Mein wunderbarer Küstenchor - Janne Mommsen - E-Book

Mein wunderbarer Küstenchor E-Book

Janne Mommsen

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Beschreibung

Bestsellerautor Janne Mommsen legt seinen neuen Roman vor und erzählt darin, wie ein Chor ein ganzes Städtchen zusammenschweißt. Die Saison ist vorbei, das Hotel, das Britta leitet, wird für den Winter geschlossen. Ihr seelischer Anker ist der Chor, der seit zwanzig Jahren jeden Mittwochabend probt. Hier singt man, hilft einander, feiert und verliebt sich auch manchmal ineinander. Eines Tages verkündet der langjährige Chorleiter, dass er wegziehen muss. Ein Schock für alle, denn mit ihm drohen auch die beiden verbliebenen Männerstimmen abzuwandern. Britta krempelt die Ärmel hoch. Sie veranstaltet ein Casting für einen neuen Chorleiter: Es bewerben sich unter anderem ein vermeintlicher Broadway-Star sowie eine grell geschminkte ehemalige Balletttänzerin mit knallharten Lehrmethoden. Doch ein Gutes hat die Aktion: Britta lernt einen jungen Klavierprofessor kennen. Der ist begeistert von ihrem Engagement und überredet sie, den Chor selbst zu leiten. Wird es den beiden gelingen, die Chorgemeinschaft zu retten?

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Janne Mommsen

Mein wunderbarer Küstenchor

Roman

Über dieses Buch

Bestsellerautor Janne Mommsen legt seinen neuen Roman vor und erzählt darin, wie ein Chor ein ganzes Städtchen zusammenschweißt. Die Saison ist vorbei, das Hotel, das Britta leitet, wird für den Winter geschlossen. Ihr seelischer Anker ist der Chor, der seit zwanzig Jahren jeden Mittwochabend probt. Hier singt man, hilft einander, feiert und verliebt sich auch manchmal ineinander.

Eines Tages verkündet der langjährige Chorleiter, dass er wegziehen muss. Ein Schock für alle, denn mit ihm drohen auch die beiden verbliebenen Männerstimmen abzuwandern.

Britta krempelt die Ärmel hoch. Sie veranstaltet ein Casting für einen neuen Chorleiter: Es bewerben sich unter anderem ein vermeintlicher Broadway-Star sowie eine grell geschminkte ehemalige Balletttänzerin mit knallharten Lehrmethoden. Doch ein Gutes hat die Aktion: Britta lernt einen jungen Klavierprofessor kennen. Der ist begeistert von ihrem Engagement und überredet sie, den Chor selbst zu leiten. Wird es den beiden gelingen, die Chorgemeinschaft zu retten?

Vita

Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Drehbücher und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.

Ein Leben ohne Gesang wäre möglich,

aber trostlos

1.

Durch die riesige Scheibe in der Eingangshalle blickte Britta auf die Ostsee. Die Wellen stürzten mit weißen Schaumkronen auf den Strand zu, dazu schien die Nachmittagssonne vom dunkelblauen Himmel herab. Diese prächtige Aussicht hatte sie als Teamleiterin der Rezeption des Boltenhagener «Hotel Bernstein» in der zurückliegenden Saison jeden Tag vor sich gehabt.

Nun schlossen sie für ein halbes Jahr. Sämtliche Angestellten hatten sich am Spätnachmittag in der Eingangshalle versammelt: Zimmermädchen, Kellner, Köche, Bäcker, Konditoren, Hausmeister und das Team von der Rezeption. Ihre Stimmen tönten im Raum wie ein Chor und wurden sanft vom Rauschen des Meeres unterlegt, das direkt vor der Tür lag. Die Kleidung ihrer Kollegen kam Britta vor wie Karnevalskostüme. Sonst kannten sie sich nur in Hoteluniform, schwarzem Rock oder Hose, weißem Hemd sowie lila Weste mit Namensschild. Heute trugen alle ihre Freizeitkleidung, und dabei gab es einige echte Überraschungen: Die adrette Mona vom Empfang zeigte sich das erste Mal als Punk mit lila Haaren, der charmante Stefan vom Frühstücksbuffet hatte so viele Piercings im Gesicht, dass Britta mit dem Zählen kaum hinterherkam, Hausdame Friederike, sonst in Lackschuhen und engem Rock unterwegs, war zu einem Vollöko mit Wollrock und Socken in den Sandalen mutiert, Kellner Peter mit der biederen Silberbrille zeigte im kurzärmeligen T-Shirt seine wild züngelnden Drachen-Tattoos an den Unterarmen. Britta grinste in sich hinein. Schade, dass keine Gäste mehr da waren, die hätten ihren Spaß gehabt.

Nun ist mein achtundvierzigster Sommer auch nur noch eine Erinnerung, dachte Britta wehmütig. Seit Anfang Mai war sie täglich im Meer schwimmen gewesen. Nach der Nachtschicht gab es für sie nichts Schöneres, als sich in die Fluten zu stürzen. Mit Freunden und Kollegen hatte sie unzählige Strandpartys gefeiert, oft bis zum Morgengrauen. Was sie am nächsten Tag allerdings stärker büßen musste als früher – war sie etwa älter geworden? Sonst kam es ihr nicht so vor. Jedenfalls solange sie sich keine Fotos von früher anschaute.

Ein mittelgroßer, bulliger Mann mit kurzgeschorenem Haarkranz stellte sich nun vors Fenster und versperrte ihr die Sicht aufs Meer. Das war Manne Schmidt, Brittas Chef. Als er sich laut räusperte, wurden alle still.

«Tolle Saison, habt ihr super gemacht», rief er in die Menge.

Tosender Beifall. Sie waren von Mai bis Ende September ausgebucht gewesen. Unter anderem mit einem internationalen Treffen von Rotariern, für das sich die Küche mächtig ins Zeug gelegt hatte. Später im Sommer gab es das Trainingscamp einer Fußball-Zweitligamannschaft samt Betreuern und einen Musical-Workshop aus Hamburg.

«Wie ihr wisst, machen wir bis März dicht», fügte der Chef hinzu. «Ostern sind wir mit den Umbauten dann durch.»

Das war mit allen so abgesprochen, keiner würde seinen Job verlieren. Sonst hatten sie sich mit kleiner Besetzung immer irgendwie durch den Winter gehangelt, um Weihnachten herum gab es eine kurze Zwischensaison. Die fiel jetzt aus. Sie würden im Winter die Überstunden abbummeln, die sie im Sommer angesammelt hatten, und im Februar ein paar Urlaubstage vorwegnehmen. Das Hotel sollte komplett umgebaut und von drei auf vier Sterne aufgewertet werden, inklusive mondänem Pilates- und Wellnessbereich und neuen Badezimmern.

«Schönen Winter, Leute, und bis bald», rief Manne Schmidt in die Menge. «Die Weihnachtsfeier findet am 20. Dezember im Klützer Eck statt, wie jedes Jahr. Ich freu mich auf euch.»

Der Abschied von den Kollegen erinnerte Britta an den letzten Tag vor den großen Schulferien. Endlich Feierabend, dachte sie, ein halbes Jahr lang! Einerseits konnte sie die Pause nach der anstrengenden Saison gut gebrauchen. Andererseits würde der Winter dieses Jahr besonders lang werden. In die Sonne fliegen wie sonst war leider nicht drin: Sie hatte gerade ihr Haus renoviert und sich eine neue Küche, Bett und Couch gekauft. Auf ihrem Konto herrschte absolute Ebbe.

Vor der Tür schaute Britta auf die Uhr. Zu ihrer Verabredung musste sie nicht auf die Minute pünktlich sein, aber sie wollte auch nicht zu spät kommen. Mit zügigen Schritten ließ sie das Bernstein hinter sich und wanderte ins herbstliche Hinterland. Es war ihr täglicher Weg zur Arbeit und zurück, sie kannte ihn im Hochsommer wie im Schnee. Britta ging quer über die Felder, sofort klumpte zäher Lehm an ihren Schuhen. Die langgezogenen Hügel mit den abgeernteten Äckern kamen ihr vor wie Wellen aus Erde. Es roch nach frischer Ackerkrume und feuchtem Laub, vermischt mit einer Prise Salz vom nahen Meer. Sonst freute sie sich immer auf das Storchenpaar mit den langen Beinen und den klappernden Schnäbeln, das am Ortsrand lebte. Doch die beiden befanden sich längst auf ihrer Reise zum Winterquartier in Afrika.

Ein paar Kilometer vor ihr lag der Kirchturm von St. Marien, der die Form einer Bischofsmütze hatte. Die Gegend um ihn herum nannte man den «Klützer Winkel». Britta fing an, einen alten Folksong aus den Siebzigern zu summen: «Country roads, take me home, to the place, I belong …»Dieses Lied übten sie gerade in ihrem Chor. «Das Leben hier ist älter als die Berge», hieß es an einer Stelle. Das galt auch für den Klützer Winkel. Britta hatte hier immer das Gefühl, der Ewigkeit gegenüberzustehen: Die Hügel, über die sie gerade ging, waren in der letzten Eiszeit entstanden, davor lagen weitere Milliarden Jahre.

Mitten auf dem kahlen Feld vor ihr stand eine uralte mächtige Eiche, die ihr Geäst nach allen Seiten hin ausstreckte. Britta hatte sie nach dem Namen ihrer Großtante «Sybille-Eiche» getauft. Sybille hätte lauthals protestiert, wenn sie das gewusst hätte, mit ihren dreiundachtzig Jahren war sie Jahrhunderte jünger als dieser Baum.

Jetzt nahm der kräftige Seewind die Eiche als Tanzpartnerin, rauschte und raschelte an den wenigen verbliebenen Blättern. Die Äste schwangen übermütig auf und ab und gaben ein wohliges Knarzen von sich.

Wie aus dem Nichts verdunkelte sich der Himmel über Britta, und dicke Tropfen prasselten auf sie herab – aber wie! Hätte sie bloß den Wagen genommen, mitten auf dem Feld gab es natürlich weder Bus noch Taxi. Sie nahm dieses Wetter irgendwie persönlich, was natürlich Unsinn war, ihr Ärger darüber kostete nur unnötige Energie. Also zog sie entschlossen die Kapuze über den Kopf und ging im selben Tempo weiter wie vorher. Das Beste war es, einfach so zu tun, als existierte der Regen gar nicht.

Mit dem letzten Licht des Tages gelangte sie auf die Festonallee, die zu Schloss Bothmer führte. Die Bäume zu beiden Seiten des breiten Weges waren über Jahrzehnte so beschnitten worden, dass sie vom Stamm nur links und rechts austrieben und nebeneinander wie eine Girlandenkette aussahen. Die Allee führte über eine Hügelkuppe zum Hauptgebäude des festlich erleuchteten Schlosses. Britta kannte es zu jeder Jahreszeit, im Nebel, im Schnee, bei Sommerhitze, in der Abendsonne und auch jetzt, bei Regen.

Als sie zwischen den Bäumen durchschritt, fühlte sie sich wie eine Fürstin in alten Zeiten. Plötzlich drehte der Regen noch einmal auf, ein böiger Wind peitschte die Tropfen senkrecht und waagerecht auf ihre Wangen, sie fühlten sich an wie Nadelstiche. «Gnade!», bettelte sie im Stillen. Aber die wurde ihr nicht gewährt. Die Hosenbeine ihrer Jeans waren bereits so nass, als sei sie damit ins Meer gesprungen, ihr wurde schlagartig kalt. Schreiten war nicht mehr angesagt, sie trabte die Allee entlang, so schnell es ging.

Auf der Kuppe des Hügels öffnete sich ihr Blick zu den Seitenflügeln und Nebengebäuden von Schloss Bothmer. Es stand auf einer rechteckigen Insel, die von einem breiten Wassergraben umgeben war. Um das Anwesen herum gab es Gartenanlagen und Alleen, die jetzt in der regennassen Dämmerung versanken.

Aus dem großen Festsaal strahlte ihr bereits der Kronleuchter entgegen. Ihre Großtante Sybille, genannt «die Gräfin», stand in einem eleganten dunklen Kostüm am Fenster und blickte in die heraufziehende Dunkelheit. Britta fiel auf, wie hager sie geworden war. Sybille hielt ihre Adlernase etwas hoch, wie es sich für eine Aristokratin gehörte. Vermutlich fragte sie sich schon, wo Britta blieb.

Sie eilte auf die Brücke über den Wassergraben, überquerte den großen Vorplatz vor dem Hauptgebäude und rannte auf eins der Kavaliershäuser zu. Von drinnen hörte sie Stimmen, die «Country Roads» sangen, es klang wie ein Echo von den herbstlichen Feldern und Wiesen, die sie gerade durchlaufen hatte. Sie riss die schwere Holztür mit dem verzierten Messinggriff auf.

Im offenen Kamin flackerte ein Feuer mit knackenden Holzscheiten, das eine bullige Wärme abgab. Die Flammen warfen Schatten an die Stuckdecke mit den Lilien und brachten sie zum Tanzen. Der Gesang kam aus dem Dunkeln, Britta kannte alle Stimmen: Wendys glockenheller Sopran übernahm zusammen mit Sarah die Melodie, dazu kam Regina mit ihrem rauchigen Alt. Rainers knarziger Bass setzte ein Fundament unter die Frauenstimmen. Einen Moment lang mussten sich Brittas Augen an das spärliche Licht im Saal gewöhnen, dann erkannte sie, dass aus dem Halbdunkel Wendy und Regina feierlich im gleichen Rhythmus auf sie zuschritten. Dabei sangen sie das Lied weiter.

Britta staunte, denn zum ersten Mal trugen die Frauen ihre neue Chorkleidung, die Sarah für sie alle geschneidert hatte: schwarze Hose, dazu eine dunkelblaue Bluse mit Rundkragen, an dessen Rand eine schmale, weiße Borte lief. Die Einigung auf ein gemeinsames Outfit war eine der schwierigsten Aufgaben gewesen, die der Chor je zu bewältigen hatte. Einige waren prinzipiell gegen identische Kleidung gewesen, anderen war das Dekolleté zu tief, wiederum andere fanden es nicht tief genug. Sarah hatte mit unendlicher Geduld immer wieder neue Schnitte und Farben vorgestellt, bis schließlich alle einverstanden waren. An der Kleidung für die beiden Männer bastelte Sarah noch. Rainer trug heute seine dunkelblaue Uniform der mecklenburg-vorpommerschen Polizei, er kam direkt vom Dienst.

Regina hielt Britta ein sorgsam gefaltetes Wäschepaket hin, als gehörte es zu einem geheimen Ritual. Die Mitsängerinnen traten in den Feuerschein, und Regina überreichte Britta das Kostüm, ohne mit dem Singen aufzuhören. «Miner’s lady, stranger to blue water …» Britta huschte in eine dunkle Ecke, um sich umzuziehen. Leise mitsummend, zog sie die halbhohen Wanderschuhe aus, an denen bis zum Knöchel Lehm klebte. Sie warf ihre Jacke auf den Holzfußboden, schlüpfte aus der Bluse und der nassen Hose. Dann wischte sie sich das Gesicht mit einem Papiertaschentuch ab und zog die Sachen an. Sie trat vor den Kamin, über dem ein großer Spiegel hing. Darin sah sie eine Frau, die mit Ende vierzig einigermaßen gut in Form war: schlank, blonde, mittellange Haare, blaue Augen. Nur ihre Nase mochte sie nicht, die war ihr etwas zu gekrümmt, aber das fand nur sie, niemand hatte sie je darauf angesprochen. Das Chorkostüm wirkte elegant und lässig zugleich, das pure Understatement, sie war begeistert.

Jetzt traten die anderen singend auf sie zu und umringten sie. Den letzten Ton hielten sie zusammen so lange an, wie die Luft reichte. Dann riefen alle fröhlich «Hallo, Britta!» und umarmten sie.

«Ihr seht phantastisch aus!», rief Britta in die Runde und fügte lächelnd hinzu: «Noch besser als sonst.»

«Ist das möglich?» Regina zog zweifelnd eine Augenbraue hoch und lachte. Die Mittvierzigerin verzichtete auch im Chorkostüm nicht auf ihre gewohnte Perlenkette.

Sarah zeigte nur die Andeutung eines Lächelns, obwohl sie sich mit Sicherheit wie wahnsinnig freute, denn es war vor allem ein großes Kompliment an ihre Schneiderkunst. Die Fünfunddreißigjährige mit den riesigen blauen Augen und den strubbeligen Haaren, die nach allen Seiten vom Kopf abstanden, sah immer aus wie ein Wesen vom anderen Stern. Sie hatte fünfzehn Jahre als Gewandmeisterin im Schweriner Theater gearbeitet und war auf ihrem Gebiet eine echte Könnerin – wie die Chorkostüme zeigten.

Plötzlich wurden alle still und schauten einander bedrückt an.

«Jetzt wird es ernst», raunte Wendy in die Runde. Die apfelroten Wangen der Bauersfrau glühten, ihre Augen flackerten nervös.

Brittas Großtante betrat den Saal, mit hochgerecktem Hals und kerzengeradem Rücken, wie immer.

«Guten Abend, meine Lieben», rief sie.

Ihre Nase war lang und hatte oben einen kleinen Knick: Das zeigte eindeutig die Fürstenberg’sche Linie an, zu der Britta auch gehörte. An Sibylle sah das Kostüm ebenfalls phantastisch aus. Brittas Großtante war keine echte Gräfin, aber es hätte ihr jeder abgekauft. Immerhin ließ ihr Familienname, Fürstenberg, einen Hauch von Adel anklingen, vor allem wenn sie die ersten beiden Silben betonte, wie sie es auf Ämtern gerne tat. Dass sie nun schon dreiundachtzig Jahre alt war, konnte Britta kaum glauben. Sie wirkte wie die oberste Prinzipalin des Klützer Winkels, ihre schmalen, grauen Fuchsaugen signalisierten, dass sie stets noch ein Ass im Ärmel hatte.

«Ich bin oben durch den Festsaal geschritten, um zu sehen, was die Spiegel zum Kostüm sagen werden», erklärte Sybille.

«Und?», fragte Sarah mit bangem Blick.

Sybilles Augen funkelten. Zur Verblüffung aller kletterte sie beherzt über einen wackligen Stuhl auf Sarahs Zuschneidetisch und blickte von dort auf sie hinab. Britta sah das mit höchster Besorgnis: Eine falsche Bewegung, und ihre Großtante krachte auf den Fußboden und brach sich alle Knochen. Sybille drückte den Rücken durch und erhob den Zeigefinger Richtung Decke, dann holte sie tief Luft und rief laut in den Saal: «Tampere – wir kommen!»

Als wollte der Himmel das besiegeln, klatschte in diesem Moment eine Regenbö mit voller Wucht gegen die Scheibe. Alle drehten sich um und schauten erschrocken hinaus. Sybille hatte den Bann gebrochen und das magische Wort ausgesprochen, das alle seit Wochen tunlichst umgangen hatten: «Tampere». Der Name der finnischen Stadt löste Glück und Angst zugleich aus.

Eigentlich waren sie ein Amateurchor, der einmal die Woche einfach nur Spaß am Singen haben wollte. Britta galt schon als Profi, weil sie Gitarre und Akkordeon spielen und Noten lesen konnte. Vor zwei Jahren hatten sie sich dann getraut, drei Lieder bei einer Adventsfeier in «Frieda’s Frieden» zu singen, einem Alten- und Pflegeheim in Boltenhagen. Das war bisher der einzige Auftritt gewesen. Doch dieses Jahr hatte sie ihr Chorleiter Dustin einfach bei einem Wettbewerb in der finnischen Stadt Tampere angemeldet, ohne sie zu fragen. Sie sollten dort in einer Halle auftreten, in die achthundert Menschen passten – das war ein Viertel der Klützer Bevölkerung!

Alle waren total entsetzt gewesen, aber absagen wollte auch niemand. Britta war ebenfalls unsicher. Dass sie im Chor jeden Mittwoch Spaß zusammen hatten, war eine Sache, fand sie. Aber waren sie auch wirklich gut genug für so ein großes Publikum? Andererseits, wenn man es nicht probierte, bekam man es nie heraus, und so sah Britta es als riesige Herausforderung.

«Ich glaube es erst, wenn die Tickets da sind», murmelte Rainer und spielte nervös mit der Polizeimütze in seiner Hand.

«Die sollen morgen kommen», kündigte Britta an.

«Dann los!», bekräftigte Sybille noch einmal in die Runde. Sie schien die Einzige zu sein, die gar keine Furcht besaß.

 

Vor der Tür des Kavaliershauses hakte sich Sybille bei Britta ein und ging mit ihr über den großen Vorplatz. Zum Glück regnete es nicht mehr, von der Festonallee zog der Geruch nach feuchtem Laub und Erde herüber. Seit Sybille nicht mehr Auto fuhr, begleitete Britta sie zur Probe. Sie schritten vom hell beleuchteten Schloss in die Dunkelheit. Britta bemerkte, dass Sybille die Schultern hängen ließ, ihr Rücken wurde rund.

«Alles okay?», fragte Britta.

«Ich weiß nicht, ob ich es nach Tampere schaffe», bekannte ihre Großtante leise.

«Wieso das denn nicht? Eben auf dem Tisch klangst du noch total entschlossen.»

Sybille lächelte müde. «Ich musste euch doch Mut machen.»

«Was ist los mit dir, Sybi?»

Ihre Großtante starrte mit trübem Gesicht in die Dunkelheit. «Ich habe Angst vor dem Winter. Meine Augen werden rapide schlechter, abends und bei Glatteis kann ich nicht mehr raus.»

Britta blieb stehen und sah sie von der Seite an. «Dann meldest du dich bei mir, und wir gehen zusammen.»

Sybille tätschelte ihre Hand. «Ohne dich und den Chor hätte ich längst aufgegeben.»

Diesen Tonfall kannte Britta nicht von ihrer sonst so optimistischen Großtante, und er gefiel ihr gar nicht. Anscheinend hatte sie gerade ein Tief. Britta musste ihr helfen. Am besten würde sie gleich morgen die Tickets nach Tampere abholen, das würde Sybille aufmuntern. Und ihr fiel noch etwas ein, was sie für sie tun konnte. Das würde sie auf dem Weg gleich mit erledigen.

2.

Am nächsten Morgen hörte Britta schon, was für ein Wetter war, als ihre Augen noch geschlossen waren. Alle Geräusche von draußen waren wie mit Watte gedämpft, und das bedeutete, es herrschte dichter Nebel. Sie streckte sich einmal lang aus und jubelte im Stillen darüber, dass sie sich letzte Woche nach einigem Zögern das sündhaft teure Boxspringbett gekauft hatte. Es war so gemütlich und groß wie keines zuvor! Der große Schlafraum mit den Dachschrägen ging über die ganze Etage und würde ihre behagliche Höhle für den Winter werden, mit Duftkerzen, Büchern und schöner Musik.

Dass es bereits acht Uhr war und sie nicht zur Arbeit ins Hotel musste, fühlte sich gut an. Am liebsten wäre sie einfach liegen geblieben. Doch dann müsste sie noch länger auf Kaffee und Toast warten, und die Vorstellung trieb sie dann doch nach unten. Ihre Küche war erst vor zwei Tagen eingebaut worden. Der Induktionsherd und die modernen Schränke sahen immer noch fremd aus, alles roch nagelneu.

Sie bereitete sich ein festliches Frühstück zu. Für sie war es die schönste Mahlzeit des Tages – falls sie Zeit dazu hatte, wie jetzt. Sie öffnete ein Glas ihrer selbst eingekochten Johannisbeermarmelade und brutzelte sich ein Rührei, dann bestrich sie den Toast mit der Marmelade. Dazu brühte sie ihren Lieblingskaffee auf, den sie sich aus einer kleinen Lübecker Rösterei zuschicken ließ. Besser konnte ein Tag nicht beginnen!

Ihr rot geklinkertes Häuschen stand auf einem der vielen kleinen Hügel der Dreitausend-Seelen-Stadt Klütz. Ein Hufschmied hatte es vor hundertfünfzig Jahren für sich und seine Familie gebaut, seine ehemalige Schmiede war gleich um die Ecke. Unten befanden sich zwei Räume und die Küche, oben das große Schlafzimmer mit dem Bad. Hinterm Haus gab es eine Terrasse mit einem üppigen Blumengarten, von dort blickte Britta über eine Wiese hinunter auf die Stadt.

Zehn Jahre hatte sie hier zusammen mit Olli gelebt. Auch er hatte im Hotel gearbeitet und im Chor gesungen. Olli war einer der begnadetsten Tenöre gewesen, die sie je gehabt hatten, er konnte hoch singen, ohne dass es angestrengt klang. Der großgewachsene sportliche Surfer, der damals schulterlange blonde Haare trug, stammte aus der Gegend und kam mit jedem schnell ins Gespräch. Britta und er kannten sich bereits einige Jahre, als sie ein Paar wurden, so etwas hatte sie vorher noch nie erlebt. Auf einer Chorparty zu Silvester hatten sie die halbe Nacht zusammen getanzt, und da hatte es plötzlich gefunkt. Beide waren total überrascht gewesen – und extrem verliebt ineinander. Schon bald darauf hatten Britta und er das Haus gemietet. Olli hatte es nach und nach mit Antiquitäten vollgestellt, die er im gesamten Klützer Winkel aufkaufte. Seine Bauernschränke und Kommoden waren echte Schmuckstücke, davon verstand er wirklich etwas. Irgendwann kam man durch die Räume allerdings nur noch im Zickzack, was sie nervte. Das Wohnzimmer ähnelte einem Möbellager, außerdem fragte er sie nie, wenn er mal wieder etwas dazukaufte.

Das allein war nicht der Trennungsgrund gewesen. Beide suchten irgendwann immer mehr Raum für sich. Obwohl sie so viel Zeit zusammen verbracht hatten, lebten sie sich nach und nach auseinander. Das war keinesfalls dramatisch abgelaufen, es war auch niemand anderes im Spiel gewesen. Ihre Liebe war einfach erloschen. Olli verkündete eines Tages, dass er nach Zarrentin ziehen und dort einen Antiquitätenhandel eröffnen wolle. Das lag über eine Autostunde entfernt, war also keine unüberwindbare Entfernung. Aber beiden war klar, dass ein Umzug das Ende ihrer Beziehung bedeutete. Sie trennten sich einvernehmlich. Als Olli dann aber tatsächlich seine Möbel auf einen Lkw lud, war ihr doch ganz anders geworden.

Das war jetzt zwei Jahre her. Anfangs hatten sie alle paar Wochen mal telefoniert, meistens hatte sie angerufen. Nach seinem Auszug blieb sie in dem Haus alleine wohnen – was für sie purer Luxus war. Einige alte Möbel von ihm hatte sie einfach behalten, denn sie hatte keine Lust gehabt, sich um eine neue Einrichtung zu kümmern. Aber dieses Jahr hatte sie doch das Bedürfnis verspürt, das Haus neu zu gestalten. In den letzten Monaten hatte sie sämtliche Zimmer renoviert, das meiste hatte sie alleine gemacht. Olli war ein versierter Handwerker und hatte ihr eine Menge auf diesem Gebiet beigebracht. Sie hatte alles selbst tapeziert und gestrichen, und auch die hellen Laminatböden, die die Räume größer und luftiger erscheinen ließen, hatte sie eigenhändig verlegt. So hatte Britta viele freie Flächen geschaffen. Bett, Küche, Wohnzimmercouch hatte sie neu gekauft. Nur Ollis uralten Schreibsekretär aus Kirschbaumholz hatte sie behalten, obwohl sie für ihn genau genommen keine Verwendung hatte. Sie liebte das antike Teil, das im Wohnzimmer wie eine große Skulptur wirkte. Direkt über die neue Couch hatte sie ein großes, buntes Urwaldgemälde an die Decke gehängt, das man am besten sehen konnte, wenn man sich rücklings hinlegte: Der Kirchturm von Klütz war mit Palmen, Schlingpflanzen und wilden Blumen zugewuchert, dazwischen krochen Schlangen, ein Tiger huschte über den Marktplatz. Das Bild hatte Regina mal in ihrer Galerie ausgestellt und ihr zum Geburtstag geschenkt. Britta schaute es immer wieder gerne an.

 

Nach dem ausgiebigen Frühstück sprang sie auf ihr kirschrotes Damenrad, das im Hof stand. Der Chor brauchte jetzt noch den letzten Ruck, um nach Tampere zu kommen. Die Kostüme waren der erste Schritt gewesen, die Tickets mit aufgedrucktem Ziel und eigenem Namen rückten es noch näher an sie heran. Auch für Britta.

Der Nebel hing immer noch zwischen Häusern und Bäumen fest. Britta fand, dass er sein schlechtes Image zu Unrecht besaß: Schließlich dämpfte er alle unangenehmen Geräusche und ließ Ecken und Kanten an Gebäuden und Bäumen fürs Auge fließend erscheinen. Das empfand sie als äußerst entspannend. Auf dem groben Kopfsteinpflaster standen noch unzählige Pfützen vom gestrigen Regen, die sie mit dem Rad im Slalom umfuhr.

Sie passierte das Restaurant Frät Kraug, das um diese Uhrzeit noch geschlossen hatte. Laut handgeschriebener Tafel am Eingang gab es heute als Tagesgericht Hackbraten mit Soße und Salzkartoffeln, wahlweise bot Wirt Hannes Matjes nordische Art mit Bratkartoffeln und Remoulade an.

Als sie vor über zwanzig Jahren hierhergezogen war, standen viele Häuser in Klütz vor dem Verfall, aus den lecken Dächern tropfte Wasser, der Putz bröckelte von den Wänden. Die wenigen Geschäfte waren grau, öde und schmucklos, der neu angesiedelte Quelle-Bestellshop mit seiner modernen Aufmachung wirkte wie ein Fremdkörper aus einem anderen Universum. Doch die Klützer hatten die Ärmel hochgekrempelt und nach und nach alles renoviert. Inzwischen war ihre Stadt eine echte Schönheit geworden. Keine spektakuläre vielleicht, nach der sich alle umdrehten, aber eine, die zu Recht etwas auf sich hielt. Britta mochte die roten, alten Ziegelhäuser mit ihren grün lackierten Holztoren, durch die früher die Kutschen und Trecker gefahren waren. Viele dieser Gebäude waren Anfang des letzten Jahrhunderts Bauernhöfe oder kleine Gewerbebetriebe gewesen. Die Klützer Häuser und Straßen trotzten stoisch jedem Wetter, sie hatten wechselvolle Zeiten überdauert und würden es weiter tun. Das strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus, die Britta nirgendwo anders so gefunden hatte.

Verstecken musste sich die Stadt wirklich nicht: Die rot geklinkerte St.-Marien-Kirche mit der Bischofsmütze als Turm war das Wahrzeichen der Landschaft, außerdem hatte der Ort eine alte Mühle, und in einen wunderschönen umgebauten Speicher war das Literaturhaus Uwe Johnson eingezogen, in dem Kulturveranstaltungen stattfanden. Kleine Ladengeschäfte und Cafés fand man inzwischen auch. Und nicht zu vergessen das prächtig restaurierte Schloss Bothmer am Rand der Stadt, wo ihr Chor probte.

 

Das Reisebüro von Frank Malessa befand sich in einer unscheinbaren Seitenstraße, es war vermutlich das kleinste des Landes. In den Ladenraum passte mit Mühe ein Schreibtisch, davor standen zwei Klappstühle für die Kunden. An den Wänden hingen nicht, wie sonst üblich, Poster von Sonnenstränden mit Palmen, sondern Fotos von Franks himmelblauem Oldtimer-Bus der Marke Robur, an dem er in seiner Freizeit ständig herumschraubte. Das rundliche Gefährt aus den Sechzigern hatte über zwanzig Sitzplätze und sah aus wie ein rollendes Ei, das von einem Kind gemalt worden war.

Frank schien mit der hohen Lehne seines Chefsessels organisch verwachsen zu sein. Früher war er noch hin und wieder aufgestanden, um in der Tür eine zu rauchen, aber seit er das Rauchen aufgegeben hatte, blieb er den ganzen Tag auf seinem Platz hocken.

«Moin, Frank», grüßte sie, als sie eintrat.

«Welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte», rief der rundliche Mann und zwirbelte seinen dichten Vollbart. Britta wusste natürlich, dass er das zu jeder Frau sagte, die ohne Begleitung hereinkam. Was Reisen anbelangte, war Frank ein echtes Genie. Wenn es irgendwo auf diesem Planeten ein Schnäppchen gab, fand er es. Er kannte sämtliche Tricks und Kniffe.

Frank fasste neben sich in eine Schreibtischschublade und reichte ihr einen großen Umschlag. «Ich habe euch auf der Fähre in der Nähe der Sauna gebucht», erklärte er stolz.

Das war nett gemeint, aber Britta fragte sich, wie sich wohl eine Sauna auf einem Schiff anfühlte, das in der aufgewühlten Novembersee hin und her schaukelte. Half Hitze womöglich gegen Seekrankheit? Zudem war sie nicht sicher, ob sie als Chor zusammen nackt in die Sauna gehen würden, wo schon das Maßnehmen fürs Kostüm heikel gewesen war. Man redete mit den anderen zwar über Gott und die Welt, aber niemals über die eigenen körperlichen Mängel oder Vorzüge – außer Jenny und Annika vielleicht, die Idealfigur hatten. Doch vor Gewandmeisterin Sarah konnte niemand etwas kaschieren, ihr Maßband war unerbittlich. Als sie zu Werke ging, hatte sich Britta im Stillen sehr amüsiert. Regina zum Beispiel hatte ihre eigenen Maße angeblich genau im Kopf gehabt, aber als Sarah nachgemessen hatte, waren es doch überall ein paar Zentimeter mehr gewesen.

«Ich habe schon die Diät eingerechnet, die ich gerade mache», hatte Regina behauptet. «Sonst schlackert dann ja alles, wenn ich acht Kilo weniger habe.»

Zum Glück besaß Sarah durch ihre Theatererfahrung genug diplomatisches Geschick, um die Wahrheit herauszufinden, ohne jemanden zu brüskieren.

Als Frank Britta den Umschlag mit den Tickets und der Hotelbuchung über den Schreibtisch reichte, wurde ihr ganz anders. Nun redeten sie nicht mehr bloß über Tampere, sondern hatten es schwarz auf weiß! Sie fand, dass ihre Mitsängerinnen und Mitsänger die Tickets sofort bekommen sollten und nicht erst am nächsten Mittwoch zur Probe.

3.

Als Britta das Reisebüro verließ, wäre sie ihrer Freundin Julika fast vor den Schwangerenbauch gelaufen, der sich kugelrund unter einem schwarzen Pastorinnen-Talar abzeichnete.

«Darf ich dich überhaupt noch umarmen?», fragte Britta lächelnd.

«Aber ja!»

Mit ihrem dunklen Kurzhaarschnitt und den großen braunen Augen erinnerte Julika an die französische Filmschauspielerin Juliette Binoche. Allerdings war Julika viel jünger, fünfunddreißig, und im Chor eine wichtige Stütze im Alt. Einige behaupteten, dass die Männer nur ihretwegen in den Gottesdienst der St.-Marien-Kirche gingen – was angesichts schwindender Besucher natürlich hoch willkommen war. Britta war eigentlich keine Kirchgängerin, aber zu den wichtigsten Predigten ihrer Freundin ging sie gerne, schon aus Sympathie. Sie fand, dass Julika auf der Kanzel einen warmherzigen Ton anschlug, sie sprach nicht übertrieben salbungsvoll und abgehoben, sondern war nahe bei den Menschen. Dazu trug auch ihr ausgeprägter mecklenburgischer Akzent bei, der gehörte hierhin. Britta konnte mit dem, was Julika sagte, eine Menge anfangen. Was sie beide darüber hinaus verband, war die innige Liebe zur Natur, zum Meer, den Stränden und den Hügeln des Klützer Winkels. Im Sommer fuhren sie, so oft es ging, zusammen zum Baden.

«Bist du etwa immer noch im Dienst?», fragte Britta erstaunt.

Julika nickte. «Das wird heute meine letzte Hochzeit vorm Mutterschutz.»

«Wenn man von einer schwangeren Pastorin getraut wird, ist das ein schönes Omen, oder?»

«In diesem Fall bin ich da nicht so sicher», antwortete ihre Freundin lachend. «Das Paar ist Anfang siebzig.»

«Und sie sehen immer noch eine Zukunft vor sich – toll!»

«Warum nicht? Jeder Tag zählt.» Julika rieb sich den Bauch. «Von deren Optimismus werde ich mir eine dicke Scheibe abschneiden.»

In ihrer Gemeinde wurde natürlich über die Schwangerschaft der Pastorin getratscht. Julika hatte Britta verraten, dass der Vater des ungeborenen Kindes eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft in Südfrankreich gewesen war. Sie würde das Kind alleine großziehen, was Britta bewundernswert fand. Britta freute sich riesig auf die Geburt von Julikas kleiner Tochter, sie wollte die tollste Patentante der Welt werden.

«Und, was ist am wichtigsten, um ein Kind großzuziehen?» Britta legte ihrer Freundin den Arm um die Schulter.

«Eine gute Mutter?», fragte die.

«Und ein ganzer Chor», ergänzte Britta.

Tatsächlich würde sich Julika auf sie und die anderen verlassen können, zusammen bekamen sie das hin!

«Danke, Britta.» Julika musste vor Rührung richtig schlucken.

«Da nicht für.» Prompt zog Britta das Ticket mit Julikas Namen aus dem großen Umschlag, den ihr Frank gegeben hatte. «Ich habe hier noch was für dich. Dein Fahrschein für Tampere, plus einen für deine Tochter.»

«Ja, dann wird meine Kleine schon da sein.» Sie lächelte. «Ob ich den Auftritt als frischgebackene Mutter überhaupt schaffe?»

«Bestimmt», ermunterte sie Britta, die es insgeheim aber ebenfalls für unsicher hielt.

Julika warf einen Blick auf ihre Uhr. «Ich muss jetzt zu der Trauung.»

«Dann viel Glück.»

«Wir sehen uns auf jeden Fall bei der nächsten Chorprobe.»

«Sei bloß vorsichtig, Julika. Und schone dich auch ein bisschen.»

Julika umarmte Britta zum Abschied. «Du weißt doch, ich bin nicht krank, sondern schwanger.»

 

Als Nächstes radelte Britta zur kleinen Kunstgalerie von Regina, die erst am Nachmittag öffnete. Regina stellte in ihrer Galerie gerade ziemlich düstere Bilder eines unbekannten Kölner Künstlers aus: schwarzer Himmel mit dunklen Riefen über November-Landschaften. Britta fragte sich, wer so etwas kurz vor Erntedank kaufen wollte. Aber der Ertrag der Galerie war für Chefarztfrau Regina nicht allzu wichtig. Ihr Mann leitete die Schönheitsklinik in Boltenhagen, da war sie finanziell gut versorgt. Es wurde gemunkelt, dass er mit dem Skalpell auch an ihrer straffen Gesichtshaut mitgewirkt hatte, was Regina stets abstritt. «Meine Mutter war bis ins hohe Alter praktisch ohne Falten», behauptete die Endvierzigerin. Seit fast zehn Jahren sang sie im Chor und kam bei Wind und Wetter zu jeder Probe. Als Notenwartin konnte man sich hundertprozentig auf sie verlassen, sie hatte immer sämtliche Partituren dabei. Dass sie beim Singen nicht jeden Ton traf, war nebensächlich.

Britta warf das Finnland-Ticket in Reginas roten Blechbriefkasten neben der Tür und radelte dann weiter am alten Speicher vorbei, in dem das Literaturhaus untergebracht war. Es war nach dem Schriftsteller Uwe Johnson benannt, der die Gegend in seinen Romanen beschrieben hatte. Auf dem Weg zum Markt kam ihr Dorfpolizist Rainer in seinem Dienstwagen entgegen und grüßte mit Lichthupe. Als sie ihm wild zuwinkte, machte er eine Vollbremsung.

«Ich hab was für dich», sagte sie und reichte ihm sein Ticket durchs Fenster.

Rainer sah richtig erschrocken aus. «Jetzt geht es also los», murmelte er.

Anschließend schob Britta ihr Rad zu Friseurin Gerda, die ihren Salon direkt am Wochenmarkt hatte. Wenn man sich hier dienstags vormittags die Haare schneiden ließ, hatte man das Marktgeschehen gut im Blick. Sowohl Gerda als auch ihre momentan einzige Kundin waren ebenfalls Chormitglieder: Das Haar von Physiotherapeutin Jenny war vollständig in Alufolie eingewickelt, sie wartete darauf, dass das Färbemittel einzog. Mit neunundzwanzig Jahren war sie die Zweitjüngste. Es gab wohl niemanden im Chor, der nicht schon mal von ihr eingerenkt oder massiert worden war.

«Welche Farbe soll es denn werden?», fragte Britta und deutete auf Jennys Kopf.

«Blond», antwortete die.

«Aber du bist doch schon blond.»

Jenny klimperte mit den künstlichen Wimpern über ihren großen grünen Augen. «Man kann gar nicht blond genug sein!», erklärte sie mit vollem Ernst.

Mittfünfzigerin Gerda war auch hell blondiert, zusätzlich trug sie eine rote und eine blaue Strähne im Haar. Auch Britta ließ sich bei Gerda die Haare schneiden, zeigte sich allerdings gegenüber deren Farbvorschlägen unnachgiebig: Sie blieb bei ihrer Naturfarbe, ohne jeden Schnickschnack.

«Mädels, ich habe eure Finnland-Tickets!», verkündete Britta nun.