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Ada Limón: TIME's Woman of the Year 2024, Gewinnerin des National Book Critics Circle Award, Finalistin des National Book Award und U.S. Poet Laureate Bäume geben uns die Luft zum Atmen, sie sind Schutzraum und Klimaanlage und machen die Erde erst zu einem Ort, wo Leben möglich ist. Ada Limóns Liebesbrief ist eine Hommage an all die Bäume, die in ihrem Leben einmal von Bedeutung waren – als Zufluchtsort, als Schattenspender, als Ruhepol – und ist zugleich eine Liebeserklärung an alle Bäume dieser Erde. In kurzen poetischen und sehr persönlichen Reflexionen feiert die Autorin die Kraft der Bäume und die Magie der Natur. Dieses Buch ist ein einzigartiger Waldspaziergang – das perfekte Geschenk für alle, denen die Natur am Herzen liegt.
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Seitenzahl: 54
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ada Limón
Ein Liebesbrief
Lyrik
Henning Ahrens
Dieser Baum ist zwar nicht der erste, den ich je gesehen habe, aber er ist mit einer meiner frühesten Erinnerungen verknüpft. Eine Kalifornische Weiß-Eiche, an der ein schwarzer Reifen hing – ein echter Gummireifen, der sich im Frühling mit Regenwasser und Würmern füllte. Eine der scheußlichsten Erfindungen der Menschheit hing an einer der schönsten Schöpfungen der Natur. Nachdem ich den hässlichen Reifen ausgeleert hatte, konnte ich immerhin darauf balancieren und beobachten, wie sich alles drehte, über mir die Welt des Laubs, jeder Ast ein Weg zu einem neuen Ökosystem.
Dieser Baum, die Art, wie ich mich zurücklehnen konnte, die Art, auf die ich beobachten konnte, wie er schwankte, während ich mich im Kreis drehte – ich liebte ihn. Mein Bruder drehte mich oft, bis mir schlecht wurde. Schon komisch, im Hinblick auf einen Baum von Übelkeit zu sprechen. Um das Gleichgewicht wiederzufinden, heftete ich meinen Blick auf den Stamm, allmählich gewann die geriefte Rinde an Schärfe, konnte ich spüren, wie meine Beine Wurzeln schlugen, stand wieder stabil.
Wenn ich vom Fliegen träumte, flog ich immer wieder über diese Kalifornische Weiß-Eiche. Träume vom Fliegen mochte ich am liebsten, nicht nur, weil ich flog, sondern weil ich die Bäume deutlicher vor Augen hatte.
Ich war gerade einmal fünf, da wurde das Programm Umarm-einen-Baum ins Leben gerufen. Wenn ich mich nicht irre, sollten wir Bäume umarmen, um uns besser zu fühlen. Ich weiß noch, dass ich dies auf einer Exkursion ins Grüne tat – einen Baum so fest wie möglich in die Arme schloss –, und plötzlich befürchtete, in Tränen ausbrechen zu müssen. Der Baum war so warm und robust. Ich liebte den Baum so sehr, dass es wehtat.
Wie so viele meiner Erinnerungen trügt jedoch auch diese. Das Programm Umarm-einen-Baum war ins Leben gerufen worden, um Kinder zu finden, die sich in der Wildnis verirrt hatten. 1981 wurde ein Neunjähriger namens Jimmy Beveridge auf dem Palomar Mountain vermisst, sechzig Meilen östlich von San Diego. Er verschwand eines Samstags auf einer Wanderung mit seinen zwei Brüdern. Vierhundert Suchkräfte, darunter zweihundert Marines, durchkämmten jeden Winkel des Gebiets, bis man nach vier Tagen endlich auf seinen zusammengekrümmten Körper stieß. Er war an Unterkühlung gestorben.
Mit vollem Namen hieß und heißt das Programm »Umarm einen Baum und überlebe«. Das Kind sollte sich einen Baum suchen und dortbleiben. Der Grundgedanke bestand darin, an einem Fleck zu verharren, um nicht noch tiefer in den Wald zu irren. Das Programm wurde zum Gedenken an Jimmy Beveridge von einem Mann begründet, der der Suchmannschaft angehört hatte und drei Jahrzehnte bei der Border Patrol gewesen war. Er hatte Immigranten aufgespürt, die über die Grenze gekommen waren. Er konnte geknickte Zweige und verrutschte Steine deuten und wusste genau, wie man jemanden aufspürt. Als menschlicher Spürhund war er es gewohnt, seine Beute zu fassen. Jimmy fand er jedoch nicht. Schwer zu sagen, warum mir der »Überlebe«-Teil des Programms entfallen ist. Ebenso die Geschichte des vermissten Jungen. Ich weiß nur noch, dass ein Baum die Rettung sein kann, wenn man in Schwierigkeiten gerät.
Die Mirabelle oder Gelbe Zwetschge erteilte mir meine erste Lektion in Überfluss. Vor allem im französischen Lothringen verbreitet, trägt sie eine süße, gelbe Steinfrucht, und in guten Jahren schien es Tausende dieser Früchte zu geben, jede durch die Sommerhitze so zuckerreich, dass sie wie eine Süßigkeit waren, die am Baum hängt. Ich gab sie Dusty zu fressen, unserem Labrador mit einem Fell von der gleichen Farbe wie die goldenen Zwetschgen, bis uns beiden speiübel war.
Wenn der Baum schwer an Früchten trug, wurde ich unruhig. Schlicht undenkbar, dass wir sie alle äßen. Ich schämte mich, wenn ich vorbeiging und keine pflückte, ein solcher Baum – der sich in seiner ganzen Fülle darbot. Bald nach der Scheidung meiner Eltern, ich sollte in der Küche etwas backen, fabrizierte ich nach eigenem Rezept sogenannte »Mira-Bälle«. Es verblüffte meinen Vater, dass ich die Früchte nicht entsteint hatte. Doch ich liebte den Gedanken, dass jede Mirabelle in ihrem Inneren das Potenzial für einen ganzen Baum voller Früchte barg.
Mein älterer Bruder hat an vielen Orten Bäume gepflanzt. Etwa eine Korkenzieher-Weide im Vorgarten des Anwesens, das meine Mutter früher verwaltet hat, eine vierzig Hektar große Ranch, auf der Polizeipferde aus San Francisco ihr Gnadenbrot bekamen. Ich fand es erstaunlich, wie rasant sie wuchs. In meiner Vorstellung ist mein Bruder von jeher ein Mensch, der sich um Bäume kümmert, allerdings mit einer Ausnahme. Er war ein junger Teenager, als wir kurz nach der Scheidung unserer Eltern und bevor sie jemanden anders heirateten in einer Straße in Santa Rosa auf ein Spalier von Baumsetzlingen stießen. Er riss im Vorbeilaufen die frischen Triebe ab. Ich weiß nicht mehr, was seine Wut ausgelöst hatte. Er war schlicht wütend. Wütend genug, um die Triebe abzureißen und die Stämme damit zu peitschen. Ich erinnere mich, dass ich dachte, jetzt werden sie mit ihren eigenen Trieben gepeitscht, es muss doch etwas zu bedeuten haben, von sich selbst malträtiert zu werden.
Ich sehe auch noch die Miene meiner Stiefmutter in spe vor mir, damals unglaublich jung, etwa sechsundzwanzig. Wir konnten ihn nicht stoppen, er tobte weiter, bis er sich verausgabt hatte. Er wollte Schmerzen zufügen. Und zufälligerweise traf es die Bäume.
Heute sehe ich meinen Bruder als jemanden, der mit Sorgfalt pflanzt, liebevoll mit Tieren umgeht, Sorge trägt, dass im Garten alles gedeiht. Es würde ihm nie einfallen, grob zu sein, er würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Geschweige denn einem Baum. Manchmal frage ich mich, welche karmischen Auswirkungen die Jugend hat. Einmal rannten wir einen von Bäumen gesäumten Pfad entlang, den wir »Gasse« nannten, obwohl wir nie eine echte Gasse gesehen hatten, und rissen lange Akazienblüten aus, die wir immerfort gegeneinanderschlugen, ihr Blütenstaub blieb ewig in unseren Haaren hängen.
In seiner Grundschulzeit klemmte er sich in einer Weiß-Eiche ein Bein ein und konnte sich lange, offenbar stundenlang, nicht befreien. Ich war nicht zu Hause. Niemand war zu Hause, wir durften nach der Schule allein zu Hause sein, durften auch unbeaufsichtigt auf Bäume klettern. Er schrie und schrie und weinte, bis er von einem Nachbarn gehört wurde, der ihn aus dem Baum befreite.
Danach glaubte ich lange, er hätte nach diesem Erlebnis einen Groll gegen Bäume. Heute pflanzt er sie jedenfalls. Einen Judasbaum im Garten vor seinem Haus in San Mateo, hinten im Garten einen Trompetenbaum. Es gibt noch eine Hinterlassenschaft der Bäume.