit der kontrollierten Abgabe von Drogenersatzmitteln, sogenannten Substituten, sollte eine weitere Lücke geschlossen werden. »Das Anliegen war, dass suchtkranke Menschen durch die substituierte Therapie nicht verwahrlosen.« Es sollte neben den anderen Maßnahmen eine Therapieform aufgebaut werden, die die Integration in die Gesellschaft möglich macht. »Suchtkranken Menschen ist eher möglich, im Alltag weiter zu funktionieren, wenn der Beschaffungsstress wegfällt. Und im besten Fall wird die Hürde von der Sucht in ein suchtfreies Dasein kleiner.«

Die kontrollierte heroingestützte Behandlung für jene, die mit einer Substitution nicht auf illegalen Stoff verzichten lernten, das war ein Novum und gleichzeitig eine Chance, die die Stadt Zürich ausloten wollte. »Das erklärte Ziel blieb dabei aber immer dasselbe: Alle, die ohne Suchtmittel leben wollen, sollen auf die für sie passende Art und Weise dabei unterstützt werden. Wer das nicht schafft, soll Hilfe erhalten, um nicht durch die Suchtmittel geschädigt zu werden.«

»Für mich war das natürlich eine großartige Sache, diese Pilotprojekte durchzuführen und wissenschaftlich auszuwerten.« Der Akademiker nahm den Auftrag ernst, legte Ergebnisse vor, die aufhorchen ließen. »Was aber für mich als Fachperson wichtiger war als das spannende Forschungsprojekt, war das Sehnen dieser Menschen nach einem unbeschwerten Leben. Das zu sehen, trieb mich unablässig an.«

Gründe für eine Sucht gebe es viele, immer schon. Im Rahmen einer Nationalfondsstudie begleitete Uchtenhagen hierzu heroinsüchtige Jugendliche und junge Erwachsene aus ambulanten und stationären Therapieeinrichtungen sowie Strafanstalten über sechs Jahre hinweg. Diese verglich er mit einer Gruppe Gleichaltriger, die nicht süchtig waren. »Es zeigte sich schnell, dass die Belastungen bei denen, die im Heroin gelandet sind, zusätzlich zu den Anforderungen des Erwachsenwerdens größer waren. Überdurchschnittlich oft kamen sie aus kaputten Familien, hatten geschiedene Eltern, Alkohol war ein Thema. Sie hatten keine Unterstützung bei der eigenen Entwicklung, konnten persönliche Krisen emotional schlecht meistern, sie hatten keine Ressourcen dafür.« Fehlende Zuneigung, die sich in mangelndem Selbstbewusstsein bündelte. »Die Sehnsucht hinter der Sucht zeigte sich sehr deutlich.«

Abbildung: Die Schweizer Suchtpolitik baut auf den vier Säulen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression auf. Von der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen (EKDF) wurden im Vier-Säulen-Modell alle illegalen und legalen psychoaktiven Substanzen integriert und mit den drei Ebenen »risikoarmer Konsum«, »problematischer Konsum« und »Abhängigkeit« zum »Würfelmodell« ergänzt. Das ermöglicht, die Maßnahmen auf die jeweilige Substanz abzustimmen, die Suchtpolitik präziser zu analysieren und Behandlungslücken aufzudecken.

© Bundesamt für Gesundheit BAG

Klar war ihm als Psychiater immer: Die Gründe für die Sucht sind so vielfältig, dass sie auch entsprechend individuell behandelt werden muss. »Dazu brauchte es ein passend breites Behandlungsspektrum.« Die daraus resultierenden Forschungsergebnisse von Pilotprojekten und diversen Studien aus dem In- und Ausland bewirkten langsam, aber stetig auch ein politisches Umdenken. »Zwar gab es Gegenwind von Rechtsaußen, auch aus einigen Fachkreisen wurde meine Arbeit kritisiert, wir konnten aber belegen, dass die Nutzung der personellen und finanziellen Ressourcen auf diese Weise am besten gelingt.«

Einen weiteren Aspekt brachte die damalige Stadträtin Emilie Lieberherr, Vorsteherin des Sozialdepartements, in die politische Diskussion ein. »Wir waren überzeugt, dass den Leuten mit einem Verbot nicht geholfen ist.« Der Konsum illegaler Drogen wurde anfangs der 1990er-Jahre noch immer als Straftat geahndet. Dass ein Verbot im Umgang mit der Suchtproblematik keine Besserung bringt, sah auch der damalige Zürcher Stadtpräsident Josef Estermann so. Er ließ Lieberherr, von Ambros Uchtenhagen als Suchtspezialist begleitet, bei Bundesrat Flavio Cotti vorsprechen. »Er hatte ein offenes Ohr für unser Anliegen.« Uchtenhagen lächelt, ein Erfolg im Sinne seiner langjährigen Arbeit. Dieser Tag im Jahr 1992 ebnete den Weg dafür, Drogen in der Schweiz fortan auf vier Ebenen zu begegnen: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression.

»Es wurde eine Verfügung für das Vier-Säulen-Modell gesprochen, vorerst ohne gesetzliche Grundlage.« Uchtenhagen gibt dem Satz mit einem ernsten Unterton Gewicht und fügt an: »Dies im Wissen, dass eine Vernehmlassung bei Kantonen und Parlament zu diesem Zeitpunkt schwierig gewesen wäre.« Für die Durchsetzung war Ruth Dreifuss als Nachfolgerin von Innenminister Cotti nach ihrer Wahl zuständig. Die Worte für sie sind klar von Anerkennung geprägt. »Sie hat diese neue Form der Suchtpolitik in unglaublich akzeptabler, positiver Form umgesetzt.« Schließlich wurde die Vier-Säulen-Politik 2008 mit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes von 1952 von der Stimmbevölkerung mit 68% angenommen und dadurch auch gesetzlich verankert. Es wurde gefestigt, was über Jahre schon praktiziert wurde.

Seine Ziele im Suchtbereich hätten immer gestimmt, im Detail habe er immer wieder lernen müssen, bilanziert Ambros Uchtenhagen. »Der Ausstieg aus der Sucht ist und bleibt ein anspruchsvoller Kampf.« Ein Kampf, den er in seinem Leben unzählige Male mitausgefochten hat. Diese jahrelange Auseinandersetzung hat für ihn die Sehnsucht hinter der Sucht ein bisschen fassbarer gemacht. »Es ist dieses Sehnen nach Zuneigung, nach Wärme, eine Sehnsucht, den eigenen Selbstwert zu heben.« Das sei aber nur ein Teil. »Entscheidend ist: Es gibt geheilte Süchtige. Sie alle haben diesen Kern in sich gefunden: Ich will das nicht mehr, ich muss das schaffen.« Menschen, die vielleicht gerade auch durch die für sie stimmige Therapieform dieses Selbstvertrauen entwickeln konnten; die dadurch den Weg aus der Sucht gesucht und gefunden haben.

Gelegentlich rufen ihn heute noch ehemalige Patienten und Patientinnen an. Personen, die schon jahrelang suchtfrei sind und damals bei ihrem Ausstieg therapeutisch von Ambros Uchtenhagen begleitet worden waren. Er schmunzelt, blickt auf. »Manchmal habe ich das Gefühl, sie möchten sich absichern.« Absichern? »Dass ich immer noch zur Stelle wäre, sollten sie in Schwierigkeiten geraten.«

»In mir drin ist noch nicht alles aufgeräumt«

»Wir werden nie harte Drogen nehmen, das ist nur etwas für die Schwachen!«, sagten sich Jeannine und ihre zwei Freundinnen, 15 Jahre alt war sie damals. Hinter ihr lagen Jahre voller Schwierigkeiten, von fehlender Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Ihr Zuzug in die Schweiz mit viereinhalb Jahren war ein Schock für das kleine Mädchen, die Trennung der Eltern ein Bruch in ihrer Biografie. »Wir verließen die Wohnung meines Vaters in Österreich von einem Tag auf den anderen, zogen in der Schweiz gleich in die Wohnung des neuen Partners meiner Mutter.« Das ging schnell, viel zu schnell. Die Integration in die Schweiz in den kommenden Jahren war gezeichnet von Witzen über ihren Dialekt und den pummeligen Kinderkörper. Der Vater blieb im Hintergrund, die Ferien bei ihm mehr Pflicht als Kür. »Ich bin anders, ich passe nicht hierhin.« Ihre Stimme wird leiser. Die Erinnerung an dieses Gefühl, das Jeannine an allem zweifeln ließ, ist auch heute noch nicht ganz verschwunden.

»Wir werden nie harte Drogen nehmen, das ist nur etwas für die Schwachen!« In den zwei Freundinnen, einige Jahre älter als sie selbst, fand sie endlich Gleichgesinnte. Solche, die wie sie nicht ganz zum Rest der noch kleinen Welt im Emmental passten. Sie fühlte sich als Teil einer Gruppe, vielleicht das erste Mal in ihrem Leben. »Wir werden nie harte Drogen nehmen.« Sie sagten es auf dem Weg in den Ausgang, beschwingt, fröhlich und unternehmungslustig. Kurz darauf steckten sie alle mitten in der Sucht.

Pogo, der jüngere ihrer zwei Chihuahuas, bellt, als ob er nichts hören wollte aus dieser Zeit, dieser vertrackten Vergangenheit seiner feinfühligen Halterin. Die junge Frau spricht beschwichtigend auf ihn ein, lässt ihm Zeit, bis er sich wieder beruhigt. »Ich habe ihn, als er klein war, vielleicht zu oft alleine zu Hause gelassen.« Er war klein, als sie sich Stoff besorgen musste, 2,5 g Heroin waren es zu Spitzenzeiten ihrer Sucht täglich. Der Ton ihrer Worte ist bedauernd, die Abhängigkeit hat in ihrer Umgebung Spuren hinterlassen. Der zweite Vierbeiner, Tysson, liegt indes ganz entspannt unter dem Tisch, als ob er ihr das Gegenteil beweisen wollte. Hin und wieder seufzt er im Schlaf. Sie lächelt ob seinen Geräuschen, streckt die Hand nach ihm aus; instinktiv fällt der Blick auf die unzähligen Tätowierungen an ihrem schlanken Körper. Sie blickt auf ihre Arme. »Mit 16 Jahren habe ich damit begonnen.« Kurz hält sie inne: »Ich glaube, wenn ich ganz ehrlich bin, wollte ich meinen Körper verstecken.«

Das Stechen der Tätowierungen schmerzte, auch geritzt hatte sie sich zu dieser Zeit, litt an Bulimie. »Es ist eigentlich seltsam, ich wollte mich spüren, habe mich sogar selbst verletzt, dennoch hatte ich furchtbare Angst vor Spritzen.« Diese Furcht hielt sie davon ab, Heroin intravenös zu konsumieren. Stattdessen hatte Jeannine immer ihre Ausrüstung dabei: einen zusammenklappbaren Spiegel und ein Stück Strohhalm, mit dem sie das Heroin schnupfte. »Alles konnte ich ganz schnell wieder verschwinden lassen, das beruhigte mich, wenn wieder mehr Polizeikontrollen durchgeführt wurden«, erzählt sie. »Vielleicht war es aber auch das Gefühl: Wenn ich Drogen spritze, bin ich erledigt.«

Sie sah, wie eine der zwei Freundinnen sich auf diesem Weg zugrunde richtete, mit 17 Jahren an einer Überdosis starb. Ebendiese Freundin, mit der sie auch das erste Mal harte Drogen konsumierte. Auch damals waren sie zu dritt unterwegs, an einem Stadtfest in Burgdorf. »Meine zwei Freundinnen hatten Koks dabei, sie hatten das schon ohne mich probiert und wollten mir zuerst nichts abgeben.« Jeannine bettelte so lange, bis sie das weiße Pulver probieren durfte. Sie zog in einer öffentlichen Toilette die erste Linie, der Trip danach veränderte ihr Selbstbild. »Plötzlich war ich selbstbewusst, konnte flirten, war gesellig.« Diese Persönlichkeitsveränderung gefiel ihr. So sehr, dass sie am nächsten Tag wieder bei den anderen beiden Mädchen anklopfte. Jeannine wollte mehr.