Omas Inselweihnacht - Janne Mommsen - E-Book

Omas Inselweihnacht E-Book

Janne Mommsen

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Beschreibung

Ein tief verschneiter Dezember auf Föhr. Oma Imke träumt von einem harmonischen Weihnachten in der Familie. Sie stellt den Julboom auf und pflegt andere friesische Rituale. Doch dann sagt einer nach dem anderen ab. Bei ihren Versuchen, den Heiligabend doch noch zu retten, landet sie am winterlichen Deich, in der Inseldisco und in einer alten Mühle. Irgendwann wird ihr alles zu viel, und sie flieht zu ihrem heimlichen Liebhaber nach Amrum. Wegen einer Sturmflut kann sie nicht zurück. Wird es ein Weihnachtswunder für die Familie Riewerts geben?

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Seitenzahl: 152

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Janne Mommsen

Omas Inselweihnacht

 

 

 

Über dieses Buch

Bunte Weihnachten mit Oma Imke!

Ein tief verschneiter Dezember auf Föhr. Oma Imke träumt von einem harmonischen Weihnachtsfest mit der Familie. Sie stellt den Julboom auf und pflegt andere friesische Rituale. Doch dann sagt einer nach dem anderen ab. Bei ihren Versuchen, den Heiligabend doch noch zu retten, landet sie am winterlichen Deich, in der Inseldisco und in einer alten Mühle.

Irgendwann wird ihr alles zu viel, und sie ergreift die Flucht. Wird es ein Weihnachtswunder für die Familie Riewerts geben?

Vita

Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Drehbücher und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.

Gewidmet meinen Omas

Anita und Frieda Caroline

Wenn de Wind dör de Bööm weiht

Un Gras nich mehr wassen deiht

Un geel all ward, denn kummt bald de Tied.

Wenn de Storm övre’t Feld geiht,

Wo lang schon keen Korn mehr steiht,

Un Mehl all ward, denn ist bald so wiet.

Knut Kiesewetter

1

Wie jedes Jahr begann die Vorweihnachtszeit für Imke damit, dass sie einen Tag vor dem ersten Advent die Holzstange mit dem Metallhaken hervorholte und damit die Luke an der Flurdecke herunterzog. Die Treppe zum Dachboden kam ihr zur Hälfte entgegen, den Rest klappte sie mit der Hand auf. Vorsichtig stieg sie die wackeligen Holzstufen hoch und schaltete die beiden nackten Glühbirnen an, die vom Dachgebälk hingen. Unter dem Reet war es eiskalt und roch nach Staub. Wie immer staunte sie über die Unordnung, alles stand voll – womit eigentlich? Jedes Mal nahm sie sich vor, endlich auszumisten. Und ließ es dann doch bleiben.

Vorsichtig stieg sie über Lampenschirme, Fahrradteile und Kartons mit alten Briefen hinweg. In einem Ganzkörperspiegel, der an einen Garderobenständer gelehnt war, sah sie sich selbst: dünn, in schwarzer Jeans und weißem T-Shirt ohne Aufdruck. Ihre Falten waren im fahlen Licht zum Glück nur unklar zu erkennen, die grauen Haare ebenfalls.

Letztes Jahr hatte sie die Weihnachtssachen in die äußerste Ecke des Dachbodens verfrachtet, direkt neben das Kinderspielzeug. Auf einer ausrangierten Blumenbank saßen ihre beiden Lieblingspuppen Keike und Johanna und blickten sie aufmerksam an. Sie trugen die schwarze Friesentracht der Insel Föhr, mit weißer Schürze, Haube und Schmuck über der Brust. Imkes Großmutter hatte sie eigenhändig genäht. Als kleines Mädchen hatte Imke jeden Tag mit den Puppen gespielt, sie waren wie Geschwister für sie. Das war jetzt über sechzig Jahre her, obwohl es ihr vorkam wie gestern.

Sie seufzte und legte die Puppen vorsichtig in den Umzugskarton, auf den sie dick mit Filzstift «Jul» geschrieben hatte, das friesische Wort für Weihnachten. Darin befanden sich Lichterketten, Christbaumkugeln, Tüten mit Lametta, Girlanden, kleine Elche, Kobolde und Feen, das meiste davon jahrzehntealt.

Als sie den Karton anhob, stöhnte sie laut auf: War er von selbst schwerer geworden oder sie schwächer? Letztes Jahr war es doch auch ohne Probleme gegangen. Außerdem war sie erst Anfang siebzig. Aber trag mal einen riesengroßen, bleischweren Karton eine viel zu schmale Holztreppe hinunter – das ist reine Artistik!

Beim Abstieg wäre sie beinahe gestürzt und konnte sich gerade noch auffangen. Unten stellte sie den Karton ab und musste sich erst mal auf einen Stuhl setzen, um Luft zu holen. Nächstes Jahr soll das Arne machen, dachte sie. Ihr Sohn hatte es mit Anfang fünfzig zwar auch schon mit dem Rücken, aber den Karton würde er ja wohl noch schaffen.

Ein heftiger Regenschauer prasselte gegen die Haustür. Der Westwind schob seit Tagen dunkle Wolkenberge vom Meer über das Dorf Nieblum, in dem ihr kleines Häuschen stand. Imke lächelte, genau das richtige Wetter, um mit dem Dekorieren zu beginnen! Sie schob die Kiste ins Wohnzimmer und steuerte auf den Hi-Fi-Turm zu: CD-Spieler, Radio und Plattenspieler in einem. Auch wenn ihr Enkel Sönke sich gerne lustig über ihre museumsreifen Geräte machte – alles funktionierte immer noch perfekt, sogar auf Stereo. Wenn sie allein war, drehte sie oft die Anlage auf und tanzte dazu.

Sie legte die CD mit Weihnachtsmusik ein, die ihre Enkelin Maria ihr am Computer aufgenommen hatte. Sie enthielt sämtliche Klassiker, von «Last Christmas» bis «O, du fröhliche». Dazu stellte Imke die Discokugel an der Zimmerdecke an, die ihr der Besitzer der Föhrer Inseldisco «Erdbeerparadies» vor Jahren überlassen hatte. Das beste Mittel gegen Winter-Schwermut, wie sie wieder einmal feststellte.

Beschwingt machte sie sich ans Auspacken des Kartons. Eigentlich war der Raum das ganze Jahr bunt geschmückt, denn Imke liebte Kitsch jeder Art und war beim Dekorieren nach dem Tod ihres Mannes noch hemmungsloser geworden. Das «gute Geschirr» in der beleuchteten Glasvitrine hatte sie gegen eine Sammlung Schneekugeln mit den tollsten Motiven ausgetauscht, darunter Paris und Mallorca, Bambi, diverse Leuchttürme, Daisy Duck, Marilyn Monroe, die Fähre zum Festland, Fred Astaire und Ginger Rogers. Sobald man die Kugeln schüttelte, lag die Welt im Schneetreiben, es war ein Traum! An den Wänden hingen gerahmte Fotos von ihren Kindern, von Bekannten, Freunden und Stars wie Gitte, Cindy und Bert in ihren besten Tagen sowie Mick Jagger, den sie zeit ihres Lebens richtig sexy gefunden hatte.

Als Erstes nahm sie den Julboom aus der Kiste, der gleich obenauf lag. Er kam auf die Fensterbank. Nach alter Tradition bestand der friesische Weihnachtsbaum aus einem kniehohen Holzstab mit drei Querstreben, an die ein Schwein, eine Kuh, ein Schaf, ein Hahn, ein Segelschiff und eine Mühle aus Salzteig gehängt wurden. Ganz unten, an den Stamm, wurden die Figuren von Adam und Eva mit Schlange unter einen kleinen Apfelbaum gestellt. Der klassische Weihnachtsbaum war erst viel später nach Föhr gekommen und hatte sich nur langsam durchgesetzt, weil es nicht viele Tannen auf der Insel gab, die man für das Fest fällen konnte. Ihren Julboom hatte Imkes Urgroßvater mal für ihre Großmutter angefertigt. Sie schmückte ihn mit einer Girlande aus Efeu, stellte vier Kerzen auf die Querstreben, von denen sie die erste gleich morgen, am ersten Advent, anzünden würde.

Die beiden Puppen setzte Imke auf die Couchlehne. Dann kamen Tannenzweige ins Schlafzimmer, in die Küche und ins Bad. Alles, was ging, wurde mit Lametta verziert, auch die Lampenschirme im Flur – sie liebte die Glitzerstreifen über alles.

Imke zog die Vorhänge zu, stellte weiße Kirchenkerzen in eine Ecke des Wohnzimmers und zündete sie mit einem langen Streichholz an. Die Discokugel drehte sich zur Musik. Zufrieden atmete sie auf: Da war es, jenes wohlige Adventsgefühl.

Gut, man hätte einwenden können, dass es insgesamt vielleicht etwas viel Lametta war. Aber sie fand, dass «viel» gerade ausreichte: Weihnachten war für sie ein fröhliches Fest, und nichts brachte das besser zum Ausdruck als Glitzer.

Als sie mit dem Dekorieren fertig war, begab Imke sich in die Küche. Sie band sich die Schürze um und machte sich ans Werk: Jetzt wurde gebacken! Ihre Spezialität waren Vanillekekse mit geriebenen Walnüssen. Aus dem CD-Spieler tönte gerade eines ihrer Lieblingslieder von Knut Kiesewetter.

Wenn de Wind dreiht, vun Nord weiht

Un Reg’n geg’n de Finster neiht,

De Schieb’n dahl rennt,

denn föhl ik mi wohl.

Wenn dat Füer in Kamin brennt

Un jeder di bi’n Vörnam nennt,

Weil he di kennt, denn is uns Hus vull.

Während sie den Teig vorbereitete, dachte sie an das bevorstehende Weihnachtsfest. Wie jedes Jahr würde die gesamte Familie an Heiligabend in ihrem Wohnzimmer zusammenkommen – bis auf Cord, ihren Ältesten, der mit seiner Frau Narasinee und der kleinen Jade in Frankfurt blieb. Der Raum würde dampfen, so muckelig warm würde es mit all den Menschen werden. Es gab bloß ein Problem: Eigentlich verstanden sich die Mitglieder der Familie Riewerts gut, nur an einem Tag im Jahr gerieten sie garantiert aneinander, und das war ausgerechnet an Heiligabend. Imke hatte keine Ahnung, warum.

Letztes Jahr zum Beispiel hatten sich alle am frühen Abend bei ihr zu Hause versammelt: ihr Sohn Arne mit seiner Tochter Maria, ihre Tochter Geeske mit Mann Kurt und Sohn Sönke, der genauso alt war wie seine Cousine Maria, und ihre Tochter Regina mit Mann Holger und Sohn John. Imke stand gerade in der Küche und kümmerte sich um das Essen, wobei sie auf sämtliche Sonderwünsche einging. Nur für die Unkomplizierten gab es Kartoffelsalat mit Würstchen. Irgendwann gesellte sich Arne zu ihr, um die Mayonnaise mit exotischen indischen Gewürzen zu verfeinern. Bis dahin war alles wunderbar gewesen.

«Weißt du aus dem Kopf, wie viele Porzellantiere du inzwischen besitzt?», erkundigte Arne sich bei seiner Schwester Regina, als er wieder im Wohnzimmer war. Und das, obwohl er ihre Porzellanschafe hasste!

«Keine Ahnung», antwortete Regina.

«Langsam müsstest du damit ins Guinnessbuch der Rekorde kommen.»

«Meinst du?»

«Klar! Und tauschst du dich auch mit anderen Sammlern über das Thema aus?»

«Nee, das sind ja meine Konkurrenten.»

Es wirkte freundlich, wie er sich nach der Lieblingsbeschäftigung seiner Schwester erkundigte.

Auch Regina bemühte sich sichtlich: «Haben sich deine Surfschüler im Lauf der letzten Jahre eigentlich verändert?»

Arne war Surflehrer auf der Insel.

«Ja, inzwischen trauen sich immer mehr Übergewichtige aufs Brett.»

Womit er, ohne es zu merken, eine Anspielung auf Reginas rundliche Körperform gemacht hatte. Die wechselte schnell das Thema und begann nun, ohne Punkt und Komma von ihren Porzellanfiguren zu schwärmen.

Arne hielt eisern durch, fünf Minuten, zehn, zwölf, dreizehn … Dann wurde es ihm zu viel, und er fing wieder vom Surfen an, ohne dass er auf sie eingegangen wäre.

«Ich könnte auch dir Surfen beibringen, du müsstest nur etwas mehr Kondition haben.»

Oje, Arne, wer hörte so etwas gerne?

Jedenfalls war Regina jetzt bedient und wollte nur noch eins: Rache. Da aber bei Gefühlen eins und eins nicht zwei macht, bekam die Wut erst mal ihre ältere Schwester Geeske ab, die gerade von dem neuen Kleinwagen erzählte, den ihr Mann Kurt und sie sich kürzlich angeschafft hatten.

«Du tust immer so arm, aber in Wirklichkeit seid ihr ja wohl kackreich!», meinte Regina.

Geeske explodierte. «Musst du gerade sagen! Setzt dich hier auf der Insel ins gemachte Nest! Wenn dein Mann nicht das Haus mit in die Ehe gebracht hätte, würdest du in einer armseligen Hütte am Strand leben.»

Abgesehen davon, dass man selbst mit Hütten am Föhrer Strand Höchstpreise erzielt hätte, ihre Bemerkung also Unsinn war, trat dadurch natürlich keine Beruhigung ein.

Nun warfen alle ihre guten Sitten über Bord, jeder gegen jeden, war die Devise. Der ansteigende Weinkonsum tat sein Übriges. Der siebenjährige John verkrümelte sich mit seinem Nintendo ins Schlafzimmer, wo er Ruhe vor den streitenden Erwachsenen hatte.

Spätestens jetzt wurden auch diejenigen miteinbezogen, die vorher geschwiegen hatten, etwa Holger und Kurt, Reginas und Geeskes Männer. Holger war sonst ein Stiller, aber nun fühlte er sich verpflichtet einzugreifen.

«Hört auf mit dem Gestreite, wir haben Weihnachten!», rief er. Doch für Appelle dieser Art war es bereits viel zu spät.

«Bändige lieber deine bekloppte Frau», rief Geeske. Das waren natürlich die völlig falschen Vokabeln.

Regina lief rot an. «Bekloppt? Das muss ich mir von meiner Schwester nicht sagen lassen.» Dann rieb sie ihrem Hippiebruder Arne unter die Nase, dass er als alternder Surflehrer langsam zur Karikatur werde, wenn er ständig über seine schmerzenden Bandscheiben klage.

So schaukelte sich die Stimmung hoch. Maria, Arnes Tochter, versuchte anfangs noch zu vermitteln, aber irgendwann hatte sie die Schnauze voll und ging einfach nach Hause. Somit war Imke alleine unter lauter Streithähnen. Denn auch Sönke hatte sich längst in ein anderes Zimmer verzogen.

Imke hatte sich an Heiligabend wie auf einem sinkenden Boot gefühlt: Kaum hatte sie irgendwo ein Leck gestopft, schoss durch ein anderes Loch erneut Wasser. Sie wusste, dass sie selbst nicht ganz unschuldig daran war: Mit ihrer Tochter Geeske aus Norderstedt verstand sie sich zugegebenermaßen nur mittelprächtig, warum auch immer. Dafür war sie umso enger mit Geeskes neunundzwanzigjährigem Sohn Sönke. Mit ihm war sie sogar schon mal auf der Berlinale gewesen und hatte Brad Pitt die Hand geschüttelt. Es gab ein Foto, auf dem sie mit dem Hollywoodstar zu sehen war und das jeder Insulaner kannte, weil sie überall damit angegeben hatte. Dabei hatte sie den Star im Kino ohne ihre Brille erst gar nicht erkannt.

 

Obwohl Heiligabend in ihrem Haus also ein Garant für Streit war, gab Imke die Hoffnung nicht auf. Dieses Jahr sollte alles anders werden!

Aus dem Backofen roch es bereits herrlich nach Vanillekeksen. Mit der Teigrolle in der Hand tanzte sie von der Anrichte zum Tisch und zurück und sang dabei laut ihr Lieblingslied mit.

Wenn de Wind dreiht, vun Nord weiht

Un Reg’n geg’n de Finster neiht,

De Schieb’n dahl rennt, denn föhl ik mi wohl.

Ja, es sollte das erste Mal ein harmonisches und friedliches Fest in der Familie werden. Das war ihr größter Wunsch. Aber wie bekam sie das hin?

2

Von nun an schenkte Imke sich selbst jeden Tag Weihnachtsmusik mit Discokugel und genoss ihre Dekoration. Aber es gab auch andere Rituale, die sie von den Sorgen um das bevorstehende Familienfest ablenkten. Einer der Höhepunkte in der Adventszeit war die traditionelle Feier der Landfrauen im Utersumer Taarepshüs. Dieses Jahr gab es dabei eine Besonderheit, die eine kleine Revolution darstellte: Imke und die anderen Föhrer Landfrauen feierten das erste Mal zusammen mit denen aus der Inselhauptstadt Wyk in Utersum! Obwohl man sich kannte, gab es nicht nur geographisch immer eine gewisse Distanz zwischen beiden Gruppen. Auf Föhr wurde der Unterschied zwischen Marsch und der Hauptstadt Wyk mindestens so krass gesehen wie der zwischen Prärie und New York.

Natürlich brachten Imke und ihre Truppe ihre eigenen Kuchen zur Feier mit. Sie wollten beweisen, dass sie besser backen konnten als die Städterinnen, das war eine Frage der Ehre. Für Imke bedeutete das, dass sie sich an ihre traditionelle Friesentorte machte, für die sie schon lange kein Rezept mehr brauchte: Mürbeteig, Blätterteig, Schlagsahne und Pflaumenmus wurden übereinandergeschichtet, den Abschluss bildete eine Sahneschicht, auf die dreieckige Blätterteigstücke gelegt wurden. Zu guter Letzt kam noch ein kräftiger Schuss Rum obendrauf.

Nachdem sie fertig war, stellte Imke die Torte vorsichtig in einen Tupperbehälter, den sie neben die große Blechschachtel mit den Vanillekeksen auf den Rücksitz ihres kleinen Toyotas legte. Damit nichts verrutschte, keilte sie die Kuchenform mit ein paar Kissen ein. Dann fuhr sie los.

An der kleinen Tankstelle im Ort sammelte sie Carla und Simone von der Kasse bei Edeka Hückstedt ein. Das Thermometer zeigte null Grad, hoffentlich gab es unterwegs kein Glatteis! Sie tuckerte die paar Kilometer bis nach Utersum vorsichtshalber im Schneckentempo. Zusätzlich wehte ein starker Westwind die kahlen Bäume und Büsche hin und her und zerrte an ihrem Wagen, sie musste das Lenkrad richtig festhalten und manchmal leicht gegenlenken.

«Wie schön, dass es wieder losgeht», seufzte Simone vom Rücksitz. «Ich freue mich schon das ganze Jahr darauf.»

«Aber jetzt mit den Wykerinnen?», wandte Carla mit skeptischer Miene ein.

«Dürfen wir da überhaupt noch ein Wort Friesisch reden?», erkundigte sich Simone.

«Ich lasse mir jedenfalls nicht den Mund verbieten», stellte Imke fest.

Die Insel Föhr war sprachlich dreigeteilt: In Wyk redete man Hochdeutsch, in der südlich gelegenen Geest Plattdeutsch, in der Marsch Fering, dazwischen gab es einige Dänen. Imke hatte diesbezüglich keine Probleme, sie sprach alle Föhrer Sprachen fließend – und manchmal auch durcheinander.

In der offenen Marsch traf der Westwind nirgendwo auf Widerstand, es sei denn, man war dort zu Fuß oder wie sie mit dem Wagen unterwegs. Der Wind hatte Hunderte Kilometer auf der offenen See hinter sich und war eisig kalt. Immer wieder erschütterten wie aus dem Nichts starke Böen die Karosserie.

In Utersum angekommen, parkte Imke vor dem reetgedeckten Taarepshüs, was wörtlich übersetzt «Dorfhaus» hieß. Es war eine ehemalige reetgedeckte Scheune, die man zu einem wunderschönen Versammlungssaal ausgebaut hatte.

«Hier im äußersten Westen der Insel ist es immer noch ein paar Grade kälter als bei uns», behauptete eine Wykerin, die gerade neben ihnen aus dem Auto stieg.

«Unsinn», hielt Simone prompt dagegen. «Das ist doch hier keine andere Klimazone!»

«Doch.»

Auch wenn es kaum zu glauben war: Es gab tatsächlich etliche Wyker, die seit Jahren nicht in den Marschdörfern gewesen waren. Wenn sie mal irgendwohin fuhren, dann in Richtung Dagebüll aufs Festland.

Als Erstes brachte Imke ihre Mitbringsel in den großen Festsaal, in dem an die dreißig Tische eingedeckt waren. Auf weißen Tischdecken hatten die Frauen vom Festkomitee Adventskränze mit roten Kerzen platziert. Imke gab Torte und Kekse bei Birgit Detlefsen ab, der Vorsitzenden des Landfrauenvereins, die hinter dem großen Tisch stand, der für das Buffet vorgesehen war.

«Moin, Imke.»

«Moin, Birgit.»

«Friesentorte, wie immer?» Birgit lächelte.

Imke zuckte mit den Achseln. «Was sonst?»

«Die ist bestimmt wieder als Erste weg!»

Sie musste zugeben, das Kompliment schmeichelte ihr. Sie zwinkerte Birgit zu und ging dann zur Garderobe, um ihre Jacke abzugeben. Es duftete nach schweren Wintermänteln und den unterschiedlichsten Parfüms. Kurz hielt Imke inne, ein Glücksgefühl durchströmte sie. Alles schnatterte durcheinander – nicht umsonst war das Adventssingen der Landfrauen einer der gesellschaftlichen Höhepunkte des Inseljahres.

Als Imke zurück in den Festsaal ging, saß Pastorin Petra Breitscheid bereits am Klavier und sortierte ihre Noten. Imke schloss die Augen. Adventsfeiern rochen anders als alle anderen Feste, das lag an dieser einzigartigen Mischung aus Kerzenwachs, Zimt und Sahne.

Eine halbe Stunde später begann dann die gewohnte Zeremonie, die sich, seit Imke zurückdenken konnte, noch nie geändert hatte. Zuerst sprach ihre Vorsitzende einige Begrüßungsworte auf Friesisch, was von denen aus Wyk, den Gesichtern nach zu urteilen, kaum verstanden wurde. Die Antwort kam dann prompt von deren Vorsitzender in einer Art Hochdeutsch, das stark von ihrer schwäbischen Herkunft gefärbt war: Weihnachten im Westteil der Insel sei mal etwas ganz anderes, so weit weg …! Imke lächelte amüsiert: Die Wykerinnen hatten wirklich das Gefühl, auf einem anderen Kontinent gelandet zu sein.

Nun stimmte die Pastorin die ersten Akkorde an, und alle sangen zusammen «Vom Himmel hoch, da komm ich her», jede in ihrer Sprache. Imke blickte sich um. Alle sahen so ernst und andächtig aus. Für sie selbst ging dieses wunderschöne Weihnachtslied nur auf Friesisch, sie gab alles:

En stäre locht döör a wonternaacht,

Skintj auer’t hiale lun so laacht

A engler God tu iaren schon

Ferkan’ge frees för ual an jong.

Die Stimmen füllten den Saal bis zur Decke. Das gemeinsame Singen besaß eine ungeheure Kraft, hinterher gab es niemanden mehr ohne rote Wangen. Imke bekam feuchte Augen, so glücklich war sie.

Anschließend wurde Kuchen gegessen. Durchs Fenster konnte Imke sehen, wie sich Bäume und Büsche im eisigen Wind bogen. Hier drinnen im Saal fühlte sie sich richtig geborgen.