Meine Erlebnisse in russischer Gefangenschaft - Johann Raffeiner - E-Book

Meine Erlebnisse in russischer Gefangenschaft E-Book

Johann Raffeiner

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Beschreibung

»Endlich ein SS-tauglicher Arier! Ab mit ihm an die Front!« So lautet die zynische Botschaft der Musterungsbehörde für Hans Raffeiner im Mai des Jahres 1944. Der erst 17-Jährige aus Laas im Vinschgau kommt nach Prag, sein Versuch, bei Kriegsende in die Hände der Amerikaner zu gelangen, scheitert. Er kommt in den Würgegriff der Russen und gerät in sowjetische Gefangenschaft. Eine schreckliche, entbehrungsreiche Odyssee, die vier Jahre dauert, beginnt. In seinen »Erlebnissen« schildert Raffeiner den täglichen Kampf ums Überleben. Er erzählt von Demütigung, Misshandlung, Hunger, Krankheit, Heimweh und schierer Verzweiflung, aber auch von abenteuerlichen Erlebnissen und hilfsbereiten Menschen im Südkaukasus. Es ist die dramatische Geschichte einer späten Heimkehr aus dem Krieg.

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Die Drucklegung dieses Buches wurde ermöglicht durch die Stiftung Südtiroler Sparkasse.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung von Gerald Steinacher

Einberufung zum Militärdienst

Erlebnisse in Prag

Das letzte Aufgebot

Die Gefangennahme

Marsch nach Brünn

Die Fahrt nach Focşani

Die Fahrt nach Russland

Ankunft in Rustavi

Erlebnisse im Urwald

Der Schakalberg

Erlebnisse in Saganlug

Wieder in Rustavi

Im Hauptlager – das Lagerleben

Die Zeit im Hauptverpflegungslager

Das verhängnisvolle Zeichen

Die Entnazifizierung

Abschied von Russland

Ankunft in Österreichund Aufenthalt in Innsbruck

Rückkehr nach Laas

Ein neuer Anfang

Nachwort

Kurzbiografie

Übersichtskarte

Vorwort

Jahrzehntelang hatte ich nicht den Mut oder die Kraft dazu, über meine Erlebnisse in russischer Gefangenschaft zu sprechen, weil mir kaum jemand zuhören wollte. Sooft ich darüber zu berichten versuchte, stieß ich auf taube Ohren. Für mich war es auch schwer, die richtigen Worte zu finden.

Das Desinteresse meiner Mitmenschen veranlasste mich, weiterhin zu schweigen.

Erst jetzt, sechs Jahrzehnte später, wage ich es, meine Erinnerungen niederzuschreiben, noch bevor mein Leben zu Ende geht.

Es sind wahre Begebenheiten während der Gefangennahme, es sind die Erinnerungen an den Abtransport und die endlose Fahrt nach Russland, an unmenschliche Arbeitsbedingungen, Ungezieferplage, an Hunger, Durst und Verzweiflung.

Es ist aber auch eine Geschichte von Hoffnung, Heimkehr und Neuanfang.

Johann Raffeiner

Einleitung

GERALD STEINACHER

Wenige Monate vor Kriegsende 1945 muss der 17-jährige Johann (Hans) Raffeiner seinen Militärdienst antreten, wird in die Waffen-SS gezwungen und noch kurz vor der deutschen Kapitulation im April 1945 nach Prag an die Front geschickt. Dort gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Für viereinhalb Jahre kämpft er gegen Hunger und Krankheiten.

Raffeiner, Bauernsohn aus dem Südtiroler Ort Laas im Vinschgau, erzählt in einfachen klaren Worten von Option, Kriegszeit und sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Es ist eine »Geschichte von unten« aus der Sichtweise der sprichwörtlich kleinen Leute. Wie ein moderner Simplicissimus gerät Raffeiner in die Mühlräder des Zweiten Weltkrieges und erlebt in den letzten Kriegswochen die Absurdität des Krieges und das Elend der Kriegsgefangenen. Die Lektüre von Raffeiners Erinnerungen ist von Anfang bis Ende fesselnd. Hier wird Südtiroler Zeitgeschichte lebendig und erhält ein Gesicht.

Begleiten wir Raffeiner zurück in die Vergangenheit. Nach dem Ersten Weltkrieg wird das südliche Tirol von Italien annektiert und der Brennerpass zur Staatsgrenze. Mit der Machtübernahme von Mussolinis Faschisten 1922 steht die Italianisierung Südtirols auf dem Staatsprogramm. Die Methoden der faschistischen Schlägertrupps sind Raffeiner noch sehr lebhaft in Erinnerung. Die deutschsprachige Bevölkerung wird besonders kulturell unterdrückt. Die italienischen Faschisten verbieten deutsche Schulen, Kultur und Brauchtum. Südtiroler Orts- und Flurnamen werden flächendeckend italianisiert, eine staatlich organisierte Zuwanderung italienischer Familien setzt ein. Südtirol und die Südtiroler sollen gewaltsam italienisch werden. Raffeiner schildert, wie sich die Menschen im Lande wehren. Neben der italienischen Volksschule besucht Raffeiner die »Katakombenschule« – den heimlichen Deutschunterricht in Privathäusern und Heustadeln, organisiert von den Dorfgemeinschaften und dem Südtiroler Klerus.

Südtiroler werden so zu Opfern des faschistischen Regimes. Eine kollektive Opferthese entsteht. Dabei wird allerdings geflissentlich übersehen, dass die Südtiroler Abwehrhaltung gegen den Faschismus sehr oft nur ein national-ethnisch motivierter »Antiitalienismus« war. Dies zeigt sich spätestens mit der Gründung des »Völkischen Kampfringes Südtirol« (VKS) im Jahre 1933 – einer nationalsozialistisch orientierten Bewegung. Die Angehörigen des VKS verstanden sich als Widerständler, was man aus den damaligen Zeitumständen heraus bis zu einem gewissen Grad noch nachvollziehen kann. Unverständlich, bedenklich und wissenschaftlich freilich nicht mehr haltbar ist es aber, wenn nach 1945 und zum Teil bis heute in Publikationen zur Südtiroler Zeitgeschichte der VKS als »antifaschistischer Widerstand« bezeichnet wird. Nach dieser Definition konnte man in Südtirol also gleichzeitig überzeugter Nazi und aktiver Antifaschist sein. Diese Reduktion von Widerstand auf eine rein nationale, kulturelle und sprachliche Resistenzhaltung bildet, gelegentlich sogar bis heute, ein wichtiges Raster für die Wahrnehmung von italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus in Südtirol. Claus Gatterer, Südtiroler Journalist und Buchautor, bringt diese komplexe Realität des gleichzeitigen Nebeneinanders von zwei faschistischen Weltanschauungen und Systemen sowie die damalige Einstellung und später oft vereinfachende Erinnerung seiner Landsleute präzise auf den Punkt, wenn er schreibt:

»Der Faschismus war menschlicher, korrumpierter und gerade in den menschlichen Unwägbarkeiten leichter berechenbar – aber er sprach italienisch, er war ›fremd‹. Der Nazismus war wohl brutaler, unmenschlicher – doch redete er immerhin deutsch. Für viele ›gehörte er zu uns‹, war er ›unser‹, weil er unsere Sprache sprach.«

Die kulturelle und sprachliche »Entheimatung« lässt viele Südtiroler im Laufe der 1930er Jahre immer mehr nach Deutschland blicken. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 richten sich die Hoffnungen vieler Südtiroler und Südtirolerinnen endgültig auf eine nationale Befreiung durch das Dritte Reich. Nun heißt die Devise: »Südtirol kann nur durch ein starkes Deutschland geholfen werden.« Hitlers schon früh geäußertes Desinteresse an Südtirol wird von den Kreisen des VKS entweder ignoriert oder als eine reine Taktik Hitlers abgetan. Doch der »Führer« holt Südtirol nicht »heim ins Reich«, wie es sich der VKS bis 1939 erträumt. Hitler ordnet die Südtirolfrage von Anfang an dem Bündnis mit Italien unter. 1939 einigen sich Mussolini und Hitler darauf, das »Problem Südtirol« definitiv aus der Welt zu schaffen; das gerade geschlossene Achsenbündnis zwischen den beiden Diktatoren soll nicht mehr damit belastet werden. Die Südtiroler müssen sich in einer Abstimmung, der sogenannten Option, dafür entscheiden, entweder die italienische Staatsbürgerschaft beizubehalten und in der Provinz Bozen zu verbleiben oder die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und ins Deutsche Reich abzuwandern. Der Verbleib in Italien ist mit einer vollkommenen Italianisierung verbunden. Die Position der »Italien-Optanten«, »Dableiber«, wird dadurch erschwert, dass sie sich mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert sehen, da das faschistische Italien anfänglich offizielle Garantien für ein Verbleiben dieser Menschen in Südtirol verweigert. Das Ziel des Umsiedlungsvertrages hat Erich Amonn, Bozner Kaufmann und erster Obmann der im Mai 1945 gegründeten Südtiroler Volkspartei (SVP), knapp und präzise formuliert: »Die Befreiung Südtirols von den Südtirolern«.

Rund 85 Prozent der Optionsberechtigten unterzeichnen das orangerote Formular für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft und die damit verbundene Abwanderung in das Dritte Reich. Darunter ist auch die Familie von Hans Raffeiner. Die Raffeiners sind Kleinhäusler, es sind sieben Kinder zu versorgen. Neben der Arbeit am Hof muss der Vater auch noch als Waldarbeiter dazuverdienen. Für die Entscheidung zum Abwandern spielen auch bei den Raffeiners die Versprechungen von SS-Chef Himmler eine wichtige Rolle. Die Südtiroler und Südtirolerinnen sollen in einem geschlossenen Siedlungsgebiet neu angesiedelt werden, zudem sollen dort großzügig Land und Bauerngüter verteilt werden. Die Entscheidung für Deutschland ist meist keine offene Sympathieerklärung gegenüber dem Nationalsozialismus, sondern oft auch Absage an die Unterdrückungspolitik des italienischen Faschismus. Durch den Krieg gerät die Auswanderung ins Stocken und kommt schließlich 1943 völlig zum Stillstand. Tatsächlich wandern dann nur 75.000 der rund 210.000 deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler Optanten ab.

Nach der Landung der Alliierten auf Sizilien 1943 und Mussolinis Absetzung marschiert die Wehrmacht in Italien ein und besetzt auch Südtirol. Nun scheint für den VKS bzw. die Arbeitsgemeinschaft der Optanten endlich der lang ersehnte Tag der »nationalen Befreiung« der Südtiroler und Südtirolerinnen gekommen zu sein. Während die Mehrheit der Südtiroler Bevölkerung auf der Straße den deutschen Landsern zujubelt, sie mit Wein und Früchten als »Befreier« begrüßt, beginnt für die kleine Gruppe der »Dableiber« die schwierigste und härteste Zeit des Krieges. Eine offizielle Annexion des Landes bleibt auch 1943 aus und die Brutalität des Krieges und des Nazi-Terrors unter dem Tiroler Gauleiter Franz Hofer wird immer spürbarer. Und trotzdem ist an Widerstand gegen den deutschen Nationalsozialismus und den deutschen »Führer« kaum zu denken. Ein Tagebucheintrag eines Südtirolers aus dem Jahre 1944 fasst die Stimmung der Südtiroler Mehrheit zusammen: »Wir haben voll auf die deutsche Karte gesetzt und müssen jetzt mit ihr siegen oder untergehen.«

Auch in Südtirol werden die letzten Reserven für den »Endsieg« mobilisiert. Schließlich werden auch 17-Jährige eingezogen. Hans Raffeiner ist einer von ihnen. Zunächst leistet er 1944 einige Monate Wachdienst in der Heimat, dazu gehört die Bewachung von Juden beim Arbeitseinsatz. Kurz vor dem Kriegsende in Europa wird Raffeiner als Soldat der Waffen-SS nach Prag geschickt. Dort erlebt er in den letzten Kriegswochen die Absurdität und Grausamkeit des Krieges. Eine Szene im Offizierskasino in Prag bleibt ihm dabei besonders in Erinnerung. Ein Speisesaal voll verwundeter Offiziere, beinamputiert oder auf einem Auge blind, sie suchen im Alkohol ihre verzweifelte Lage zu vergessen: »Und wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt …« Raffeiner kommen damals ernste Zweifel über die Sinnhaftigkeit des Krieges.

Überall Auflösungserscheinungen. Im Chaos des Kriegsendes schließen sich er und Südtiroler Kameraden schier endlosen Flüchtlingstrecks an – alle wollen Richtung Westen, sich zu den US-Amerikanern durchschlagen. An den Bäumen links und rechts der Straße sehen sie überall Erhängte. Doch Raffeiners Gruppe wird von den Sowjets eingeholt, gerät in sowjetische Gefangenschaft. Der lange Marsch Richtung Osten beginnt. Ständiger Begleiter ist der Hunger; Unkraut und Bratkartoffeln sowie die Mildtätigkeit einfacher Leute sichern das Überleben – zumindest für den Augenblick.

Schließlich beginnt ein mehrjähriger Leidensweg durch Kriegsgefangenenlager in Georgien und Aserbaidschan. Raffeiner ist einer von etwa drei Millionen deutschen Soldaten und Offizieren in sowjetischer Gefangenschaft. Etwa zwei Millionen kehren später in ihre Heimat zurück. Zum Vergleich: Die Wehrmacht nimmt ab 1941 zirka 5,7 Millionen sowjetische Soldaten gefangen. Über drei Millionen davon, also mehr als die Hälfte, überleben die deutsche Gefangenschaft nicht. Raffeiner beschreibt sein Überleben, seinen Alltag als sowjetischer Kriegsgefangener mit einfachen Worten. Er malt auch nicht Schwarz-Weiß-Bilder, verurteilt nicht, sondern beschreibt und sieht jeden Menschen als Individuum. »Der Hunger war in der russischen Gefangenschaft ein großes Problem. Nicht nur wir Kriegsgefangene hatten darunter zu leiden, sondern auch die russischen Strafgefangenen und das ganze übrige Volk«, schreibt Raffeiner. Neben der Brutalität und dem Sterben in den Gefangenenlagern zeigt er auch immer Menschlichkeit, Herz, Toleranz, Mitleid, das es überall gibt. Besonders stark ist seine Erinnerung an die Lehrerin Sonja und ihre Mutter, die Raffeiner wiederholt beistehen. Hunger, Kälte und Ungeziefer prägen den Alltag; die erste Postkarte aus der Heimat gibt Kraft zum Weiter leben. Schließlich die Heimkehr nach Südtirol 1949 – nach über vier Jahren Kriegsgefangenschaft. Raffeiner kehrt als »Österreicher« nach Südtirol zurück. Die nationale Zuordnung ist damals bei den Südtiroler Kriegsgefangenen unklar – mal gelten sie als Deutsche, mal als Österreicher, mal als Italiener. Das hat gute Gründe, denn die Staatsbürgerschaft der Südtiroler Optanten für Deutschland ist zunächst unklar, erst ab 1948 können sie wieder die italienische Staatsbürgerschaft erwerben.

Dabei hat Raffeiner noch Glück im Unglück. Die Heimat Südtirol bleibt ihm und seinen Landsleuten erhalten. Die Südtiroler und Südtirolerinnen werden bei Kriegsende nicht aus ihrer Heimat vertrieben wie Millionen anderer »Volksdeutscher« aus Mittel- und Osteuropa. Raffeiner nimmt in seinen Erinnerungen immer wieder darauf Bezug, seine besondere Teilnahme gilt seinen Mitgefangenen, die ihre Heimat für immer verloren haben: Schlesier, Ostpreußen, Sudetendeutsche, Siebenbürger … Das »große Glück der Südtiroler« (Erich Amonn) ist der Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten Hitler-Deutschlands 1940. Weil Italien bei Kriegsende dadurch selbst auf der Verliererseite steht und einen harten Friedensvertrag akzeptieren muss, kann es die Vertreibung der Südtiroler Optanten nicht verlangen. Im Gruber-Degasperi-Abkommen von Paris 1946 bleibt Südtirol zwar italienisches Staatsgebiet, aber die Südtiroler dürfen ihr Heimatrecht behalten. In gewissem Sinne kann dies als eine europäische Kompromisslösung zwischen den Österreichern und Italienern unter Patronanz der Alliierten gewertet werden.

In den Jahren des Kalten Krieges herrscht auch in Südtirol großteils Schweigen über die NS-Zeit. Auch Raffeiner will niemand zuhören, überall stößt er auf taube Ohren. Seine traumatischen Erfahrungen muss er für sich behalten, selbst damit fertig werden. Wie andernorts entwickelt sich eine Kultur des Nichtdarüber-Sprechens. Die tiefe Spaltung der Südtiroler Gesellschaft seit der Option und die vielen offenen Wunden zwischen Dableibern und Optanten für Deutschland werden über Jahrzehnte vom offiziellen Südtirol verdrängt. »Von oben« wird ein Schlussstrich verlangt, eine Einheitsdisziplin gegenüber »den Italienern« eingefordert. Die Erinnerung an Krieg und rechte Diktaturen ist im Grenzland Südtirol schwierig und »ethnisch versäult«. (Günther Pallaver). Italiener wie Südtiroler sehen die eigene Sprachgruppe oft nur als Opfer und nicht auch als Täter.

Die mehrheitliche Optik der Südtiroler auf die Zeit von 1939 bis 1945 und vor allem auch nach 1945 etwa im Rahmen von Veteranenvereinen ist eine andere als Raffeiners Sichtweise. Bei den Kriegsveteranen dominiert das Heldengedenken, Heldenfeiern und die Meinung, dass die Opfer nicht sinnlos waren. Bei Todesanzeigen bis in die 1990er Jahre dürfen Angaben zu SS-Einheit, SS-Rang und verliehenen Orden nicht fehlen. Raffeiners Erzählungen vom unheroischen Überlebenskampf als Kriegsgefangener in der Sowjetunion passen nicht in die Verklärungsmentalität der Nachkriegszeit. Heldengeschichten von der Ostfront sind eher noch gefragt und gesellschaftlich über Jahrzehnte toleriert. Ein besonders drastisches Beispiel für diesen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit ist Paul Hafner aus Mals in Südtirol. Der ehemalige WaffenSSOffizier lebt seit den 1950er Jahren in Spanien und träumt vom kommenden Vierten Reich. Der österreichische Filmemacher Günter Schwaiger hat Hafner in einem bedrückenden Dokumentarfilm verewigt – »Hafners Paradies«. Den Völkermord an den Juden leugnet Hafner, für den ehemaligen Schweinezüchter ist und bleibt Hitler der Retter Europas vor den Kommunisten.

Dank eines Nachdenk- und Nachfrageverbots, das in Südtirol über das große Tabu »Option« und Kriegszeit verhängt wurde, waren jene dramatischen Jahre aus dem kollektiven Gedächtnis der Südtiroler und Südtirolerinnen lange Zeit »verschwunden«. Erst die große »Optionsausstellung« und die Erinnerungen von Franz Thaler, Wehrdienstverweigerer und Häftling in Dachau, haben das Schweigen ab 1989 nachhaltig gebrochen. Die offene, einfache und zutiefst versöhnliche Art der Darstellung Thalers »entwaffnete« auch kritische Stimmen. Raffeiners Erinnerungen sind eine gute Ergänzung zu Franz Thalers Buch »Unvergessen«. Denn Geschichte kann man verdrängen, aber nicht vergessen. Der Zeitpunkt für die Veröffentlichung dieser Autobiografie ist auch günstig gewählt: 2009 jährt sich die »Option« zum 70ten Mal.

Leo Reisigl, ein Südtiroler Kriegsveteran und Bekannter von Raffeiner meint: »Nun ist das alles sechzig und mehr Jahre her. Ein Stück erlebtes Menschenschicksal wird hier aus dem Gedächtnis schlicht und einfach erzählt. Ähnliche Schicksale hat es im und nach dem Krieg tausendfach, ja millionenfach gegeben. Mögen die jungen Leute von heute erkennen, dass sie es besser haben und dass der Frieden ein hohes Gut ist, das es zu erhalten gilt.«

Kindheit in Laas

Am 13. Oktober 1927 bin ich, Johann Raffeiner, als zweites von sieben Kindern in Laas geboren und dort aufgewachsen. Mein Vater Josef Raffeiner (27. August 1897 bis 13. September 1981) aus Laas besaß eine kleine Landwirtschaft. Meine Mutter Aloisia Raffeiner, geborene Wieser (23. Mai 1901 bis 13. November 1951), stammte aus Lichtenberg.

Ein paar Felder und zwei Kühe im Stall reichten nicht aus, um sieben hungrige Mäuler zu stopfen. Daher musste mein Vater neben der Feld- und Stallarbeit noch zusätzlich als Waldarbeiter ein wenig dazuverdienen.

Wir bewohnten ein altes Bauernhaus, das nach heutigen Begriffen höchst renovierungsbedürftig gewesen wäre. Es gab kein fließendes Wasser im Haus, was damals die Regel war. Das Wasser musste vom Dorfbrunnen in großen Kannen hergeholt werden. Besonders anstrengend waren für die Frauen die Waschtage. »Geschwänzt« (gespült) wurde die Wäsche an der Etsch, was nicht ungefährlich war. Weil das Waschen zu den schwersten Arbeiten zählte, mussten alle Mädchen und auch die Buben Schürzen tragen. Eine Schürze ließ sich leichter waschen als eine Lodenhose oder ein Kleid.

Wir wohnten in unmittelbarer Nähe der Kirche; wir drei Buben durften aber nicht ministrieren, weil wir zu schäbig gekleidet waren. Hatte unsere Hose ein Loch, wurde immer wieder ein Fleck darübergenäht.

In unserem Haus gab es eine eher kleine Stube, eine Küche, die auch als Selchküche genutzt wurde, und zwei Schlafzimmer. Ein Schlafzimmer war für meine Eltern und eines für uns Kinder, wobei darin nur drei Betten Platz hatten. Wir Buben – ich war der älteste der drei – mussten miteinander in einem Bett schlafen, weshalb ich immer unausgeschlafen aufwachte und dafür in der Schule mit dem Schlaf zu kämpfen hatte. Die vier Schwestern schliefen je zu zweit in einem Bett.

Wenn alle sieben Kinder in der Stube versammelt waren, zum Beispiel bei Regenwetter, ging es manchmal lebhaft zu. Bei schönem Wetter hieß es immer: »Geht hinaus und tobt euch draußen aus!«

Den Stall, in dem unsere zwei Kühe standen, mussten wir mit zwei Nachbarn teilen, was manchmal zu Zwistigkeiten zwischen uns und ihnen führte. Der Stadel war auch dreigeteilt; wenn einer mehr Heu oder mehr Korngarben ernten konnte als der andere, rief dies oft Neid hervor. Der Platzmangel im Haus, die Streitigkeiten zwischen uns und den Nachbarn und das knappe Durchkommen beunruhigten mich, sodass ich nichts dagegen hatte, wenn mich die Mutter schon als Knabe im Sommer zu wohlhabenderen Bauern zum Arbeiten schickte, um einen Esser weniger bei Tisch zu haben. Das wenige Geld, das ich verdiente, war für meine Mutter ein kleiner Zuschuss zum Wirtschaftsgeld.

Hans Raffeiner (rechts) mit Schwester Berta Raffeiner (links) und der Großmutter mütterlicherseits Aloisia Wieser, geborene Riedl

Was ich zu Hause als besonders störend empfand, war der Umstand, dass mein Vater manchmal über den Durst trank und beschwipst war, was meine Mutter gar nicht ausstehen konnte und in der Familienharmonie Dissonanzen hervorrief.

Den Bauern, bei denen ich arbeiten musste, könnte ich nichts Übles nachsagen. Ich bekam genug zu essen, und arbeiten oder hüten hätte ich zu Hause auch müssen. Zum Schulbeginn im Herbst musste ich wieder nach Hause zurückkehren.

Von Oktober bis zum nächsten Schulschluss Ende Juni hieß es wieder fasten und schmal abbeißen, denn damals herrschte in den meisten kinderreichen Familien die blanke Not. In Schlanders wohnte unsere Tante Berta. Von ihr erfuhr meine Mutter, dass dort in den Kasernen, wo italienisches Militär stationiert war, nach dem Mittagessen Essensreste an ärmere Kinder verteilt wurden.

Eines Tages schickte meine Mutter meinen Bruder Josef und mich mit zwei Eimern zu Fuß nach Schlanders in der Hoffnung, dass auch wir ein paar Speisereste ergattern könnten. Als wir nach langem Marsch in Schlanders ankamen, war es für uns nicht schwer, die Kasernen zu finden, denn sie standen oberhalb des Dorfes und waren groß genug, um sie nicht zu übersehen.

Vor einer Kaserne mit der großen Aufschrift »Caserma Druso« wartete schon eine lange Schlange von Kindern mit leeren Gefäßen. Auch wir stellten uns hinten an und warteten, bis wir an die Reihe kamen. Endlich war es dann so weit. Jeder von uns beiden bekam den Behälter voll Risotto, der so herrlich duftete, dass wir ihn am liebsten schnell aufgegessen hätten, aber wir mussten ihn nach Hause bringen und mit den Geschwistern teilen.

Die Mutter schickte uns noch ein paar Mal nach Schlanders zu den Kasernen um Speisereste. Einmal gab es Pasta asciutta, ein anderes Mal einen guten Minestrone (Gemüsesuppe) mit viel Gemüse.

Es war zwar mühevoll, zu diesen Leckerbissen zu gelangen, aber es lohnte sich. Allerdings schäme ich mich bis heute, darüber zu sprechen, weil ich mir damals wie ein Bettler vorkam, obwohl viele bedürftige Kinder die Gelegenheit dazu nutzten.

Es gibt noch eine Begebenheit, über die ich zwar auch nicht gerne spreche, die aber aussagt, wie karg das Leben damals in den Dreißigerjahren war.

Mein Vater war ein Kettenraucher. Wenn er nicht gerade bei der Arbeit war, wuzelte er eine Zigarette nach der anderen, und meiner Mutter gelang es nicht, ihm das Rauchen abzugewöhnen. Sie hätte das Tabakgeld notwendig zum Wirtschaften gebraucht. Daher beauftragte sie uns Buben, die Zigarettenstummel auf der Straße einzusammeln und nach Hause zu bringen, wo sie dann zerrupft wurden und im Tabakbeutel landeten. So konnte sich die Mutter ab und zu, anstatt Tabak zu kaufen, ein paar Lire oder Centesimi einsparen.

Die Geldnot von damals können sich heute nicht einmal die ärmsten Leute vorstellen, weil sie finanziell unterstützt werden. Aber die jetzige kritische Wirtschaftslage lässt befürchten, dass die knappen Zeiten wiederkehren könnten.

Was die Schule betrifft, möchte ich nur erwähnen, dass ich sechs Jahre lang die italienische Volksschule besuchte. Nebenbei schickte die Mutter mich und meine schon schulpflichtigen Geschwister heimlich zu einer Katakombenlehrerin namens Nanni Tinzl, wo wir in der deutschen Sütterlinschrift lesen und schreiben lernten. Nachdem meine Familie sich bei der Option im Jahre 1939 fürs Auswandern ins Deutsche Reich entschieden hatte, besuchte ich noch zwei Jahre die deutsche Schule in Laas, wo wegen Lehrermangels nur Hilfslehrer unterrichteten. Wir wanderten jedoch wie viele andere Optanten nicht mehr ins Deutsche Reich ab, weil die Auswanderung aus verschiedenen Gründen ins Stocken und schließlich zum Stillstand kam.

Eine Begebenheit, die ich als Kind erleben musste, werde ich nie vergessen. Im Jahre 1938 kam es in Laas um die Osterzeit zwischen den Faschisten und der einheimischen faschistenfeindlichen Bevölkerung zu einem Tumult. Die in Laas angesiedelten Italiener fühlten sich bedroht und holten sich von auswärts eine Brigade Camice nere (Schwarzhemden) mit dem Auftrag, die italienerfeindlichen Elemente zu verprügeln. Die Schwarzhemden wurden vom faschistischen Gemeindediener namens Bastonelli genauestens informiert, dass um zehn Uhr nachts einige Burschen, alle faschistenfeindlich eingestellt, die auswärts eine Arbeit gefunden hatten, mit dem letzten Zug in Laas ankommen würden.

Sobald die Burschen ausgestiegen waren, um nach Hause zu gehen, wurden sie plötzlich mit Gummiknüppeln von hinten angegriffen und geprügelt. Die Burschen setzten sich zur Wehr, rissen die Zaunlatten vom Zaun am Wegrand, um zurückzuschlagen, sodass eine arge Schlägerei entstand.

Durch den Lärm wurden die Anrainer aufmerksam und konnten vom Fenster oder vom Balkon aus das ganze wilde Geschehen beobachten. Auch vor unserem Haus spielte sich eine dramatische Szene ab. Unser Nachbar wurde von einigen Faschisten geprügelt, sodass er laut um Hilfe schrie: »Sepp, hilf mir!« Damit war mein Vater gemeint. Dieser holte ein Beil und wollte ihm zu Hilfe kommen, aber meine Mutter verriegelte die Haustür, und wir Kinder versuchten auch weinend und schreiend unseren Vater davon abzuhalten, um ein Blutbad zu verhindern. Bald darauf heulte die Sirene, sodass von allen Seiten Männer mit Knüppeln, Mistgabeln oder Dreschflegeln herbeieilten, um den Burschen zu helfen. Dabei sollen einige Schwarzhemden spitalreif geschlagen worden sein.

Sobald die Schwarzhemden bemerkten, dass sie in der Minderheit waren, zogen sie sich in ihren Militärbus, mit dem sie gekommen waren, zurück und verließen fluchtartig unser Dorf.