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Dieses Buch erzählt von Erfahrungen, die in unzählig vielen Menschen Hoffnung aufbrechen liessen: in Kranken, Sterbenden und spirituell Suchenden mitten im Leben. Es nimmt Fragen aus 30-jähriger Arbeit auf. Es zeichnet den Menschen in seinem geistigen Ursprung, seiner Entwicklung, seiner Angst und berichtet über befreiende Wege: die therapeutisch-spirituelle Begleitung, den Glauben aus Erfahrung, über Liebe und Vergebung. Auch Jesus kann, als Mystiker verstanden, zum Weg werden. Die Wege führen zur Quelle. Von dort brechen Urvertrauen und Hoffnung selbst inmitten von Krisen auf. Sinnhaftigkeit wird zur Erfahrung. Was Menschen seelisch-geistig heilt, hat mit Liebe und Spiritualität zu tun.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2025
Monika Renz
Meine Hoffnung lass’ ich mir nicht nehmen
Wege der Erlösung und der Spiritualität heute
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025 Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg Alle Rechte Vorbehaltenwww.herder.de
Wenn nicht anders gekennzeichnet, sind die Bibelzitate entnommender Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Verlag Herder Umschlagmotiv: »Sonne für den Winter«, Monika Renz, 1983
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print 978-3-451-60151-4 ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83670-1
Einleitung
Blitzlichter aus meinem Leben
Leitgebende Themengebiete und Personen
1.Im Letzten ist das Ganze – Grundannahmen und äußerste Befindlichkeiten
1.1Im Ursprung und im Ende eine andere Wirklichkeit
1.2Was Sterbende erahnen – Beispiele
1.3Die andere Wirklichkeit bleibt im Hintergrund ständig da
1.4Der Angst auf der Spur – Kreaturgefühl
1.5Angst verstehen
1.6Urvertrauen verstehen – Was vor und außerhalb aller Angst ist
1.7Frau Holle – eine Reise durch Urangst und Urvertrauen hindurch
2.Subjektwerdung als Herauskristallisierung aus dem Ganzen
2.1Was bedeutet es, ein Subjekt zu sein?
2.2Subjekthafte Wahrnehmungsweise und ihre Vorstufen (Ich-Bezogenheit)
2.3Subjektwerdung beinhaltet Anfang und Abschied
2.4Subjektwerdung beinhaltet Selektion – eine Eingrenzung und Aufspaltung des Ganzen
2.5Dynamische Perspektive: Unter welchen Vorzeichen geschieht Subjektwerdung?
2.6Subjektwerdung als fortschreitender Prozess betrachtet: ein Übergang
2.7Bilder zur Ich- und Menschwerdung (Träume, Märchen, Mythen)
3.Prägung und das menschliche Unbewusste
3.1Zum Wesen und zur Entstehung von Prägung
3.2Thematische Sicht von Prägung: Seelenschichten und ihre Bilder
3.3Ein Modell der Seelenschichten
3.4Dynamische Sicht von Prägung: Anbahnungen
3.5Fehlgeleitete Energien schon als Prägung
3.6In Beziehung sein, im Fluss sein versus Verhärten – Erfahrungen aus einem Schleudertrauma
3.7Der Punkt der Ent-Scheidung
3.8Sünde und Prägung ist etwas anderes als Schuld
3.9Fremdbestimmung und das Böse als Summe abgespaltener Energien
4.Erlösung – was berechtigt heute zur Hoffnung?
4.1Hebräische Ursprünge des Begriffs Erlösung
4.2Erlösung im interreligiösen Dialog
4.3Was Hoffnung gibt
4.4Hoffnung – gelebte Entscheidung zum Ja und zum Jetzt und zur Zukunft
4.5Hoffnung als Frucht aus der Tiefe
5.Wege der Erlösung
5.1Der therapeutisch-spirituell begleitete Weg
5.2Glauben aus Erfahrung – Glaubensgemeinschaften
5.3Der Weg über die außerordentliche Liebe
5.4Der Weg über Versöhnung und Vergebung
6.Jesus als Erlöser
6.1Jesus als Weg
6.2Mystisch angeschlossen und in starker Persönlichkeit
6.3Den Wirkmechanismus von Erlösung über Jesus verstehen
6.4Erlösung über Passion und Kreuzestod
6.5Spiritualität als Nachfolge Jesu
6.6Als Mystiker wird Jesus zum zeitlosen Christus – Jesuserfahrungen heute
7.Sinnfrage – Zielzustand ist mehr als Urzustand
7.1Die Frage nach Hoffnung ist die Frage nach Sinn
7.2Neue Identität und Würde
7.3Neue Beziehungsfähigkeit und Gemeinschaft
7.4Dialogik und Anerkennung von Differenz
7.5Ijob – Neue Nähe zum eigenen Urgrund, zum Ganzen, zu Gott
7.6Gottesbilder im Wandel
7.7Sinnfrage: Gibt es eine Entwicklung im Ganzen?
Ergänzungen
Anhang A
Anhang BWie weiterleben – Spirituelle Leitgedanken zur Rückkehr in den Alltag
Anhang CAnmerkungen und Hintergrundinformationen
Literatur
Über die Autorin
Über das Buch
Hoffnung zu finden in der heutigen Zeit ist herausfordernd. Einfach so ereignet sie sich nicht. Doch genau jene Hoffnungen, die durch scheinbar Unmögliches hindurch entstanden sind, tragen auch in unserer Zeit und geben Zukunft. Sie sind wie Perlen. Eine Perle entsteht durch eine Verwundung: Ein Fremdkörper, etwa ein Sandkorn, dringt in eine Muschel ein und verletzt sie. Der Fremdkörper wird dann von der Muschel über lange Zeit mit kostbarem Perlmutt ummantelt.
Hoffnung ist mehr als etwas, das sich der Mensch wünscht wie etwa Gesundheit oder langes Leben. Nicht ein Gut, das wir haben können. Hoffnung ist unbegründet, nicht an gute Gegebenheiten gebunden. Von der schwangeren Frau sagt der Volksmund, sie sei in guter Hoffnung. Nicht die Realitäten berechtigen sie dazu. Im Gegenteil, ihre Hoffnung und das Kind verändern die Welt. Das gilt auch sonst im Leben: Hoffnung entsteht nicht, weil die Weltsituation zukunftsversprechend wäre, sondern durch Leiden hindurch. Und sie ist es, die Zukunft schafft (vgl. Kap. 4.4). Um Hoffnung als Frucht aus tiefen seelischen Prozessen geht es in diesem Buch.
Dieses Buch ist selbst aus solchen Prozessen geworden. Immer wieder kämpfte ich um Hoffnung – mit andern, für andere und für mich selbst. Immer wieder gingen Wege durch Zeiten der Hoffnungslosigkeit hindurch – und dies wird zukünftig ähnlich sein. Und doch scheint es im Letzten eine Quelle der Hoffnung zu geben, jenes Alpha und Omega, von dem alles Leben ausgeht und neu wird. Gott, die Ganzheit, das eine Licht, das Ewige und Ganze sind nur Namen dafür. Niemand kennt die Quelle so genau und doch können wir uns ihr immer wieder annähern. Berührt von der Quelle, keimt auch in uns, einem Naturgesetz ähnlich, neue Lebendigkeit und Hoffnung auf.
Über ein Land, das man noch nie besucht hat, schreibt man keinen Reisebericht. Dennoch geschieht genau dies im vorliegenden Buch. Ich werde von einem Land berichten, das die meisten von uns nicht kennen. Namentlich von einem Grenzgelände, wo Leben beginnt, dereinst verlöscht und wo Lebendigkeit immer neu aufersteht. Es geht um Fragen menschlicher Entwicklung, die über das hinausgehen, was wir wissenschaftlich überhaupt wissen können: Was ist der seelisch-geistige Ursprung des Menschen? Gibt es eine verborgene Zielvorgabe menschlicher Entwicklung und was lehren uns Sterbende darüber? Was können wir über extremes Leiden sagen? Wie bewusst wird es erlebt, gibt es Grenzen des menschlichen Bewusstseins und was heißt überhaupt Bewusstsein? Wie fühlen sich bewusstseinsferne Zustände an; können sie uns etwas über den Menschen auch im Allgemeinen sagen (vgl. van Lommel, 2011, Scharfetter, 1994)? Nur wenn ich äußerste Zustände des Menschen hineinhole in eine Schau menschlichen Daseins und Soseins, werden Phänomene wie aufkommende Hoffnung, Urvertrauen, innerer Friede, aber auch Angst in ihrer Urform erklärbar. Sie haben zu tun mit dieser irgendwie äußersten Bewusstseinsschwelle, ja sie entstanden genau dort.
Bilder aus heiligen Schriften wie »Paradies«, »Himmelreich«, »die enge Türe«, ferner Mythen und alte Märchen wie jenes der Frau Holle mit ihrer unteren Welt und der grünen Wiese umschreiben solch entfernteste Landschaften und Befindlichkeiten. Doch als heutige, vernunftbestimmte Menschen verstehen wir sie kaum. Dasselbe gilt für viele nächtliche Träume: Hier spricht etwas in uns in einer Sprache, die wir nicht mehr kennen. Dieses Buch enthält zwar nicht wie das frühere »Angst verstehen« (Renz, 2018) eine systematische Auflistung und Beschreibung zahlreicher Symbole. Und doch hilft es, innere Bilder zu verstehen. Es speist sich aus jenem Buch und bringt diese neu gereift, kürzer.
An solch äußerster Schwelle, so nahe an der Quelle, entspringt auch alle Energie. Hier werden Kräfte frei, die das Alltägliche übersteigen. Es sind ebenso heilsame, nährende wie überfordernde Kräfte. Wenn wir über den Menschen, seine Verfasstheit, seine Prägungen und Chancen nachdenken, so gibt es stets zwei Sichtweisen: die thematische und die dynamische. Urvertrauen oder Sehnsucht beispielsweise sind einerseits Inhalt (thematische Sichtweise), andererseits wohnt ihnen auch eine bestimmte Energie inne (dynamische Sichtweise). Erst recht verspüren wir dies bei der Hoffnung: sie ist nicht nur Inhalt, sondern auch Kraft.
Wenn wir also auf unser Unbewusstes blicken und uns ihm annähern, haben wir es sowohl mit verborgenen Inhalten zu tun wie auch mit den namenlosen Energien, die unser Tun und Lassen, unsere Bewusstwerdung und unser Verdrängen wesentlich bestimmen. Dasselbe gilt für den Anfang von Leben vor Urzeiten und für den Anfang unserer individuellen Lebenszeit – der Zeit, in welcher das meiste an Prägung entstand. Stets geht es um Inhalte und um Energien. Sie scheinen ineinander verwoben, miteinander wie verheiratet zu sein und können nie ganz voneinander geschieden werden. Trotzdem brauchen wir Menschen in unserer Begrenztheit getrennte Annäherungsweisen. Entsprechend wird in diesem Buch vieles doppelt bedacht, thematisch wie dynamisch: die frühe menschliche Entwicklung (vgl. Kap. 2), die Prägung (vgl. Kap. 3) und Wege der Heilung und Erlösung (vgl. Kap. 4; 5.1). Im Ursprung und im Äußersten gibt es diesem Denkansatz zufolge keine Trennung zwischen thematisch und dynamisch, sondern nur das Eine, die Quelle, eine andere Wirklichkeit (vgl. Kap. 1): Inbegriff von Substanz und Energie.
Charakteristisch für dieses Buch ist es, selbst äußerste menschliche Befindlichkeiten und Bewusstseinszustände als Teil unserer Seele mitzudenken, ja uns genau von dort her nochmals anders zu verstehen. Vom Äußersten her sind wir – seelisch-geistig betrachtet – geworden. An der Nahtstelle zum Äußersten, zur Quelle, entstanden erste Grenzsetzungen, Eingrenzungen, Abgrenzungen und energetische Anbahnungen. Ein wie auch immer genanntes Äußerstes scheint uns entfernt zu begleiten und auch gewähren zu lassen. Und auf ein Äußerstes hin scheinen wir uns letztlich wieder zuzubewegen. Zumutung und Hoffnung in einem.
Dieses Buch schöpft aus dem Fundus zahlreicher Erfahrungen von Menschen unserer Tage. Namentlich aus dem, was mir mehr als tausend Sterbende in ihren Nöten und Visionen anvertraut haben. Einige Beispiele aus Vorträgen oder aus früheren Büchern (vgl. Renz, 2003, 2007, 2017a, 2018, 2019, 2022b) sind nochmals aufgenommen, andere sind neu. Es flossen aber auch viele Berichte über Kranke mit guter Prognose oder von spirituell Suchenden draußen im Leben ein: Was hatten sie inmitten ihrer Leiden und in ihren Nächten erlebt? Was hatte ihnen geholfen? Selbstverständlich waren/sind alle hier erwähnten Menschen – oder bei Sterbenden die nächste Bezugsperson – zum heutigen oder zu einem früheren Zeitpunkt mit einer Veröffentlichung einverstanden. Wo Eigennamen auftauchen, sind dies Pseudonyme; Angaben zu Personen wurden verändert und sind doch dem Sinne nach wiedergegeben. Nicht zuletzt trugen eigene Erfahrungen aus langen Leidenszeiten zur Entstehung dieses Buches bei.
Besonders eindrucksvoll waren für mich die vielen Grenz- oder Extremerfahrungen der Kranken. Diese beinhalten meist Tiefpunkte und Gipfelerfahrungen in einem. Gerade sie führen uns zur Quelle. Sie tauchen etwa nach einem Unfall, nach einer schwierigen Diagnose, in einem Ausnahmezustand mitten im Leben oder im nächtelangen Warten und verzweifelten Nachdenken über Leben und Sterben auf. Das Gehirn schüttet Stresshormone aus. Unbewusste Erinnerungsspuren aus längst vergangener Zeit werden dabei angerührt oder erstmals ins Bewusstsein gespült. Vorerst Ängste und Traumata, aber auch jener uralte Mutterboden guten Seins, der aller Angst und allen Traumata vorauszugehen scheint und den wir offenbar alle in uns tragen. In schlimmen Schicksalen ist er zwar wie verschüttet und doch verborgen da. Ja, gerade dies ist eine Quintessenz dieses Buches und Grund zur Hoffnung.
In vielen Grenz- oder Extremerfahrungen sehen wir, was wir nie wussten. Wir erleben im Traum etwa Befindlichkeiten aus der Zeit im Mutterleib. Verdrängte Kriegserfahrungen können wieder lebendig werden. Oder es leuchten Zusammenhänge rund um unsere Herkunft oder um verschattete elterliche Prägungen auf. Dann plötzlich – und erstaunlich oft – brechen hinter und unter all diesen schwierigen Erfahrungen erlösende Ahnungen um ein wunderbares, uns übersteigendes Dasein hervor. Eine andere Wirklichkeit, einem fernen Land ähnlich. Biblisch gesprochen: das Himmelreich.
In solchen Erfahrungen gibt es gleichsam eine Gesetzmäßigkeit: Wenn das Ich sich der schier unerträglichen Unsicherheit, Anfechtung, Ohnmacht oder auch den körperlichen Schmerzen stellt und diese durchschreitet, öffnet sich ihm häufig früher oder später eine unsäglich schöne innere Welt von Friede, Erfüllung, Dankbarkeit und Lebendigkeit. Diese Gesetzmäßigkeit hat mit der Beschaffenheit des menschlichen Unbewussten zu tun, welches nach dem vorliegenden Denkansatz nicht von einem Nullpunkt oder einem unbeschriebenen Blatt als Ausgangspunkt allen Seins ausgeht, sondern von der einen Quelle und ihrer ganz anderen Wirklichkeit (Abbildungen, Seelenschichtenmodell, vgl. Kap. 3.3). Zuinnerst, zuunterst oder zuoberst – wie immer man das sieht – erfährt der Mensch dieses andere Sein. Patienten und Patientinnen beschreiben sich dann als berührt, genährt, gestillt, getragen, geborgen, gewürdigt, von Licht durchflutet, in »wohltuender Leere« und manchmal sogar wie außerhalb von Raum, Zeit und ihrem Körpergefühl. Die Stimmung in solchen Erfahrungen ist fast heilig. Abraham A. Maslow sprach von »peak experiences« (Gipfelerfahrungen) (Maslow, 1968, 1970a). Nach ihm ereignen sich diese etwa in der Liebe, in artistischen, athletischen oder religiösen Erfahrungen (vgl. Maslow, 1970b).
Ich erkenne Ähnlichkeiten zu Nahtoderfahrungen. Doch im Unterschied zu diesen sind die Gipfel- und Extremerfahrungen der Kranken flüchtiger und wiederkehrend: ein »Wackelkontakt zum Ewigen«1, zur Quelle. Die meisten Patienten und Patientinnen sind darin mindestens teilweise auch im uns vertrauten Bewusstsein anwesend und versuchen das Unfassbare zu fassen. Das heißt: Sie sind erfüllt, durchflutet und zugleich als Person da und treten zu den erfahrenen Zuständen in Beziehung. Die Ähnlichkeit zu Nahtoderfahrungen wurde mir berichtet von über fünfzig Patienten und Patientinnen, die in früheren Jahren aufgrund von Unfällen, Operationen oder Herzversagen eine Nahtoderfahrung erlebt hatten. Sie alle waren mit der nun einbrechenden Krebserkrankung an das Frühere erinnert, im Schwierigen wie im höchst Angenehmen. Dasselbe gilt für drei Bergsteiger, die früher einen Bergsturz überlebt hatten. Auch ihre Berichte prägten mein Menschenbild und fließen ins vorliegende Buch ein.
Wie muss man sich die Arbeit mit Suchenden und ernsthaft Kranken vorstellen? Was tat ich in all den Jahren, was erreichte diese Menschen? Wir redeten und schwiegen. Unsere gemeinsame Aufmerksamkeit galt meist dem, was jetzt dran war. Ich lobte sie inmitten ihrer Not etwa für ihre Leistung im Aushalten und ermutigte sie, innerlich weiterzugehen. Vielen half meine wiederholte Beobachtung und Erfahrung, wonach das Schlimme nicht Endzustand, sondern eher Durchgang zu etwas ungeahnt Schönem, ganz Anderem zu sein scheint. Das zu hören, weckte Neugierde. Bei Tränen oder aufkommender Wut war ich schlicht da. Manchmal halfen Techniken der Entspannung, der Traumatherapie oder sogenannte Klangreisen (offene oder angeleitete Imaginationen im Anschluss an eine körperliche Entspannung, bei der die Musik führt und Instrumente – etwa Gong, Monochord, Gesang – intuitiv gespielt werden (vgl. Renz, 2018, S. 55; Strobel, 1988). Manchmal half Berührung oder das Umkreisen eines nächtlichen Traumes, dann wieder das Gebet, die gemeinsame Klage oder eine Segensspendung.
In alldem half wohl das ausgesprochene oder stille »Ja« zu dem, was ist, auch die Vergebung. Wenn sich dann die Befindlichkeit ändern durfte und es von der Katastrophe (griechisch: Umwendung, Herunter-Wendung) zu einer Gipfelerfahrung kam, wenn immer Patienten und Patientinnen ergriffen waren, etwa von einem inneren Frieden oder einem Traum, so gab es eigentlich nur ein Wort, das zu tun jetzt richtig war: feiern. Feiern heißt: in Worten oder wortlos sowie in Musik zusammen zu sein – im Beisein von etwas Drittem, Spirituellem. Eine uns übersteigende Wirklichkeit – nenne man sie Gott oder anderswie – war meist spürbar gegenwärtig. Und wir waren Teil dieser Wirklichkeit.
Solchermaßen unterstützt werden Patienten, Patientinnen und Suchende von vielen Begleitern und Begleiterinnen. Es geht also nicht darum, ob eine begleitende Person besondere Fähigkeiten hat, sondern ob sie – in und mit den eigenen Fähigkeiten – präsent ist, wach, offen, und ob dabei die uns übersteigende Wirklichkeit ihrerseits da sein kann. In unserem Spital sind wir ein kleines Team, von Fall zu Fall aber auch ergänzt durch einen mit uns zusammenarbeitenden Seelsorger, eine Ärztin, einen Arzt oder einzelne Pflegefachpersonen. Auch bei ihnen lautet die Frage, wie sehr und auf welche Weise sie in der Beziehung zu einem Patienten oder einer Patientin gegenwärtig, wach und offen sind. In anderen Krankenhäusern und draußen in der Welt sind es andere Personen und ohnehin auch viele Angehörige. Immer wieder höre ich von begleitenden Menschen, dass ihnen ein solcher Denkansatz hilft.
Bewegt von unzähligen Erfahrungen mit Suchenden und Kranken und vor allem tief beeindruckt von deren Grenz- oder Extremerfahrungen ist dieses Buch entstanden. Mehr als bei früheren Büchern flossen hier auch Gespräche und Supervisionen mit Therapeuten, Therapeutinnen, Seelsorgern, Seelsorgerinnen, Pflegefachpersonen ein. Auch diese beschrieben, dass sie und die ihnen Anvertrauten, das existenzielle Leid aushaltend, schließlich Teil einer anderen Wirklichkeit geworden seien.
Was ist es denn, genauer betrachtet, das wirkt und leidende Menschen erreicht oder erlöst? Einfacher lässt sich sagen, was in Begleitungen und an Krankenbetten nicht geschehen sollte. Weder dürfen wir die uns Anvertrauten überschütten, überfordern, noch dürfen wir an ihnen vorbeireden oder sie zu beeinflussen versuchen. Gelingende therapeutische oder generell heilsame Handlungen setzen voraus, dass auch ich, solchermaßen bei mir, das Gebot des Augenblicks intuitiv erspüre. Gelingt mir das aber Mal um Mal? Es kann auch sein, dass ich zu müde oder abgelenkt bin, dass ich mich unerwünscht fühle oder dass eigene frühere Wunden neu aufgerissen werden. Intuitionen fließen, wo ich in großer Ehrlichkeit – auch mir selbst gegenüber – nicht besser sein will, als ich bin. Ich darf genau ich sein. Intuitionen fließen ferner, wenn der ›Kanal nach innen und nach oben‹ offen ist. Ich meine damit jenen unsichtbaren Kanal zwischen mir und meiner Seelentiefe und darin zu etwas Größerem, Göttlichem, zur Quelle. Bisweilen braucht es da auch eine Kanalreinigung.
Dabei ist die Deutung von Grenz- oder Extremerfahrungen auch Entscheidung. Sind diese allein hirnphysiologisch bedingt durch die Ausschüttung von Stresshormonen, und sind die dabei heraufgespülten uralten Bilder folglich nur Fantasieprodukt? Oder glaube ich daran, dass hier ein Mehr geschieht? Auch Ignatius von Loyola sprach von einer Entscheidung und einem »Mehr« (Kiechle, 2020, S. 33). Als Begleiterin, aber auch als spirituell Suchende stehe ich oft vor solchen Entscheidungen.
Dieses Buch basiert auf der Entscheidung, dass hier ein Mehr geschieht, aber auch auf der Freiheit unserer Wortfindung. Hier geht es nicht um dogmatische Glaubenssätze, sondern um eine sich durch und durch aus der Erfahrung speisende Religiosität oder Spiritualität. Diese ist je persönlich. Ich bin inzwischen überzeugt, dass dort, wo wir in Hingabe und Offenheit therapeutisch, ärztlich, pflegerisch und anderswie begleitend arbeiten, dieses ›Mehr als‹ auch wirklich geschieht – Gnade. In solcher Hingabe ist wichtig, dass diese – mit Gaetano Benedetti (1998, 2000) gesprochen – nicht neurotisch ist; viel eher geht es um unser existenzielles Mit-Sein (vgl. Kap. 5.3) und unser Offensein. Die Offenheit charakterisiert meine Haltung gegenüber der mir anvertrauten Person, aber auch gegenüber dem ewig Größeren, Unverstehbaren – Gott. Ich muss nicht an den Gott meiner Kindertage glauben, wenn dieses Gottesbild für mich nachhaltig nicht stimmt. Wohl aber der Gnade eine Chance geben.
Mit dem Wort Gnade bin ich der Frage nach Erlösung nahe, welche wir schon vom Wort her allein aus uns selbst heraus nicht vermögen. Dieses Buch spürt diesem uralten und doch nicht veralteten Begriff auf neue Weise nach (vgl. Kap. 4.1). Um Erlösung aus Prägungen geht es aber auch in vielen therapeutisch-spirituellen Wegen. Doch können nicht alle Menschen therapeutisch-spirituelle Hilfe in Anspruch nehmen, fühlen sich aber vielleicht getragen vom Glauben aus Erfahrung, von einer Weggemeinschaft oder einem liebenden Nahestehenden. Und dies so sehr, dass dabei ein Stück Erlösung geschieht. Bei wieder anderen wirkt die Vergebung. In all diesen und weiteren Wegen (vgl. Kap. 5) können Christen auch Jesus erkennen und in ihm Orientierung finden. Und doch lohnt sich die Frage: Warum gerade er? Was macht Jesus zum Erlöser und Christus für so viele (vgl. Kap. 6)? Vertreter anderer Religionen können auf ihre Weise fragen, was genau bei ihren Religionsgründern oder vorbildhaften Personen heilsam ist (vgl. Kap. 4.2 und Renz, 2017a).
Schließlich öffnet ein Menschenbild wie das hier vorgestellte auch ungeahnte Perspektiven der Zukunft. Das wird vor allem aus dynamischer Sichtweise deutlich: Die Quelle bleibt Quelle, äußerste wie auch innerste Instanz und Inbegriff von Energie. Das Drängen von ihr her geht weiter. Und unsere erneute Nähe zur Quelle lässt in uns neue Hoffnung aufbrechen und einen letztlichen Sinn erahnen (vgl. Kap. 4 und 7). Dies legen zumindest die Grenz- und Extremerfahrungen von ganz vielen Menschen nahe.
Dieses Buch mag zum Wegweiser werden auf unseren vielfachen spirituellen Wegen. Für manche ist es ein Lehrbuch, für andere ein Zeugnis in einfacher Sprache. Möge es den inneren Durst wecken, im Verstehen helfen und ermutigen, Durststrecken zu durchschreiten. Im Kern ist es dann Mal um Mal die Erfahrung selbst – die ureigene Erfahrung nahe der Quelle und Erfahrung schlechthin –, die den Durst wirklich stillt und Hoffnung aufkommen lässt: Gott als »das letzte Wort vor dem Verstummen« (Rahner, 1999, S. 56).
Mein erster Dank geht an Claudio Gloggner (Psychotherapeut, Psychologe) für seine engagierte und treue Mitarbeit an diesem Buch. Dasselbe gilt für meine Mutter, Helen Renz (Dipl.-Psychologin, Wiener theol. Kurse), auch ihr danke ich außerordentlich. Mein großer Dank geht an Regina Stillhart (Religionspädagogin), an Paul Zulehner (Univ.-Prof. i. R. für Pastoraltheologie), Dr. med Urs Rüegg (Psychiater, Psychotherapeut), Roman Siebenrock (Univ.-Prof. i. R. für Systematische Theologie) und an Dr. Dennis Stammer vom Herder Verlag für ihre wertvollen Anregungen. Prof. Dr. theol. Adrian Schenker (Univ.-Prof. i. R. für Bibelwissenschaften, Exegese) danke ich für seine Hilfe bei mancher Bibelstelle. Ich danke Dr. med. Gisela Leyting (Supervisorin, Psychoanalytikerin) und Dr. med. Daniel Büche (Palliativmediziner) für ihr treues Dasein. Ich danke vielen Ärzten, Ärztinnen, Pflegefachpersonen, weiteren Mitarbeitern und meinem Chef Prof. Dr. med. Christoph Driessen vom Kantonsspital St. Gallen (neu: HOCH Health Ostschweiz) für ihr Vertrauen in meine Arbeit. Ein besonderer Dank geht an die leidenden und suchenden Menschen, die mir etwas aus ihrer Erfahrung liehen, sowie an meinen Mann Jürg, der stets an meiner Seite geht.
»Ich bin unheilbar religiös«, so bekannte sich einer meiner Lehrer zu seinem Glauben. Meine Worte wären ähnlich und anders: »Ich bin unheilbar angezogen von einer anderen Wirklichkeit.« Angezogen und doch abgeschreckt vom Göttlichen, von Gott. Es ist die Erfahrung dieser Wirklichkeit, die mich – wenn es geschehen darf – anzieht, und dies schon seit Kindertagen. Und ausgehend von der Erfahrung sind es viele Fragen über Gott und an Gott. – Aus meinem Leben möchte ich vier Umstände einbringen:
Erster Umstand: Ich wurde immer wieder krank. Es waren Unfälle mit Gehirnerschütterungen, Autoimmunerkrankungen, rheumatische Krankheiten, chronische Entzündungen, ein den Atem deutlich einschränkendes Asthma und Bronchialleiden, Allergien, Immunerkrankungen und anderes mehr. Vorübergehende Diagnosen waren teils wirklich beunruhigend, auch lebensbedrohlich. Und die Tatsache, dass es mehrere Phasen in meinem Leben gab, wo diese Krankheiten Schlag auf Schlag kamen, nicht minder. Nur wenige Wochen Gesundheit waren mir dann geschenkt, und schon war das Nächste da.
All dies mündete in das Gefühl, dass ich tiefer tauchen müsse und auch tiefer angefragt bin, als mir lieb war. Ich musste tiefer nach Antworten auf die Zumutungen des Lebens suchen, als mir durch Psychologie, Spiritualität, Coaching und weitere Erklärungsgebäude gegeben war. Ich studierte pädagogische Psychologie, Psychopathologie und Musikethnologie und interessierte mich für die Heilriten verschiedener Völker und darin für die Bedeutung der Musik.
Im Aufspüren solcher Heilriten wurde ich teils fündig und doch verwirrt. Fündig wurde ich auf der weltweiten Fährte menschlicher Sehnsucht. Verwirrt wurde ich etwa in der Begegnung mit dem Leiter eines Aschrams, der seine Partnerin ebenso wie mich fast betörte. Er war davon überzeugt, dass er wisse, was wir nie wissen können. Was blieb, ist Faszination von der Musik: Musik beflügelt, beruhigt und scheint an verschiedensten Orten unseres Erdballs bevorzugtes Medium an der Schwelle zu sein. Sie entgrenzt – bald den Heiler, bald den Heilsuchenden. Und wiederum ist es Musik, die schlussendlich auch begrenzt und den Menschen aus der Trance heraus- und ins Hier und Jetzt zurückführt. Auch blieb der Eindruck, dass es in verschiedensten Riten zwischen der Entgrenzung und der Begrenzung das Unsagbare gibt. Überhaupt blieb die Anziehung vom Heiligen, so unterschiedlich es je nach Kultur und Gemeinschaft auch verehrt wird. Und ich lernte, dass ich vor dem Heiligen nicht genug ehrfürchtig sein kann; sonst kommt es zu Grenzverwischungen.
In meiner Suche nach Verstehen und Heilung war ich nie alleine: Ich hatte Verbündete in der Familie, in Freundschaften und im Beruf. Solchermaßen umgeben, wagte ich auch in meinen Erkrankungen Mal um Mal den Sprung ins Bodenlose.
Ein zweiter Umstand, den ich hier preisgeben möchte, ist mein Geführt-Sein durch Träume. Das begann schon als Kind, ich soll ein spirituelles Kind gewesen sein. Ich spürte, malte, sang und musizierte und mir träumte. Da war etwa ein Traum von Jesus, der mir – Monika – ganz persönlich zum Begleiter wurde und mich an die Hand nahm. Da war aber auch ein Traum mit entsetzlicher Angst vor einem verschlingenden Wolf. Die Träume wurden später, als ich erwachsen und auf der Suche nach Gesundheit war, zum Lichtblick, dann wieder zum Rätsel. Einmal vernahm ich im Traum die durch eine ehrwürdige Stimme gesprochenen Worte: »Im Anfang warst du eben ganz.« Ich sah, ich hörte, ich spürte …
So konnten Traumfetzen zu Bausteinen meiner Bücher und des vorliegenden Denkansatzes werden. Ich lernte – durchaus auch kritisch – meinen Träumen zu vertrauen. Sie wurden mir zu Seelenführern. Und ich begriff: Ich bin geführt. Doch nicht nur ich bin dies: Auch andere Menschen, deren Träume wir gemeinsam betrachteten, erlebten sich geführt. Unsere Träume können sich uns Brocken um Brocken neu erschließen. Und ich begriff: Hinter vielen Träumen steckt ein Mehr, eine letzte Quelle.
Ein drittes Detail, das ich hier erzähle, ist meine Verbindung zum Wort erlösen. Schon als siebenjähriges Kind war mein Lieblingswort – so seltsam das klingt – erlösen. Ich liebte die Erlösungswege in Märchen. Ich spürte, dass von Jesus etwas Erlösendes ausging, etwa, wenn ich in meiner Kinderbibel las. Insgesamt lag darin wohl eine verschwommene Sehnsucht nach Erlösung; verstehen jedoch konnte ich nicht. Aus meiner Jugendzeit erinnere ich mich, dass das Wort in der Berufsberatung eine zentrale Rolle gespielt hatte. War da – dynamisch betrachtet – ein inneres Drängen am Werk?
Älter werdend, etwa im Rahmen meines Zweitstudiums in Theologie, stellte ich viele Fragen, zumal ich nun auch die Fragen vieler leidender Patienten und Patientinnen in mir trug. Immer wieder begegnete mir die Rede von Erlösung und von Jesus als dem Erlöser. Aber auf den Zahn gefühlt, konnte mir niemand erklären, wovon eigentlich Jesus erlöst habe und wie dieser Mechanismus funktioniere. Auch konnte mir niemand sagen, warum ich so schwer schuldig sei für Dinge, die ich gar nicht getan habe oder die Generationen zurückliegen. Anders gesagt, fehlte mir eine glaubwürdige, psychologisch haltbare, rational zugängliche und zugleich bibelnahe Erlösungslehre (Soteriologie). Mit einer Ausnahme: das, was ich in den frühen 1980er-Jahren mit dem Namen Eugen Drewermann verband. Es müsse halt doch etwas in Richtung Aufschlüsselung von Verborgenem geben, das sagten mir zumindest einige Träume. Mehr und mehr durfte ich mit meinen Fragen ins persönliche Gespräch kommen mit erfahrenen Therapeuten, Therapeutinnen, Ärzten und entsprechend dafür offenen Theologen und Theologinnen. Einzelne erhellende Sätze wurden zu eigentlichen Durchbrüchen. Auch sie wurden zu Bausteinen meiner Bücher und des vorliegenden Denkansatzes. Inzwischen ist die Suchbewegung zum Thema Erlösung in Kirchen und Theologie breiter geworden. Doch noch immer fehlt weitgehend jene Brücke Theologie–Psychologie oder Spiritualität–Psychologie, die ich ersehnte.
Der vierte und letzte Umstand, den ich von meinem Leben erzählen möchte, ist ein spezielles Ereignis, welches mir als 11-jähriges Kind widerfuhr und welches in eine tiefgreifende Erfahrung mündete. War es eine Nahtoderfahrung? Es geschah in einem Lager. Erinnerungen ans Lager hatte ich wenige, etwa jene, dass ich in Gedanken versunken die festliche Mahlzeit am Freitagabend am Lagerfeuer gar nicht einnahm und verpasste. Ich hatte in dieser Stunde nichts und niemanden mehr gesehen. Da war nur Grau in Grau. Oder ich erinnerte »Wald«, »Nacht« und »gelb«, welches so groß und stark war, dass Gelb seither meine Lieblingsfarbe ist. Nach dem Lager soll ich auffallend abwesend gewesen sein. Wie innerlich hohl, beschrieb meine Mutter. Ich wurde über Jahre vielfach medizinisch und psychologisch abgeklärt, aber es kam nie ans Licht, was im Lager geschehen war.
Viel später, als Erwachsene, aufgerüttelt durch die Krankheiten und gewohnt, mich in Selbsterfahrung und Therapie körperlich zu spüren, realisierte ich Graubereiche meiner Kindheit. Ich hatte Träume über Träume und verstand viele meiner Kinderzeichnungen und Wortbrocken aus meinem Tagebuch neu. Diese beinhalteten Einzelheiten von Vergewaltigungen, Verhöhnung und Mobbing sowie verschlüsselte Namen, vermischt mit wunderschönen Farben, Regenbogen, Himmels- und Seelenlandschaften. So intensiv, wie es sie hier auf Erden kaum gibt und wie ein Kind normalerweise nicht malt. Nun war so klar wie der helllichte Tag, dass ich nicht nur von Mitschülern gemobbt, sondern auch über Jahre von mehr als einer Tätergruppe (Männer und Frauen) missbraucht, geschändet und vergewaltigt worden war.
Das besagte Ereignis im Lager brauchte mehrere Jahre der Bewusstwerdung. Immer wieder kreiste ich nebst dieser offensichtlich speziell grausamen Vergewaltigung und deren Schmerzen auch um einen Kälteschock. Mittels Psychotherapie, Hypnose und teils mithilfe von ärztlich begleiteten Erfahrungen mit Ketamin2 und über Träume wurde deutlich, dass ich damals – während oder nach der Vergewaltigung – den Geist aufgegeben hatte. Ich muss wohl reanimiert und beatmet und dann viele Stunden im Wald liegen gelassen worden sein. Im Rahmen einer Hüftoperation wurde viel später offensichtlich, dass meine Knochen recht stark zugewachsen waren und so ausschauen würden, als wäre ich ein Lawinenopfer mit entsprechenden Reaktionen auf anhaltende Kälte.
Die bewusstlose Nacht im Wald im Lager wurde zum Schlüsselerlebnis: In der Hypnose sah ich ständig meine eigene Seele groß und über mir schwebend. Wie ein hellgrün bis blau leuchtendes Polarlicht. Intensive Farben! Ich war vorerst offenbar nicht mit meiner über mir schwebenden Seele identifiziert, sondern mit meinem Körper, was gemäß Gesprächen mit Pim van Lommel und Peter Fenwick, je Kenner im Gebiet Nahtoderfahrungen und Sterbebettvisionen, bedeuten kann, dass ich es schaffte, auf diese Weise den Körper noch am Leben zu erhalten. Dann, für einen Moment, habe ich offenbar den Körper verlassen und das absolute Licht – Gelb (Lieblingsfarbe, vgl. Cover) – gesehen. Da kamen auch die Täter und Täterinnen wieder und holten mich unter Schmerzen erneut ins Bewusstsein zurück. Das Licht war weg, ich fror und brauchte nochmals Stunden, um mich zu erheben und rechtzeitig – in der Dämmerung – ins Lager zurück und auf meine Matratze zu schleichen. So viel aus der Aufarbeitung.
Diese andere – normalerweise ferne – Wirklichkeit blieb mir nahe und leuchtete seither bisweilen in Träumen auf. Sie hat mein Menschenbild, mein Welt- und Gottesbild geprägt. Fachliteratur und vielfache Erfahrungen mit Patienten und Patientinnen mit ähnlichen Hintergründen bestätigten mir mehr und mehr, was ich ahnte: Gewalt und Vergewaltigungen scheinen umso grausamer gewesen zu sein, wenn sie spurlos und direkt verdrängt werden/wurden. Aber auch tröstlich: Keine noch so brutale Realität vermag uns die andere Wirklichkeit wegzunehmen. Diese ist verborgen noch da. Sie ist/wäre unsere eigentliche und tiefere Wirklichkeit. Sie gehört und gilt jedem von uns und scheint zugleich von überpersönlicher als auch persönlicher Art zu sein. Sie ist Anfang und Ende für jeden. Daseinsgrundlage für heilsame Wege aus der Tiefe und Quelle zur Hoffnung. Mit diesem Wissen und daraus heraus lebe und arbeite ich bis heute.
Kindersehnsucht
Wo bist du wohl, mein inneres Kind?
Ich frage Erde, Feuer, Wasser, Wind.
Verlor ich dich vor langer Zeit,
leer es wurde weit und breit.
Dir voraus geht nun dein Herz,
lässt mich fühlen deinen Schmerz.
Berührt – da bin ich gleich erfüllt,
mit Sehnsucht, welche dich umhüllt.
2015
(Erstpublikation vgl. Renz, 2017a, S. 137, vgl. Anmerkung 7)
Themengebiete und Personen, welche ich über Literatur kennenlernen oder von denen ich im Gespräch viel lernen durfte, waren:
•Angst, Urangst: E. Drewermann; Klassiker: E. H. Erikson, F. Riemann.
•Therapie und existenzielles Mitsein: C. G. Jung, H. St. Herzka, G. Leyting, G. Benedetti, A. Bernhard-Hegglin, S. Sinclair, U. Rüegg u. a.
•Traumaforschung, Trauma und Gipfelerfahrungen: A. A. Maslow, J. Herman, M. Huber, L. Reddemann, M. Scotoni, U. Speck, M. Peus, P. van Lommel.
•Neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens: D. Siegel, G. Hüther, N. Doidge, L. Cozolino, M. Opendak & R. M. Sullivan.
•Intrauterines Hören, intrauterines Erleben, Selbstempfinden des Säuglings, präverbaler Dialog, Musiktherapie: A. Tomatis, L. Salk, A. J. DeCaspar, R. Sullivan et al., D. N. Stern & M. Papousek, G. K. Loos, F. Hegi, W. Strobel, B. Nitzschke, M. Nöcker-Ribeaupierre, J. P. Lecanuet & B. Schaal.
•Musik in Heilritualen: B. Ebersoll, A. Simon, I. Eibl-Eibesfeld u. a.
•Frühe Bewusstseinsentwicklung (ontogenetisch, phylogenetisch), deren Symbolik und in diesem Zusammenhang auch Märchen, Mythen, Bibel und Interpretationen: C. G. Jung, E. Neumann, E. Drewermann, I. Riedel, S. Hürlimann.
•Bibelinterpretation: M. Küchler, A. Schenker, R. Siebenrock, P. Zulehner, U. Luz, G. Theissen u. a.
•Nahtoderfahrungen, non-duales Bewusstsein, Sterbebettvisionen, Sterbeforschung, spirituelle Erfahrungen im Sterben: P. van Lommel, F. Strasser, D. Büche, C. Zaleski, P. Long, P. Fenwick & S. Brayne, A. Kellehear, M. A. S. Holloway et al., B. L. Arnold & L. S. Lloyd.
•Andere Bewusstseinszustände und transpersonale Psychologie: S. Grof und Ch. Grof, S. R. Joyce, C. Scharfetter.
•Spiritualität, Mystik, religiöse Erfahrung: W. James, K. Rahner, P. M. Zulehner, R. Rohr, H. Nouwen, A. Grün, F. Jalics, Ch. Rutishauser, S. Kiechle, P. Renz, R. Giger u. a.
•Das Böse durchschauen: S. Peng.
•Kollektive Prägungen, Haben oder Sein: E. Fromm.
•Sündenbockmuster: R. Girard, R. Schwager.
•Versöhnung, Vergebung, Bejahung: K. Stauss, Papst Franziskus, E. Kübler-Ross, R. D. Enright und große Persönlichkeiten der Weltgeschichte wie D. Hammerskjöld, D. Tutu, M. Ghandi, M. Luther King.
•Zukunft als Entwicklung zu immer höherer Bewusstheit: P. Teilhard de Chardin, P. A. Corning; Zukunft als Dialogik: H. S. Herzka; Dialogik und Identität: U. Renz.
Biologisch und medizinisch betrachtet, wissen wir heute einiges über die Anfänge menschlichen Lebens und dessen Woher. Über die Anfänge des Menschen als geistbegabtes und spirituelles Wesen fast nichts. Was war im Anfang? Was floss vielleicht als Urerfahrung oder Lebensvorgabe mit ins Werden des Menschen ein? Manche glauben, andere nicht, dass es über die messbaren und sichtbaren Vorgaben hinaus eine letztlich verborgene Wirklichkeit gibt, mit der wir in Beziehung oder in Abwehr verbunden sind. Etwas ganz anderes, das alles menschliche Wissen und Forschen transzendiert – Ursprung allen Lebens.
Als Vorstellungshilfe mag eine Legende aus dem Indianischen dienen, die mir ein alter Mann aus einem Reservat vor vielen Jahren erzählte. Hierfür müsse man sich im Sinne eines Vorwissens vor Augen halten, dass es über hundert Begriffe für »grün« gebe. Das Grün einer alten Tanne sei ein anderes als jenes der danebenstehenden jungen Tanne und ohnehin ein anderes als jenes des frischen Laubbaumes. An den vielen Grün würden sie sich orientieren und den Weg von A nach B finden. Der Legende nach sei es so gewesen, dass die Ältesten einst nach dem ›Ursprung allen Lebens‹ fragten, was denn hinter allem stehe. Die Männer seien in einem großen Zelt zusammengesessen und hätten gewacht. Eine Nacht, eine zweite Nacht und eine Übernacht (dritte Nacht) lang. Am dritten Morgen sei klar gewesen: Was hinter allem sei: Woraus wir kommen und wohin wir gehen, sei »GrünGrün«. – Die Legende hat mich nie mehr losgelassen.
Was/wo war der Mensch, bevor er Mensch wurde? Der in diesem Buch vorgestellte Denkansatz geht von einem ungeteilten (non-dualen) Zustand als erste und letztliche, seelisch-geistige Realität des Menschen aus. Das Wort ›ganz‹ umschreibt dies so: Im Ganzen ist alles enthalten, nichts fehlt, nichts bleibt außen vor.
Nahtoderfahrungen und Erfahrungen von Sterbenden geben uns eine Ahnung solchen Seins im Ganzen. Ihnen zufolge fühlt es sich hier überglücklich an, Raum und Zeit sind aufgehoben, die Atmosphäre ist besonders: einladend, ergreifend, heilig. Gott oder die Ganzheit sind irgendwie gegenwärtig, der Mensch fühlt sich einfach wohl, getragen und geliebt. Beschreibungen sind unterschiedlich und doch erstaunlich ähnlich: Dieses andere Sein ist unbeschreiblich schön, ewig. So schön, dass das Wort viel zu flach ist, um den Zustand wiederzugeben. Es geht um eine Schönheit, die nicht wertet. Dieses Sein ist innerhalb der uns bekannten Kategorien nicht denkbar. Ein oft auftretendes Bild, das in heiligen Schriften verschiedener Religionen und Völker auftaucht, ist das Paradies. Weitere Motive Sterbender sind etwa ein Licht, ein schöner Raum, Farben, eine kosmische Ordnung wie der Sternenhimmel oder eine wunderschöne Musik.
Gemäß den hier vorliegenden Grundannahmen entwickelte sich der Mensch einst aus diesem paradiesischen Zustand heraus: als Einzelner und – menschheitsgeschichtlich betrachtet – auch als Gattung entlang der Evolution. Und in diesen überglücklichen Zustand stirbt der Mensch am Ende seines Lebens wieder hinein.
Ein ›Endzustand‹ scheint – wenn ich die Botschaften nicht weniger Sterbender ernst nehme – nochmals anders zu sein als ein Urzustand (vgl. auch Kap. 7.2–7.4). Er wird bald mehr als ein Sein umschrieben, bald mehr in Bildern von Fest, Krönung, Ernte und Friede oder in Gefühlen von Glück und Erfüllt-Sein. Die deutlichste Sprache in den letzten Minuten irdischen Daseins ist atmosphärisch: Viele Sterbende strahlen vor oder während dem Verscheiden einen unbeschreiblichen Frieden, eine Freiheit und ein Einverständnis aus, sodass es auch die Umstehenden ergreift. »Freiii«, sagten zwei Menschen unmittelbar, bevor sie starben. »Ohh« war ein staunendes Wort anderer. Wie der Urzustand, so scheint auch der Endzustand außerhalb von Raum, Zeit, Körperlichkeit und Kausalität zu sein und uns völlig zu übersteigen. Was hingegen in letzten Erfahrungen anders ist: Da findet – nicht immer, aber doch oft – auch Beziehung oder Sinn statt (vgl. Kap. 7).
Mühsam hervorgebrachte letzte Worte oder Traumbilder, die auf eine Beziehung hinweisen, besagen: »Ich bin ›nicht verloren‹«, »ich bin ›gut‹ (würdig)«, »ich werde gelobt«,