Meine liebe Mutti - Annabella Annabella - E-Book

Meine liebe Mutti E-Book

Annabella Annabella

0,0

Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. Christina von Brockdorf schaut ihren etwas älteren Bruder böse an. »Nun schreibe doch endlich mal, Klaus!« Der blondhaarige Klaus blickt unentschlossen auf das schwarzlockige kleine Mädchen. »Aber Christel, warum soll ich denn schreiben? Mutti antwortet ja doch nicht. Wir haben doch schon so viele Briefe an sie geschickt, und immer hat sie nur über Papi einen Gruß bestellen lassen. Es genügt doch, wenn wir ihm sagen, er solle von uns schöne und liebe Grüße bestellen.« »Aber Mutti freut sich doch, wenn sie auch ein Briefchen von uns bekommt, und… vielleicht schreibt sie doch einmal.« »Ach, ich glaube, Mutti hat uns schon ganz vergessen, sonst…« »Du sollst nicht so etwas sagen, Klaus, sonst werde ich noch ganz böse!« Die blauen Augen Christinas funkeln den Bruder wütend an. »Wenn ich schon selber schreiben könnte, würde ich dich gar nicht bitten. Aber du gehst schon in die Schule und kannst schreiben – und ich… ich…« Christina weint nun, traurige und zugleich zornige Tränen wegen ihres Bruders. Erschreckt sieht Klaus zu seiner Schwester hinüber. »Sei bloß still, Christel, ich schreibe ja schon. Aber du mußt mir sagen, was ich schreiben soll. Mir fällt einfach gar nichts mehr ein.« Christel schluckt. »Ich sage es dir schon, und sicher wird Mutti dann auch mal antworten.«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 159

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fürstenkinder – 61 –

Meine liebe Mutti

Wann bleibst du für immer bei uns?

Annabella Annabella

Christina von Brockdorf schaut ihren etwas älteren Bruder böse an.

»Nun schreibe doch endlich mal, Klaus!«

Der blondhaarige Klaus blickt unentschlossen auf das schwarzlockige kleine Mädchen.

»Aber Christel, warum soll ich denn schreiben? Mutti antwortet ja doch nicht. Wir haben doch schon so viele Briefe an sie geschickt, und immer hat sie nur über Papi einen Gruß bestellen lassen. Es genügt doch, wenn wir ihm sagen, er solle von uns schöne und liebe Grüße bestellen.«

»Aber Mutti freut sich doch, wenn sie auch ein Briefchen von uns bekommt, und… vielleicht schreibt sie doch einmal.«

»Ach, ich glaube, Mutti hat uns schon ganz vergessen, sonst…«

»Du sollst nicht so etwas sagen, Klaus, sonst werde ich noch ganz böse!« Die blauen Augen Christinas funkeln den Bruder wütend an. »Wenn ich schon selber schreiben könnte, würde ich dich gar nicht bitten. Aber du gehst schon in die Schule und kannst schreiben – und ich… ich…« Christina weint nun, traurige und zugleich zornige Tränen wegen ihres Bruders.

Erschreckt sieht Klaus zu seiner Schwester hinüber. »Sei bloß still, Christel, ich schreibe ja schon. Aber du mußt mir sagen, was ich schreiben soll. Mir fällt einfach gar nichts mehr ein.«

Christel schluckt. »Ich sage es dir schon, und sicher wird Mutti dann auch mal antworten.«

»Ja – gut.« Klaus nimmt den Federhalter wieder in die Hand, und Christina befiehlt:

»Schreibe also: ›Meine liebe Mutti! Warum antwortest Du Deiner lieben kleinen Christel und Deinem Klaus gar nicht? Wir möchten doch gern einmal selber ein Briefchen von Dir haben, nicht nur immer Grüße von Vati, der sogar manchmal vergißt, sie uns auszurichten. Klaus und ich wollen auch ganz artig sein, wenn Du noch nicht ganz gesund bist, Mutti. Und wir werden ganz leise im Schloß spielen und keinen Lärm machen – und wir werden Dich bestimmt nicht mehr nervös machen, wie Papi sagt. Aber bitte, schreibe uns wenigstens oder komme bald wieder, liebe Mutti! Wir brauchen Dich so sehr. Und ich glaube, Vati braucht Dich auch. Er läuft immer mit so einem finsteren Gesicht herum und kümmert sich gar nicht mehr um Kläuschen und mich. Und wir möchten einmal wieder mit unserer lieben Mutti spazierengehen und mit Dir abends, wenn wir im Bettchen liegen, beten. Und niemand ist da, der uns einen Gutenachtkuß gibt und der uns freundlich am Morgen begrüßt: ›Guten Morgen, meine beiden Lieblinge!‹ Oder: ›Hallo, Kläuschen und Tina, habt ihr gut geschlafen?‹ Und Liesel kann gar nicht ordentlich meine Zöpfchen flechten, und wenn sie mich kämmt, dann ziept es immer so…«

»Ach, Christel, was du alles der Mutti schreiben willst…«

»Sie muß es schließlich wissen«, trumpft Christina auf, »damit sie ganz, ganz schnell wiederkommt.« Plötzlich schaut sie den Bruder streng an. »Hast du Mutti eigentlich nicht mehr lieb?«

»Doch, Christel, aber Mutti hat sich doch, ehe sie fortfuhr, auch gar nicht mehr viel um uns gekümmert, und was du da schreibst von Liesel und so…«

»Sei still, Klaus, sonst kratze ich dir die Augen aus! Mutti war halt schon krank, und deshalb hat sie eben vieles vergessen. Aber wenn sie wieder gesund ist, wird alles wieder so schön werden wie früher.«

Klaus seufzt. »Schön wäre das!«

»Na siehst du. Und nun schreibe noch liebe Grüße und viele Bussis. Deine Kinder Kläuschen und Christel.«

*

»Das ist nun schon der zehnte Brief, Herr Graf«, sagte Hanne Wilkens. »Sie müßten mal etwas unternehmen. Die Kinder warten darauf, daß ihre Mutter ihnen wiederschreibt und…«

»Ja – aber Hanne, Sie wissen doch, daß meine Frau ihnen nicht schreiben kann. Oh, Hanne…«

Rudolf von Brockdorf birgt sein Gesicht in beide Hände und läßt den Kopf auf den Schreibtisch fallen. Er scheint vollkommen fertig mit den Nerven zu sein.

Kein Wunder! denkt Hanne. Mitleidig schaut sie ihren Herrn an.

»Ich weiß ja, Herr Graf! Aber vielleicht könnte einmal Frau von Walden an die Kinder schreiben und zwar so, als ob sie die Mutter wäre.«

»Meine Schwester?«

»Nun ja, schließlich dient es einem guten Zweck, auch wenn es nur eine Notlüge wäre. Klaus ist schon ein wenig älter. Er ist auch etwas robuster und scheint sich damit abgefunden zu haben, daß die Frau Gräfin…« Hanne spricht nicht weiter. Bald hätte sie doch tatsächlich gesagt, daß die junge Gräfin in der Nervenheilanstalt lebt.

»Ist schon gut, Hanne. Ich werde mir Ihren Vorschlag überlegen«, sagt der Graf müde.

Rudolf von Brockdorf wollen die Worte der alten Wirtschafterin nicht aus dem Sinn gehen. Und er beschließt tatsächlich, einmal nach Hohenwaldburg hinüberzureiten und mit seiner Schwester Melanie zu sprechen.

Baronin von Walden empfängt ihren Bruder freundlich, doch in ihrer etwas kühlen Art.

»Nun, Dolf? Was führt dich zu mir, mein Junge?«

Als sie sein nachdenkliches Gesicht sieht, fragt sie schnell: »Hast du irgendwelche Nachrichten wegen Christina?«

»Nein, es hat sich nichts geändert. Du weißt, daß ich jetzt nur noch selten in das Sanatorium von Prof. Werra fahre, seit sich Christinas Zustand so verschlechtert hat und sie mich nicht einmal mehr erkennt.«

»Du solltest dich, wie dir der Professor der Nervenheilanstalt vorgeschlagen hat, endlich scheiden lassen, Dolf, und um der Kinder willen eine neue Ehe eingehen.«

»Melanie, verstehe mich doch, ich kann das nicht! Einmal waren Christina und ich sehr, sehr glücklich miteinander, auch…«

»Auch wenn sie dich zum Schluß sehr gequält hat.«

»Das war schon ihre Krankheit, Melanie.«

»Nun ja, man kann es auch so nennen. Hysterisch war Christina von Melk schon immer, mein Lieber. Und ich sage dir, Dolf, es ist ein Erbe, ein unglückliches Erbe, das Christina heimsucht. Du hättest sie nie heiraten dürfen, du…«

»Du weißt, Melanie«, unterbricht sie der Bruder, »daß sich Christina das Leben nehmen wollte, als ich damals Schluß machte, als ich zum ersten Mal merkte, wie zornig und wütend sie werden kann.«

»Hättest du es nur getan, Dolf, dir und den Kindern wäre manches erspart geblieben.«

»Wer konnte ahnen, daß Christinas Zustand krankhaft ausarten würde.«

»Der alte von Melk hätte es dir sagen müssen. Aber der war froh, daß er seine spinnerte Tochter los wurde.«

»Ich bin eigentlich gekommen, um dich um einen Gefallen zu bitten, Melanie, nicht, um mit dir über Christina zu diskutieren.«

»So, dann nur heraus mit der Sprache!«

Die Baronin von Walden ist eine
energische Frau, älter als ihr Bruder, der Graf von Brockdorf. Einmal hat sie fast so etwas wie Mutterstelle an ihm vertreten. Und auf ihre Weise liebt sie ihren Bruder. Nur verbirgt Melanie von Walden ihre Zuneigung stets unter einem etwas harten Panzer, einer allzu rauhen Schale. Aber ihr Mann und ihr Sohn wissen, wie weich das Herz schlägt, das unter diesem harten Panzer liegt. Und im Grunde weiß es auch Rudolf.

Er trägt der Schwester seinen Wunsch, das heißt eigentlich den Vorschlag der alten Hanne Wilkens, vor. Erst hat sie zwar allerhand Einwendungen zu machen, aber schließlich tut sie dem Bruder den Gefallen. Sie schreibt einen Brief, den Rudolf in der Stadt in den Kasten werfen soll.

*

Acht Tage später – der Vater ist gerade vor zwei Tagen von einer kleinen Reise zurückgekommen – erhalten Klaus und Christel Post.

Christina ist einfach selig, als ihr die dicke Hanne den Brief bringt und dazu geheimnisvoll sagt: »Ich glaube, Christel, der ist von eurer Mutti.«

»Gib her, Hanne. Kläuschen, komm! Du mußt ihn mir gleich vorlesen.«

Klaus kommt der Aufforderung der Schwester nur zögernd nach. Er hat gerade mit seinem Baukasten gespielt und ist mit ganzem Herzen dabei. Die Störung ist ihm gar nicht so sehr willkommen. Aber das darf er der Schwester natürlich nicht zeigen. Christel wird immer gleich so böse, das weiß er aus Erfahrung.

Er schlitzt den Umschlag auf und entfaltet das Briefchen.

Meine lieben Kinder, liest er, »nun sollt Ihr endlich einmal ein paar Zeilen von mir erhalten. Ich war sehr krank, und deshalb konnte ich nicht schreiben. Aber ich denke immer an Euch, und ich hoffe, daß ich bald wieder bei Euch sein kann. Seid schön brav und artig und macht dem Vati keinen Kummer. Und Du, Christel, sei nicht immer gleich so zornig, wenn etwas nicht nach deinem Willen geht. Ich hoffe, daß Klaus brav lernt und seinem Vater mit einem guten Zeugnis Freude machen wird. Ich habe mich sehr über Eure Briefe gefreut. Es tut mir leid, daß Ihr so lange auf Nachricht warten mußtet. Hoffentlich ist das der letzte Brief, den ich schreibe. Ihr müßt halt Geduld haben mit Eurer Mutti, die Euch lieb grüßt und küßt.

Eure liebe Mutti.

»Na siehst du, endlich hat sie mal geschrieben, die Mutti, aber…«

»Was denn, Christel?«

»Findest du nicht, daß sie ruhig ein wenig lieber hätte schreiben können? Sie tut uns nur ermahnen. Ich soll nicht so zornig sein, schreibt sie – und du sollst ein gutes Zeugnis bringen. Von Liebe steht eigentlich gar nicht viel drin in dem Brief, Kläuschen, findest du nicht auch?«

»Ich weiß nicht, Christel. Vielleicht kann Mutti nicht so schöne Briefe schreiben.«

»Ja, vielleicht haste recht, Klaus. Und vielleicht kommt sie ja auch bald. Was meinst du? Sollen wir Vati mal fragen?«

»Nee, laß das man lieber, Christel. Papi ist gar nicht gut aufgelegt in den letzten Tagen. Neulich hat er mich ausgeschimpft, weil ich mich ans Steuer seines Wagens gesetzt und ein bißchen am Armaturenbrett herumgefummelt habe. Ich wollte bloß sehen, ob das Radio auch geht. Und da ist er plötzlich gekommen – und er hat mich so angeschrien, daß ich fast Angst vor ihm habe.«

»Hoffentlich kommt Mutti bald wieder. Ich finde, sie ist jetzt eigentlich schon lange genug weg. Warum brauchen denn die Onkel Doktoren so lange dazu, sie wieder ganz gesund zu machen? Verstehst du das?«

»Nee, eigentlich nicht, Christel. Aber vielleicht ist der, bei dem Mutti ist, ein Pfuscher.«

»Was ist das denn?« Christel macht ganz große runde Augen.

»Einer, der nicht viel versteht. Unser Lehrer hat neulich von dem alten Dorf-arzt Heinecke gesagt, daß der ein richtiger oller Kurpfuscher wäre.«

»Aber Mutti ist doch in der Stadt.«

»Vielleicht gibt es auch in der Stadt Kurpfuscher«, meinte Klaus nachdenklich.

»Dann sollte Vati Mutti eigentlich dort wegholen. Willst du es ihm nicht sagen?«

»Ich? Nee, ich sage gar nichts mehr zu Papi, ich habe es erst neulich gesehen, wie wütend er werden kann. Früher war er nie so.«

»Da war Mutti auch noch da. Jetzt hat er halt auch Sehnsucht nach ihr – wie wir.«

*

Es ist ein herrlicher Sommertag. Die Sonne lacht strahlend vom Himmel, und die Menschen haben Urlaubsstimmung. Ein silbergrauer Alfa-Romeo nimmt spielend die leicht ansteigende Straße, die kurvenreich und ein wenig unübersichtlich ist. Am Steuer sitzt eine Frau.

Nach einer längeren Kurve hält sie an und blickt mit leuchtenden Augen in das unter ihr liegende Tal hinab.

»Mir kommt zwar vor, als habe ich mich verfahren«, murmelt sie, »aber die Aussicht von hier oben ist wohl einen kleinen Umweg wert. Sicher komme ich später wieder auf die richtige Straße.«

Sie will gerade ihre Autokarte auseinanderfalten, um zu sehen, wo sie sich überhaupt befindet, als sie zwei jubelnde Kinderstimmen vernimmt. Unwillkürlich blickt sie zur Seite. Aus dem Gebüsch brechen plötzlich zwei seltsam anmutende Gestalten. Ein kleiner Bub, der wie ein Seeräuber oder ein Pirat angezogen ist, und ein noch kleineres Mädchen, das wie eine Zigeunerin anmutet.

»Halt! Stopp!« schreit die helle, muntere Bubenstimme. »Das kostet Wegzoll!«

Die schwarzhaarige Kleine bleibt plötzlich wie angewurzelt stehen.

Doch dann kommt auf einmal Bewegung in sie. Der Bub, der gerade auf das Auto zustürmen will, wird einfach beiseite geschoben. Das kleine Mädchen flüstert ihm zu: »Aber schau doch, Kläuschen, das ist doch Mutti!«

»Mutti?«

Die Frau am Steuer hat die Karte sinken lassen und starrt den sich so seltsam gebärdenden Kindern, die erst auf den Wagen zustürmen wollten und plötzlich innehalten, erwartungsvoll und gespannt entgegen.

Was haben sie denn auf einmal, denkt sie, daß sie sich nicht weiterwagen? Doch ehe sie den Gedanken noch richtig zu Ende gedacht hat, kommt das kleine Mädelchen jauchzend auf ihren Wagen zugelaufen.

»Mutti, Muttilein, bist du es denn wirklich? Oh, Mutti!« Die dunkelblauen Augen glänzen feucht vor Glück und Freude. »Bist du endlich gekommen, liebes Muttilein – und gehst du nun nie mehr von uns fort?«

Die Frau am Steuer schaut erstaunt auf das sich wie wild gebärdende Mädchen, das gerade dabei ist, auf das Trittbrett zu klettern.

Mein Gott, was soll sie machen? Die Kleine muß sie verwechseln. Aber kann sie die Freude des Mädchens gleich so dämpfen, ohne zu wissen, um was es sich handelt? Nein, das bringt sie nicht übers Herz. Abwartend verharrt sie, was weiter geschieht, wie der kleine Bub sich verhält, der nun auch zögernd und verlegen, wie es scheint, näher tritt.

»Entschuldige bitte, Mutti, ich habe dich fast nicht mehr erkannt«, flüstert er, als er ganz nahe herangekommen ist.

»Wer bist du, mein Liebling?« wendet sie sich dem Mädchen zu, das jetzt glücklich auf dem Trittbrett steht und sie mit leuchtenden Augen selig lächelnd anschaut.

»Aber Mutti!« Die Kleine lacht glockenhell auf. »Kennst du denn deine kleine Christel nicht mehr?«

Sie muß auf das Spiel eingehen, eine innere Stimme flüstert es ihr zu. »Mein Gott, Christel, natürlich, du bist es ja! Wie konnte ich dich nur nicht erkennen. Aber du bist so groß geworden, seitdem ich dich nicht mehr gesehen habe. Und das ist sicher…«

»Kläuschen, Mutti. Er hat sich so verkleidet, daß man ihn gar nicht erkennt, nicht wahr?«

»Ja, und du auch, mein kleines Mädchen.«

»Wir spielen Räuber und Zigeunerprinzessin. Die Sachen haben wir vom Boden geholt. Sie waren ein wenig groß. Aber die alte Hanne hat sie etwas kürzer gemacht. Ein bißchen weit sind sie ja, aber wir sehen doch ganz prima darin aus, nicht wahr?«

»Ja, wunderbar, ganz echt, mein Kind! Du siehst wirklich wie eine kleine Zigeunerin aus und Kläuschen wie ein alter Wikinger.«

»Dürfen wir vielleicht einsteigen und mit dir bis zum Schloß fahren, Mutti?«

»Ja, warte, ich öffne die Tür, Liebling.«

»Das ist nicht nötig, schau, ich bin schon drin.«

Mit einem kleinen Satz schwingt sich das Mädelchen über den Rand der Autotür und sitzt schon neben der Frau.

»Nun mußt du mir erst einmal ein Begrüßungsküßchen geben, Mutti.«

Zart nimmt die Frau das kleine runde Grübchengesicht des Kindes in ihre schmalen Hände und küßt es auf die Stirn.

Der Bub ist jetzt auch herangekommen. Mit Kennerblicken, wie es scheint, mustert er den eleganten italienischen Wagen.

»Tolle Kiste, Mutti!« murmelt er. »Hast du dir jetzt einen italienischen Wagen gekauft?«

»Ja – gefällt er dir, mein Junge?«

»Ganz prima! Darf ich auch einsteigen?«

»Klar, Kläuschen, komm nur! Mutti is’ ja so dünn geworden, da haben wir alle drei Platz.«

Klaus reicht ihr seine kleine braune Bubenhand. »Tag, Mutti«, sagt er nur. »Schön ist es, daß du wieder da bist. Bleibst du nun immer da?«

»Ich hoffe es«, murmelt die Frau. Vollkommen verwirrt sitzt sie neben den beiden munteren Kindern. Sie bringt es nicht übers Herz, ihnen zu sagen, daß sie sich irren.

Aber auf was für ein Abenteuer lasse ich mich da nur ein? sinnt sie. Wie komme ich da wieder heraus?

»So, nun fahre los, Mutti, damit wir schnell bei Vati sind.«

Ach du liebe Zeit! denkt Martina Brink erschrocken. Ein Mann ist ja auch noch da. Was soll ich nur tun?

»Hast du den Weg nicht mehr gewußt, daß du hier stehengeblieben bist, Mutti?« klingt die muntere Knabenstimme in ihre Gedanken.

»Ich habe nur ein wenig die herrliche Aussicht genossen«, antwortete sie ausweichend.

»Dann fahre man los!« kommandiert Kläuschen. »Hast du denn im Krankenhaus Autofahren gelernt, Mutti?«

»Ja – hinterher, als ich noch zur Erholung war.« Hoffentlich habe ich nichts Falsches gesagt, denkt Martina.

»Vati hat uns gar nichts davon erzählt, daß du schon aus dem Krankenhaus heraus und noch zur Erholung gefahren bist«, sagt der Kleine nun auch prompt.

»Sicher hat er uns überraschen wollen«, meint Christina, die die angebliche Mutter mit zärtlichen Blicken betrachtet. »Hübsch siehst du mit der weißen Haube aus, Mutti. Fast hätte ich dich so gar nicht erkannt, aber als du uns dann anschautest, habe ich sofort gewußt, daß du meine Mutti bist.«

»Ich auch«, echot Klaus. »Aber Tina hat recht, die Autokappe steht dir ganz doll, direkt wie eine Rennfahrerin siehst du damit aus.«

»Wie soll ich nun fahren, Kinder?«

»Ja weißt du denn den Weg nicht mehr, Mutti?«

»Ich habe ihn ein wenig vergessen. Ich war so lange nicht hier, nicht wahr?«

»Ja, über ein Jahr schon«, sagt die kleine Christina.

»Nee, noch fast ein halbes Jahr länger«, wirft Klaus ein. »Ich kann mich noch ganz genau erinnern, es war gleich nach meinem Geburtstag im Januar.«

»Ja, so lange hast du uns allein gelassen, Mutti. Warum hast du uns denn nie auf unsere vielen Briefchen geschrieben?«

»Ich war wohl zu schwach«, seufzt Martina. Mein Gott, sinnt sie, was soll ich bloß auf all diese Kinderfragen antworten? Hoffentlich werde ich bald erlöst. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Und enttäuschen möchte ich diese beiden entzückenden Kinder, überhaupt die kleine süße Christina, nicht.

Klaus dirigiert nun den Wagen. »Du fährst aber ganz prima, Mutti, wenn man bedenkt, daß du erst Autofahren gelernt hast.«

»Bleibt der Wagen jetzt immer da?« fragte Christel.

»Klar doch!« sagt Klaus. »Dann können wir doch wenigstens auch mal ohne Papi spazierenfahren. Halt, du mußt jetzt rechts einbiegen, Mutti! Mir kommt vor, du hast wirklich vergessen, wo unser Schloß liegt.«

Martina kommt der Aufforderung nach und biegt in den schmalen, jetzt steiler werdenden Weg ein.

»So, jetzt noch die letzte Kurve, dann sind wir da. Siehst du, da ist schon die breite Eisenpforte.«

Tatsächlich taucht nach der letzten Biegung eine große schmiedeeiserne Pforte auf. Erkennen kann man noch nicht, was dahinterliegt.

»Warte einen Moment, ich läute«, sagt Klaus. Er öffnete die Wagentür und steigt aus. Zwischen Buschwerk tastet er nach der Klingel. Martina sitzt abwartend neben der kleinen Christel, die sich eng an sie schmiegt. Und es dauert gar nicht lange, da erscheint ein alter ehrwürdiger Diener, der beide Flügel der Pforte öffnete, als er den Wagen sieht.

Er verneigt sich ganz tief. »Oh – die gnädige Frau Gräfin!« sagt er ehrerbietig.

»Guten Tag!« murmelt Martina.

Klaus setzt sich wieder neben sie, und die Fahrt geht nun noch ein Stückchen weiter, leicht bergan, aber der Weg ist jetzt besser, er ist mit Platten belegt. Am Ende des Weges taucht nun ein schloßartiges Gebäude auf, oder ist es wirklich ein Schloß?

Martina glaubt zu träumen. Alles kommt ihr so unwirklich vor. Erst als sie in die strahlenden Kindergesichter blickt, weiß sie, daß sie doch nicht träumt.

Sie hält genau vor dem Eingang des Schlosses. Eine alte, dicke grauhaarige Frau kommt aus dem Hause gelaufen.

»Kläuschen! Tina!« ruft sie, um plötzlich zu verstummen. »Die Frau Gräfin?« Ungläubig und erstaunt ist ihr Blick auf Martina Brink gerichtet.

Martina sagt kein Wort. Stumm steigt sie aus.

»Schau doch bloß, Hanne, Mutti ist gekommen!«

Christina, die ebenfalls ausgestiegen ist, und Klaus haben freudige Gesichter.

Martina wendet sich der Alten zu, die sie noch immer fassungslos anstarrt.

»Bitte, melden Sie mich dem Herrn Grafen!« sagt sie leise zu Hanne Wilkens.

»Jawohl, Frau Gräfin, sofort.«

»Sollen wir dich zu Vati führen, Mutti?«

»Nein, Christel und Klaus, ich möchte zuerst allein mit eurem Vater sprechen«, sagt Martina leise. »Später komme ich dann zu euch.«

»Ja, fein, Mutti, aber auch nicht vergessen!«

»Bestimmt nicht!« Martina lächelt zärtlich.