Mein wildes Jahr - Robin Rinaldi - E-Book
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Robin Rinaldi

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Beschreibung

Die Journalistin über ihr erotisches Abenteuer: zwei Tage Ehe, fünf Tage Sex

Eine Frau Anfang vierzig, attraktiv, erfolgreich, seit 16 Jahren mit einem Mann verheiratet, der ihren Kinderwunsch nicht erfüllen will – nun steht sie vor der Frage: War es das jetzt? Genügt mir dieses gesicherte Leben? Oder sind zu viele Wünsche und Sehnsüchte unerfüllt geblieben? Um das herauszufinden, schlägt die Journalistin Robin Rinaldi ihrem Mann vor, ein Jahr lang die Wochenenden als Ehepaar zu verbringen, den Rest der Woche aber können sie beide ihre Träume und ungestillten Begierden ausleben. Schonungslos offen erzählt sie von ihren erotischen Abenteuern, aber auch von ihrem Ringen um Selbstfindung und Selbstbestimmung. Sie berichtet, wie die Erfahrungen dieses Jahres ihr Leben bereicherten, was sie bei diesem Experiment aber auch aufs Spiel setzte und was sie verlor.

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ROBIN RINALDI

MEIN WILDES JAHR

Zwei Tage Ehe, fünf Tage Sex

Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Wulfekamp

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Wild Oats Project. One Woman’s Midlife Quest for Passion at any Cost« bei Sarah Crichton Books, an Imprint of Farrar, Straus, and Giroux, New York.

1. Auflage© 2015 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: buxdesign, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-12558-5www.cbertelsmann.de

Für Ruby

INHALT

VORBEMERKUNG DER AUTORIN

TEIL EINS Der Tod des braven Mädchens

1. Die Schwelle

2. Flüchtling (Sacramento)

3. Der Sprung

4. Ehefrau (Philadelphia)

5. Das Heimkommen

6. Madonna (San Francisco)

7. Die Offenbarung

8. Hure

TEIL ZWEI Mein wildes Jahr

9. Mission Dolores

10. Nerve.com

11. OneTaste

12. Acht Tage

13. Die Glory Road

14. Der Schriftsteller

15. Die Sanchez Street

16. South of Market

17. Einsamkeit in Bewegung

18. Orgasmische Meditation

19. Yin und Yang

20. Golden Gate

21. Der Frauenkreis

22. Die Kommune

23. Unendliche Spiele

24. Mädchen, Mädchen, Junge

25. Die Andere

26. Der letzte Punkt auf der Wunschliste

TEIL DREI Haus des Schattens und des Verlangens

27. Der Knall

28. Das Danach

29. Das gebrochene Herz

30. Die Nachricht

31. Der Meister der Polarität

32. Die harte, heikle Wahrheit

33. Am Scheideweg

34. Das neue Jahr

DANK

VORBEMERKUNG DER AUTORIN

Was ich erzähle, ist eine wahre Geschichte, aber wie alle Erinnerungen schildert sie nur eine Seite der Wahrheit. Ich habe die Namen und die identitätsstiftenden Merkmale der meisten Personen, die in diesem Buch vorkommen, verändert.

TEIL EINSDer Tod des braven Mädchens

Lieber ein Kind in seiner Wiege morden, als seinen Wünschen nicht zu folgen.

William Blake, »Sprichwörter der Hölle«

1. Die Schwelle

Es war einer der seltenen lauen Abende in San Francisco. An den breiten Fenstern der Bar im ersten Stock, von der man das ganze Castro-Viertel im Blick hatte, rannen Regentropfen herab und ließen die Neonreklamen und die Scheinwerfer verschwimmen. Als sich die Büros zum Wochenende leerten, wurde die Bar voller, der DJ drehte die Musik lauter, der Kellner servierte die erste Runde kälteschwitzende Margaritas. Ich war die einzige Frau und die einzige heterosexuelle Person im Raum. Mein Freund Chris, den ich liebevoll meinen Schwulen-Ehemann nannte, unterhielt sich mit seinen Kumpeln. Ich holte mein Handy aus der Tasche und drückte auf Pauls Namen.

Das machte ich, ohne vorher darüber nachzudenken. Die paar Schluck Margarita taten wahrscheinlich ihr Übriges, aber um ehrlich zu sein, war die Gelegenheit an dem Abend einfach zu günstig. Es war noch früh, mein Mann wusste, dass ich mit meinem schwulen Freund unterwegs war, und rechnete erst in ein paar Stunden wieder mit mir. An diesem Freitagabend im Juli 2007 hatte etwas in mir – etwas Verborgenes, das aber so willensstark war, dass es mich zum Handy greifen ließ – das Gefühl geweckt, alles tun zu dürfen, wozu ich Lust hatte. Während ich mit dem Handy beschäftigt war, spürte dieser verborgene Teil in mir gewissenhaft die Veränderungen in meiner Ehe bis zu diesem Abend nach.

Was machst du gerade?, simste ich.

Lieg auf dem Sofa und schau fern.

Kann ich vorbeikommen?

Fünf Minuten lang keine Antwort. In der Zeit überfielen mich abwechselnd der prickelnde Schauer eines »Ja« und die Erleichterung eines »Nein«.

Ja. 2140 Jackson.

Die leuchtend blauen Zeichen »2140 Jackson« gaben eine elektrisierende Spannung ab, die sich meinen Arm hinaufzog und meine Brust von innen zum Glühen brachte, als hätte ich die Kombination zu einem Banksafe erhalten oder einen feindlichen Geheimcode geknackt.

Ich brauchte Zuspruch. Ich zog Chris beiseite und zeigte ihm die SMS. Er wusste, dass ich seit einiger Zeit in Paul verknallt war. Er kannte meinen Mann Scott und mochte ihn auch, doch in seiner Welt – dem Mikrokosmos schwuler Männer in San Francisco – bedeutete für Paare, die wie Scott und ich seit siebzehn Jahren zusammen waren, eine Affäre nicht unbedingt eine Katastrophe. Viele von Chris’ Freunden gaben hin und wieder ihrer Schwäche für jemand anderen nach, ohne dadurch ihre feste Beziehung aufs Spiel zu setzen.

Er sah vom Handydisplay zu mir. »Bist du dir sicher?«

»Nein, überhaupt nicht«, sagte ich. Mein Blick wanderte zur Tür. Ich zog meinen Regenmantel an.

»Hör mal«, sagte er und hielt mich am Ellbogen fest, wie ein Football-Coach, der am Spielfeldrand einem Anfänger Anweisungen erteilt. »Lass dir Zeit. Du kannst jederzeit Stopp sagen.«

»Okay. Jetzt muss ich los.«

»Schick mir nachher eine SMS, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«

Draußen ging ich durch ein Meer von Schirmen zum Rand des Bürgersteigs und streckte den Arm aus. Ich würde bestimmt zwanzig Minuten warten müssen, bis eines der wenigen in San Francisco zugelassenen Taxis hielt. Im nächsten Moment blinkte ein Fahrer und fuhr an den Straßenrand. Ich nannte ihm die Adresse.

Das Fenster war beschlagen. Ich öffnete es und sah in den sternenlosen, drückenden Himmel hinauf. Die Straßen glänzten vor Nässe, als wir die Divisadero Street hinauffuhren, die die Stadt in eine östliche und eine westliche Hälfte teilt. Während die Häuser an mir vorbeizogen, ging ich in Gedanken noch einmal zurück, überlegte, ob ich meine Entscheidung rückgängig machen sollte, bevor ich mein Leben zerstörte.

Ich kannte Paul schon seit ein paar Jahren. Er war fünf Jahre jünger als ich und hatte immer mit mir geflirtet, was mir völlig harmlos erschienen war, bis zu dem Abend vor einem halben Jahr. Ich hatte ihn und ein paar andere zu einer Party der Zeitschrift, bei der ich arbeitete, eingeladen, einer der Abende in einem Fünf-Sterne-Hotel, wo wegen der kostenlosen Getränke jeder schnell beschwipst ist. Ich unterhielt mich gerade mit jemandem, als Paul mich mit den Fingerspitzen leicht am Unterarm berührte und mich unterbrach. »Ich glaube, du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, sagte er und musterte mich ganz unverhohlen. Weil er Scott kannte und weil ich wusste, dass er ein gutherziger Frauenheld war, versuchte ich, sein Kompliment nicht ernst zu nehmen. Ich hatte schon öfter gehört, dass ich ganz gut aussah, manchmal sogar hübsch, aber als schön hatte mich noch kein Mann bezeichnet. Wider Willen fühlte ich mich geschmeichelt.

Und vor zwei Monaten war mir Paul beim Packen für eine Reise nach Mexiko plötzlich ungebeten in den Sinn gekommen. Ich wusste noch genau, in welchem Moment. Ich legte gerade meinen Bikini in den Koffer und dachte mit einer gewissen Trauer, dass die Zeiten, in denen ich einen Zweiteiler tragen konnte, bald vorbei wären. Trotzdem, sagte ich mir, Paul würde viel drum geben, mich in dem zu sehen.

Und dann war da noch die Taxifahrt vor drei Wochen. Paul und ich hatten uns nach ein paar Drinks mit Bekannten in einer Kneipe zu zweit ein Taxi genommen. Sobald ich im Wagen saß, brauchte ich mich nur zurückzulehnen und zu warten. Ich überließ mich der Stille, die sich über den Rücksitz legte, sah zum Fenster hinaus und spürte seinen Blick auf mir. Sobald ich mich zu ihm umdrehte, fiel er über mich her und presste mich gegen den Sitz. Sein Mund auf meinem. Seine große Hand um meinen Nacken. Was mich genauso erregte wie der Kuss selbst, war, dass er nicht fragte, die Art, wie seine Augen sich verengten, wie er meine Lippen fixierte. Es dauerte nur ein paar Sekunden. Als das Taxi vor dem Haus hielt, in dem ich wohnte, entzog ich mich seinem Griff und lief hinein. Dabei sagte ich mir unaufhörlich: Es war nur ein Kuss.

Als ich mich jetzt im Taxi den verschachtelten Läden entlang der Divisadero Street näherte und sie dann wieder im nassen Zischen der nächtlichen Straße verschwanden, warf ich einen Blick auf die zerfurchte Stirn des Fahrers im Rückspiegel. Ich sollte ihn bitten anzuhalten. Ich steckte in einer Midlife-Krise. Ein Klischee. Ich würde aussteigen, durch Pacific Heights laufen und meinen Kopf lüften. Ich sollte auf meine erprobte Intuition hören, der ich mein ganzes bisheriges Leben gefolgt war, und dem Fahrer sagen, dass er umkehren und nach Castro zurückfahren sollte, zu meiner gemütlichen Wohnung, wo mein Mann mit einem Buch und einem Glas Wein wartete.

Vielleicht stellen Sie ihn sich jetzt, nach den ersten Seiten, schon vor und machen sich Gedanken, was mich zu dieser Eskapade veranlasst haben könnte: dass er ein Trottel war, dass es in unserer Ehe am Sex fehlte. Es spricht nicht für mich, sagen zu müssen, dass keines von beiden stimmte. Scott hatte seine Schwächen, aber er liebte mich, und ich liebte ihn.

Möglicherweise denken Sie aber auch, dass ich in diesem Taxi saß, weil ich schlicht und ergreifend ein Flittchen bin. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mit Ausnahme einer sehr traditionellen Freundin war ich in meinem Bekanntenkreis die Dreiundvierzigjährige mit der wenigsten Erfahrung, eine Erstgeborene, ein allzu verantwortungsvolles braves Mädchen, das zeit seines Lebens monogam gewesen war. Wobei ich mit »brav« weder prüde meine noch besonders zuvorkommend oder großzügig. Ich hatte mit einigen Männern geschlafen – vier, um genau zu sein, einschließlich Scott –, Sex machte mir Spaß. Was ich meine, ist, dass ich schreckliche Angst hatte, etwas falsch zu machen oder irgendjemandem zu schaden. Etwas Böses zu tun, kostete mich große Überwindung, mit meinen guten Taten buhlte ich vor allen Dingen um Anerkennung. Es fiel mir schwer, meine Impulse auszuleben. Bis jetzt.

Als der Fahrer von der Divisadero in die Jackson abbog, summte mein Handy den Signalton für eine SMS.

Soll ich eine Flasche Wein aufmachen?

Ohne zu zögern tippte ich Unbedingt, und in meinem Bauch begann es erwartungsvoll zu kribbeln. Ich trieb auf einer merkwürdigen, mir fremden Woge dahin, und deren bloße Energie, die überraschende Erkenntnis, dass es doch noch eine innere Dynamik gab, erfüllte mich mit solcher Freude, dass ich mich einfach von ihr mitreißen ließ.

In den regennassen Wohnstraßen am Rand von Pacific Heights war es dunkel und still. Ich bezahlte den Taxifahrer und stand auf dem Absatz vor Pauls Haustür. In der Ferne tutete das Nebelhorn seine Warnung in die kalte, schwarze Bucht hinaus. Ich hob die Hand, um zu klingeln, dann zögerte ich. Der Zustand meiner Ehe rechtfertigte nicht, dass ich jetzt hier stand. Doch eine aufsässige Stimme redete mir gut zu, versicherte mir, ich bräuchte keine Genehmigung mehr, für nichts, vielmehr sei es an der Zeit, ein paar Regeln zu übertreten und zu sehen, wohin mich das führte. Beflügelt von einer halben Margarita und einem Schwall Adrenalin, hielten sich die abgründigen und die vernünftigen Gedanken in meinem Kopf die Waage.

Aber mein Körper hatte jegliches Interesse an aristotelischer Logik verloren. Irgendwie war er aus seinen üblichen Schranken ausgebrochen, um eigenmächtig zu handeln, und zwar zum ersten Mal seit … wie lange? Ich wusste es nicht. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt.

Ich drückte die Türklingel.

Damit begann der Weg, auf dem ich vom Pfad der Tugend abwich. Wenn ich diesen Weg jetzt beschreibe, kann man die Geschichte als Manifest der Freiheit oder auch als Warnung lesen. Für mich ist sie beides. Ich werde versuchen, sie so objektiv wie möglich zu erzählen, damit Sie sich ein eigenes Urteil bilden können.

2. Flüchtling (Sacramento)

Monatelang wehrte ich mich gegen Scotts Annäherungsversuche. Zuerst wollte er mit mir in ein Konzert gehen, dann in ein Restaurant, und als ich beides ausschlug, lud er mich zum Essen bei einem gemeinsamen Freund ein. Da saß ich dann und zitterte am ganzen Körper, denn als wir uns drei Jahre zuvor zum ersten Mal begegnet waren, hatte ich sofort gewusst, dass er den Lauf meines Lebens verändern würde. Die Kulisse dieser ersten Begegnung, eine weitläufige Software-Firma in den staubtrockenen Suburbs von Sacramento, passte so gar nicht zu dem schicksalhaften Ereignis, das sich dort abspielte. Die dunkelblonden Haare fielen ihm auf den Hemdkragen. Ich gab ihm die Hand, und es traf mich blitzartig: Sonnenschein, Wald, ein Friede so tief und still wie ein See.

Theoretisch standen die Chancen nicht gut. Er hatte eine Freundin, die in Spanien studierte, aber sie galten als Paar. Bis vor Kurzem war er mein Chef gewesen, und wir arbeiteten nach wie vor zusammen. Seine letzte Freundin war mit einem Mann verheiratet gewesen, der das Arrangement akzeptiert hatte. Ich war eine offene Wunde, und Scott war unverwundbar – das Letzte, was ich brauchte.

Praktisch erlag ich ihm zunehmend. Nach der Arbeit traf sich unser Team zu ein paar Drinks, und dann unterhielt Scott uns mit Geschichten über seine Reise per Anhalter von Indiana nach Kalifornien, auf der ihn in Colorado beinahe ein Zwerg erstochen hätte und er auf einer Baustelle in Texas aus mehreren Stockwerken Höhe von einem Balken gefallen war. Er sagte, er wäre zweifellos in den Tod gestürzt, hätte in seinem Kopf nicht eine geheimnisvolle Stimme – ein älterer Mann mit Südstaaten-Akzent – zu ihm gesprochen.

»Und was hat der Mann gesagt?«, fragte ich.

»Er sagte: ›Über deiner linken Schulter ist eine Pfette.‹ Nach der habe ich im Fallen gegriffen.«

»Was ist eine Pfette?«

»Eine Art Balken.«

Das war typisch. Er wusste, wie Sachen hießen – Pflanzen, Bäume, Maschinenteile. Und er wusste, wie Sachen funktionierten. Wenn wir uns am Montagmorgen bei der Arbeit über das vergangene Wochenende austauschten, erzählte er, dass er in seinem uralten Volvo die Triebwelle ersetzt oder um Mitternacht Linoleum in der Küche verlegt hatte.

Er hatte seine Kindheit zwischen den Dünen des Michigansees verbracht. Seine Größe und seine markanten Züge verdankte er seinen deutsch-schottischen Vorfahren, die roten Wangen einem indianischen Einschlag. Er sah aus, als wäre er in meinem Alter, war in Wirklichkeit aber zehn Jahre älter. Sein schmuckes kleines Haus hatte er mit Hartholzböden ausgestattet, aber außer einem Tisch und Stühlen gab es keine Möbel, und an den Wänden hingen derart viele gerahmte Drucke, dass man sich wie in einer Galerie vorkam. Er besaß eine Katze namens Kato und einen Garten, in dem er Tomaten und Pfirsiche anbaute, und er schrieb surrealistische Kurzgeschichten mit Titeln wie »Die Mutter von zehntausend Wesen«. Er zitierte mit Vorliebe Walt Whitman und Epikur. In seinem überquellenden Bücherregal stand sein altes Pfadfinder-Handbuch zwischen Bertrand Russells Warum ich kein Christ bin und William Burroughs’ Western Lands. Mit diesen drei Büchern ließ sich seine Persönlichkeit zusammenfassen: Mittlerer Westen, autark und von unterschwelliger Wildheit.

Er hatte einen MBA gemacht und schon mit Mitte zwanzig an der Börse investiert. Als wir uns kennenlernten, gab es nach meinem Dafürhalten nichts, was er nicht schon gemacht hätte, sei es, dass er in den Wäldern Indianas in seinem Auto gelebt, Psychedelika genommen oder den Immobilien- und Aktienmarkt durchschaut hatte. In den drei Jahren unserer Freundschaft, bevor wir ein Paar wurden, fiel mir auf, dass Frauen ihm Blumen schickten und Kekse für ihn backten.

Schließlich lud er mich an einem Samstag zu einem Picknick in den Vorbergen der Sierra ein. Die junge Frau, die eine Zwölf-Schritte-Gruppe besuchte, wollte Nein sagen, die junge Frau, die die Welt sehen und herausfinden wollte, wie man in ihr lebt, fühlte sich verlockt.

»Ich komme mit«, sagte ich, »unter der Bedingung, dass du umkehrst, wenn ich es sage.« So war ich damals, als Sechsundzwanzigjährige: Ich hatte Angst vor Autos, Angst vor Männern und Angst vor jeder Stadt und jeder Straße, die ich nicht wie meine Westentasche kannte.

»Natürlich«, sagte er. »Wir können das Picknick auch jederzeit bei mir im Garten machen.«

Wenn man in einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung in der Nähe von Scranton, Pennsylvania, aufwächst, lässt man sich von jedem schönen Anblick gefangen nehmen. Die an den Bäumen reifenden Äpfel, die Sonne, die milchig-rosa zwischen den Wolken aufgeht, der verwahrloste Charme verrußter Ziegel und verrosteter Eisenstreben vor dem Hintergrund der blauen Berge ringsum. In Paris, umgeben von Prunk und Pracht, nimmt man den Geruch von Regen kaum wahr, oder höchstens als angenehme Beinote. An einem Sommerabend im Nordosten von Pennsylvania aber, wenn man den ganzen Tag beim Schwimmen war und jetzt auf dem Rücksitz des Autos herumfläzt, in dem der Freund an aufgelassenen Brechwerken und Pizzabuden mit greller Neonreklame vorbeifährt, während man ein Bein aus dem Fenster baumeln lässt und die Teenagerhaut am ganzen Körper vor Sonnenbrand und Chlor spannt, lernt man, was Regen wirklich bedeutet.

Dass mein Vater trank, merkte ich erst, als ich an der Highschool war und er zum Frühstück Wodka kippte. Für mich als Kind gab es gravierendere Probleme, etwa, dass er ein Buchmacher war. Das war ein Geheimnis und gefährlich, weil er deswegen jederzeit im Gefängnis landen konnte. Genauso gravierend war, dass er ständig drohte, meine Mutter umzubringen. Und dass sie allein weder einkaufen gehen noch Auto fahren konnte. Eine weniger starke Frau hätte sich ins Bett zurückgezogen oder wäre mit nervösen Störungen ins Krankenhaus eingeliefert worden, aber am Rand des völligen Zusammenbruchs ließ irgendeine Kraft sie immer noch funktionieren, ließ sie Koteletts braten, Staub saugen und trotz ihrer Panikattacken Zärtlichkeiten und Medizin verteilen. Meine Eltern waren zweiundzwanzig Jahre älter als ich.

Die Hassgefühle, die ich im Lauf der Zeit gegen meinen Vater entwickelte, überdeckten nie die biologisch bedingte Verehrung, die ich für ihn empfand. Meine hundertprozentige Abhängigkeit von meiner Mutter überdeckte nie den Umstand, dass sie auch mein Kind war, mich um Rat fragte und bat, mit ihr zum Arzt zu fahren. Die Liebe, die ich für meine drei kleineren Brüder empfand, die bedingungslose Liebe, die man für ein Kind mit seiner eigenen DNA empfindet und deretwegen man es gleichzeitig auffressen und beschützen möchte, hinderte mich nicht daran, jeden Tag aus dem Haus zu laufen, um dem Lärm und Chaos ihres unablässig wütenden Eifers zu entkommen.

Jeden Morgen machte ich mich unter schweren Wolken auf den Weg am Apfelbaum vorbei zur Schule, um beste Noten einzuheimsen. Am Nachmittag besuchte ich das Ballettstudio, wo ich meinen Körper in anspruchsvolle, artifizielle Positionen verrenkte. Am Abend fuhr ich mit Freunden in den Wald, hörte Led Zeppelin, trank aus kleinen Flaschen Bier, rauchte ab und zu einen Joint und lernte die zahlreichen Varianten kennen, dank derer sich ein junges Mädchen dem Vorspiel widmen kann, ohne richtig Geschlechtsverkehr zu haben. Zu Hause lauerte in jedem Morgengrauen eine Katastrophe, die ich irgendwie unbeschadet überstand.

Den Rest meines Lebens staunte ich über das Glücksgefühl, das ich meine ganze bewegte Kindheit hindurch empfand, so verbunden fühlte ich mich den Bergen, der Kleinstadt, meinen Freunden und meiner kaputten Familie. Und ich staunte, dass ich erst nach dem Ende dieser Kindheit unter ihrer Wucht zusammenbrach.

Die Schuld daran gebe ich dem wolkenlosen, unendlich hohen Himmel über Sacramento, der ebenso eindimensional ist wie die langweiligen Suburbs, die sich unter ihm ausbreiten. Ich war zwanzig, als ich mit einem Freund dorthin floh, und ein paar Jahre lang, als ich studierte und dann eine Stelle als technische Redakteurin fand, ging es ganz gut. Zwar war Sacramento eine herbe Enttäuschung, wenn ich an das Kalifornien meiner Träume dachte, andererseits trennten mich jetzt viereinhalbtausend Kilometer von meinem emotionalen Magneten, dem Zuhause, wo mein Vater in eine Reha kam, meine Mutter sich wegen Angststörungen in ein Therapiezentrum einweisen ließ, mein Großvater im Sterben lag und eine Scheidung im Gang war.

Als meine Trauer explodierte, hatte ich das Gefühl, als könnte ich jederzeit von der Erdoberfläche fallen. Der eintönige Himmel und die endlose Ebene des Sacramento Valley gaben mir keinen Halt. Orte und alltägliche Abläufe verloren alles Vertraute. Plötzlich gehörte ich nirgendwo mehr hin: weder zu meinem Freund noch zu meinem Job, weder nach Kalifornien noch nach Pennsylvania, nicht einmal in meine eigene Haut. Es kam mir vor, als wäre alles – Straßen, Gebäude, Bürgersteige – auf einen hauchdünnen Vorhang aufgemalt. Beständig lebte ich in der Angst, im nächsten Moment würde eine allmächtige Hand den Vorhang beiseiteschieben und mich in die dahinterliegende Leere stoßen. Wenn das passierte, musste ich vom Schreibtisch aufspringen oder auf dem Highway an den Straßenrand fahren. Weinkrämpfe schüttelten mich, aber es war eher ein Schreien als ein Weinen.

Bei der firmeninternen Beratungsstelle für Mitarbeiter wurde mir gesagt, ich litte an einer posttraumatischen Belastungsstörung, weil ich in einer gewalttätigen Alkoholikerfamilie aufgewachsen sei. Meine Mutter erklärte mir am Telefon dasselbe. Sie gab mir den Rat, mir einen Therapeuten zu suchen und an einem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen. Ich war vierundzwanzig. Mein Teenagertraum, als Journalistin durch Europa zu reisen, würde warten müssen, bis ich wieder funktionierte. Fünfmal die Woche besuchte ich ein Treffen der »Erwachsenen Kinder von suchtkranken Eltern und Erziehern«, EKS, kaufte sämtliche Selbsthilfebücher zum Thema und ging gewissenhaft zur Therapie. Tags schrieb ich geisttötende Software-Handbücher, abends verfasste ich wütende Briefe an meinen Vater, dass er uns alle misshandelt habe, und an meine Mutter, dass sie meine Hilfe in Anspruch genommen habe, um sich mit der Situation abzufinden, anstatt mit uns allen zu verschwinden.

Mein Freund musste gehen. Nicht, weil er etwas falsch gemacht hatte, sondern weil ich auf ihn angewiesen war und ich allein leben musste. Ich wollte ein Jahr lang sexuell enthaltsam sein. Ich zog in eine Gartenwohnung in einer baumbestandenen Straße mitten in Sacramento – in der Stadt gab es zumindest Bäume, das musste ich ihr zugute halten – und machte mich daran, zu einer körperlich und geistig gesunden Erwachsenen zu werden. Zwei Jahre lang trank ich kein Bier, kein Glas Wein. Ich war fest entschlossen, die typischen Fallstricke für junge Frauen mit meiner Vergangenheit zu vermeiden: gewalttätige Beziehungen, Sucht, promisker Sex, Nervenklinik.

Das war das Mädchen, das im siebten Monat ihres geplanten Zölibatjahres Scotts Einladung zum Picknick annahm.

Er fuhr mit mir durch die kleine Ortschaft Sutter Creek und parkte den Wagen neben einem Schild, auf dem »Electra Road« stand. Eine Weile folgten wir einem Wanderweg, dann breitete Scott neben dem Bach eine Decke aus und holte Käse, Brot und Obst aus dem Rucksack. Ich war seit Jahren nicht mehr draußen in der Natur gewesen – in den letzten eineinhalb Jahren hatte ich mich ausschließlich im fast täglichen Kreis von Wohnung, Büro, Therapiepraxis und Selbsthilfe-Gruppe bewegt. Im Wald war es still, aber wenn ich genau hinhörte, waren da auch überall die Geräusche von Wasser, Laub und Insekten.

Scott erzählte mir von seinem Vater, einem Radiosprecher, der in seiner Freizeit die Häuser baute, in denen die Familie wohnte, und von seiner Mutter, einer Frau, die Blumen liebte und gerne Sachen mit den Händen machte und die drei Jahre zuvor mit gerade einmal achtundfünfzig an Darmkrebs gestorben war. Scott holte aus seinem Rucksack die ausgedruckten Seiten einer Kurzgeschichte mit dem Titel »Der Replikant«, die er selbst geschrieben hatte. Er drehte sich auf den Bauch, stützte sich auf die Ellbogen und begann zu lesen. Die Geschichte handelte von einem erwachsenen Sohn, der die Erinnerungen seiner sterbenden Mutter in einen Roboter downloaded. Als sie dann tot ist, stellt er, wann immer er sie vermisst, den Roboter an und schaltet ihn wieder aus, bevor er aus dem Haus geht. Als er einmal von der Arbeit nach Hause kommt und den Roboter reglos und schweigend in der Ecke sitzen sieht, überwältigen ihn Schuldgefühle und Trauer, ihn allein gelassen zu haben.

Plötzlich fielen Scott die Seiten aus der Hand, er ließ den Kopf hängen und brach derart unvermittelt in Tränen aus, dass ich ihn ohne zu überlegen in den Arm nahm.

»Entschuldigung«, sagte er und riss sich zusammen. »Ich habe die Geschichte noch keinem anderen Menschen gezeigt.«

»Das braucht dir nicht leidzutun«, sagte ich. Das war doch zu schön, um wahr zu sein – dieser weltzugewandte, erfahrene Mann hatte mehr Gefühle, als es den Anschein hatte. Er war ja doch nicht so sehr anders als ich. Meine Angst löste sich in Nichts auf. Ein paar Minuten später küssten wir uns. Er drehte mich auf den Rücken, seine Hand wanderte in meine Shorts. Sein Körper war so lang, seine Schultern so breit, dass ich völlig in seinem Schatten lag. Er legte sich auf mich. »Nicht hier«, sagte ich. »Es könnte jemand vorbeikommen.«

Auf dem Rückweg hörten wir Bonnie Raitt. Als wir bei ihm zu Hause angekommen waren, schleppte er aus dem Gästezimmer eine Matratze auf den Wohnzimmerboden. Vielleicht mied er das Schlafzimmer wegen des gerahmten Fotos seiner in Spanien lebenden Freundin, das dort auf der Kommode stand.

In den folgenden Monaten fuhren wir sämtliche Landstraßen Nordkaliforniens ab. Scott zeigte mir die hohen Sierras, die kleinen Ortschaften in den Vorbergen wie Volcano und Nevada City, die heruntergekommenen Kneipen und abgelegenen Siedlungen im Sacramento River Delta. Wir fuhren Bergstraßen hinunter und umrundeten Haarnadelkurven und hörten dabei eine Kassette mit Gedichten von William Butler Yeats. »Segeln nach Byzantium« lernte ich auswendig. Angeregt von Scott las ich T. S. Eliots Vier Quartette, William Blakes Sprichwörter der Hölle und Walt Whitmans Gesang von mir selbst. Allmählich bekam ich das Gefühl, es könnte mir vielleicht doch vergönnt sein zu leben.

Eines Sonntagnachmittags auf dem Highway 1, dort, wo er direkt entlang der Küste von Mendocino verläuft, ersetzte Scott die Yeats-Kassette durch Brian Enos und John Cales Wrong Way Up. Eno sang »Spinning Away« — »One by one, all the stars appear, as the great winds of the planet spiral in« –, eine einzelne Violinsaite vibrierte eine Oktave über dem Gesang. Ich stellte mich auf den Beifahrersitz, reckte den Oberkörper zum Sonnendach hinaus, breitete die Arme aus und hielt mein Gesicht in den Seewind, bis die Straße so kurvig wurde, dass ich das Gleichgewicht verlor. Lachend ließ ich mich wieder auf den Sitz fallen und schaute zu Scott. Er sagte: »Ich bin so glücklich, gleich springt mir das Herz aus der Brust.«

Etwas Leidenschaftlicheres hat er nach meiner Erinnerung seitdem nie mehr gesagt, und die Tränen, die er in der Electra Road weinte, waren die letzten für beinahe zehn Jahre. Ich schlug alle damals gängigen Dating-Ratschläge in den Wind, die Frauen empfahlen, sich einen kommunikationsfähigen und »emotional zugänglichen« Mann zu suchen. Ich wollte Scott und sonst niemanden. Obwohl ich mir oft mehr von der Verletzlichkeit wünschte, die er damals bei unserem ersten Date gezeigt hatte, zog er mich durch seine Zurückhaltung nur noch mehr in seinen Bann. Er war muskulös und groß, und vor dieser Masse Mann kapitulierte ich mit Körper, Herz und Seele.

Den Tag an der Electra Road nannten wir nach einer Weile unseren Jahrestag. Und zehn Jahre später war das der Tag, an dem wir heirateten.

In diesen zehn Jahren war Scott der ruhende Pol, um den ich kreiste. Ich schenkte ihm Leidenschaft, er schenkte mir Stabilität. Ab und zu kam es mir allerdings auch vor, als wäre ich ein Crashtest-Dummy und er eine Mauer, und die einzige Möglichkeit, eine Auskunft, eine Reaktion oder irgendetwas von ihm zu bekommen, bestünde darin, ihn zu rammen. Wer Fotos von uns sah, wie wir auf einer Party miteinander redeten oder zusammen auf der Couch lagen, begriff allerdings sofort, weshalb wir uns miteinander abfanden: Unsere Augen und unsere Körper brachten eine gegenseitige hingebungsvolle Liebe zum Ausdruck, die sogar mich überraschte, wenn ich sie auf einem Bild festgehalten sah. In diesen zehn Jahren und auch unsere ganze Ehe hindurch küssten wir uns jedes Mal zur Begrüßung und zum Abschied. Ich zeigte ihm meine Liebe, indem ich ihn nach drei Jahren fragte, ob wir nicht zusammenziehen sollten, und ihn nach sieben Jahre bedrängte, mir einen Heiratsantrag zu machen. Er zeigte mir seine, indem er meinen Bitten schließlich nachgab. Viele Frauen hatten schon versucht, Scott zur Monogamie zu bekehren, und waren gescheitert.

Als Scott schließlich tatsächlich um meine Hand anhielt, bei einem Essen am Valentinstag in meinem Lieblingsrestaurant, verblüffte ich mich selbst mit meiner Reaktion. Es gab noch keinen Ring, nur einen auf der Schreibmaschine geschriebenen Brief über den Ursprung des Valentinstags, in dem die Worte »Heirate Mich« in einer etwas anderen, größeren Schrifttype verborgen waren. Als sich die einzelnen Buchstaben vor meinen Augen zu Wörtern zusammenfügten, brach ich vor Freude in Tränen aus. Keine Sekunde später trieb eine Wolke herein und brachte eine Kälte mit sich, die mich unfassbarerweise sagen ließ: »Kann ich’s mir überlegen?«

Wenig später erklärte ich, ich bräuchte meinen Freiraum. Ich sei zu abhängig von ihm geworden und müsse mir, ehe wir heirateten, noch einmal beweisen, dass ich auch allein leben konnte. Zu der Zeit arbeitete ich schon als Journalistin bei einer Zeitung in der Innenstadt. Ich mietete mir in der Nähe eine kleine Wohnung im zweiten Stock und setzte mich in der Mittagspause regelmäßig in die Küche, um schweigend aus dem Fenster auf die Wipfel der Palmen zu blicken. Aber ich verbrachte nur wenige Nächte dort. Wenn ich nicht bei Scott und in dem Haus war, in dem wir seit Jahren zusammenwohnten, zitterten mir die Hände. Ganz gewöhnliche Tätigkeiten strengten mich so an, als müsste ich mich durch eine zähe Masse vorarbeiten. Kam das von meiner pathologischen Angst, allein zu sein – von der ich mich gern befreien wollte –, oder von der akuteren Angst, die Beziehung zu der Person, die ich am meisten liebte, aufs Spiel zu setzen? Ich wusste es nicht, und ich wurde es leid, dahinterzukommen. Als der Mietvertrag nach sechs Monaten auslief, war ich bereit, einen Termin für die Hochzeit festzusetzen.

Angesichts der Umwege, die unsere Verlobung nahm – ein himmelschreiender Unterschied zu den Szenen im Film und in der Tiffany-Werbung –, könnte man meinen, wir wären nicht füreinander bestimmt gewesen. Aber wir wussten, dass unsere Bindungsängste nichts mit unserer Beziehung zu tun hatten. Woher Scotts kamen, konnte ich nur vermuten – womöglich von der Verlobten, die die Beziehung aufgekündigt hatte, als er zwanzig war, oder vielleicht von einer späteren Freundin, die ihn betrogen hatte. Das tat wenig zur Sache, denn wenn er sich einmal auf etwas eingelassen hatte, setzte er alles daran, die Verpflichtung zu erfüllen – ob er nun jede Woche eine bestimmte Zahl an Kilometern laufen oder einen gewissen Teil seines Gehalts sparen wollte.

Meine Bindungsangst war sehr viel einfacher zu erklären: Ich versuchte, mir einen Mann vorzustellen, der so perfekt wäre, dass ihn zu heiraten das Natürlichste von der Welt wäre. Das gelang mir nicht. Zu meinen deutlichsten Erinnerungen gehört ein Morgen in der achten Klasse. Ich wollte gerade zur Schule aufbrechen. Mein Vater schlief auf dem Sofa seinen Rausch aus, meine Mutter stand in der Küche und wischte eine Arbeitsplatte ab. Auf ihrer Hüfte saß ein weinendes Baby, ein Zweijähriger drosch mit einem Spielzeug auf den Boden, ein Achtjähriger löffelte am Tisch Frühstücksflocken. Meine Mutter schaute müde, aber mit entschlossener Miene zu mir und sagte: »Robin, heirate bloß ja nie. Und solltest du zufällig doch heiraten, dann bekomm unter keinen Umständen ein Kind.«

Ich hegte keine diesbezüglichen Absichten. Und so unwichtig, wie die Ehe für mich damals war, dachte ich mir nichts dabei, mit meinem Freund, der aus dem Ausland stammte, nach Nevada zu fahren und ihn vom Fleck weg zu heiraten, als sein Studentenvisum auslief, bald nachdem wir nach Kalifornien gekommen waren. Wir waren verliebt, wir waren uns treu, wir wohnten zusammen – ich sah keinen Grund, ihn nicht zu heiraten. Aber im tiefsten Inneren wusste ich, dass die Ehe nicht von Dauer sein würde. Seine Familie und Freunde bezeichneten mich zwar als seine Frau, aber meiner eigenen Familie und meinen Freunden gegenüber nannte ich ihn nach wie vor meinen Freund.

Bei Scott war es anders. Ich war fünfunddreißig, und das war jetzt kein Spiel mehr. Ich war mehr als bereit, den Bannfluch meiner Mutter gegen die Ehe zu missachten. Der einzige Nachteil war, dass ich nie getan hatte, was wohl die allermeisten Frauen in meinem Alter getan hatten: mit verschiedenen Männern auszugehen, ein bisschen rumzuvögeln, den einen oder anderen One-Night-Stand zu haben. Bisweilen empfand ich eine Rastlosigkeit, das Gefühl, nicht ganz vollständig zu sein, und manchmal sprach ich auch mit Scott darüber. Aber selbst nachdem er mir die Erlaubnis gegeben hatte, an einem Wochenende, das ich mit Freunden in New Orleans verbrachte, ein bisschen Spaß zu haben, brachte ich es nicht fertig. Gelegenheitssex war einfach nichts für mich. Scott und ich hatten guten Sex, vielleicht etwas unaufregend, aber völlig in Ordnung. Nach allem, was ich gehört hatte, standen mir die sexuell erfüllendsten Jahre noch bevor, und da es den Anschein hatte, dass Monogamie für mich die adäquate Lebensform war, beschloss ich, dass wir die Sache einfach auf uns zukommen lassen sollten. Es gab alle möglichen Dinge, die Ehepaare probieren konnten. Tantra, zum Beispiel. Neue Stellungen. Sexspielzeug. Dafür blieb uns immer noch genug Zeit.

Nein, es kam gar nicht infrage, dass ich auf einen Mann wie Scott verzichtete, nur um ein paar Liebhaber mehr auf meine Liste setzen zu können, noch dazu Liebhaber, mit denen ich höchstwahrscheinlich nicht einmal richtig Spaß haben würde. Ich würde der Breite entsagen, um in die Tiefe zu gehen. Scott war der einzige Mann, den zu heiraten ich mir vorstellen konnte, und ganz bestimmt der Einzige, mit dem ich je ein Kind haben könnte. Wir hatten unsere Streitpunkte, aber in mir selbst wurde ein fundamentalerer Kampf ausgetragen: Angst gegen Hoffnung. Ich klammerte mich an die Hoffnung.

3. Der Sprung

Ich stand auf dem Absatz vor Pauls Haus am Rand von Pacific Heights, hörte den Regen und das Nebelhorn und trieb Paul innerlich zur Eile an, die Tür zu öffnen. Er tat mir den Gefallen. Obwohl er schon Ende dreißig war, hatte er ein Kindergesicht, glatte rosa Wangen und smaragdgrüne Augen. Unter der zerknitterten Shorts und dem T-Shirt verbargen sich schwere Knochen und kräftige Muskeln.

Er zog mich fest in seine Arme. Ich legte den Kopf auf seine Schulter und versteckte mich hinter meinen feuchten, zerzausten Haaren. »Küss mich«, forderte er, und obwohl wollüstige Befehle zu den Gründen gehörten, weshalb ich hergekommen war, hatte ich Scheu davor, ihm gleich zu gehorchen. Stattdessen zog ich meinen Mantel aus und ging zur Couch, wo eine offene Flasche Cabernet stand. Wir tranken einen Schluck, und sobald ich mein Glas abgestellt hatte, fiel er über mich her. Er küsste mich langsam, aber fordernd. Seine Hände – eine am unteren Rücken, die andere an meinem Schlüsselbein, dann am Verschluss meines Bustiers und schließlich auf meiner Brust – übten einen allmählichen, beharrlichen Druck aus, dem ich mich einfach ergab.

Dabei flüsterte er mir unablässig ins Ohr. »Ich will dich von hinten ficken, dann drehe ich dich um und sauge an deinen Titten, bis du kommst. Behältst du das Kleid an, wenn ich dich ficke?«

»Ja.«

»Behältst du die Stiefel an, wenn ich dich vornüberbeuge?«

»Ja.«

Er lehnte sich zurück, öffnete den Reißverschluss und holte seinen Penis heraus. »Gefällt er dir?«

»Ja.«

»Lutschst du ihn?«

»Ja.«

Er steckte mir den Finger in den Mund, und ich lutschte stattdessen den.

»Wenn du mich lutschst, kann ich in deinem Mund kommen?«

Ich nickte.

»Schluckst du’s runter?«

Ich sah ihm in die Augen und nickte etwas langsamer. Ich war im Dopaminrausch, ich war ekstatisch. Das hatte nicht nur mit seinen Händen zu tun, es waren die ganzen aufgestauten Worte, nach denen es mich jahrelang verlangt hatte. Worte, die mein Mann nicht sagte und die zu sagen ich mich nicht überwinden konnte.

Er zog seinen Finger aus meinem Mund und steckte ihn mir zwischen die Beine, schob ihn tief in mich hinein, drückte gegen die vordere Wand. Ich wölbte das Becken nach hinten, Tränen schossen mir in die Augen. Wie im Reflex sagte ich: »Hör auf, Paul, hör auf«, aber was ich meinte, war: Wenn es nicht aufhörte, würde ich über einen Abgrund schlittern, und es würde kein Zurück mehr geben. Obwohl ich verbal und instinktiv auf die Bremse trat, hatte ich nicht die geringste Absicht aufzuhören. Ich wollte, dass er seinen Mittelfinger in mich hakte und mich über den Abgrund schleuderte, sodass ich zerschmettert am Grund landete.

So ging es zwei Stunden lang, nur Hände und Worte. Ich vermied den Geschlechtsakt nicht aus dem irrwitzigen Argument heraus, das, was wir machten, würde nicht den Tatbestand des Betrugs erfüllen. Ich wollte mir nur Zeit lassen, und da unser Vorspiel mir größere Lust und mehr Ekstase bereitet hatte als je ein Beischlaf, an den ich mich erinnern konnte, hatte ich nichts dagegen, zu warten.

Es war fast elf Uhr, als wir uns schließlich aufsetzten, unsere Kleider richteten und ein Taxi bestellten. Wir tranken von dem Wein, der noch unberührt dastand, und unterhielten uns beim Warten über Pauls Beziehungsprobleme. Seit einiger Zeit war er mit einer Frau zusammen, die ich ein paarmal getroffen hatte, aber es war eine lose Beziehung mit vielen Aufs und Abs.

»Ich möchte deine Ehe nicht kaputt machen«, sagte er.

»Das tust du nicht«, log ich.

»Hast du Angst, dass ich mich in dich verlieben könnte?«, fragte er. Das war genau der Grund, weswegen ich mich für Paul entschieden hatte: Hinter der Fassade des Libertins offenbarte sich ein gutes Herz. Er war das Salz der Erde, er wäre in einem Notfall jederzeit für mich da, das wusste ich ohne jeden Zweifel. Das sind die Kategorien, in die ich Menschen einteile: Solche, auf die ich mich in einer Krise verlassen kann, und die anderen.

»Nein«, sagte ich, »eher verliebe ich mich in dich. Das passiert mir meistens.«

Als der Taxifahrer anrief und sagte, er warte vor der Tür, stand ich auf. Mir zitterten die Knie. Ich bückte mich nach meiner Tasche, und Paul versetzte mir einen harten Klaps auf den Hintern.

»Au!«, schrie ich und drehte mich zu ihm. Wir lachten, er zwinkerte mir zu. Dann begleitete er mich den langen Flur entlang, öffnete die Tür, gab mir einen Kuss auf die Wange und entließ mich in die feuchte Nacht.

4. Ehefrau (Philadelphia)

George war der klügste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Er war Mitte sechzig, gepflegt, hatte einen grau melierten Haarschopf und war stets adrett in eine Hose mit Bügelfalte, Hemd mit Seidenkrawatte und polierte Schnürschuhe gekleidet. Er war kein Therapeut von der Sorte, der eine Dreiviertelstunde lang zuhört und dann die Sitzung für beendet erklärt; er gab praktische Ratschläge, die eindeutig auf seine eigene Lebenserfahrung zurückgingen. Die besten davon schrieb ich mir auf, um sie nicht zu vergessen.

»Spüren Sie die Distanz, die durch einen Streit entsteht, dadurch bekommen Sie den Abstand, um sich wieder zu verlieben.«

»Sie sind nicht für Ihren Schmerz verantwortlich, aber Sie sind ihm gegenüber verantwortlich.«

»Setzen Sie Ockhams Rasiermesser an: Ziehen Sie immer die einfachste denkbare Erklärung vor.«

George brachte Scott oft dazu, Gefühle zu offenbaren, von denen ich sonst nichts erfahren hätte. Wir suchten ihn für eine voreheliche Beratung auf, um über Kinder zu sprechen. Scott hatte nie welche gewollt, und mir war es nicht viel anders ergangen; die Anti-Kind-Lektionen meiner Mutter taten ihre Wirkung. Doch mit zunehmendem Alter wurde mir bewusst, dass auch bei mir die biologische Uhr tickte. Ich hatte Scott von Anfang an gesagt, dass, sollte ich aus Versehen schwanger werden, ich das Kind bekommen würde. Ich hatte mit neunzehn eine Abtreibung überlebt und glaubte nicht, dass ich eine zweite verkraften oder rechtfertigen konnte. »Ich trage deine Entscheidung mit«, hatte er gesagt. »Es ist dein Körper.«

Bald nachdem wir zusammengezogen waren, hatten sich zwei seiner Freunde sterilisieren lassen. Er vereinbarte bei der Beratungsstelle ebenfalls einen Termin. Als wir erschienen, fragte die Beraterin, ob ich einverstanden sei, und als ich aus dem Impuls heraus »nein« sagte, machte Scott sofort einen Rückzieher. Zum Zeitpunkt unserer Verlobung war ich fast zehn Jahre in Therapie gegangen, und je weiter ich mich vom Chaos meiner Kindheit entfernte, desto mehr merkte ich, wie sehr ich mich zu Kindern hingezogen fühlte. Bei Festen, zu denen auch Kinder eingeladen waren, hockte ich mich, anstatt Smalltalk zu machen, zu einem kleinen Kind auf den Boden. Wenn eine Freundin völlig entnervt vom Weinkrampf ihres Babys die Fassung zu verlieren drohte, nahm ich es ihr ab und schaukelte und wiegte es, wie ich es bei meinen Brüdern getan hatte. Ich vermutete, dass mein Mutterinstinkt noch stärker werden würde, wenn wir erst einmal verheiratet waren, und fragte mich besorgt, ob Scott auf seinem Nein beharren würde.

George war kein Therapeut, der Gefühle bis in die letzten Tiefen auslotete. Er war da, um uns bei der Entscheidung zu helfen, ob und wie wir weitermachen sollten. Nachdem wir das Thema mehrere Wochen lang von allen Seiten erörtert hatten, legte er seinen Stift aus der Hand und sagte: »Ich glaube, wir haben das Problem so weit wie möglich ausdiskutiert. Scott, ich muss sagen, Sie sind einer der zurückhaltendsten Menschen, der mir je begegnet ist. Und Robin ist genau das Gegenteil. Sie erinnern mich an die alte Gelato-Werbung: ›Gut italienisch – ein Angriff auf alle Sinne.‹ Kennen Sie die?« Wir mussten alle lächeln.

»Ja, das ist Robin«, sagte Scott.

»Aber Sie ergänzen sich gegenseitig, und, wichtiger noch, Sie lieben sich. Bei den meisten Paaren gibt es einen Partner, dessen Rolle es ist, für Aufregung und Veränderungen zu sorgen, und einen anderen, der für die Ruhe zuständig ist.«

Ich nahm Scotts Hand, während wir auf seinen Richtspruch warteten.

»Ich weiß nicht, ob Sie zwei letztlich Kinder bekommen werden oder nicht, aber mein Gefühl sagt mir, Robin, wenn Sie irgendwann einmal wirklich unbedingt Kinder haben möchten, wird Scott mitziehen.«

Genau das hatte ich hören wollen. Schließlich hatte er früher oder später bei jedem Projekt mitgezogen, das ich angestoßen hatte. Wegen seiner Arbeit und des Hauses, das er in Sacramento besaß, war ich viel länger dort geblieben, als ich eigentlich wollte, aber nach jahrelangem beharrlichem Warten hatte er schließlich eingewilligt, wieder an die Ostküste zu ziehen.

Scott senkte den Kopf, überlegte kurz, sah mich an und hob die Augenbrauen, als wollte er sagte: »Tja, das ist es dann wohl.«

George legte seinen Block auf den Boden neben seinen Sessel, womit er uns zu verstehen gab, dass die Sitzung zu Ende war. Er verschränkte die Hände im Schoß, lächelte herzlich und sagte: »Aber das werdet ihr zwei nie lösen, wenn ihr nicht vorher heiratet.«

Dieses unerwartete, weise Urteil beruhigte mich derart, dass ich unvermittelt klarer sah. Zu mehr Verbindlichkeit war eine derart getriebene, von Zweifeln zerrissene Frau wie ich nicht fähig.

Nach der Hochzeit, auf den Tag genau zehn Jahre nach dem ersten Picknick, kündigten wir unsere Jobs, kauften ein Wohnmobil und fuhren eine Zeit lang durch Amerika. Schließlich landeten wir in einer Wohnung im ersten Stock eines dreigeschossigen Brownstone-Hauses in der Innenstadt von Philadelphia mit hohen Decken, eingebauten Bücherregalen und einem knapp zwei Meter hohen Marmorkamin. Scott bekam eine Stelle als Projektmanager in der IT-Abteilung einer internationalen Anwaltskanzlei, ich fand Arbeit als Restaurant-Kolumnistin bei der lokalen Wochenzeitung, was bedeutete, dass wir jede Woche einmal in ein anderes Restaurant essen gingen. In unserer Edelstahl-Pantryküche betätigte Scott sich als Hobby-Brauer, kippte Dosen mit Malz in einen Topf und verkochte es mit Honig und Obstsaft zu Met.