Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone - Kjersti Annesdatter Skomsvold - E-Book

Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone E-Book

Kjersti Annesdatter Skomsvold

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Beschreibung

Was passiert, wenn eine Schriftstellerin Mutter wird? Eine ganz besondere Liebesgeschichte: Eine Mutter erzählt ihrer neugeborenen Tochter, wie es zu ihrer Geburt kam, wie sie es überhaupt wagte, ihr Leben mit einem Mann (dem Vater des Kindes) zu teilen, ein Kind zu bekommen und damit das bisher Wichtigste im Leben, das Schreiben, aufs Spiel zu setzen. Doch Schreiben und Leben werden zu ein und demselben – während sie ihr Kind wiegt, notiert die Schriftstellerin Gedanken, am Frühstückstisch entsteht Literatur. In dieser unverstellten Erzählung wird von der Erfahrung berichtet, Mutter und Teil einer Familie zu werden und trotzdem an sich selbst festzuhalten. "Die besten Romane sind of die, die man selbst gerne geschrieben hätte, wozu man aber nicht in der Lage ist. Genauo so einen Roman hat Kjersti A. Skomsvold geschrieben, sie ist eine unserer besten Schriftstellerinnen." Johan Harstad "Ein Porträt der Künstlerin als Mutter voller subtilem Humor. Ein intelligenter Roman über die Liebe und den Willen, trotz allem mit anderen Menschen zusammenzuleben." NRK (Norwegischer Rundfunk)

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Seitenzahl: 146

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Kjersti Annesdatter Skomsvold

Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone

Roman

Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein

Hoffmann und Campe

Es war ein neues Jahr, ein neuer Anfang, und draußen fiel der erste Regen des Jahres. Ich spürte es wie einen engen Gürtel um den Leib, etwas wurde strammer, noch ein bisschen strammer und lockerte sich wieder, während der Nacht, des Morgens, des Tages. Der Regen spülte den Schnee weg, und in der nächsten Nacht wurde ich von einem Angriff aus dem Hinterhalt geweckt, einem Stoß in den Rücken, jemand stieß mich in den Rücken, während ich schlief, so brutal, dass ich umgerissen wurde, obwohl ich schon lag.

Morgens verließ Bo die Wohnung und kam mit einem Brot für sechzig Kronen vom Bäcker zurück. Ich wusste nicht, dass es so teure Brote gibt, sagte er, aber wenn wir je ein so teures Brot verdient haben, dann jetzt.

Ich hielt durch, immer weiter, nahm einen Stoß nach dem anderen entgegen, der Minutenzeiger tickte, der Stundenzeiger tickte, und da war der Mond wieder, aber ich wollte noch nicht aufstehen. Ich, die immer fürchtete, zu spät dran zu sein, sorgte mich jetzt vor allem, zu früh dran zu sein, sie hatten mir gesagt, ich dürfe nicht zu früh kommen. Die Laute im Inneren meines Körpers, wie von einem gequälten Tier, entwichen meinen Lippen, und die Schmerzen nahmen mich immer mehr gefangen.

Ich klammerte mich an das Licht des Mondes, ich konnte mich gerade so auf den Beinen halten, einen Fuß vor den anderen setzen, und am Ende wurde mir klar, dass ich, wenn ich jetzt nicht führe, gar nicht mehr fahren könnte.

Ich saß im Taxi und übergab mich, im Wartezimmer und übergab mich, doch in Wahrheit befand ich mich im Wald. Meine Gedanken standen unter einem Baum und sahen in die Krone hinauf. Der Schmerz zerrte an mir, ich existierte nicht ohne den Schmerz, ich hatte nicht gewusst, dass ein so starker Schmerz auf dieser Erde existierte, im Himmel, und mich einnehmen konnte, und in diesem Schmerz wohnte ich. Aber es gelang mir nicht, in ihm zu stehen, zu atmen, der Schmerz bestimmte über mich, ich bestimmte nichts.

Im Kreißsaal sagte die Hebamme erbarmungslos, und es war das Einzige, was sie sagte: Schreien hilft nichts. Ich verlor allen Mut, denn was sollte mir dann helfen? Ich verkrafte es so schwer, wenn die Leute wütend und erbarmungslos sind, und außerdem schrie ich gar nicht selbst, der Schrei wurde mir aus dem Hals gerissen. Ich wusste, ich würde das nicht überstehen, es ging einfach nicht. Doch dann tauchte der Wald wieder auf; während sich eine neue Schmerzwelle durch meinen Körper bohrte, führten mich meine Gedanken in den Wald, ich stand unter dem Baum, alles war hellgrün und rund und vorbei, müsste es nicht bald vorbei sein?

Die neue Hebamme war mild und gut, sie fragte mich, ob es in Ordnung sei, dass sie dieses Ding in mich hineinsteckten, mich entleerten, und ich sagte, macht, was ihr wollt, Hauptsache, es ist bald vorbei. Sie sagte, das Kind habe Haare, fühl mal hier, das Kind hat Haare, sie forderte mich auf, an etwas teilzuhaben, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Ich sagte nein, ich traue mich nicht, aber da nahm sie meine Hand. Ich fühlte den Kopf des Kindes, fühlte sein Haar, und in dem Moment verstand ich, dass ein lebendiges Kind, ein echter Mensch, aus mir herauskam.

Sie zog am einen Ende und ich am anderen Ende eines Taus, eines selbstgemachten Taus, sie hatte ein Laken genommen und an jedem Ende einen Knoten gebunden, und jetzt zogen wir mit aller Kraft an unserem jeweiligen Ende des selbstgemachten Taus. Das weiße Tau war meine Rettung, die weißgekleidete Hebamme war meine Rettung, und meine Arme zogen, während sich die Beine auseinanderdrückten, und meine Gebärmutter und die Hebamme und ich pressten und zerrten und schoben und zogen das Kind und das Leben und den Himmel aus meinem Körper. Dann war der Schmerz im Nu vorbei, wie ein Ballon, der aus einer Kinderhand verschwindet und hinauf in die Wolken fliegt.

Du bist eine Woche alt. Vor dem Fenster sind die Strahlen der Morgensonne noch blass und dünn, und ich nehme deinen Geruch wahr; wenn ich den Kopf hinabbeuge, kann ich dein Haar küssen. Du schläfst in einer Trage, das Gesicht an meiner Brust, während ich im Stehen schreibe. Ich schreibe Wörter auf Notizzettel, die ich vor mir an die Schlafzimmerwand hänge, und ich schreibe auf der Maschine, die ich auf ein Regalbrett gestellt habe, während ich mit dir am Bauch dastehe und mich von einer Seite zur anderen wiege. Tagsüber muss ich dich tragen, nachts bin ich deine Matratze, ich habe versucht, dich zu überlisten, dich in dein eigenes Bett zu legen, mit einer Wärmflasche und Kleidern von mir, aber du überführst mich jedes Mal, und dann weinst du.

Nach der Geburt; ich wünschte, Bo wäre da, wünschte, er hätte nicht nach Hause fahren müssen. Um mich herum in dem weißen Zimmer ruhte die Nacht, und neben meinem Bett stand ein durchsichtiger Plastikkasten. Ich öffnete die Augen, drehte den Kopf, der Kasten war noch da. Es war nicht zu glauben, dass mein eigenes Kind in einem Plastikkasten neben dem Bett lag.

Ich schlief kein bisschen, sobald ich die Lider schloss, tobten vor meinen Augen die Bilder, und weil sich das Gehirn aus Schlafmangel abschaltete, waren es die absurdesten Bilder, in den grellsten Farben. Ich wagte nicht, das Kind zu mir ins Bett zu holen, wenn ich diese Bilder sah, und was wäre, wenn ich trotzdem einschliefe. Ich schaffe es nicht mal, mit meinen eigenen Körperteilen zu schlafen, wenn ich aufwache, habe ich kein Gefühl mehr in jenen Körperteilen, die unter mir liegen.

Es wurde Morgen, weder das Kind noch ich hatten einen Schutzpanzer gegen die Welt, und am allermeisten fürchtete ich, dass jemand ins Zimmer käme, als könnten die Menschen, die die Tür öffneten, sehen, wie zerrissen und zerschnitten ich innen und außen war. Ich hatte von der ersten Vormilch geträumt, aber jetzt traute ich mich kaum, nach unten zu sehen, als ob ich einen Berg bestiege und unter Schwindel litte, als ob ich jeden Moment hinabstürzen könnte, ich wagte nicht nachzusehen, ob Milch kam, denn was, wenn keine kam; mehr noch, als von einem Berg zu stürzen, fürchtete ich den Gedanken, mein Kind nicht ernähren zu können. Der kleine Körper war so warm, aber ich konnte das Fenster des aufgeheizten Zimmers nicht öffnen, denn draußen war der Winter, zusätzlich zu all den toten Menschen. Ich spürte die Angst, allein zurückzubleiben, ich spürte sie, obwohl ich eine Familie bekommen hatte, ich hatte trotzdem Angst, am Ende allein zu sein.

Du quengelst, während du dort vor meinem Bauch hängst, fühlst dich anscheinend nicht ganz wohl. Du bist schon erkältet. Nicht mal eine Woche konnten wir dich beschützen. Ich mache mir Sorgen, du könntest aufhören zu atmen, aber das wirst du schon nicht, Kinder hören nicht einfach auf zu atmen, sage ich mir, obwohl ich inzwischen weiß, dass das nicht stimmt. Vielleicht sollte ich nicht schreiben, solange du noch so klein bist, man wird ganz fern vom Schreiben, vielleicht sollte ich nur mit dir reden, dich anlächeln, auf dich aufpassen?

Ich bin nicht gut darin, auf Sachen aufzupassen, all meine schönen Sachen habe ich kaputtgemacht. Mit meinem blauen Mantel bin ich an eine frisch gestrichene Wand gekommen, die alte Blumenvase, die Edel mir schenkte, ist in tausend Scherben zerbrochen, alles, was ich habe, geht vor meinen Augen zu Bruch. Und ich selbst bin ein Milchglas, das zu Boden fällt; ein Kind auszutragen, bedeutet zu verfallen, das Skelett rasselt auseinander, das Becken löst sich, der Körper zerreißt, es bedeutet, daran erinnert zu werden, dass ich eines Tages zerkrümle und zu Erde zerfalle, es bedeutet, diesen Vorgang zu beschleunigen. Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.

Die zerstörten Frauen wanderten leise auf den Fluren des Krankenhauses an mir vorbei, auf dem Weg ins Schwesternzimmer, um sich ein Schmerzmittel abzuholen, oder in die Kantine, um etwas zu essen. Sie gingen mit winzigen Schritten, setzten vorsichtig ihre Füße auf, das Gehen tat so weh, sie trugen riesige Altherrenwindeln und hatten große, leere Bäuche, es sah aus, als wüssten die Bäuche noch nicht, dass das Kind weg war, sich nicht mehr dort drinnen befand, jetzt lag es in dieser durchsichtigen Plastikkiste auf Rollen, einer Art Gehwagen, auf den sich die Mütter stützten, wenn sie sich über die Flure bewegten. Ihre Brüste hatten offene, blutende Wunden, und die Frauen beteten still, dass bald Milch kommen möge, bitte, lass die Milch kommen.

Wieder zu Hause lag ich wach und weinte über das Trauma, das ich davongetragen hatte, darf man etwas Selbstgewähltes als traumatisches Ereignis bezeichnen? Wenn es kein Trauma war, dann doch zumindest eine Hoffnungs- und Hilflosigkeit. So lag ich allerdings nicht lange, bevor jemand anders auch zu weinen anfing, jemand, der mich brauchte.

Ich legte meine Hand wie eine schützende Schale um den zarten Kopf, das Kind war ein friedlicher Apostel. Mein Finger war genauso lang wie der Unterarm meines Kindes, und seine Verletzlichkeit überschattete meine. Sein Blick, als hätte es schon alles gesehen, als wüsste es alles, als hätte es die Ewigkeit kennengelernt. Und es hatte Flusen in seinen Lebenslinien, die Lebenslinien in seinen kleinen Händen waren so tief, dass sich Flusen darin sammelten.

Die Krankheit schlich sich heran, der Gedanke, ich könnte wieder krank werden, lauert immer darauf, mich zu überfallen, wenn mein Körper mürbe ist, und nach der Geburt war ich mürbe, nach schlaflosen Tagen und Nächten, was ist, wenn die Krankheit zurückkehrt? Dann würden wir das nicht schaffen. Ich sagte Bo, wir müssten zu meinem Vater ziehen, wir würden das nicht allein schaffen. Wir werden nicht umziehen, sagte Bo. Ich fütterte das Kind, während Bo mich fütterte, und dann sagte er, wir könnten heute Nacht alle drei auf dem Sofa liegen, dann wäre der Druck zu schlafen nicht so groß.

Ich träumte, ich würde sterben, ich träumte, meine Muttermale würden bluten und abfallen, von mir herunterrieseln wie welke Blätter von einem Baum, und da wachte ich auf und musste im Spiegel nachsehen. Diese Zeit war ein Reigen von Glück und Trauer, Trauer und Furcht, und tief im Inneren der Furcht wohnte die Angst davor, verrückt zu werden.

Um Himmels willen, ist es wirklich so schlimm um uns bestellt?, denkst du jetzt vielleicht. Nein, ist es nicht, ich habe von deinem Bruder erzählt, als ich vom Kind erzählte, ging es um deinen Bruder, du hast nämlich einen älteren Bruder. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber da war einer, der dich anspuckte, als du erst ein paar Stunden alt warst, das war er. Im Krankenhaus spuckte er, aber nachdem wir zu Hause waren, hat er dich oft geküsst und fast nie gehauen.

Ich habe zwei Kinder im Laufe von anderthalb Jahren bekommen, ich bin nicht mehr träge, das war ich vierunddreißig Jahre lang, aber in den letzten drei Jahren ging alles rasend schnell. Die Liebe ging schnell, eine dreiköpfige Familie und dann eine vierköpfige zu werden, noch schneller, nur das Schreiben geht unglaublich langsam.

Der Frühling war gekommen, und dein Vater und ich hatten unseren ersten gemeinsamen beinharten Winter hinter uns gebracht. Wir saßen auf einer Bank in Peggy Guggenheims Garten, das venezianische Licht drang in unsere Augen, durch die Gedanken, bis unter die Haut, und man könnte sagen, dass wir dort auf der Bank auftauten und verschmolzen. Die verborgenen Wörter in meinem Mund lockerten sich, kullerten auf die Zunge, die unmöglichen Wörter wurden möglich. Bo sagte, er hätte gerade an dasselbe gedacht. Ein Kind.

Ich betrachtete die Kunst, die Peggy gesammelt hatte, und dachte, die Künstler hätten sie vielleicht ausgenutzt, sie schien eine verlorene Seele gewesen zu sein, ihre Gestik und Mimik wirkten seltsam, ihre Zunge schnellte aus dem Mund und wieder zurück, aber vermutlich musste sie einem deshalb noch lange nicht leidtun? Sie nutzte die Künstler ja auch aus, zahlte ihnen kaum etwas für ihre Werke, und sie konnten es sich nicht leisten, nein zu sagen. Sie ging mit den Künstlern ins Bett, oder diese mit ihr, und auch mit Autoren. Vier Tage und Nächte liebte sie den edelsten von allen, und Samuel Beckett konnte doch wohl nur mit einem ganz besonderen Menschen vier Tage und Nächte verbracht haben? Aber ich mache mir viel zu viele Gedanken über solche Dinge, vielleicht muss man das gar nicht so ernstnehmen, nicht solche Angst davor haben, andere Menschen in seine Nähe zu lassen.

Wir reisten so viel in jenem Frühjahr, fast so als hätten wir alle möglichen Orte besuchen müssen, um ein Kind zu machen, viele verschiedene Städte ausprobieren, um zu sehen, welche sich eignete, um das Kind zu machen, das wir uns wünschten, oder vielleicht suchten wir auch außerhalb unserer Selbst nach einem Saatkorn dieses Kindes, als würden wir das Kind schon finden, wenn wir nur an den richtigen Ort kamen. Und dann kamen wir nach New York, New York.

Ich kann nicht von Reisen erzählen, es sind zu viele Eindrücke, ein überbordendes Chaos, also erzähle ich dir lieber, wie wir aus New York abreisten, abreisen wollten, eigentlich hätten wir schon in dem Taxi sitzen sollen, das draußen wartete, um uns zum Flughafen zu bringen, als ich mir einbildete, jetzt, genau jetzt, würde das Kind empfangen werden! Bo legte das Laken wieder aufs Bett, das wir kurz zuvor in den Wäschekorb der gemieteten Wohnung geworfen hatten, und als wir schließlich im Taxi saßen, spürte ich, wie das Leben in mich hineinströmte, immer weiter in mich hineinströmte. Mir wurde klar, dass ich jetzt Nahrung brauchte, also kaufte ich am Flughafen ein Baguette, so ein großes, ekelhaftes, pappiges Flughafenbaguette, und ich dachte darüber nach, wie traurig es war, dass die erste Nahrung, die ich an das weitergab, was einmal unser Kind werden sollte, ein solches Baguette war.

Ich muss etwas frühstücken, ich nehme dich aus der Trage, damit du später keine Brotkrümel und Marmelade im Haar hast. Du bist inzwischen drei Wochen alt, und die Blätter sind immer noch nicht von den Bäumen gefallen, in diesem Herbst klammern sie sich an die Äste. Ich lege dich auf den Küchentisch, dein Körper kräuselt sich zusammen, umarmt sich selbst, dein Gesicht durchläuft ein ganzes Repertoire an Grimassen, bevor du richtig wach bist, bevor du dich umsiehst, mich ansiehst. Du streckst deine Froschbeine aus, den langen Körper, du bist so lang, als würdest du einem anderen Volk angehören, weder Bo, dein Bruder noch ich sind besonders groß. Du liegst da und hast die Arme über den Kopf gestreckt, wie auf einer Luftmatratze in der Sonne, während ich eine Scheibe Brot esse. Ich habe dich noch nicht gebadet, nur mit einem Lappen gewaschen, denn so gehörst du nach wie vor zu meinem Inneren.

Bei unseren Reisen stieß ich auf eine Künstlerin, Agnes Martin, die mich ganz euphorisch machte, voller Lebenskraft, ihre einfachen Striche, deren Zwischenräume mir Platz zum Denken ließen. Ich dachte darüber nach, ein Kind zu bekommen; wie sollte ich mit einem Kind schreiben können? Wir standen in einem kreisförmigen Saal in San Francisco, der mit ihren Werken gefüllt war, und Bo erzählte mir, wie er als Kind im Chor gesungen hatte, er erzählte vom Dirigenten, der Polio gehabt hatte und innerhalb eines kleinen Vierecks von einem Quadratmeter hin- und herhinkte. Sein Hinken war wahrscheinlich nie sichtbarer als in diesem Moment, und gleichzeitig nie unsichtbarer, weil der Dirigent so frei war, er war ganz frei innerhalb eines winzigen Vierecks, genau wie Agnes Martin innerhalb ihrer gezeichneten Vierecke.

Am allermeisten berührten mich ihre Worte aus einem Dokumentarfilm über sie. Ich habe so viele Leben gelebt, so viele Männer gehabt, so viele Kinder bekommen, und in diesem Leben habe ich Gott darum gebeten, all das los zu sein, sagt sie in dem Film. Der Satz traf mich wie ein Schuss in die Stirn. Sie hatte darum gebeten, in diesem Leben allein sein zu dürfen, und so wie ich mein Leben auf Sätze stützte, hatte sie ihr Leben auf Striche und Rauten gestützt. Ich war sie, ich wusste, wie es ist, wenn ich mein Leben auf etwas stütze, das ich selbst erschaffe, ich weiß nur zu gut, wie es ist, ein ewiges Problem zu haben, an dem ich arbeite, weil die Alternative eine unbezwingbare Unruhe wäre. Ich muss das Problem selbst erschaffen, ein Problem, für das ich eine Lösung finden muss, obwohl das Wichtigste an dem Problem ist, dass es keine Lösung gibt. Ich habe auch das Gegenteil ausprobiert und eine große Befriedigung in dem Wissen erfahren, dass ich eine Antwort finden würde, wenn ich es nur lange genug versuchte, ich war erfolgreich, aber es war trotzdem nicht genug.

Agnes Martin verließ New York, wo sie bedeutende Künstler kannte, und war ein Jahr über wie vom Erdboden verschluckt, keiner wusste, wo sie sich aufhielt, ehe sie im Niemandsland wieder auftauchte. In der Wüste von New Mexico baute sie sich ein Haus und schuf nach siebenjährigem Schweigen wieder Kunst. Sie las keine Zeitungen, ernährte sich nur von Bananen und malte mit dem Rücken zur Welt. So viele Männer, so viele Kinder, bitte verschon mich von allen weiteren, hatte sie gesagt. Ich wollte auch mit dem Rücken zur Welt schreiben, ich hatte panische Angst davor, etwas anderes zu tun, ich hätte zu Gott beten können, verschont zu bleiben. Andererseits habe ich nur dieses eine Leben.