Mein letztes Klassentreffen - Jürgen Schenk - E-Book

Mein letztes Klassentreffen E-Book

Jürgen Schenk

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Beschreibung

Eduard Nilsson, ein Mann in den Sechzigern, könnte sich im Grunde zurücklehnen und das Leben mit seiner Frau Juliane genießen. Aber es treiben ihn andere Dinge, die Suche nach seiner Klassenkameradin Maria. Er weiß nur, dass sie in Lettland und in Kanada gelebt hat. Und es muss eine Verbindung zu einem Mann namens Volkmann geben, der dubiose Geschäfte betreibt und nach seinen Tagebuchaufzeichnungen in etliche Mordfälle verwickelt ist. Würde Eduard keine Anhaltspunkte aus eigenen Beobachtungen und Gesprächen haben, könnte man meinen, Volkmanns Aufzeichnungen wären Stichworte für einen fiktiven Roman. Von wegen ...

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Seitenzahl: 391

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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2023 united p. c. Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-7103-5561-5

ISBN e-book: 978-3-7103-5567-7

Lektorat: Volker Wieckhorst

Umschlagfoto: www.pixabay.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz:united p. c. Verlag

Autorenfoto: Jürgen Schenk

www.united-pc.eu

1. Kapitel

Noch vor wenigen Monaten schwebte ich auf der Wolke. Ich konnte den Ruhestand nach jahrzehntelanger Arbeit genießen. Es fühlte sich in den ersten Monaten wirklich wie Urlaub an. Endlich konnte ich tun, wozu ich Lust hatte. Morgens ausschlafen, in Ruhe frühstücken und danach die Zeitung lesen. Nach dem Mittagessen habe ich mich ausgeruht, und am Abend saß ich gelegentlich am Schreibtisch, weil ich immer schon mal ein Buch schreiben wollte. Es ging mir richtig gut.

Leider hielt dieses warme Gefühl nicht an. Es wurde zunehmend überlagert von innerer Zerrissenheit. Tagsüber hatte ich unseren kleinen Garten gepflegt, Unkraut gezupft, Blumen gepflanzt, Hecken beschnitten und einmal wöchentlich den Rasen gemäht.

Dann musste auch täglich das Badezimmer gründlich geputzt werden. Abends saß ich auf der Couch vor dem Fernseher und sah in den Nachrichten immer wieder Berichte über Krieg, Hunger, Armut, Flucht, Fremdenfeindlichkeit und Zerstörung der Umwelt.

Meine Welt wurde gefühlt immer kleiner. Am Anfang war es die Leere. Sie füllte sich mit heißer Glut.

Mal regte ich mich über andere Autofahrer auf, mal darüber, dass keine 2. Kasse im Supermarkt geöffnet wurde. Plötzlich fühlte ich mich als Linkshänder ständig ungerecht behandelt. Nur weil Rechtshändigkeit als Norm galt, wurde ich mit der Einschulung gezwungen, ausschließlich die rechte Hand zum Schreiben zu verwenden.

Die für mich an der falschen Seite angebrachten Fenster- und Türgriffe störten mich jetzt im Ruhestand ebenso wie der für Linkshänder an der verkehrten Seite angebrachte Fahrradständer. In der Sparkasse geriet ich mit einer Beschäftigten in Streit. Ich sollte doch bitte etwas unterschreiben, wurde mir gesagt. Der an einer Kette befestigte Kugelschreiber stand aber rechts. Als ich die Frau daraufhin ansprach, schüttelte sie nur den Kopf. Meine Reaktion darauf war völlig unangemessen.

Nicht anders war es bei einigen Restaurantbesuchen. Tasse und Glas wurden für mich immer auf die falsche Seite gestellt. Jedes Mal eckte ich mit meinem Verhalten an. Immer wieder bestand ich darauf, alles doch bitte auf die andere Seite zu stellen. Vor Kurzem war ich mit unserem Auto zur Inspektion in der Autowerkstatt. Auch dort kam es zu einem Streit. Ich hatte einen Verkäufer gefragt, warum ich das Radio, die Klimaanlage und die Heizung wie selbstverständlich mit rechts bedienen müsse, obwohl ich doch Linkshänder sei. So sei es eben, war seine knappe Antwort, und ich hätte doch auch zwei Hände.

In der letzten Woche hatten wir Besuch von Freunden. Beim Abräumen des Tisches fiel Marion das Glas aus der Hand und zerschellte am Boden. Leider sei sie ungeschickt, und wahrscheinlich habe sie doch zwei linke Hände, sagte sie. Ich habe nichts dazu gesagt. Herabsetzend fand ich es schon. Früher hätte ich nur gelächelt.

Auch heute wird es in arabischen Ländern wie Marokko noch als unhöflich empfunden, einem Bettler Geld mit der linken Hand zu geben. Die linke Hand gilt als unrein. Die Reinigung nach dem Stuhlgang wird üblicherweise mit der linken Hand und Wasser ausgeführt. Sie wird nicht zum Essen oder für soziale Kontakte eingesetzt.

Beim Zusammenlegen der Bettwäsche habe ich mich gestern mit meiner Frau heftig gestritten. Ich wollte, dass sie es genauso macht, wie es Linkshänder tun. Sie weigerte sich und zeigte mir einen Vogel. Ich fragte sie, ob es für sie denn in Ordnung wäre, wenn ihr einer bei der Begrüßung die linke Hand reichen würde. Daraufhin schüttelte sie den Kopf und verließ das Zimmer.

Ich wollte mich dann doch wieder gesellschaftlich engagieren, so wie ich es jahrzehntelang aus tiefer Überzeugung und mit hoher Motivation gemacht hatte. Es ist einfach falsch, darauf zu vertrauen, dass diejenigen, die im Bundestag, in den Landesparlamenten oder auch auf kommunaler Ebene arbeiten, es schon allein richten werden.

Wir, die Bürger, müssen uns einbringen, und die Parteien müssen die Nähe zu uns suchen. Die Mitglieder der sogenannten Volksparteien sind im Durchschnitt älter als 60 Jahre. Allein dadurch können Entscheidungen getroffen und Beschlüsse gefasst werden, die nicht zukunftsfest sind.

Mein Wunsch war es immer, dass sich unsere Kinder eines Tages aktiv einbringen und nicht darauf vertrauen, dass es die anderen schon machen werden. Demokratie lebt vom Mitmachen! Ohne eine starke demokratische Bewegung gäbe es die Deutsche Einheit auch heute noch nicht.

Auf der Couch zu sitzen und gesellschaftliche Entwicklungen zu beklagen, Politiker zu kritisieren, ändert gar nichts. Die Meinung Einzelner verhallt in aller Regel ungehört. Die Meinung vieler wird dagegen, spätestens wenn sie für ihre Überzeugung auf die Straße gehen, wahrgenommen. Die Umweltschutzbewegung „Fridays for Future“ ist ein eindrucksvoller Beleg dafür. Ohne sie wäre der Klimawandel noch immer nicht ganz oben auf der politischen Agenda. Sehe ich, wie viel Müll wir in unserem Haushalt von nur zwei Personen ständig ansammeln, überkommt mich zunehmend ein schlechtes Gewissen. Als wir jung waren, reichte eine kleine Mülltonne. Jahrzehntelang habe ich meine Zigarettenkippen einfach auf den Boden geworfen. Nicht einmal habe ich darüber nachgedacht, was das für unsere Umwelt bedeutet. Laut Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) vergiftet schon ein Zigarettenstummel etwa 40 Liter Grundwasser.

Mehrfach hatte ich mir schon vorgenommen, in das Büro unseres Bundestagsabgeordneten zu gehen und Mitglied der Partei zu werden, der ich noch am ehesten zutrauen würde, sich um die Benachteiligten in unserer Gesellschaft zu kümmern. Gemacht hatte ich es dann aber nicht. Warum, weiß ich nicht. Mir war, als stünde ich mir jetzt im Ruhestand plötzlich selbst im Weg.

Zwischendurch hatte ich überlegt, dass ich mich ja auch bei Amnesty International, bei Oxfam, bei Brot für die Welt oder anderen Hilfsorganisationen engagieren könnte. Es gibt so viel Not auf unserer Welt, oft schon vor unserer Haustür. Wegschauen ist doch keine Lösung.

Werden Schülerinneren und Schüler eigentlich ausreichend motiviert, sich gesellschaftlich einzubringen? Wie viele Betriebe honorieren ehrenamtliches Engagement ihrer Beschäftigten?

Den Kopf hatte ich ständig voller Gedanken, aber mir fehlte die Energie, auch nur einen einzigen aktiv umzusetzen. Sie lösten sich in Fetzen auf. Ich nahm mich wie im Kreisverkehr wahr. Den Ausgang fand ich einfach nicht.

Stattdessen versank ich immer mehr in Antriebslosigkeit, saß in mich gekehrt entweder draußen auf der Bank oder im Wohnzimmer auf dem Sessel. „Du ziehst dich gänzlich zurück und nimmst am sozialen Leben kaum noch teil. Ich nehme dich nur noch als einen traurigen und niedergeschlagenen alten Mann wahr. Vielleicht sind es ja auch Depressionen. Du solltest einfach mal zum Arzt gehen.“ Den gut gemeinten Ratschlag meiner Frau konnte ich nicht annehmen.

Immer häufiger kam es zu Meinungsverschiedenheiten im Alltag, und am Ende schliefen wir in getrennten Zimmern. Wochenlang plagte mich ein schlechtes Gewissen.

Der Blick in den großen Spiegel über dem Schreibtisch zeigte mich als einen alten, nicht besonders großen, schlanken Mann mit lichtem, grauem, leicht lockigem Haar, einer Brille mit Gleitsichtgläsern und beachtlich großer Nase. Die Mundwinkel nach unten gezogen, die Stirn voller Falten, genau so, als hätte der Ringrichter den Kampf gerade abgebrochen. Passend dazu die leicht hängenden Schultern und der leere, traurige Gesichtsausdruck. Auf dem Schreibtisch Mappen mit nur scheinbar wichtigen Unterlagen, ein Zeitplaner, anders als früher heute mit keinem einzigen wirklich wichtigen Termin. Ich fühlte mich lustlos, abgestumpft und ständig müde.

Statt zum Arzt zu gehen, bin ich Silvester ausgezogen und lebe nun seit drei Wochen in unserem in die Jahre gekommenen Wohnmobil. Ich brauche Abstand, hatte ich zu meiner Frau gesagt. Sie zeigte sich zunächst überrascht, stimmte mir dann aber zu und half mir beim Beladen des Wohnmobils. Beide hatten wir Tränen in den Augen.

Zweimal wöchentlich besuche ich meine Mutter im Heim, indem sie nun seit Jahren lebt. Ein normales Gespräch mit ihr zu führen, ist seit Längerem wegen ihrer fortschreitenden Demenz und ausgeprägten Wortfindungsschwierigkeiten so gut wie nicht mehr möglich. Ich nehme sie als jemanden wahr, der die meiste Zeit in einer ganz eigenen Welt lebt.

Sie erkennt mich noch und freut sich regelmäßig, ihren Sohn zu sehen. Heute hat sie mich zum zweiten Mal in den Arm genommen, als ich mich verabschiedet habe. Ich lasse mich darauf ein, und doch versteife ich im Inneren. Jahrzehntelang hat sie mir nur förmlich die Hand gereicht und mir das Gefühl gegeben, sich nicht wirklich für mich und auch nicht für meine Familie zu interessieren. Wie so oft, wenn ich das Heim verlasse, habe ich auch jetzt auf dem Weg zum Wohnmobil Kopfschmerzen und werde gleich eine Schmerztablette einnehmen, die hoffentlich schnell wirken wird.

In zwei Stunden findet unser Klassentreffen statt. Es wird das erste Mal nach fünfzig Jahren sein, dass ich meine alten Klassenkameraden wiedersehen werde. Aus beruflichen Gründen hatte ich frühere Klassentreffen absagen müssen. Für einen kurzen Moment hatte ich am Vormittag noch überlegt, meine Teilnahme auch diesmal abzusagen.

Es ist weit nach Mitternacht. Leicht angetrunken stehe ich mit dem Wohnmobil auf einem Stellplatz nördlich von Hamburg. Der lange Abend geht mir noch einmal durch den Kopf. Erkannt hatte ich anfangs nur Peter, Rainer und auf den zweiten Blick auch Dieter. Mit ihnen war ich früher befreundet, und bis zum Schulabschluss hatten wir regelmäßig im kleinen Park hinter unserer Schule Fußball gespielt.

Alle anderen waren mir fremd. Als Carsten mich ansprach, erinnerte ich mich dann doch an ihn und seine hohe Stimme. Er war es, der sich damals herabwürdigend über meine Linkshändigkeit geäußert hatte. Der Teufel stecke in mir, und im Mittelalter hätte man Linkshänder verbrannt. Man müsse mir die Unart austreiben. Viele meiner Klassenkameraden hatten laut gelacht. Ich wusste mich nicht zu wehren und bin weggelaufen.

Aus meiner Knabenklasse waren nur noch neun ehemalige Mitschüler anwesend. Auf Nachfrage wurde mir gesagt, wer bereits verstorben sei und wer krankheitsbedingt abgesagt hätte. Ein ehemaliger Mitschüler hatte mit der Begründung abgesagt, dass es ihn nach fünf Jahrzehnten nun wirklich nicht interessieren würde, was aus jedem von uns geworden ist. Ein anderer lebt nach einem schweren Schlaganfall seit zwei Jahren in einem Pflegeheim.

Im Einladungsschreiben war die Rede davon, dass erstmals auch die parallele Mädchenklasse eingeladen wurde und dass jeder von uns in der Runde in maximal drei Minuten etwas über sein Leben sagen sollte. Holger und Hannelore hätten das miteinander besprochen, und es sei ja auch bereits Thema beim letzten Klassentreffen gewesen. Elf Frauen hatte ich gezählt, erkannt hatte ich aber nur Angelika an ihrer besonderen Stimme und Heike, deren Augen durch eine deutliche Fehlstellung in unterschiedliche Richtungen blicken. Angelika war die Erste, die damals mit einem Minirock zur Schule kam. In der Pause wurde sie von unserem Klassenlehrer zu einem Gespräch gebeten. Es ging um Anstand und Sitte, erzählte sie später ganz aufgebracht und konnte sich gar nicht beruhigen. Sie entscheide, wie sie sich kleide.

Mit Rainer war es von Beginn an so, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren. Er wohnt seit Langem in Ostfriesland. Mit ihm konnte ich mich im weiteren Verlauf des Abends austauschen wie früher. Ich finde es wirklich sehr schade, dass ich den Kontakt zu ihm nicht gepflegt habe. Witzig und immer optimistisch hatte ich ihn in Erinnerung, und genau diese Charaktereigenschaften zeigte er auch an diesem Abend. Kleine Rebellen seien wir früher ja gewesen, hatte er mir in einer kurzen Pause gesagt. Ziemlich häufig wurden wir von unserem Lehrer gebeten, das Klassenzimmer zu verlassen. Wir durften erst wieder zurück, wenn wir uns beruhigt hatten. Anders als ich konnte sich Rainer an vieles erinnern. An den ersten gemeinsamen Urlaub mit seiner damaligen Freundin, meiner Frau und mir im früheren Jugoslawien habe ich nur noch schwammige Erinnerungen. Rainer wusste noch, dass das Wetter schlecht war und wir im Zelt nass wurden. Ich bestellte ihm herzliche Grüße von meiner Frau. Sie mochte ihn vom ersten Tag an, und in ihren positiven Lebenseinstellungen waren sie sich sehr ähnlich.

Peter war Bankkaufmann, lebt allein in München und ist seit Kurzem auch Rentner. Ihn habe ich mir gegenüber eher als unnahbar und eingebildet wahrgenommen. Dieter ist noch für eine kurze Zeit berufstätig und fährt als Maschinist zur See. Seine Frau ist vor vier Jahren gestorben. Er hat sich nicht wirklich verändert. Schon damals war er zurückhaltend und strahlte Ruhe aus. Eine ganze Zeit hat er mich täglich morgens vor Schulbeginn abgeholt. Da keiner meiner Freunde jemals bei uns in der Wohnung sein durfte, hat er immer im Treppenhaus sitzend auf mich gewartet.

Von Angelika erfuhr ich, dass sie schon seit sieben Jahren nicht mehr berufstätig ist. Sie pflegt ihren Vater. Heike ist ebenfalls Rentnerin, arbeitet aber noch auf geringfügiger Basis, weil ihre Rente nicht reicht. Holger und Hannelore sind seit Jahrzehnten verheiratet. An Hannelore kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Holger war unser Klassensprecher und nach meiner Erinnerung ein ständiger Besserwisser. Eine wirkliche Verbindung zwischen ihm und mir gab es nicht. Er war es dann, der die kurze Begrüßungsrede gehalten hatte und darum bat, dass sich alle an die Vorgabe von maximal drei Minuten halten sollten.

Fast alle berichteten von einem Leben, in dem alles nach Plan gelaufen ist. Alle waren danach beruflich sehr erfolgreich, haben immer die richtigen Entscheidungen getroffen und sind an keiner Herausforderung wirklich an ihre Grenzen gestoßen oder sogar gescheitert.

Ich konnte es kaum aushalten, und am liebsten hätte ich in die Runde geworfen, dass alle doch bitte auch einen Blick hinter die Fassaden zulassen sollten. Ein Klassentreffen nach fünfzig Jahren macht doch wirklich nur Sinn, wenn wir alle auch über Höhen und Tiefen unseres Lebens sprechen. Man muss ja nicht ins Detail gehen. Beides gehört aber doch zum Leben. Nur Rainer sprach von Glück, dass er auch in seinem Leben gehabt habe. Ich hatte mir vorgenommen, auch über die Schattenseiten meines Lebens zu sprechen, und genau das hatte ich dann auch gemacht.

Nach dem Abendessen setzte sich Hannelore zu uns an den Tisch. „Weiß eigentlich jemand von euch etwas über Maria?“ „Die ist doch damals mit ihren Eltern in die DDR gezogen“, sagte Peter und guckte mich dabei an, als wollte er sagen, dass ich es doch wissen müsste. „Holger und ich haben uns vorgenommen, noch einmal zu versuchen, den Aufenthaltsort von Maria, Elke, Waltraud, Rudolf, Bernd, Hans, Emmi und Thomas herauszufinden. Sie werden doch hoffentlich nicht alle schon verstorben sein. Wahrscheinlich sind sie irgendwann umgezogen. Wer hat Lust, uns dabei zu helfen?“, fragte Hannelore und schaute in die Runde.

„Warum nicht? Ich hatte früher Kontakt zu Hans. Ich glaube, dass er mit seiner Familie nach Köln umgezogen ist. Vielleicht habe ich sogar noch seine aktuelle Anschrift“, sagte Rainer, und Hannelore bedankte sich bei ihm. Alle anderen reagierten schulterzuckend und wenig begeistert. „Wollte Elke nicht nach Thailand auswandern? Sobald sie im Ruhestand sein würde, wollte sie ihre Zelte hier abbrechen, hat sie mir vor vielen Jahren einmal gesagt“, sagte Dieter noch, bevor er aufstand und zur Toilette ging. „Du kannst doch Maria suchen, bist doch auch ein halber Ossi.“ Peter grinste mich süffisant an. Wie kann es sein, dass ich mit ihm einmal befreundet war?, fragte ich mich. War es sein Selbstbewusstsein, um das ich ihn in der Jugend beneidet hatte und häufig gerne gegen meine Schüchternheit eingetauscht hätte? „Dann kannst du ja alle anderen suchen, bist ja durch und durch ein Wessi“, brach es aus mir heraus. „Ich bereite gerade meinen Umzug von München nach Hamburg vor. Man muss Prioritäten in seinem Leben setzen, sorry, aber für einen Suchdienst ist mir die Zeit einfach zu schade, und ohne Bezahlung arbeite ich grundsätzlich auch nicht als Detektiv.“ „Wir können ja in Kontakt bleiben. Überlegt es euch doch noch einmal. Wir würden uns freuen.“ Hannelore stand auf und setzte sich an den Nebentisch. Ich ging vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Für Peter war der Begriff Ossi latent negativ besetzt. Ich spürte es so intensiv, wie ich es nach dem Mauerfall bis heute immer wieder wahrnehme. Die Fülle an Voreingenommenheit und Klischees wird gepflegt und hat bei ganz vielen Menschen zu tiefen Verletzungen geführt.

Mit Rainer und Dieter hatte ich noch unsere Telefonnummern ausgetauscht. Wir wollen uns demnächst einmal zu dritt treffen.

Ganz aufgewühlt vom Klassentreffen, fühle ich mich jäh in meine Kindheit und Jugend zurückgeworfen. Mit zwei Jahren konnte er immer noch nicht laufen, mit dem Dreirad fuhr er rück- statt vorwärts, dafür aber allein und mehrere Kilometer quer durch die Stadt zu seiner Großmutter. Eine Schleife zum Schnüren der Schuhe überforderte ihn auch noch nach seiner Einschulung. So beschrieb meine Mutter ihren Sohn in seinen ersten Lebensjahren. Für meinen Vater stand ganz früh fest, dass sein Sohn einmal im Lager enden würde. Lager stand für meinen Vater für etwas Abfälliges, etwas, was nichts wert ist. Dieser Satz hat mich in meiner Jugend tief getroffen und mein Leben lang begleitet. Heute denke ich manchmal, dass mein Vater vielleicht nur an seinem Sohn, einem Linkshänder, verzweifelte. Als Handwerker und Rechtshänder war es ihm nicht möglich, mir als Jugendlichen die einfachsten Dinge so zu erklären, dass ich sie mühelos umsetzen konnte. Eine Tätigkeit im Büro oder anderswo konnte mein Vater sich nicht vorstellen. Für ihn war klar, dass sein Sohn auch einen handwerklichen Beruf erlernen musste. So versöhnlich kann ich allerdings erst nach seinem Tod darauf gucken.

Wo ist die Zeit bloß geblieben, die lange Zeit, und was habe ich daraus gemacht, was will ich in meinem Leben noch machen? War mehr möglich in meinem Leben, was hätte ich anders machen sollen, was ist schiefgelaufen, oder hat sich vieles auf eine bestimmte Weise gefügt, ohne dass ich wirklich Einfluss darauf nehmen konnte? Die steigende Unruhe im Kopf macht mir zu schaffen. Ganz plötzlich wird mir bewusst, dass der Großteil meines Lebens Geschichte ist und das letzte Kapitel aufgeschlagen vor mir liegt. Schlafen kann ich nicht.

Ohne Frühstück breche ich am frühen Morgen auf und fahre zum Hauptbahnhof. Das Gedränge und die permanente Geräuschkulisse auf dem Hauptbahnhof haben mich schon in meiner Jugend förmlich angezogen. So ist es auch heute. Zu meinem Glück finde ich unweit der Innenstadt einen Parkplatz. Den Bahnhof empfinde ich auch jetzt noch als einen großen Schmelztiegel, und all die unterschiedlichen Menschen, die mit oder ohne Gepäck an und auf den Bahnsteigen herumlaufen oder auch stehen, verbinde ich sinnbildlich mit einem großen Ameisenhaufen. Atme ich in der Vorhalle etwas ein, empfinde ich es wie mit Freiheit gefüllte Luft.

Immer wieder wäre ich am liebsten auf einen der abfahrenden Züge gesprungen, ohne dass es mich vorher interessiert hätte, wohin die Reise geht. Rainer war es, der mich gestern lachend fragte, ob ich denn immer noch zum Hauptbahnhof fahren würde und ich denn nun wüsste, wohin die Reise gehen soll.

Ich lehne mich an das Geländer, beuge mich ein wenig vor, schließe die Augen und stelle mir vor, dass ich sanft auf dem Dach eines Abteils lande und Sekunden später den Bahnhof hinter mir lasse und in meine Vergangenheit zurückfahre. Während ich versuche, mich an meine Schulzeit zu erinnern und gar nichts mehr um mich herum wahrnehme, werde ich mit einem Mal aus den vielleicht gerade bevorstehenden Träumen herausgerissen.

„Geht es Ihnen nicht gut, brauchen Sie Hilfe?“, fragt mich eine ältere Dame, die mit ihrem großen Rollkoffer neben mir steht und mich mit besorgtem Gesichtsausdruck mustert. „Alles in Ordnung“, entgegne ich und erfahre dann, dass sie aus Norwegen kommt. Ihre Familie habe viele Jahre in Kiel gelebt, wo ihr inzwischen verstorbener Ehemann für eine norwegische Reederei gearbeitet hat. Jedes Jahr mache sie sich auf den Weg, ihre Tochter in Hamburg und ihren Sohn in Portugal zu besuchen. „Mein Sohn ist mit einer Portugiesin verheiratet, die er im Hamburger Portugiesenviertel kennengelernt hat. Ihre Eltern waren vor Jahrzehnten als Gastarbeiter nach Hamburg gekommen und haben in diesem Viertel nahe dem Hafen mit den damals noch günstigen Mieten gewohnt.“ Warum erzählt sie mir das alles? Wir kennen uns doch gar nicht. Der Vater hatte Arbeit im Hafen gefunden und die Mutter ein kleines Restaurant eröffnet, dass nur in den ersten Jahren gut lief. Ein schwerer Arbeitsunfall des Vaters war dann ausschlaggebend dafür, in die Heimat zurückzugehen. „Mein Sohn hat seine Freundin nach Lissabon begleitet. Anfangs haben mein Mann und ich mit seiner Entscheidung gehadert. Als wir dann aber gesehen haben, dass es den beiden gut geht und sie glücklich sind, waren wir es auch. Anfänglich hatten wir nur die Probleme gesehen, nicht aber die Zwischenräume und schon gar nicht das helle Licht. So, jetzt muss ich aber los, sonst verpasse ich den Zug. Machen Sie keine Dummheiten.“

Mit schnellen Schritten, leicht nach vorne gebeugt und mit offenem Mantel, verschwindet sie mit ihrem roten Rollkoffer in der Menschenmenge. Beeindruckt von ihrer sympathischen Offenheit gegenüber einem Fremden, frage ich mich, ob ich in meinem Leben nicht auch immer die Probleme gesehen habe und selten die Zwischenräume und das Licht. Was hat das mit mir gemacht, und wie viel Leichtigkeit habe ich deswegen nicht zulassen können? Wie gerne würde ich es nachholen.

Von einem Augenblick auf den anderen muss ich an Maria denken. Sie war es, die schon als junges Mädchen Leichtigkeit und Zuversicht ausstrahlte. Immer wenn ich sie sah, strahlte sie selbstsicher und ging mit großer Aufgeschlossenheit auf ihre Mitschüler zu.

Nachdenklich gehe ich zurück zum Parkplatz. Entlang der herausgeputzten Einkaufsstraße fallen mir neben den wunderschön dekorierten Schaufenstern die teilweise heruntergekommenen, auf den Knien sitzenden bettelnden Menschen auf, darunter Jüngere und Ältere, zumeist Männer, aber vereinzelt auch Frauen. Etwa eine Million Menschen in Deutschland haben keine eigene Wohnung. Die meisten leben in Wohnheimen, Notunterkünften und Frauenhäusern. Längst nicht alle sind drogen- oder alkoholabhängig. Auch erwerbstätige, gesunde und fleißige Menschen werden obdachlos.

Was ist passiert, was in ihrem Leben hat sie aus der Bahn geworfen? Welche Träume hatten sie in ihrer Jugend, und was müsste geschehen, damit sie zumindest noch in kleinen Teilen in Erfüllung gehen? Reichen wir ihnen unsere Hand, helfen wir ihnen, oder schauen wir lieber weg?

Mehr als sechzehn Millionen Menschen in einem der reichsten Länder der Welt sind von Armut bedroht. Jeder Fünfte von uns allen ist betroffen. Gleichzeitig gibt es in Deutschland etwa 1,5 Millionen Millionäre. Die Zahl steigt seit Jahren.

Der tiefe Riss in unserer Gesellschaft ist mit ein wenig Kitt nicht zu schließen. Wir brauchen Leim, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Zu spät aufwachen kann zu spät sein.

Was ist mit denen, die fleißig arbeiten und von ihrem geringen Gehalt ihren bescheidenen Lebensstandard nicht finanzieren können, und was ist mit denen, die arbeiten wollen, aber keine Arbeit finden? Für beide Gruppen ist Altersarmut vorprogrammiert. Sie können sich auch einen einwöchigen Urlaub nicht leisten, leiden oft in ihrer Wohnung unter Straßenlärm. Etwa 2 Millionen Menschen in Deutschland haben nicht genug Geld, um ihre Wohnung angemessen zu heizen. Vandalismus oder Kriminalität in ihrem Wohnumfeld müssen sie hinnehmen. Nicht wenige klagen über Feuchtigkeit oder Fäulnis in ihrer Wohnung. Am normalen gesellschaftlichen Leben können die allermeisten von ihnen nicht teilnehmen. Gleichzeitig steigen die Mieten. Die Zukunftschancen von Kindern hängen nicht nur, aber auch vom Geld ihrer Eltern ab.

Diesen Menschen zu raten, wie es Politiker immer wieder tun, vorzusorgen, um nicht in die Altersarmut zu rutschen, ist zynisch und zugleich ein Zeichen dafür, dass manch einer von ihnen jeden Bezug zur Lebenswirklichkeit vieler Bürger verloren hat. Ein Bundestagsabgeordneter, der sich vor die Kamera stellt und seine üppige Altersvorsorge damit rechtfertigt, dass er ja schließlich ein prekäres Arbeitsverhältnis habe und sich alle vier Jahre einer Wiederwahl stellen müsse, vertritt nicht die Interessen der Bürger und ist maßgeblich mitverantwortlich für die zunehmende Politikverdrossenheit und dem Erstarken rechter Parteien.

Ich steige ins Wohnmobil und bin dreißig Minuten später bei meiner Mutter im Heim. Wir sitzen stumm nebeneinander. Vielleicht reichen ja aber die körperliche Nähe, Blicke und sich wiederholende Gesten. Auf dem Nachttisch steht ein Foto meiner Eltern. Vor fünf Jahren hatten sie ihren sechzigsten Hochzeitstag. Kurz danach musste mein pflegebedürftiger Vater erneut ins Krankenhaus. Wegen akuter Atemnot musste der Notarzt gerufen werden. Rollstuhl, Toilettenstuhl, Sauerstoffgerät und der dreimal täglich präsente ambulante Pflegedienst hatten den Alltag meines Vaters seit zwei Jahren geprägt. Beim Essen und beim Toilettengang brauchte er die Hilfe seiner Frau.

Eine knappe Stunde später sitze ich wieder im Wohnmobil. Wieder habe ich Kopfschmerzen. Mir ist, als würde ein Schraubstock rechts und links an die Schläfen angesetzt sein und die Stirn zusammendrücken. Mir ist bewusst, dass es mit meinem Elternhaus, meiner Kindheit und Jugend zu tun hat, und doch kann ich es nicht abschütteln. Immer wenn ich an diese Zeit denke, falle ich gefühlt in ein tiefes Loch.

Ich fahre zum Baumarkt und kaufe mir eine gefüllte Gasflasche, damit ich am Abend im Wohnmobil die Heizung anmachen kann. An der Kreuzung, an der ich eigentlich rechts zum Wohnmobilstellplatz hätte abbiegen müssen, denke ich plötzlich wieder an Maria. Hier haben sich unsere Wege an den Tagen getrennt, an denen wir Schulschluss hatten, sie in ihrer Mädchen- und ich in der Knabenklasse. Maria stieg an dieser damals noch wenig befahrenen Straße auf ihr bis hierher geschobenes Fahrrad. Nachdem sie einmal in den Sommerferien mit ihren Eltern in Andalusien war, schwärmte sie von der Hafenstadt Almeria, und mit einer zugeschnittenen Bootsflagge dekorierte sie fortan ihr Fahrrad. Ich besaß kein Fahrrad. Stattdessen bin ich mit meinem braunen Schulranzen auf dem Rücken nach Hause gegangen.

Anstatt rechts abzubiegen, biege ich spontan links ab und hätte dabei einen entgegenkommenden Motorradfahrer fast übersehen.

Minuten später stehe ich vor dem Haus, in dem Maria früher gewohnt hat. Neben der Eingangstür erkenne ich den in das Mauerwerk gesetzten hellroten Stein mit der Inschrift „Zerstört 1943 und aufgebaut 1950“. In Sichtweite sehe ich die evangelische Kirche, in der ich konfirmiert wurde, und schräg gegenüber, wo früher einmal ein Kino war, befindet sich heute ein Discounter.

Gerade will ich wieder zum Wohnmobil gehen, da öffnet sich die Haustür, und ich sehe einen älteren Mann mit dunklem Anzug, Krawatte und schwarzer Aktentasche herauskommen und schnellen Schrittes die Straße heruntergehen. Jetzt gehe ich doch noch einmal auf das Haus zu und lese, welche Namen auf den gelblichen Klingelschildern stehen: Müller, Dreyer, Kaymaz, Gokdal, Volkmann, Kowalski, Fritsch, Smirnow, Schmidt und Bakhtari. Dort, wo damals Maria gewohnt hat, steht der Name Volkmann auf dem schwer lesbaren Klingelschild. Es beginnt zu regnen, und ich laufe zurück zu meinem Wohnmobil.

In der Nähe der Untersuchungshaftanstalt mitten in der Stadt finde ich einen ausreichend großen Parkplatz. Hier will ich übernachten und morgen seit Langem wieder einmal auf den Friedhof gehen, auf dem mein Vater beigesetzt wurde.

So nah wie in den letzten Monaten vor seinem Tod war ich ihm nach meiner Erinnerung zeitlebens nicht. Es war immer ein angespanntes, unnahbares Verhältnis. Mir ist es erst in seiner letzten Lebensphase möglich gewesen, ihn, wenn auch immer noch etwas ungelenk und steif, zu umarmen. Er hat mir leider erst in dem Moment, als er schwach wurde, zu verstehen gegeben, dass er zeitlebens ein falsches Bild von seinem Sohn hatte. Denke ich daran, empfinde ich eine ganz tief sitzende Melancholie, in die ich sogartig hineingezogen werde, die mich umklammert und in die emotionale Finsternis zieht.

Eine laute Stimme neben dem Wohnmobil lässt mich aufhorchen. Neugierig öffne ich die Seitentür und sehe im Dunkeln eine Frau, die zu meiner Verwunderung über die Straße hinweg mit lauter Stimme zu einem Gefangenen spricht, den ich schemenhaft hinter einem vergitterten Fenster in der beleuchteten Zelle erkenne. Kurz mustert mich die Frau und wendet sich dann wieder der roten Fassade mit dem hohen Stacheldraht zu, und ich höre sie lautstark rufen: „Du schaffst es. Gib bitte nicht auf. Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch, mein Schatz.“ Dann geht das Licht in der Zelle aus. Schnellen Schrittes geht die schlanke Frau zu ihrem Auto mit auffallenden Leichtmetallfelgen. Kurz darauf höre ich ein surrendes Geräusch. Der Motor springt nicht an, und die Frau steigt wieder aus. Sie knallt die Fahrertür zu, zündet sich eine Zigarette an und geht unruhig auf und ab. Ich gehe auf sie zu, sehe eine rote Narbe in ihrem Gesicht und frage, ob ich helfen kann. Sie schüttelt den Kopf.

Kaum, dass ich wieder im Wohnmobil bin, höre ich jemanden pfeifen. Aus dem Fenster sehe ich einen jungen Mann, der sich offenbar auch mit einem Gefangenen austauschen will, dessen krächzende Stimme ich kurz darauf höre. Später sehe ich zwei Streifenpolizisten die Straße entlanggehen. Stimmen höre ich nicht mehr.

Etwa fünfundvierzigtausend Menschen verbüßen ihre Strafe in deutschen Gefängnissen. Das entspricht ungefähr den Einwohnerzahlen von Städten wie Eisenach, Gotha oder Kaufbeuren. Auch wenn ich es nicht immer glauben mag, ist Deutschland dennoch eines der sichersten Länder auf der Welt. Die registrierten Straftaten sind rückläufig. Wir reden aber immer noch von jährlich rund fünf Millionen registrierten Straftaten. Ordnungswidrigkeiten und Verkehrsdelikte sind in dieser Statistik nicht enthalten. Es kommt nicht selten vor, dass ich Strafen als zu milde empfinde. Oft frage ich mich, wie ein Richter das Urteil empfinden würde, wenn er das Opfer wäre.

Wie jeden Abend sitze ich auf dem umgedrehten Beifahrersitz und hadere mit mir. Warum fahre ich nicht einfach nach Hause und schmiede mit meiner Frau Pläne für die nächsten Jahre? Was macht ein erfülltes Leben im Ruhestand aus? Ich weiß es einfach nicht. Habe ich mich selbst auf ein Abstellgleis gestellt?

Von der Bank aus sehe ich auf die große grüne Wiese und die Stelle, wo mein in Rumänien geborener Vater anonym beigesetzt wurde. Im Alter von sechzehn Jahren hatte er sich wie mehr als 60.000 andere Rumäniendeutsche von der Waffen-SS anwerben lassen und war auch Jahrzehnte später noch davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Er war in Italien im Einsatz und zeigte meinen Kindern immer wieder voller Stolz das ihm verliehene Bandenkampfabzeichen. Wir haben uns ganz oft gestritten. Von meinem Vater hätte ich mir so sehr ein Schuldgefühl gewünscht.

Aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen, wurde er in Hamburg sesshaft. Eine Rückkehr zu seiner Familie war nicht möglich. Sein Vater hatte ihm geschrieben, dass er in Rumänien mit dem Tod rechnen müsse.

Zwischen 70.000 und 80.000 Rumäniendeutsche wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion verschleppt. Dort mussten sie Zwangsarbeit, überwiegend in Bergwerken oder Schwerindustriebetrieben, leisten.

Nie hat mein Vater Gefühle gezeigt. Immer war er stark, dominant und jederzeit bereit zuzuschlagen. Wahrscheinlich hat er, wie Millionen andere auch, die Schrecken des Krieges verdrängt und seine verletzte Seele so schützen wollen. In jungen Jahren war mir ein solcher Blick versperrt. Ich habe gegen meinen Vater rebelliert. Im Alter von achtzehn Jahren drohte mir mein Vater zum letzten Mal mit Schlägen.

Wir dürfen all das Schreckliche nicht verdrängen. Es macht mir Angst, dass heute jeder fünfte Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren noch nie etwas vom Konzentrations- und Vernichtungslager Ausschwitz gehört hat. Mehr als eine Million Menschen wurden ermordet.

Frieden ist keineswegs selbstverständlich. Jeder von uns kann etwas für den Frieden tun. Wir müssen Politiker unterstützen, die für den Frieden arbeiten. Politiker entscheiden über Krieg und Frieden. Nur wenn Menschen würdige Lebensverhältnisse und Gerechtigkeit erfahren, kann sich Frieden entwickeln.

Zurückblickend sehe ich mich mitten in der Nacht aufschrecken und eine Krankenschwester sagen, dass mein Vater nach seinem Sohn gefragt habe. Ich hatte meine Telefonnummer hinterlassen und ausdrücklich erklärt, dass man mich jederzeit anrufen könnte. Meinem Vater ging es schlecht, das verabreichte Morphium wirkte noch nicht, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Wollte er seinen Sohn noch einmal sehen, weil er spürte, dass er sterben würde? Wollte er mir noch etwas sagen, oder wünschte ich es mir nur, dass er es tun würde?

Ich erinnere mich an eine Begebenheit in meiner Schulzeit. Mein Klassenlehrer beschwerte sich bei meinen Eltern darüber, dass ich einem Mitschüler beim Einkauf im Schlachterladen mit der Faust so heftig auf dessen Ohr geschlagen hätte, dass es geblutet habe und er am darauffolgenden Tag nicht zum Unterricht erscheinen konnte. Als ich meinem Vater sagte, dass der andere doch mit dem Streit angefangen habe, war die Angelegenheit für ihn zufriedenstellend erledigt.

Ich verlasse den Friedhof. Wo ich das Wohnmobil abgestellt habe, erinnere ich nicht mehr. Es häufen sich seit einiger Zeit zunehmend Situationen, in denen mich mein Erinnerungsvermögen im Stich lässt. Aus Betroffenheit, aber auch aus Scham mag ich mit niemanden darüber reden. Ich habe versucht, mir anzugewöhnen, Fotos von Straßennamen zu machen. Heute habe ich es wieder einmal vergessen.

Endlich sehe ich es von Weitem. Fast eine Stunde hat es gedauert, bis ich es am Ende einer Seitenstraße, auf einem Parkplatz vor einer Apotheke, gefunden habe. Auf direktem Wege fahre ich in die Breitscheidstraße. Mit meinem kleinen Wohnmobil finde ich zum Glück einen Parkplatz auf dem Mittelstreifen. Von hier aus kann ich aus dem Seitenfenster den Hauseingang und die Wohnung sehen, in der Maria mit ihren Eltern wohnte. Seit unserem Klassentreffen habe ich mich schon mehrfach gefragt, warum ich nicht herausfinden sollte, wo Maria heute wohnt. Rainer hatte doch sofort reagiert, als Hannelore uns fragte, ob wir nicht helfen könnten, und er wollte sich um den Verbleib von Hans kümmern. Warum sollte ich nicht auch einen kleinen Beitrag leisten und dadurch Maria ermöglichen, am nächsten Klassentreffen teilzunehmen?

Finde heraus, was du wirklich willst, hatte Maria einmal gesagt und dabei so selbstsicher gelächelt wie immer. Hast du es herausgefunden, musst du es aber auch wirklich machen, hatte sie hinzugefügt. Ich hatte ihr gesagt, dass ich nicht genau wüsste, ob ich Gitarre oder Geige spielen lernen wollte.

Sie muss 15 Jahre alt gewesen sein, als sie mit ihren Eltern umzog. Ihre Mutter war Lehrerin, und meines Wissens hatte ihr Vater für eine Rundfunkanstalt gearbeitet.

Maria freute sich auf den Umzug, auf die neue Stadt im anderen Deutschland, wie sie sagte, und war sich sicher, schnell neue Freunde zu finden. Im Übrigen könne man ja auch Kontakt zu seinen alten Freunden halten und sich in den Ferien besuchen.

An ihrem letzten Schultag habe ich sie, wie so oft, noch ein kurzes Stück auf ihrem Heimweg begleitet. An der Tankstelle trennten sich unsere Wege. Sie gab mir einen kleinen Zettel mit der Anschrift ihrer Oma, den ich in meine Hosentasche steckte. Daran erinnerte ich mich mit Schrecken, als ich einige Tage später aus dem zum Innenhof liegenden Fenster meine Hose sah, die meine Mutter zusammen mit Handtüchern, Socken, Unterhemden und einem Rock nach dem Waschen zum Trocknen auf die langen Wäscheleinen gehängt hatte. Der Zettel war weg, obwohl meine Mutter ihn nicht aus der Hosentasche genommen haben wollte.

Mit kurzem Mantel und hochgeschlagenem Kragen verlässt ein jüngerer Mann mit aufgespanntem Regenschirm das Haus. Ich gehe in die naheliegende kleine Bäckerei und will erst einmal einen Kaffee trinken, bevor ich bei Volkmann klingeln und nach Marias Eltern fragen werde. Vielleicht sind die Volkmanns ja die Nachmieter und können mir weiterhelfen.

Während ich meine Brille mit einem Taschentuch putze, betritt ein älterer, ganz aufrecht gehender großer Mann den Laden, und ich zucke zusammen, als die junge Frau mit der weißen Schürze und blondem Pferdeschwanz sagt: „Guten Tag, Herr Volkmann, richtiges Schietwetter, was.“ „Stimmt, Frau Kretschmann“, höre ich ihn mit tiefer, maskulin klingelnder Stimme antworten. Kurz darauf verlässt er mit einer kleinen Tüte den Laden. Irgendetwas hat mich davon abgehalten, ihn direkt anzusprechen.

Zurück beim Wohnmobil, fahre ich stadtauswärts zu einem Stellplatz, der sich kurz hinter der großen Brücke am Fluss befindet. Die breite Einfallstraße führt direkt ins Zentrum. Der Straßenverkehr ist laut. Außer meinem zähle ich noch sieben andere Wohnmobile, fünf davon deutlich größer, zwei aus den Niederlanden, eines aus Dänemark und die anderen aus Deutschland.

Meine Nervosität ist so groß, dass ich nicht sitzen kann. Vor dem Wohnmobil gehe ich wie ein Hamster im Rad auf dem geteerten Weg auf und ab, den Blick nach unten gerichtet. Ich will niemanden sehen und schon gar nicht mit jemandem sprechen.

Was mute ich meiner lieben Frau eigentlich zu, die über mein befremdliches Verhalten auch schon mit unseren Kindern gesprochen hatte? Es war Anfang Dezember, und wie jedes Jahr hatten wir uns zum Julklapp verabredet. Nach dem Mittagessen gingen sie wohl davon aus, dass ich zum Rauchen vor die Tür gegangen bin. Ich stand aber schon wieder im Flur, weil ich mein Feuerzeug vergessen hatte. So konnte ich das Gespräch im Wortlaut verfolgen.

Als ich aufstehe, ist es draußen noch dunkel. Immer wieder bin ich in der Nacht aufgewacht. Im Traum hörte ich im Radio Songs vom Fliegen und von leichten Gefühlen. Fliegen konnte ich in meiner Kindheit im Traum. Leichte Gefühle sind mir ein Leben lang leider fremd geblieben. In meinen Kindheitsträumen gab es immer wieder bedrohliche Situationen. Ihnen konnte ich jederzeit entweichen, indem ich wie ein Vogel in die Luft flog. Von oben hatte ich dann einen guten Überblick und konnte die richtigen Entscheidungen für mich treffen. Heute Nacht war es anders.

Ohne gefrühstückt zu haben, breche ich auf und fahre in die Breitscheidstraße. Ich finde diesmal einen Parkplatz nahe der Schule, in die ich früher gegangen bin. Bevor ich bei Volkmanns klingeln will, trinke ich in der Bäckerei einen Kaffee und esse ein Franzbrötchen.

Lebe deine Träume, hatte Maria gerufen, bevor sie mit dem Fahrrad im Hauseingang verschwand und ich, mit beiden Händen in den Hosentaschen, über die damals wenig befahrene Straße in den angrenzenden Park lief. Daran muss ich denken, als ich auf den Hauseingang zugehe.

Die Tür geht auf, und eine junge Frau mit einem braunen Dackel geht an mir vorbei. Kurz bevor die Tür wieder ins Schloss fällt, halte ich sie fest und öffne sie. Vor mir steht eine kleine, übergewichtige Frau mit Stirnband und blauem Kittel, die offensichtlich dabei ist, das Treppenhaus zu reinigen. Sie guckt mich an, als wollte sie mich fragen, ob ich ausgerechnet jetzt kommen muss, wo sie doch gerade sauber mache. Ich stehe wie ein kleiner Junge vor ihr, der nicht genau weiß, wo er denn eigentlich hingehen will. Im Treppenhaus riecht es angenehm, die Fußmatten sind hochgestellt, und es glänzen die gerade mit einem feuchten Tuch gewischten und in den ersten Stock führenden Steintreppen.

So, als wüsste ich es nicht schon, frage ich, ob hier jemand wohnt, dessen Name Volkmann lautet. Sie guckt mich skeptisch von oben bis unten an und zeigt gleichzeitig mit dem Schrubber auf die Tür unten links. Für eine Sekunde überlege ich, ob ich nicht einfach gehen sollte, aber dann drücke ich doch die Klingel und stehe wie versteinert vor der grün gestrichenen Tür mit dem kreisrunden Guckloch, das einem die Entscheidung leichter macht, ob man überhaupt öffnen will.

Die Tür wird geöffnet, und vor mir steht der Mann, den ich in der Bäckerei gesehen hatte. Er trägt einen dunklen Anzug mit Weste und blauem Hemd mit geöffnetem Kragen und sieht mich fragend an. „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Eduard Nilsson. Ich bin auf der Suche nach einer ehemaligen Klassenkameradin. Sie hat Anfang der Sechzigerjahre mit ihren Eltern hier gewohnt. Wir hatten vor einigen Wochen ein Klassentreffen und haben uns vorgenommen, die fehlenden Anschriften einiger Mitschüler herauszufinden, damit wir sie zu unserem nächsten Treffen einladen können.“ Herr Volkmann guckt mich voller Argwohn an. „Wie war denn der Nachname Ihrer Klassenkameradin?“ „Albrecht“, antworte ich. Zu meinem Erstaunen bittet er mich in die Wohnung. Ich fühle mich leicht verunsichert, als ich im dunklen Flur stehe, einen rechteckigen Spiegel und zwei kleine Kommoden um mich herum wahrnehme.

Das Wohnzimmer ist klein, die lange Gardine ist zugezogen. An der einen Wand hängt ein Bild mit einer Brücke über einem Fluss, an der anderen ein Bild mit bewachsenen Deichen und herumlaufenden Schafen neben einem alten Bauernhof.

Auf dem Sessel sitzt eine Frau. „Das ist meine Frau. Nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ Ich bitte um ein Glas Wasser. „Wir wohnen seit Jahrzehnten hier“, sagt Herr Volkmann, reicht mir ein Glas und guckt dabei mit ernster Miene zu seiner Frau, die regungslos am Fenster sitzt, den Kopf nach unten gebeugt, sodass ich ihr kaum in die Augen blicken kann. Kurze dunkelbraune Haare, eine zierliche Figur und einen sehr schönen, orangefarbenen Armreif sehe ich. Ihre Hände sind stramm gefaltet. Man könnte denken, dass sie sich festhält oder betet. „Wir haben die Familie Albrecht nur ein einziges Mal gesehen. Es war bei der Wohnungsbesichtigung. Es ist schon so lange her. Ich kann mich nicht einmal mehr daran, dass sie ein Kind hatten. Es tut mir sehr leid, Ihnen nicht helfen zu können.“

Warum hat er mich zu sich in die Wohnung gebeten?, frage ich mich, als ich wieder im Wohnmobil bin. Nur um mir zu sagen, dass er mir nicht weiterhelfen kann? Das hätte er mir doch auch im Treppenhaus sagen können. Warum saß seine Frau die ganze Zeit teilnahmslos auf dem Sessel und blickte nicht ein einziges Mal nach oben? Hat er mich nicht ausgefragt? Warum wollte er von mir wissen, wo ich wohne und was ich beruflich mache? Er hat mich die ganze Zeit gemustert, mit seinen stechenden Augen förmlich durchbohrt. Eine innere Stimme sagt mir, dass da etwas nicht stimmt. Die Wohnung hatte ich dann überstürzt verlassen und wäre dabei fast auf den wenigen, noch feuchten Treppenstufen ausgerutscht, wenn mich die kleine Frau mit ihren grünen Handschuhen nicht kräftig festgehalten hätte.

Nach einem wenig entspannten Telefonat mit meiner Frau und einem Gefühl von Enttäuschung und Ratlosigkeit schlafe ich ein. Meine Frau wollte wissen, wie es mir geht, was ich denn so mache und ob ich nicht doch wieder nach Hause kommen wolle. Von meiner Begegnung mit Volkmann habe ich ihr nichts gesagt. Dafür habe ich angedeutet, dass es mir von Tag zu Tag besser gehen würde und ich sicher in Kürze wieder zurückkehren würde.

Seit zwei Wochen halte ich mich in dem Stadtteil auf, in dem ich nach meiner Geburt bis in das junge Erwachsenenalter gelebt habe. Immer wieder gehe ich die Straßen ab, die ich aus meiner Kindheit und Jugend kenne. Gegenüber der Schule sehe ich einen Kiosk. Früher gab es dort eine Bäckerei, in der man für Kleingeld Kuchenreste kaufen konnte. Daneben stand ein großer Häuserblock. Es war ein Wintertag, und es hatte in der Nacht kräftig geschneit. Einige Fenster waren zum Lüften geöffnet. Rainer und ich schauten uns grinsend an, warfen mehrere Schneebälle durch die geöffneten Fenster im Erdgeschoß und im ersten Stock und liefen dann schnell über die Straße zurück auf das Schulgelände.

In der Parkanlage stehe ich vor der weitläufigen Rasenfläche. Hier haben Rainer, Dieter, Peter und ich an vielen Nachmittagen zusammen Fußball gespielt. Die Hausaufgaben wurden danach gemacht. Ich zucke zusammen. Auf einmal steht Herr Volkmann neben mir. „Sie sind doch Herr Nilsson. Sind Sie denn mit Ihrer Recherche vorangekommen?“ „Nein, bin ich leider noch nicht.“ „Lassen Sie mal nicht locker. Sie werden Ihre Schulfreundin schon finden.“ Bevor ich etwas sagen kann, geht er weiter. Ich gehe in die gleiche Richtung und sehe, dass Herr Volkmann in ein griechisches Restaurant geht.

Zurück im Wohnmobil, führe ich mir noch einmal die Wohnzimmereinrichtung vor Augen und erinnere mich an das eine Bild an der Wand. Es zeigt die älteste Brücke über die Rhone. Durch das bekannte französische Kinderlied „Le Pont d‘ Avignon“ erlangte sie ihre Berühmtheit. Mit meiner Frau war ich vor Jahren im Urlaub in Südfrankreich, und da sind wir über die Brücke gegangen. Damals hatten wir beide noch Träume, die wir im Ruhestand realisieren wollten. In den letzten Monaten habe ich mich dann zunehmend als jemanden wahrgenommen, der seine Lebensfreude verloren hat. Träume hatte ich nicht mehr. Jetzt fühlt es sich irgendwie anders an. Mir kommt es so vor, als würde sich langsam eine Schraube in meinem Kopf lösen. Die Vorstellung, Maria finden zu wollen, beflügelt mich. Habe ich nur eine Aufgabe gebraucht?

Wohnte ihre beste Freundin nicht in der Grusonstraße? Nach und nach erinnere ich mich an sie. Ihr Name war Evita. Wir nannten sie alle Evi. Ihre Eltern waren in den Fünfzigerjahren, als ein rasantes Wirtschaftswachstum in der BRD zu einem Mangel an Arbeitskräften führte, aus Italien nach Hamburg gekommen. Der Nachname war Frattini. Evi ging auf eine andere Schule.

Tatsächlich habe ich nicht nur das Haus gefunden, sondern auch ein Klingelschild mit dem Namen Frattini. Es dauert lange, bis die Tür geöffnet wird und mir eine alte Frau mit faltenreichem Gesicht gegenübersteht. Sie bittet mich mehrfach, lauter zu sprechen und zeigt dabei mit einer Hand auf ihre Ohren, während sie sich mit der anderen Hand am Türrahmen festhält. Ihre Tochter wird seit Jahrzehnten vermisst.

Bedrückt gehe ich zurück zum Wohnmobil. Wie schrecklich muss es für ihre Eltern gewesen sein. Die Wunden verheilen doch nie. Wurde sie getötet? War Evi volljährig, als sie verschwand? Auf Wikipedia lese ich, dass bei den zwischen 1950 und 2002 vom Bundeskriminalamt registrierten vermissten Kindern unter 14 Jahren über 800 Vermisstenfälle bis heute ungeklärt sind. Werden Erwachsene aufgefunden und wollen keinen Kontakt zu ihren Suchenden, werden die Ermittlungen abgeschlossen. Nach 30 Jahren wird die Personenfahndung eingestellt.

Fast eine ganze Woche halte ich mich jetzt schon in der Nähe der Breitscheidstraße auf. Den Eisladen von früher gibt es nicht mehr. Die Badeanstalt, in der ich meinen Freischwimmer gemacht habe, erkenne ich kaum wieder. Jetzt ist es ein Olympiastützpunkt. Wo heute eine Anlage mit Schrebergärten ist, standen früher einige Baracken.

In einer dieser behelfsmäßigen Unterkünfte haben meine Eltern zusammen mit meinem Bruder und mir in den ersten Jahren der harten Nachkriegszeit gewohnt. Es gab nur ein Zimmer. Brot und Wurst wurden mit einem Band an der Decke festgemacht, um sie vor Ratten zu schützen. Meine Mutter erzählte mir vor Jahren einmal von dieser Zeit. Holz zum Heizen musste kilometerweit mit dem Fahrrad transportiert werden. Vieles von dem, was heute als unverzichtbar gilt, gab es damals nicht. Es gab keine Waschmaschine, keinen Fernseher und auch keinen Kühlschrank. Wir hatten kein warmes Wasser, keine Toilette und auch kein Telefon.

Die Angst vor Bombenalarm sitzt auch heute noch tief in ihr. Bei jedem Gewitter saß sie zitternd neben meinem Vater, der ihre Hand hielt. Wer hält jetzt ihre Hand, wenn die Angst hochkommt?

Unweit der Breitscheidstraße steht auch heute noch ein großer, grauer Bunker. In Gedanken sehe ich meine Mutter als Älteste von neun Kindern mit angstverzerrtem Gesicht gemeinsam mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter in den Bunker laufen.

Länger als zwei Stunden habe ich in der Kirche gesessen und überlegt, wie ich Marias Aufenthaltsort herausfinden kann. Das Einwohnermeldeamt konnte mir nicht helfen. Meine Angaben waren einfach nicht konkret genug. Telefongespräche mit Rainer und Dieter haben mir auch nicht weitergeholfen. Rainer zeigte sich amüsiert, dass ich mich nun doch auf die Suche nach Maria gemacht habe. Ein bisschen verrückt sei ich ja aber schon immer gewesen. Er habe bereits Kontakt zu Hans aufgenommen. Er wohnt nach wie vor in Köln. Beim nächsten Klassentreffen wird er dabei sein. „Streng dich jetzt auch mal ein bisschen an.“ „Mach ich.“ „Es kann doch nicht so schwer sein. Wenn du Maria gefunden hast, grüße sie bitte von mir. Wir können uns dann ja auch mal zwischendurch mit ihr irgendwo treffen.“ „Gute Idee.“

Der kurze Weg zurück zum Wohnmobil führt mich wieder entlang der Breitscheidstraße. Ich wähle die andere Straßenseite und sehe etwas später tatsächlich Herrn Volkmann mit einer Aktentasche das Haus verlassen. Erstaunt blicke ich auf das Küchenfenster. Die Gardine wird ruckartig beiseitegezogen. Mit einer Handbewegung wird mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich schnell zur Wohnung kommen soll.