Mein Privatbesitz - Mary Ruefle - E-Book

Mein Privatbesitz E-Book

Mary Ruefle

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Beschreibung

Eine junge Frau besucht zum ersten Mal in ihrem Leben ein klassisches Konzert und schläft mittendrin ein. Später bemerkt sie, dass es sich um Brahms »Wiegenlied« gehandelt hat – war sie vielleicht gar die einzige Person im Saal, die die Musik wirklich gehört hat? Eine ältere Frau sinniert über die ihrer Meinung nach zu Unrecht aufgegebene Praxis der Schrumpfköpfe – wie gerne würde sie zwölf Schrumpfköpfe ihrer Ahnen in einer Eierschachtel aufbewahren und sie gebührend erinnern. Eine Frau in den Wechseljahren dokumentiert die Unentrinnbarkeit des Verfalls beherzt in einem Weintagebuch, »Montag 3 Mal geweint / Dienstag kein Mal / Mittwoch 1 Mal, ein bisschen.«

In Mary Ruefles 41 Prosaminiaturen wird das Profane, werden Obsessionen, Sehnsüchte und widersprüchliche Neigungen zum Katalysator von Erkenntnis. Mit Lakonie, Humor und einer beneidenswerten Gabe des Hinsehens stellt Ruefle die genau richtigen Fragen an das Leben und erschließt en passant die Traurigkeit und Schönheit unseres alltäglichen Tuns.

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Seitenzahl: 97

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Titel

Mary Ruefle

Mein Privatbesitz

Aus dem Englischen von Esther Kinsky

Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel My Private Property bei Wave Books, Seattle.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

Erste Auflage 2022© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2022© 2019 by Mary RuefleAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-76942-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Michael

Motto

Diese schwerfälligen Knochen, auch die merkwürdige Entfernung zwischen Fuß und Fingerspitze und Hirn, und all diese Liter Blut. Ich erschauerte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich nicht unentwegt verletzten, und dann das Sterben in einem so ausgedehnten Körper.

Walter de la Mare, Erinnerungen eines Zwerges

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Inhalt

Kleiner Notizbleistift

Schlüssel

Bitte lesen

Glück gehabt

Beobachtungen am Boden

Blau

Die Frau, die gar nichts beschreiben konnte, wenn sie es könnte

Pause

Wiegenlied

Zum Beispiel Frank

Erinnerungen an meinen Weihnachtsbaum

Lila

Schwarz

Eines Mädchens Theorie

An eine Zeitschrift

Milchshake

Grau

Rot

Zwischen den Wolken

Mein Privatbesitz

Alt-Unsterblichkeit

Grün

Rosa

Im Wald

Der verkappte Traum vom Speisen

Wie ein Schal

Orange

Gelb

Wildes Blut des Waldes

Tintenschnörkel

Personalia

Geächtet

Auf dem Weg zu einer sorgenfreien Welt

Selbstkritik

Weiß

Braun

Sie hatten unrecht

Das Geschenk

Das Invasive Ding

Das Erhabene

Etwas Sonderbares

Danksagung

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Kleiner Notizbleistift

Auf der Wache baten sie mich um etwas Sachliches, Nüchternes. Mary, sagten sie, das nennt sich Aussage. Sie nahmen mich mit hinaus in den kleinen Hof, wo sie immer zum Mittagessen saßen, und zeigten mir einen kleinen Baum, der leider dabei war, einzugehen. Etwas mit vier Beinen hatte ihn ziemlich übel angefressen. Aber machs nicht zu übertrieben, sagten sie. Das versprach ich, doch im Stillen dachte ich, dieses Vierbeinerige hätte es doch auch ziemlich übertrieben, und auch der Baum seinerseits übertreibe es jetzt, indem er sein Sterbchen machen wollte. Die Polizisten saßen alle herum und aßen Brote und boten mir eines an. Das hier ist köstlich, sagte ein Inspektor, meine Frau hat es gemacht. Als ich sah, dass es mit Erdnussbutter und Gelee bestrichen war, fand ich ihn etwas übertrieben, doch ich sagte nichts. Ich saß bloß da und betrachtete den Baum und aß unterdessen mein Brot. Als ich aufgegessen hatte, bat ich um einen Bleistift, und sie gaben mir so einen kleinen Notizbleistift. Ich sagte auch dazu nichts. Ich schrieb nur meine Aussage und gab sie ab – es war eine Beschreibung des Baums, das sollte ein Weihnachtsgeschenk für ihren Hauptkommissar werden – also, meine Beschreibung, nicht der Baum, denn der Hauptkommissar, na ja, der hatte diesen Baum sehr gern und er hatte auch meine Art zu schreiben gern, und jeder einzelne Polizist hoffte, im Herzen des Hauptkommissars befördert zu werden und am Ende vielleicht gar eine Gehaltserhöhung zu bekommen. Trotzdem, nachdem ich da so lang im Hof herumgesessen und Brote gegessen hatte, empfand ich ein angenehmes Gefühl der Verbundenheit, und als sie mich fragten, ob ich noch etwas sagen wollte, erzählte ich ihnen, am Anfang verstehe man die Welt, doch nicht sich selbst, und wenn man endlich sich selbst verstehe, verstehe man die Welt nicht mehr. Damit waren sie anscheinend zufrieden. Ach, Polizisten, die sind alle noch so jung.

Schlüssel

Arme kleine Schlüssel! Mit Erfolg ist nicht immer zu rechnen, die Schlüssel haben sich dem passiven Widerstand verschrieben, und dieser äußert sich in Form von Störrischkeit, wie ihre Peiniger es nennen, und wenn das einmal erblich geworden ist, fürchte ich, wird es ihnen nichts und niemand auf der Welt austreiben können. Man kann nichts tun, außer dann und wann ein einzelnes Individuum zu retten und abzuwarten, was Zuwendung und Fürsorge bei ihm ausrichten können. Schockiert über die grausame Behandlung, beschloss unlängst ein wohlmeinender Herr, der seine eigenen Theorien über Schlüssel hatte, einen jungen Schlüssel großzuziehen wie ein kleines Kind. Man brachte ihm ein Kleines, und es wurde in einem Loch gehalten, doch als es so weit war, wollte der Schlüssel einfach nicht aus seinem Loch kommen, und nichts konnte ihn dazu bewegen. Die Gefühle des Schlüssels waren denen einer Schnecke vergleichbar, die aus ihrem Haus gezerrt wird. Was aus diesem Schlüssel geworden ist, wurde nie bekannt, doch kann man mit Sicherheit annehmen, dass ein Loch zum anderen führte, und ich hoffe von Herzen, dass der wohlmeinende Herr ihn am Leben ließ, indem er ihn in immer neuen Löchern ausprobierte, und dass sich so zu guter Letzt zwischen ihnen ein echtes Gefühl entspann, und sei es auch das eines Scheiterns.

Bitte lesen

Es war einmal ein Vogel, mein Gott.

Clarice Lispector

Ich bin der gelbe Fink, der eine Stunde bevor sie starb, zu ihrem Futterspender kam. Ich war das letzte Lebendige, was sie sah, meine Verantwortung war groß. Und doch fraß ich nur. Acht lange Wintermonate hindurch hatten die schwarzen öligen Sonnenblumenkerne dort unberührt gelegen – kein einziger Vogel meiner oder anderer Art hatte sich ihnen genähert. Es war zu anstrengend. Selbst wenn wir die Kraft gehabt hätten – und die hatten wir nicht, halbverhungert wie wir waren –, wir waren nicht in der Laune, etwas zu knacken. Am Morgen des zweiundzwanzigsten April nahm sie die Kerne heraus und füllte das Rohr des Spenders mit Sonnenblumenherzen – glänzenden Häppchen, deren harte Hülsen eine ferne, komplizierte Maschine abgeschält hatte. Sie ging wieder hinein und wartete. Von meinem Zweig aus sah ich sie Dinge tun, die sie gern tat: Sie hob ein Handtuch vom Boden auf, sie füllte eine Karte aus, um die Post abzubestellen, sie kochte Wasser, sie starrte ins Leere. Sie sah mich kommen. Über ihr Gesicht flackerte nicht gerade Freude, aber doch ein ganz normales Aufwallen des Lebens. Ja, gewiss, eine Glasscheibe befand sich zwischen uns. Doch ich sah die Körner ihrer Augen und die aufwärts gebogenen Mundwinkel. Ich aß ein Herz. Ich wandte den Kopf. Sie sah mich an, als wäre ich das letzte Lebendige auf der Welt. Und da es stimmte, fraß ich weiter.

Glück gehabt

Während ich schlief, brach Gott in mein Herz ein und nagelte Bilder von Sich in verschiedenen Kleidern an die Wand. Er fragte mich, welches mir am besten gefiele, doch es war offensichtlich, dass mir alle gefallen sollten. Mir gefiel kein einziges, doch eines war dabei, ein fließendes weißes Gewand mit einem schwebenden blauen Heiligenschein über dem Halsausschnitt, dort, wo Sein Gesicht sein sollte, und ich meinte, diesem Bild gegenüber zumindest Meine Furcht zum Ausdruck bringen zu können. Deshalb sagte ich, es gefalle mir. Sofort sagte Er, ich hätte keinen Geschmack. Ich dachte, an dieser Stelle würde ich aufwachen, einen schlechten Geschmack im Mund haben und mir für den Tag helle bunte Kleider aussuchen, wie ich sie nie tragen würde, doch das geschah nicht. Ich schlief traumlos wie ein Baby, und als ich aufwachte, war ich nackt wie ein Baby und allein und hatte Angst.

Beobachtungen am Boden

Der Planet aus nächster Nähe betrachtet heißt der Boden. Der Boden kann von Menschenhand gelockert werden oder mittels eines kleinen von Menschenhand gehaltenen Werkzeugs, wie dem Spaten, oder eines noch größeren Werkzeugs wie der Schaufel oder einer Vielzahl von Maschinen, die gemeinhin als Erdbaumaschinen bezeichnet werden. Wir begraben unsere Toten im Boden. Rund eine Hälfte der Toten werden in Kisten begraben und rund eine Hälfte ohne Kisten. Eine Begräbniskiste ist ein Zeichen des Respekts vor den Toten. Wir sind die einzige Spezies, die ihre Toten so einpackt. Eine frühere, schlichtere Art, die Toten einzupacken, war das Einwickeln in Tuch.

Wir vergraben nicht nur unsere Toten im Boden, sondern auch unseren Abfall, oder Müll. Die von Menschen gemachten Abfallberge werden unter Einsatz von Erdbaumaschinen zusammengeschoben und dann in den Boden gestampft. Der Ort, wo dieses Begräbnis stattfindet, nennt sich Müllhalde. Der Ort, wo die Begräbnisse der Menschen in Kisten stattfinden, heißt Friedhof. In beiden Fällen wird der Boden aufgefüllt.

Ein toter Körper in einer Kiste kann mit Hilfe von Erdbaumaschinen in den Boden versenkt werden, aber wir bezeichnen ihn nicht als Müll. Wenn die Toten nicht in Kisten sind, und sie zu einem von Menschen gemachten Berg getürmt liegen, benutzen wir Erdbaumaschinen, um sie alle zusammen zu begraben wie Müll. Schätzungen zufolge treten wir überall, egal wo wir den Fuß aufsetzen, auf ein Stück Müll und die harten, zersetzungsresistenten Überreste der Toten. Wie dem auch sei, die Toten und der Müll sind zusammen im Boden, wo wir sie nicht sehen können, denn ihr Anblick und Geruch ist uns nicht angenehm. Ohne unsere Begräbnisse würden wir Gefahr laufen, davon überwältigt zu werden.

Ebenfalls im Boden vergraben sind die Samen, die wir in ihrer späteren Form aus dem Boden hervorkommen sehen möchten, nämlich als Pflanzen. Aus dem Boden emporwachsende Pflanzen sind für das Leben unerlässlich. Einen Samen begraben heißt ihn pflanzen. Wenn ein Samen gepflanzt wird und nie wieder zum Vorschein kommt, sind diejenigen, die ihn gepflanzt haben, traurig. Die erwartete Pflanze des erwünschten Samens hat nicht Gestalt angenommen. Er ist tot und bleibt begraben. Erdbaumaschinen kommen zum Einsatz, um große Bodenflächen mit Samen zu bepflanzen. Wenn ein ganzes Feld von wogendem Korn aus der Erde aufsteigt, wächst sichtlich die Freude unter denen, die die Samen vergraben haben. Freude herrscht auch, wenn ein Baum zum Vorschein kommt, etwa ein Baum, der Früchte tragen wird, oder grüne, essbare Blattpflanzen, die zuvor gesät worden sind. Wenn Blumen aus der Erde dringen, auf erstaunlich vielfältige Weise farbenfroh und schön von Gestalt, ist die Freude der Lebenden besonders groß. Blumen werden nicht nur ihrer äußeren Gestalt wegen bewundert, auch sind ihre Düfte imstande, uns hinzureißen, und daher begehrt. Nichts, so möchte es scheinen, macht die Lebenden froher als eine Blume. Blumen gehören zu den am sehnlichst erwarteten Dingen auf der Erde. Aus diesem Grund trennen wir die Blume vom Boden und überreichen sie einer anderen Person zum Halten oder Betrachten. Nach einiger Zeit stirbt die vom Boden getrennte Blume, und wir werfen sie in den Müll. Oft werden Blumen gepflanzt, wenn die Toten in Kisten begraben werden, doch diese Blumen werden nie abgeschnitten. Das wäre furchtbar. Wer so etwas täte, würde als Dieb gelten. Diese Blumen gehören den Toten.

Blau